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Packende Orchesterwerke von Dieter Ammann auf Naxos

Naxos 8.551474; EAN: 7 3009914743 9

Die Basel Sinfonietta unter ihrem scheidenden Chefdirigenten Baldur Brönnimann hat im Mai 2022 die drei großbesetzten Orchesterstücke Core – Turn – Boost des schweizerischen Komponisten Dieter Ammann (*1962) erstmals als Trilogie aufgeführt und zusammen mit unbalanced instability für Violine und Kammerorchester (Solistin: Simone Zgraggen) auf Naxos eingespielt. Die Stücke wie ihre Darbietungen erweisen sich als ganz großer Wurf.

Dieter Ammann, 1962 in Aarau geboren und in Zofingen aufgewachsen, wo er immer noch lebt, darf man seit einigen Jahren als wohl bedeutendsten schweizerischen Komponisten seiner Generation bezeichnen. Nach dem Schulmusikstudium und einer Jazzausbildung bewegte sich Ammann in den 1980ern musikalisch vorwiegend in der Jazz- und Funkszene und war mit verschiedenen Instrumenten (Keyboard, Trompete, Bassgitarre…) gerade auch improvisatorisch unterwegs. Erst danach studierte er in Basel Theorie und Komposition, belegte dann Meisterkurse u. a. bei Wolfgang Rihm und Witold Lutosławski. Ammann komponiert langsam, dafür mit der vielzitierten Präzision eines Schweizer Uhrmachers. Daher ist sein Werkkatalog recht schmal geblieben, aber die Musik – ganz gleich, ob für großes Orchester oder kleines Ensemble – immer einfallsreich, von teils unbändiger Energie mit raffinierten Kontrasten und spannenden Entwicklungen geprägt. Vor allem jedoch überzeugt der Komponist durch seine bis ins letzte Detail allerfeinst ausgetüftelten Klänge – selbst bei größter Orchesterbesetzung wirkt das keine Sekunde al fresco oder pauschal, schon gar nicht eklektizistisch. Zuletzt erregte sein gewaltiges Klavierkonzert Gran Toccata (2016–19) weltweites Interesse – dessen Siegeszug wurde lediglich durch die Corona-Pandemie unterbrochen: auch in den Augen des Rezensenten offenkundig ein Meisterwerk.

Die drei hier erstmals als Triptychon aufgeführten, ebenfalls großbesetzten Orchesterwerke Core (UA 2002), Turn (UA 2010) und Boost (UA 2002) entstanden jeweils als Auftragswerke des Lucerne Festivals bzw. des Luzerner Sinfonieorchesters und wurden auch dort aus der Taufe gehoben – Core von der Basel Sinfonietta. Als auf die Pflege zeitgenössischer Musik spezialisiertes Orchester in sinfonischer Stärke (~ 80 Mitglieder) ist dieser 1980 gegründete Klangkörper – keinesfalls zu verwechseln mit dem als Nachfolge von Paul Sachers Basler Kammerorchester zu verstehenden Kammerorchester Basel – ziemlich einzigartig. Die Basel Sinfonietta ist in demokratischer Selbstverwaltung organisiert und hat erst seit 2016 einen Chefdirigenten, Baldur Brönnimann, der die hier vorliegenden Live-Mitschnitte vom 26. Mai 2022 leitet. Ab diesem Herbst wird Titus Engel sein Nachfolger.

Der Konzertsatz unbalanced instability für Violine und Kammerorchester (2013) liegt als Aufnahme mit der Wittener Uraufführungsbesetzung – dann später aus der Kölner Philharmonie – bereits auf CD vor. Brönnimann und die Geigerin Simone Zgraggen (Schülerin u. a. von Ulf Hoelscher, zurzeit Professorin in Freiburg im Breisgau und Konzertmeisterin der Basel Sinfonietta) lassen sich mit knapp 26 Minuten gut drei Minuten mehr Zeit als Carolin Widmann unter Emilio Pomàrico. Besonders zu Beginn tauchen sie ein wenig tiefer in Stellen mit spektralen Schönklängen ein, versuchen bei alldem, was der Komponist als „intuitive Logik“ charakterisiert (Zit: „eine Logik der Subjektivität, der Assoziation und des inneren Ohrs, die ihre eigenen Regeln zu jedem Zeitpunkt neu erstellen beziehungsweise verwerfen kann“), irgendwie einen großen Bogen zu spannen inmitten aller Unberechenbarkeiten. Geigerisch können Zgraggen wie Widmann gleichermaßen überzeugen; die beinahe schon konventionell wirkende Solokadenz gegen Schluss gerät Zgraggen beruhigender. Insgesamt richtet sich die Neueinspielung mehr nach innen als die äußerlichen Gegensätze zusätzlich zu betonen. Aufnahmetechnisch ist die Basler Produktion dem etwas diffusen Klangbild des WDR-Mitschnitts überlegen, präsenter und durchsichtiger. Lediglich Pomàrico steuert die vielen Facetten, die das Orchester zu beleuchten hat, noch ein wenig bewusster als Brönnimann, setzt dabei – wie gesagt – stärker auf Kontraste. Insgesamt sind die beiden Aufnahmen auf demselben Top-Niveau.

Bei der Trilogie Core – TurnBoost machen alle drei Stücke (10, 13 bzw. 16 Minuten lang) einen ungeheuren Spaß: Üppiger, wild zupackender Orchesterklang voller Vitalität, aber ebenso enorm sensible Momente mit immer neuen, vielschichtigen Überraschungen langweilen zu keiner Zeit, lassen den Zuhörer schon mal den Atem anhalten. Hatten die einzelnen Teile bei Publikum wie Kritik bereits jeweils höchst positive Resonanz erfahren, erscheinen sie als Gesamtschau nochmals beeindruckender. Insbesondere versteht man so Turn klar als geplanten Mittelteil: Ein tiefgründiges „Adagio“, welches dann abrupt völlig umschlägt. Die Basel Sinfonietta und Brönnimann sind bei dieser hinreißenden und zwingenden Musik offensichtlich in ihrem Element und die Hommage zum sechzigsten Geburtstag des Komponisten wird zu einem echten Fest neuer Orchesterkultur. Dieter Ammanns prächtige Tonkunst sollte ab jetzt wirklich in keiner Sammlung fehlen: Der Mann beherrscht nicht nur perfekt sein Handwerk, sondern hat uns zeitgemäß unglaublich viel zu sagen. Für den Rezensenten ist diese fürs Repertoire wichtige Naxos-Veröffentlichung eine der bislang faszinierendsten Neuerscheinungen des Jahres 2023 mit ganz klarer Empfehlung.

Vergleichsaufnahme: [unbalanced instability] Carolin Widmann, WDR Sinfonieorchester, Emilio Pomàrico (in: Grammont Sélection 7 – Schweizer Uraufführungen 2013, Musiques Suisses MGB CTS-M 142, 2013)

[Martin Blaumeiser, Juli 2023]

Gleich zwei Weltklasse-Klangkörper beim „räsonanz“ Stifterkonzert der musica viva

Dieter Ammann, Jonathan Nott, OSR – © Astrid Ackermann für musica viva/BR

Das räsonanz Stifterkonzert der Ernst von Siemens Musikstiftung fand dieses Jahr wieder im Rahmen der musica viva des BR im Münchner Prinzregententheater statt. Wohl zum ersten Mal überhaupt gastierte am Donnerstag, 29. September 2022, das Genfer Orchestre de la Suisse Romande unter seinem Chef Jonathan Nott in München. Dazu gesellte sich für die Uraufführung von Rebecca Saunders‘ „Wound“ noch ein zwölfköpfiges Solistenensemble aus Mitgliedern und Gästen des Pariser Ensemble Intercontemporain. Außerdem erklangen Pierre Boulez‘ „Messagesquisse“ mit dem Solocellisten Léonard Frey-Maibach sowie die beiden Orchesterwerke „Boost“ und „Glut“ des Schweizers Dieter Ammann, der dieses Jahr seinen 60. Geburtstag feierte.

Die räsonanz Stifterkonzerte der Ernst von Siemens Musikstiftung erfreuen ja seit einigen Jahren einerseits mit ihrer Vorgabe, gerade besonders aufwändige, bereits nach ihren Uraufführungen hochgerühmte Orchesterwerke in Perfektion erneut zur Diskussion zu stellen. Daneben bringen sie im Rahmen der musica viva auswärtige Klangkörper nach München, die hier sonst eher selten bzw. gar nicht zu hören sind – etwa 2019 das London Symphony Orchestra unter Simon Rattle. Kaum zu glauben, dass das 1918 vom legendären Ernest Ansermet gegründete Orchestre de la Suisse Romande mit immerhin 112 festen Mitgliedern zum allerersten Mal in München zu Gast ist. Unter seinem nun auf Lebenszeit gewählten, britischen Chefdirigenten Jonathan Nott durfte man auf ein äußerst anspruchsvolles Programm gespannt sein.

Die nun in Berlin lebende Britin Rebecca Saunders (* 1967) erhielt 2019 den Hauptpreis der EvS Musikstiftung. Dem Rezensenten war schon Anfang der 2000er Jahre ihr besonderes Händchen für mittlere Kammermusik- bzw. Ensemblebesetzungen aufgefallen. Nun führt Saunders mit dem großangelegten, 38-minütigen Stück „Wound“ für Soloensemble und Orchester diese spezielle Begabung mit ihrer stetig gewachsenen Erfahrung mit vollem Orchester zusammen. Tatsächlich könnte man das Werk als Konzert bezeichnen, bei dem 12 Solisten – des von Boulez gegründeten Ensemble Intercontemporain – als Einheit und das Genfer Orchester sich unentwegt die Bälle zuwerfen. Mit anfangs sehr dunklen Klangfarben entwickelt sich schnell ein andauerndes, energetisches Spiel zunächst recht kleiner, aggressiver Wellenbewegungen in unterschiedlichsten, aber immer interessanten Klangmischungen. Dabei fungiert etwa das Akkordeon (im „großen“ Orchester) als Ersatz für elektronische Quellen. Überraschend, dass diese Kleinteiligkeit auf Dauer keineswegs langweilt und trotz nicht überschaubaren Formverlaufs recht organisch zu gewaltigen Steigerungen führt.

Mit Jonathan Nott hat das Orchestre de la Suisse Romande nun offenkundig einen Chef gefunden, mit dem sich eine ganz erstaunliche Symbiose zu ergeben scheint. Wer Notts Anfänge kennt, wird anerkennen müssen, wie stark sich der Dirigent nicht nur in seiner äußerst präzisen Zeichengebung weiterentwickelt hat. Man kann nur darüber staunen, wie ihm seine Musiker insbesondere die immer aktive Nachzeichnung der komplexen, auch heftigen Dynamik – gerade bei Saunders – sozusagen aus der Hand fressen. Jedoch seine größte Leistung ist, den weitgespannten Bogen, die musikalische Entwicklung, ohne den nötigen Blick aufs Detail zu vernachlässigen, in Spannung zu halten. Ohne hier über bildhafte Allusionen wie Hineingreifen oder Aufreißen im Kontext von Wunde zu spekulieren: Die Musik wirkt so wie ständig wechselnder Lichteinfall aus verschiedenen Perspektiven. Saunders ist mit Wound jedenfalls ihr bisher beeindruckendstes Orchesterwerk gelungen – gewaltiger Applaus für eine Weltklasse-Uraufführung.

Nach der Pause steht, zwischen zwei Werken des in Deutschland noch nicht genügend beachteten Schweizers Dieter Ammann, Pierre Boulez‘ Messagesquisse (1977) für Violoncello solo – hervorragend: Léonard Frey-Maibach – und 6 Celli (hier aus beiden Ensembles) auf dem Programm. Nur bei den schnellen, dichten Abschnitten greift Nott hier unterstützend ein. Der Kammermusik-Klassiker ist nicht oft zu hören, sorgt dafür stets für Jubel, wie natürlich auch bei dieser Aufführung. Dieter Ammann kam relativ spät auf die klassische Schiene, und man merkt seiner Musik durchaus die Jazz- und Improvisationserfahrungen an. An seinen Stücken für großes Orchester tüftelt er teils jahrelang; die Ergebnisse sind dann allerdings in jeder Hinsicht faszinierend. Zuletzt hatte Ammann mit einem wirklich bahnbrechenden Klavierkonzert (Gran Toccata, 2019) bewiesen, auf welchem Niveau er sich mittlerweile bewegt, und das Stück geht hoffentlich weiter seinen Siegeszug um die Welt.

Als sie aus der Taufe gehoben wurden, hatten Boost (2001) und Glut (2016) ebenfalls sogleich für Furore gesorgt: Völlig zu Recht, wie die grandiose Darbietung heute erneut zeigt. Stimmige Farbigkeit mit einem bis ins Detail ausgearbeitetem Klangspektrum – dessen oft überbordende Schönheit in der Tat nicht zuletzt auf Ammanns perfektem Umgang mit den Erkenntnissen der französischen Spektralisten beruht – sowie enorme, dabei emotional immer nachvollziehbare Kontraste auf engstem Raum sind ein echtes Festmahl für ein an neuer Musik interessiertes Auditorium wie auch für das Orchestre de la Suisse Romande. Die Souveränität und die offensichtliche Begeisterung der Musiker übertragen sich so unmittelbar auf das Publikum. Nott – der Boost bereits uraufgeführt hatte – geht an den rhythmisch besonders exaltierten Stellen fast tänzerisch mit, zelebriert Ammanns mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks erstellte, wirklich schwierige Partituren mit Inbrunst. Am Schluss des Konzertes gibt es kein Halten mehr, und man muss der EvS Musikstiftung für das mehr als überfällige Gastspiel dieses Spitzenorchesters seinen Dank aussprechen.

[Martin Blaumeiser, 30. September 2022]