Archiv für den Monat: April 2016

Wie das Betrachten eines Sternenhimmels

Wie das Betrachten eines Sternenhimmels

Morton Feldman: Patterns in a Chromatic Field
Christian Giger, Cello
Steffen Schleiermacher, Klavier
CD 76’21 Min.,1/2014
©& MDG, 2016
MDG 613 1931-2
EAN  7  60623  19312  0

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Bum Viiuuviiuviu Bum Viouvioviiu … BumzakBumzak Viviviovivi  Bumzak – BumzakBumzak—Vivihioviiuviu …

Ich stelle mir einen an Neuer Musik interessierten Laien vor, der schon einmal den Namen Morton Feldman gehört hat, und der nun etwas von seiner Musik auch „hören“ („besitzen“) will. Ich stelle mir vor, er hat die erste Barriere (dieses hässliche Cover! Wollte MDG hier Gebühren für die VG Bild-Kunst sparen?) überwunden, und jetzt dieser Anfang! Ich drücke ihm die Daumen, dass er durchhält, denn schon nach eineinhalb Minuten verändert sich das Bild, allmählich (abgesehen von ein paar gelegentlichen kleinen „Störungen“ wie oben– dazu komme ich noch) kehren Ruhe und das typisch Feldmansche Schweben in Schwerelosigkeit ein. Wenn er die CD nicht vorher schon mit spitzen Fingern beiseitegelegt hat, dann kann er jetzt nacherleben, was Feldmans prominenterer Freund John Cage über diesen gesagt hat (zu finden in der deutschen Ausgabe von Silence, Bibliothek Suhrkamp 1995):

„Um die Dinge auf den neuesten Stand zu bringen, lassen Sie mich sagen, dass ich mich, wie immer, in Veränderung befinde, während mir Feldmans Musik sich eher fortzusetzen als zu verändern scheint. Es gab für mich nie, und gibt ihn auch jetzt nicht, einen Zweifel an ihrer Schönheit. Sie ist manchmal sogar zu schön. Das Aroma dieser Schönheit, das mir früher heroisch schien, berührt mich jetzt als erotisch (ein gleichwertiges Aroma, keineswegs von geringerem Rang). Dieser Eindruck rührt, glaube ich, von Feldmans Tendenz zur Zartheit her, einer Zartheit, die nur kurz, und manchmal überhaupt nicht, von Heftigkeit unterbrochen wird.  […] Er besteht auf einer Aktion innerhalb der Skala von Liebe, und dies erzeugt (um nur die extremen Wirkungen zu erwähnen) Sinnlichkeit des Klanges oder eine Atmosphäre der Hingabe.“

Steffen Schleiermacher, vielleicht (neben Sabine Liebner oder Aki Takahashi) der kompetenteste bekannte und lebende Interpret für Klavierwerke der New York School, hat bei seinem jetzigen Hauslabel MDG bereits die mit vielen Preisen dotierte monumentale Complete Piano Music John Cages auf 18 CDs (dort sogar mit ansprechenden Covern) herausgebracht, danach (ab jetzt durchweg mit sehr hässlichen Covern) Morton Feldmans Late Piano Works (auf 3 CDs), und nun auch die zwei späten Schwesternwerke Feldmans (bei denen jeweils ein Streichinstrument solistisch eingesetzt wird): for John Cage (entstanden 1982) für Violine und Klavier (Andreas Seidel) und jetzt eben die Patterns in a Chromatic Field (entstanden 1981) für Cello und Klavier mit Christian Giger. Dass dabei beide Werke auch noch sekundengenau die gleiche Zeit (76’21 Minuten) beansprucht haben sollen, ist aber ein Druckfehler auf der Rückseite der „Patterns“-CD: Giger und Schleiermacher brauchen (innen im Booklet steht’s richtig) dafür 79’17 Minuten. Damit halten sie den Rekord, dicht gefolgt (mit 80’42 Minuten) von Aleck Karis (Klavier) und Charles Curtis (Cello). Alle anderen mussten das Stück auf 2 CDs aufteilen: Youtaka Oya (Klavier) und Arne Deforce (Cello) nehmen sich dafür 88’04 Minuten Zeit, Giancarlo und Marco  Simonacci (Cello) 89’18 und Marianne Schroeder (Klavier) mit Rohan de Saram (Cello) gar 105’18 Minuten. Der Faktor Zeit wird von Kritikern traditionell überbewertet, ist aber hier, denke ich, doch von einiger Relevanz: Viele Werke Feldmans, und im Besonderen die „Patterns“, sind über weite Strecken von einer hochkomplexen, extrem vertrackten rhythmischen Struktur, welche bei allzu hastiger Interpretation kaum mehr gut dargestellt, geschweige denn verstanden werden kann. Umso erstaunlicher ist es, mit welcher Präzision und Luzidität Schleiermacher und Giger uns dieses wunderbare Werk nahebringen. Dazu sollte man wissen, dass Patterns in a Chromatic Field im Spätwerk Feldmans eine Sonderstellung einnimmt. Ich möchte kurz ausholen:

Morton Feldman erzählte nach der Uraufführung seines letzten Orchesterwerkes Coptic Light : „Ich habe gerade ein Stück für die Philharmoniker in New York geschrieben, und ich bekam eine sehr interessante Kritik: Der Rezensent sagte, ich sei der langweiligste Komponist in der Geschichte der Musik. […] Das ist die Hauptkritik an meiner Musik: sie sei nicht interessant. In Wirklichkeit ist damit gemeint, dass sie kein Moment von ‚Drama‘ enthält.“ Auch heute noch ist Vielen Feldmans Musik zu statisch, zu ereignislos. Vielleicht sollten sie sich dann einmal die „Patterns“  (übrigens manchmal, auch von Feldman selbst, als „Untitled Composition for Cello and Piano“ bezeichnet) anhören: Denn zu recht  schreibt Walter Zimmermann (Morton Feldman  Essays, Kerpen 1985) darüber: „Dieses Stück stellt sich ebenso erstaunlich quer zu den anderen längeren Stücken, wie dem Streichquartett, wie es auch das Stück für John Cage in seinem Gestaltenreichtum tat. Es ist das vitalste Stück, das Feldman je geschrieben hat. Es bröckelt und flirrt in schwierigsten rhythmischen Passagen des Cellos und erfordert in seinen 90 Minuten schier Unmögliches von den Interpreten.“  Übrigens war es sicher auch kein Zufall, dass das Michael Douglas Kollektiv für seine äußerst energetische Tanz-Performance Golden Trash (Gewinner des Kölner Tanz- und Theaterpreises 2013) genau dieses Stück Feldmans ausgewählt hat. Ich persönlich liebe ja gerade den „langweiligen“, den „hypnotischen“ Feldman, den „Trance Composer“ am meisten. Aber auch der kommt bei Schleiermacher und Giger nicht zu kurz: Herrlich die langen Pianissimo-Haltetöne des Cellos, wie Bewegung langsam in Stasis mündet und alles auf einmal zu leuchten beginnt. An dieser Stelle muss ich aber auch zugeben, dass ich die (langsamste) Interpretation von Marianne Schroeder und Rohan de Saram ganz besonders liebe. Diese CD des Kult-Labels hat ART ist leider vergriffen und deshalb inzwischen entsprechend teuer, wenn man sich nicht mit einem MP3-Download zufriedengeben will.  Feldman, King of slow motion, King of silence, soll den Interpreten eines seiner Stücke einmal wütend zugerufen haben: „It’s too fuckin‘ loud, and it’s too fuckin‘ fast.“ Das kann man sicher Schroeder und de Saram am wenigsten vorwerfen. Hier trifft vielleicht am stärksten das zu, was Wilfrid Mellers in seinem Buch “Music in a New Found Land”  über Feldman schreibt: „Music seems to have vanished almost to the point of extinction; yet the little that is left is, like all Feldman’s work, of exquisite musicality …” Und trotzdem gelingen auch der etwas härteren, stringenteren und strengeren Darstellung von Schleiermacher und Giger eben auch diese schwebend träumerischen Augenblicke (Ewigkeiten) ganz wunderbar. Und noch ein weiterer Aspekt von Feldmans Musik kommt in der vorliegenden Einspielung besonders gut zur Wirkung:

In den „Patterns“ benutzt Feldman sehr ausgiebig das von ihm so bezeichnete „spelling“, eine auskomponierte Mikrotonalität, bezeichnet durch Doppelkreuze und Doppel-B’s, die man aus der enharmonischen Verwechslung kennt, wo ihrer Vermeidung wegen umnotiert wird; „die er aber nicht funktional einsetzt, sondern als leichte Schwankung am Rande des gemeinten Tons verstanden wissen will“ (Walter Zimmermann in „Essays“). Lassen wir dazu Feldman selbst zu Wort kommen, der ein leidenschaftlicher Sammler alter türkischer Nomadenteppiche war (zu finden wieder in Walter Zimmermanns „Essays“): „ […] Ich benutze das, weil ich denke, es ist eine sehr praktische Art, das Hauptaugenmerk auf der Tonhöhe zu belassen. […] Aber diese Vorstellung habe ich nicht aus der Musik, überhaupt nicht. Ich habe sie von Teppichen. […] Eine der interessantesten Sachen bei einem schönen alten Teppich, der mit Naturfarben gefärbt ist, ist, dass er „abrash“ hat. […] Insofern ist die Farbe dieselbe und ist doch nicht gleich. Der Teppich hat eine Art mikrotonale Färbung. Wenn Sie ihn dann anschauen, dann hat er diesen herrlichen Schimmer, der von den sanften Abstufungen kommt.“  Und hier gebührt dem Cellisten Christian Giger ein ganz großes Lob, denn ihm gelingt der Zauber dieser feinen Subtilitäten ganz besonders gut.

Abseits aller Theorie möchte ich aber nicht vergessen, Ihnen das Hören dieser schönen CD ans Herz zu legen. Und, ein großer Vorteil, vielleicht der einzige, aber auch gravierende, eines „Heimkonzerts“: Sie können das Stück immer wieder hören, und Sie werden es mit jedem Mal besser verstehen und lieben lernen. Christian Wolff, Feldmans inzwischen einundachtzigjähriger Weggefährte aus den New-York-School-Zeiten, hat es im Booklet-Text zu Feldmans Streichquartett Nummer 2 sehr treffend zum Ausdruck gebracht: “Es geht natürlich darum, zuzuhören. Endgültige Informationen können hier nicht vermittelt werden. Diese Bemerkungen bieten einige Informationen, doch genau genommen sind sie für die Hörerfahrung dieser Musik nicht von Belang. Das Hören dieser Musik ist wie das Betrachten eines Sternhimmels bei Nacht, alles andere bleibt Material für eine Unterrichtsstunde in Astronomie.“

[Hans von Koch, April 2016]

Orgeltranskriptionen

querstand (Klassiklabel der Verlagsgruppe Kamprad), vkjk 1402; EAN: 4 025796 014020

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An der Orgel der Jesuitenkirche St. Michael München spielt Peter Kofler Orchester- und Klavierwerke in Transkription. Zu hören sind die Suite Nr. 2 aus Daphnis et Chloë von Maurice Ravel in Bearbeitung von David Briggs, die populäre Suite zu Maeterlincks Pelléas et Mélisande op. 80 von Gabriel Fauré in einem Arrangement von Louis Robilliard, Saint François de Paulemarchant sur les flots (Arr. Lionel Rogg) und die Symphonische Dichtung Prometheus (Arr. Jean Guillou) von Franz Liszt sowie eine eigene Bearbeitung von Claude Debussys Clair de Lune.

Trefflicher könnte der Titel dieser CD des in Bozen geborenen Organisten Peter Kofler nicht den Inhalt auf den Punkt bringen: „Transkriptionen“. An der Orgel der Jesuitenkirche St. Michael zu München wagt Kofler sich an Transkriptionen bekannter Orchesterwerke von Ravel, Fauré und Liszt, die allesamt durch komplexe Vielschichtigkeit und Ausnutzung des kompletten Orchesterapparats bestechen. Höhepunkt des Ganzen ist selbstverständlich die enorm diffizile Suite Nr. 2 aus Daphnis et Chloë von Maurice Ravel mit ihren weitläufigen und stets im Fluss befindlichen Begleitfiguren, die ein gesamtes Orchester auf eine harte Filigranitäts-Probe stellen.

Die Transkriptionen der Orchesterwerke sind im Großen und Ganzen recht gelungen, das prioritäre thematische Material ist meist gut durchhörbar und wichtige Begleitfiguren bleiben erhalten. Dass gerade bei Ravel einige nicht ganz unentbehrliche Stimmen verloren gehen müssen, ist unvermeidlich, doch fällt dies zu keiner Zeit ausgesprochen unangenehm auf. Alle Bearbeitungen sind darauf angelegt, den Orchesterklang möglichst vielseitig und plastisch wiederzuspiegeln und den reichen Tutti-Klang für einen einzelnen Spieler zu imaginieren.

Peter Kofler meistert seine Aufgabe als gesamtes Orchester mit Bravour und spielt die unvorstellbarsten Stimmgewirre in klarer Deutlichkeit und Schlichtheit. In Ravels erster Daphnis et Chloë-Suite erreicht er einen sehr weichen, sanften und fließenden Klang, der sanft verwischt, ohne ins Nebulöse abzugleiten. Teils gestaltet es sich gerade im ersten Teil, Lever du jour, als schwierig, wichtige Themen herauszuheben aus der schier erdrückenden Klangmasse. Doch vor allem ab der Pantomime gelingt es, immer wieder hell strahlende Akzente zu setzen, die sich aus dem nivellierenden Gewaber an Stimmen absetzen. Gegen dieses imposante Werk wirkt die Suite aus Pelléas et Mélisande op. 80 von Gabriel Fauré sehr beschaulich mit ihrer einprägsamen Thematik und ihren leicht-beschwingten kurzen Sätzen. Vor allem die Sicilienne ist nicht zu Unrecht ein wahrer Publikumsliebling geworden durch ihre höfisch-feine Marnier, in der zarten Zurückhaltung und dem introvertierten Gestus voll inniger Emotion. Kofler nimmt hier die Register stark zurück, um einen durchhörbaren Ton zu erzielen, welcher der tänzerischen Schlichtheit entspricht. Wieder pompöser sind die beiden Werke aus der Feder von Franz Liszt in ihrer harten Bodenständigkeit und Wuchtigkeit des Tuttis realisiert. Auch hier sorgt Kofler für klare Linien und Durchhörbarkeit der einzelnen Stimmen, anstatt auf rauschend verschwimmenden Orgeleffekt zu setzen. Zuletzt gibt es noch eine kleine Transkription eines Klavierwerks, welches es bedauerlicherweise nicht einmal in die Nennung auf dem Cover geschafft hat: Clair de Lune von Claude Debussy. Anfangs macht es die instrumentenspezifisch undifferenzierbare Dynamik einer Orgel sehr schwierig, die Oberstimme deutlich herauszuhören, da die Liegetöne die unscheinbare Bewegung überlagern. Mit dem Fortschreiten des Stücks treten jedoch alle Stimmen zusehends ans Licht. Ein Wiederschein des Klavierklangs ist in keinster Weise herauszuhören, anders als bei den restlichen Werken der CD kreiert die Transkription ein Stück mit eigenständig charakteristischem Klang, der die Originalbesetzung eben nicht nachzubilden versucht.

Kofler achtet auf eine hohe Plastizität und Vielseitigkeit der Tongebung in allen Werken, er hat sich in der Registrierung spürbar auch mit dem Orchesteroriginal auseinandergesetzt, um dieses in seiner vollen Pracht und großer Spannweite auf seinem Instrument erblühen zu lassen. Die Register sind größtenteils äußerst trefflich gewählt. Auf alle Fälle liegt hier ein spannender Versuch vor, bekannte Orchesterliteratur als einzelner Spieler möglichst umfassend darzustellen – ein Versuch, der interessanterweise auf einen der hier zu hörenden Komponisten zurückgeht: auf Franz Liszt, der seinerzeit alle Beethoven-Symphonien möglichst originalgetreu für Klavier setzte. Die Erweiterung dessen liegt nun hier mit Werken von und nach Liszt für Orgel vor.

[Oliver Fraenzke, April 2016]

A mixed bag: Transkriptionen von Musik John Irelands

Naxos/British Music Society
8.571372
EAN: 747313137275
Orchestra of the Swan
Raphael Wallfisch (Cello)
David Curtis

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Zugegeben: Qualitativ zählte John Ireland nicht immer zur absoluten Speerspitze der britischen Komponisten im 20. Jahrhundert, aber in seinen stärksten Momenten (z.B. Klavierkonzert oder das schön-schaurige sinfonische Gemälde „Legend“ nach einer schön-schaurigen literarischen Vorlage von Arthur Machen) hat er Musik geschrieben, die für jeden Liebhaber lyrischer Spätromantik mit einem Hang zum französischen Impressionismus unwiderstehlich erscheinen muss. Nun erscheint bei Naxos/British Music Society ein neues Album, das die Ambivalenz von Irelands Musik neu zur Diskussion stellt.

Dazu muss man vielleicht zunächst darauf eingehen, was es mit dem „co-labelling“ dieses Albums auf sich hat. Wie Liebhaber britischer Musik wissen, hatte die British Music Society jahrelang ein eigenes Label mit dem Kürzel BMS, das hierzulande kaum erhältlich war. Die Verkaufszahlen waren zuletzt so gering, das man auf die Methode „press on demand“ ausgewichen war, bei der eine CD erst dann gepresst wird, wenn eine Kundenbestellung vorliegt. Auch das klappte wohl irgendwie nicht so, wie sich das die Society vorgestellt hatte, und so kam Naxos als Partner, bei dem auch Raritäten ein Zuhause finden, wohl gerade zur rechten Zeit.

Aber zurück zur Musik, denn davon gibt es auf diesem Album einen bunten Strauß: Der etwas prosaische Albumtitel „Music for String Orchestra“ täuscht darüber hinweg, dass wir es hier mit nicht weniger als acht Werken zu tun haben, davon nur zwei Werke mit Spiellängen von mehr als 15 Minuten, der Rest sind kleinere Kompositionen. Es handelt sich beim Repertoire auf diesem Album zudem durchweg um Transkriptionen und Arrangements, meistens von Klaviermusik und Kammermusik.

So wurde Irelands Sonate in g-Moll für Cello und Klavier hier für Cello und Streichorchester gesetzt. Mit dem fabelhaften „Orchestra of the Swan“ und dem berühmten Cellisten Raphael Wallfisch sind Top-Kräfte am Start, die interpretatorischen Glanz en masse verströmen müssten. Der Vortrag gelingt jedoch „nur“ gut, vor allem weil Wallfisch und das Orchester nie als Interpretenteam erscheinen. Dies ist vielleicht ein Produkt des etwas „zerstückelt“ anmutenden Dirigats von David Curtis.

Kaum ist der Solist verschwunden, verströmen Gelegenheitswerke wie „Summer Evening“ oder „In a May Morning“ auf deutlich überzeugendere Art und Weise das schwere, patschulihafte Parfum, für das man Irelands Musikimpressionen entweder liebt oder ablehnt.

Vor allem „In a May Morning“ weiß zu gefallen. Ireland, der zugleich ein Naturbewunderer und dem Übersinnlich-Esoterischen zugeneigt war, zeigt hier ein schimmerndes Klangfarbenspiel, das von einem Moment auf den anderen von haarscharf am Kitsch vorbei schlitternden Kantilenen ein mysteriös klingendes Düsterreich tangieren kann, nur um die Komposition in schönstem Lyrismus zu beschließen, als sei nie etwas anderes dagewesen. Das eigentlich für Klavier geschriebene Stück klingt auf diesem Album übrigens, als sei es original für Streichorchester gemacht, was für die Qualität des dargebotenen Arrangements von Graham Parlett spricht.

Ähnliches könnte man über andere „kleine“ Stücke dieses Albums sagen, die wohl den am nächsten liegenden Kaufgrund für dieses Album darstellen. „A Dowland Suite“ (im Streichorchesterarrangement vom Komponisten selbst unter Mithilfe von Geoffrey Bush) ist typologisch artverwandt mit Gustav Holsts „St. Paul’s Suite“. Holsts Suite ist allerdings eleganter, schöner und, tja, auch einfach besser.

Kurz und gut: Dieses Album ist nicht schlecht, könnte aber besser sein. Das liegt einerseits an der dargebotenen Musik, die nicht immer zu Irelands Top-Ware zählt. Andererseits haben auch die Interpretationen noch „Luft nach oben“. Für Ireland-Fans, die alles brauchen, ist diese Platte aber sicherlich unverzichtbar, denn diese Streichorchesterarrangements gibt es nirgends anders, und sie sind auch spannend und interessant zu hören.

[Grete Catus, April 2016]

Pastoralen, Blumen und armenische Trompetenmusik

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Quer durch drei Jahrhunderte erstreckt sich das Programm der Württembergischen Philharmonie unter Leitung von Chefdirigent Ola Rudner am 24. April 2016 im Herkulessaal der Münchner Residenz: Von Haydns Trompetenkonzert Es-Dur Hob.VIIe:1 von 1796 und Beethovens F-Dur-Symphonie, der Pastorale, über Mahlers Symphonischen Satz C-Dur mit dem Titel „Blumine“ bis zu dem As-Dur-Trompetenkonzert von Alexander Arutjunian, geschrieben 1941. Solist ist der norwegische Trompetenvirtuose Ole Edvard Antonsen.

Wagnerisch wird es direkt zu Beginn des Abends mit der „Blumine“ von Gustav Mahler. Der Satz, welcher ursprünglich Teil der ersten Symphonie werden sollte, weist solch signifikanten Parallelen zum Komponisten des Ring-Zyklus auf, dass man stellenweise fast meinen möchte, im Programm stehe ein falscher Name. Es ist ein beschauliches Stimmungsgemälde, in aller intendierten Bedeutungslosigkeit unfassbar schön und träumerisch. Weitaus substantieller dann das Trompetenkonzert von Joseph Haydn in Es-Dur Hob. VIIe:1, welches nicht zu Unrecht das wohl meistgespielte Trompetenkonzert überhaupt ist (wenngleich sicher auch aufgrund des schmalen Repertoires). Dieses Konzert schmeichelt dem Solisten auf der Es-Trompete in den schönsten Tönen in seiner ihm ureigenen Tonart. Das Instrument erhält höchst sangliche Kantilenen, dankbar virtuose Läufe und rhythmisch prägnante Themen. Von äußerstem Gegensatz in der harmonischen Spannung ist dazu das in etwa gleichlange Trompetenkonzert des Armeniers Alexander Arutjunian, jenes Werk des damals erst 21-jährigen, welches ihm zu internationalem Durchbruch verhalf und bis heute eines der wenigen oft gespielten Stücke des Komponisten ist. Es ist geprägt von den unverkennbaren Einflüssen armenischer Volksmusik, von östlichen Tonskalen und sowjetisch bunt orchestrierter, orientalisch anmutender Harmonik sowie von problemloser Verständlichkeit und Unbeschwertheit für Spieler wie für Hörer. Das letzte Werk des Abends ist die Pastorale, die Symphonie Nr. 6 von Ludwig van Beethoven in der Tonart F-Dur. Das Schwesterwerk der Schicksalssymphonie besticht durch seine malerischen Naturbilder, durch endlose Motivrepetitionen im Kopfsatz, durch unendliche Melodien im folgenden Andante sowie die fast erzählerische Abfolge der kommenden drei Sätze, die unmittelbar miteinander verbunden sind. Eine besondere Schau ist natürlich der mitreißende Sturm-Satz mit ungebändigten Läufen, tiefem Grummeln in Streichern und Pauken sowie der stürmisch zischenden Piccoloflöte, die einen ihrer ersten solistischen und für das Werk substanziellen Einsätze in der Musikgeschichte erfährt.

Über die Darbietung lässt sich kurz und knapp sagen, sie war ausgesprochen gelungen und überzeugend. Vor allem bei Beethovens Pastoral-Symphonie war sie direkt frappierend gut. Diese Symphonie ist bekannt dafür, als endlos sich dahinziehender Einheitsbrei aus thematisch in sich kreisenden Motiven zu erscheinen, welcher banal und entwicklungslos vor sich hinplätschert, wie es sogar bei den Spitzenorchestern gerne der Fall ist. Es ließ also sehr aufhorchen, wenn an diesem Abend endlich einmal die großen Spannungsbögen entfaltet werden und die Musik die Kraft der befreiten Entwicklung erleben darf. Ola Rudner lässt die Musik aus ihrer Natürlichkeit und Schlichtheit entstehen, verleiht ihr nicht zu viel Härte – auch nicht im Sturm – und sorgt doch für einen ansteckenden Schwung und prächtige Ausdrucksvielfalt. Dass manch hörenswerte und thematisch bedeutsame Stimme dabei nicht ganz zum Vorschein kommt, ist wie stets hauptsächlich der teils etwas schwer zu strukturierenden Instrumentation des Werks geschuldet, welche die Hauptstimmen teils sehr effektiv überdeckt. Der schwedischstämmige Dirigent Ola Rudner zeigt hier eindrucksvoll, dass man mit tiefergehendem Verständnis für das Werk es schaffen kann, aus dem Trott der ewig gleichen Wiedergaben herauszukommen und der Symphonie wieder neues, frisches und unverbrauchtes Leben einzuflößen.

Auch in den anderen Programmpunkten überzeugen Orchester und Dirigent auf hohem Niveau, vermitteln Anmut und feinen Glanz in Mahlers Blumine und geben dem Solisten Ole Edvard Antonsen einen flexiblen Widerpart zu seinen Solostimmen. Außergewöhnlich anzusehen für so große Hallen sind die Gesten von Ola Rudner, die sehr innig, kompakt und komplett ohne Schielen auf außermusikalischen Effekt erscheinen, anstatt das von den meisten Dirigenten praktizierte publikumshascherischen Show-Gehabe zu präsentieren.

Einen wahren Star an der Trompete hat sich die Württembergische Philharmonie an das Solistenpult geholt, Ole Edvard Antonsen. In den zwei so verschiedenen Konzerten demonstriert er die verschiedenen Facetten seines Könnens und ist auch, wie seine pittoreske Zugabe „Fanfare“ zeigt, ebenso für zirkushaften Spaß und Hochseilartistik zu haben. Hervorzuheben ist sein unbeschreiblich ausgereiftes Spiel mit Distanzwechseln, sein Klang kann quasi direkt beim Hörer sein, aber auch in der Nähe vor der Bühne stehenbleiben oder gar wie hinter dem Podium befindlich erscheinen – zwischen diesen Ebenen kann er ohne Luft zu holen changieren. Im Haydn behält ein sanglicher und offener Ton in sprühender Farbigkeit und Lebendigkeit die Oberhand, bei Arutjunian differieren die diversen Tongebungen natürlich viel mehr und er stellt unter Beweis, auch zerbrechlich-zurückgezogen oder extrem auftrumpfend-anstachelnd spielen zu können. Mit technischer Makellosigkeit ausgestattet brilliert Antonsen in Lockerheit und bewusst gesetzter wie angenehmer Distanz zu den Stücken, die er zwar von seiner inneren Beteiligung her auskostet, aber emotional  nicht in ihnen zu versinken droht.

Die Württembergische Philharmonie unter Ola Rudner zeigt sich herausragend auch als Begleiter, mit ausgereiftem musikalischen Verständnis – hieran sollte sich manch eines unserer A-Orchester ein Vorbild nehmen!

[Oliver Fraenzke, April 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Hochdramatische Feuertaufe und Quintettorchester

Im britischen Klassikmagazin Gramophone gab es eine Rubrik, in welcher Kritikernestor Robert Layton Kritiken jüngerer Kollegen nachträglich kritisch unter die Lupe nahm und sozusagen Kritik an der Kritik übte. Das ist sicher eine originelle Idee, und mehr Kritik an der Kritik wäre dringend allgemein vonnöten. Nun haben wir zwar nicht vor, dergleichen bei The New Listener einzuführen, doch mit dem Eklat um die Kritik von Josef Rottweiler zum Konzert im Freien Musikzentrum München am 22. April liegt ein Fall vor, dem weitere Klarstellung gut tut. Da der Verfasser dieser Zeilen im Konzert auch zugegen war, möchte er nunmehr eine dritte Stimme hinzufügen, um das Spektrum des Wahrgenommenen zu erweitern.

Das Konzert, in dessen erster Hälfte der in München lebende peruanische Meisterpianist Juan José Chuquisengo erstmals als Komponist vor die deutsche Öffentlichkeit trat, begann mit einem Arrangement Chuquisengos von Mariano Mores’ (1918-2016) populärer Milonga ‚Taquito militar’ für Violine und Klavier, vortrefflich im spielerischen Charakter erfasst von Rebekka Hartmann und Ottavia Maceratini. Danach spielte Frau Maceratini eine rauschhafte Klavierfantasie von Chuquisengo, die sie elf Tage zuvor in Zürich zur sehr erfolgreichen Uraufführung gebracht hatte (siehe die entsprechende Zürcher Kritik bei The New Listener) – und die sie hier noch differenzierter und souveräner zu gestalten verstand: ‚Guerrero Andino’, ein technisch äußerst herausforderndes, ungeheuer klangschönes Werk, das eine immense Stilbreite quasi indigener Stilelemente vorstellt, ohne je Volksweisen zu zitieren, und nach Ansicht vieler prädestiniert, ein erfolgreiches Repertoirestück zu werden.

Dem folgte die Uraufführung der 2014 entstandenen und 2015 überarbeiteten ‚Tango-Metamorphosen’ von Chuquisengo für Streichquintett unter der sehr musikalischen Leitung des Komponisten. Er erwies sich darin auch als durchaus begabter Dirigent, der sicher noch das rechte durchgehende Maß zwischen Aktion und Geschehenlassen finden muss – ein paar Mal hatte man den Eindruck, dass er so sehr beim Zuhören war, dass er fast das Dirigieren vergessen hätte. Umso inniger glückte vieles in dieser Aufführung. An einigen besonders komplexen Stellen in diesem so überreichen, hochdramatischen, wahrhaft symphonisch gebauten großen einsätzigen Werk, das ursprünglich als Hommage an Astor Piazzolla betitelt war, kam es zu kleineren Unfällen, und einmal stieg eine Beteiligte für längere Zeit aus und spielte trotzdem weiter, was für ein paar Takte harmonisches Chaos sorgte. So etwas ist bei Uraufführungen immer wieder passiert, es gehört sozusagen zum Abenteuer der Feuertaufe dazu, und doch kann man den Musikern, die in kürzester Zeit (bedingt durch Erkrankung zunächst zur Mitwirkung vorgesehener Kollegen) das kontrapunktisch und rhythmisch sehr komplexe Werk erstaunlich gut umzusetzen verstanden, nur hohen Respekt zollen, und das Publikum war zutiefst ergriffen und begeistert von dieser so wild ungestümen wie zärtlich gesangvollen Musik, die organisch zielsicher unterschiedlichste Aggregatzustände durchwandelt. Chuquisengo hat das Zeug zu ganz Großem und dürfte als Komponist bald zu hohen Ehren kommen.

Nach der Pause spielten zunächst Rebekka Hartmann und Shasta Ellenbogen drei wunderschön einfache Canzonettas vom großen neuseeländischen Meister Douglas Lilburn (1915-2001), wobei die so einfache Pizzicato-Begleitung der Bratsche in der ersten Canzonetta rhythmisch sehr unstet ausfiel. Ansonsten war der Vortrag sehr ausdrucksvoll und fesselnd. Im folgenden Duo für zwei Violinen, im Zusammenspiel nicht ganz so beglückend, konnte man Lilburns große Kunst freier kontrapunktischer Gestaltung bewundern. Wer nicht ideologiebelastet an diese Musik herangeht, also sich nicht damit aufhalten muss, dass zu dieser Zeit Boulez, Nono oder Xenakis viel „modernere“ Musik geschrieben haben, kann erfahren, welch große Kunst in vollendeter Einfachheit und auch erfüllter Sparsamkeit der Mittel liegen kann.

Gestalterischer Höhepunkt des Konzerts war zweifellos das erste Klavierkonzert in C-Dur von Beethoven in der Streicherfassung Vinzenz Lachners. Ja, es war wirklich erstaunlich, wie orchestral das Quintett erklang, und man kann von Ottavia Maria Maceratini nur sagen, dass man lange herumreisen muss, um jemanden zu hören, der dieses Konzert heute ähnlich überzeugend darbieten könnte. Wenn viele Zuhörer hier von Weltklasse sprachen, kann man ihnen nur gelassen beipflichten. Sicher, der langsame Satz vertrüge mehr Ruhe und eine tiefere Erforschung der introvertierten Dimension, der Schattenanteile der Musik; und das Finale war an der absoluten Tempoobergrenze orientiert, das war kein Allegro mehr, sondern ein Presto – aber so gespielt, so artikuliert war es einfach bezwingend. Schwierig allerdings für die Streicher, in dem rasanten Tempo zu entsprechendem Klang zu finden, da müsste man es wohl noch ein paar Mal spielen. Ganz besonders gelungen war auf jeden Fall der Kopfsatz, und insgesamt war das alles von einer frappierenden Musikalität und organisch entwickelten Logik des Aufbaus, eine echte Freude. Wir sind sehr gespannt, was wir von diesen Musikern noch hören werden.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, April 2016]

Stellungnahme der Redaktion

Liebe Leserinnen und Leser,

mit großer Freude und Genugtuung haben wir den Sturm der Entrüstung über die Kritik von Josef Rottweiler zum Konzert am 22. April im Freien Musikzentrum München zur Kenntnis genommen. Die Forderung, den Artikel doch bitte von der Seite zu nehmen, können wir sehr gut verstehen, und wir stimmen Ihnen zu, dass der persönlich beleidigende, tendenziöse Tonfall auch dem Image von the-new-listener.de in der Öffentlichkeit Schaden zufügen kann.

Auch wir wollten diese Kritik zunächst nicht veröffentlichen. Doch dann haben wir uns nach eingehender Beratung – auch angesichts jüngst vorgekommener Vorfälle, die sehr bedenklich sind und sich zur Staatsaffäre ausweiteten – entschieden, keine Zensur auszuüben, also auch keine Unterdrückung selbst in einem so gravierenden Fall von ehrverletzender Attacke, sondern auch diese Ansichten, so subjektiv sie sein mögen, öffentlich zur Diskussion zu stellen. Wir stimmen mit Ihnen darin überein, dass der Autor (in seinem Debüt-Artikel für the-new-listener.de!) seine Angriffe unter der Gürtellinie ausgeführt hat (oder auch, wie einige schrieben, hinterrücks und feige). Das Gute daran ist, dass der Autor daran unmittelbar erfahren kann, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung unmittelbar mit dem Recht auf öffentliche Hinterfragung und Entlarvung der Motive verbunden ist, und wir hoffen, dass er daraus seine Lehren zieht. Er wurde darüber belehrt, dass dies keine angemessene Haltung für eine Kritik ist, und wir werden sehen, ob er in Zukunft zu unterscheiden lernt zwischen sachlicher Polemik und unsachlichem Austoben von wie auch immer begründeten Abneigungen. Wir bitten Sie jedoch auch um ein gewisses Verständnis, dass hier eben manches öffentlich stattfindet, was sonst vielleicht nur hinter verschlossenen Türen gesprochen würde. Umso größer eventuell die Chance, dass daraus gelernt wird.

Die Redaktion distanziert sich ausdrücklich von Teilen des Inhalts der Kritik von Josef Rottweiler, und jeder Leser kann sich seine eigene Meinung darüber bilden, warum das so ist, indem der Artikel auch weiterhin in dieser Form verfügbar bleibt. Wir sind in diesem Fall sogar so weit gegangen, den hauptsächlich kritisierten Künstler zu fragen, ob er ein Problem damit hat. Er ließ uns wissen, dass er grundsätzlich keine Zensur wünscht und sich freut, wenn die daraus entstehende Dynamik zu einer grundlegenden Debatte über die Werte der Kritik und die Frage konstruktiv beiträgt, inwieweit diese sich darauf berufen kann, subjektive Meinungsäußerung zu sein. (Vielleicht machen wir demnächst ein Interview mit ihm darüber.) Er ließ uns aber auch wissen, dass er sich anders verhalten hätte, wären die am Konzert direkt beteiligten Musiker unter derartigen Beschuss gekommen, und dass er kein Verständnis für die pauschal vernichtende Beurteilung der von uns allen sehr geschätzten Musik von Douglas Lilburn hat. Er hätte es mutiger gefunden, wenn der Autor sich derart an Beethoven vergangen hätte, und dem dürften sicher einige von Ihnen zustimmen.

Sie sind also alle eingeladen, hier vorbehaltlos zum Ausdruck zu bringen, wie Sie zu den Inhalten unserer Seite stehen.

Einen schönen Sonntag noch und herzliche Grüße an alle Leserinnen und Leser,

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley & Oliver Fraenzke]

[Rezensionen im Vergleich] Komponistenportrait Juan José Chuquisengo

22. April 2016 20 Uhr im FM Z

Tango – Inka – Lilburn  – Beethoven
Portrait Juan José Chuquisengo

Ottavia Maria Maceratini Klavier

Symphonia Momentum-Quintett
Rebekka Hartmann, Violine
Anna Möllers, Violine
Shasta Ellenbogen, Viola
Nargiza Yusupova, Violoncello
Artem Ter-Minassian, Kontrabass
Juan José Chuquisengo, Dirigent

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Mariano Mores (1918 – 13.4.2016 arr. J.J. Chuquisengo
Taquito militar (Milonga) für Violine und Klavier

Juan José Chuquisengo
Guerrero Andino für Klavier Solo DEA

Juan José Chuquisengo
Tango-Metamorphosen für Streichquintett UA

Douglas Lilburn (1915 -2001)
Three Canzonettas für Violine und Viola (1943/1958)
Duo Nr. 5 für 2 Violinen (1954)

Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur op. 15 (1795)
Arr. Für Klavier und Streicher von Vinzenz Lachner (1811-1893)

Welch ein Abend im ausverkauften, proppevollen Konzertsaal des FMZ! Ein Programm von den Anden über „down under“ bis zum Wienerwald, vom peruanischen, in München lebenden Komponisten und Pianisten Juan José Chuquisengo über den Neuseeländer Douglas Lilburn zurück zum Wiener Altmeister Ludwig van …, was für ein musikalischer Bogen! Sehr temperamentvoll gleich der Beginn mit Mariano Mores’ Milonga für Violine und Klavier, die bei Ottavia Maria Maceratini und Rebekka Hartmann in besten Händen war.
Die Erinnerung an einen außergewöhnlichen Mann in den Anden hatte Juan José Chuquisengo zu seinem Klavierstück Guerrero Andino (Andenkrieger) animiert. Da er selbst ein überragender Pianist ist, war die deutsche Erstaufführung dieser Komposition – sie paraphrasiert frei Stilelemente der indianischen Kultur – über die Verwendung des gesamten Klangspektrums des Flügels angefüllt mit virtuosesten Trillerketten und darunter oder darüber liegenden Melodien.
(Mehr über Ottavia Maria Maceratinis sensationelles Klavierspiel kann man auch bei „The New Listener“ nachlesen über ihr Debut in der Züricher Tonhalle vor wenigen Tagen.)
Jedenfalls meisterte sie die immensen Schwierigkeiten gelassen und bravourös, vom leisesten pianissimo zum auftrumpfendsten Fortississimo ist ihr Ton immer kraftvoll und nie hart. Diese Klavierfantasie hat das Zeug. zu einem der ganz großen Repertoirestücke der neuesten Klavierliteratur zu werden. (Allerdings werden es nur wenige Spieler so spielen können, wie wir es an diesem Abend erleben durften.)

Nach dem KlavierKlangErlebnis war die Bühne frei für die Uraufführung von Juan José Chuquisengos „Tango-Metamorphosen“ für Streichquintett von 2014. Die fünf Streicher des Symphonia Momentum-Streichquintetts unter der Leitung des Komponisten selber hoben das Werk aus der Taufe.
Nach einer kurzen Einleitung der Viola, des Cellos und des Kontrabasses beginnt ein rhythmisch äußerst vertracktes Spiel der Streicher, ab und zu unterbrochen durch sanfte, fast schwebende Passagen. Viele Möglichkeiten zu ungewöhnlichen Klangeffekten – z.B. Schläge auf das Holz der Instrumente oder Kratzgeräusche – wechseln ab mit Ausbrüchen verschiedenster melodiöser und rhythmischer Partikel. Oft duettieren auch die beiden Violinen oder Viola und Cello. Quasi kanonische Einsätze wechseln ab mit homophonen Streicherklängen. Die ursprüngliche Konzeption für Streichorchester hatte der Komponist für Streichquintett bearbeitet. Alle Musiker spielten mit Hingabe und  Begeisterung, und wenn es auch an einigen Stellen dieses irrsinnig schwer zu spielenden Stücks noch nicht ganz perfekt klappte, so war die Energie und Lyrik dieser Tango-Metamorphosen doch mit allen Sinnen zu greifen.
Begeisterter Beifall vor der notwendigen Pause.

Die Kompositionen des Neuseeländers Douglas Lilburn sind bei uns so gut wie unbekannt –  trotz der Feiern zu seinem 100. Geburtstag, die allerdings in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen wurden. Dabei sind sie bei aller scheinbaren Einfachheit sehr ansprechende und zauberhafte Musik. Davon konnte sich das Publikum vor allem bei den drei Canzonettas überzeugen, die Rebekka Hartmann  und Shasta Ellenbogen auf Violine und Viola intensiv und bewegt-bewegend vortrugen.

Nach diesem Ausflug zu den Antipoden kehrten alle Musikerinnen und Musiker mit dem ersten Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven in der Bearbeitung für Klavier und Streicher von Vinzenz Lachner (er war der jüngste der drei Lachner-Brüder) zurück nach Europa. Und wie! Nach einer kurzen Einleitung übernahm Ottavia Maria Maceratini die Führung und alle sechs Ausführenden ließen sich vom Beethoven‘schen Genius zu feuriger und herzbewegender Musizierkunst anregen. Die drei Sätze mit ihrem unentwegten Wechselspiel aus Melodie, Harmonie und tänzerischster Rhythmik, – was ist dieser Komponist doch für ein überragender Melodiker, immer wieder! – flogen vorüber und beschlossen einen Abend der Superlative, den diese Konzertreihe mit einem so ungewöhnlichen wie längst zu erwartenden Publikums-Zuspruch mehr als verdient hat.

[Ulrich Hermann, April 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Den Saal „gerockt“

Anmerkung der Redaktion aufgrund vermehrter Kritik an dem Artikel von Josef Rottweiler:
Rezensionen unserer Autoren müssen in keiner Weise mit der Ansicht der Redaktion übereinstimmen. Die Redaktion von The New Listener lässt ganz bewusst Spielraum für gegensätzliche Standpunkte und zensiert nicht, sondern korrigiert lediglich sachliche Fehler oder stilistische Schwächen.

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Das Freie Musikzentrum total ausverkauft, nichts weniger als überragende musikalische Interpretationen, eine faszinierende Uraufführung eines bis dato unbekannten Komponisten, dem offensichtlich eine Weltkarriere bevorsteht: das Portraitkonzert Juan José Chuquisengo am 22. April gehörte selbst in einer Musikmetropole wie München zu den absoluten Highlights der Saison und stellt so vieles in den Schatten, was die großen Klangkörper wie Philharmoniker, BR-Symphonie-Orchester oder Bayerische Staatsoper zu bieten – ähnlich wie am Abend zuvor das Münchener Kammerorchester unter dem wunderbaren finnischen Maestro John Storgårds, der uns endlich wieder einmal Haydn hören gelehrt hat.

Die erste Hälfte des Konzerts gehörte ganz dem legendären peruanischen Meisterpianisten Juan José Chuquisengo, der in München lebt und wirkt. Fast ganz: zu Beginn erklang ein hinreißendes Arrangement des Peruaners einer musikalischen Kindheitsliebe, des beliebten Taquito militar von Mariano Mores, der genau neun Tage vor diesem Konzert hochbetagt gestorben ist. Dann Ottavia Maria Maceratini, eine Löwin am Grand Piano, und zugleich zu den feinsten Schattierungen in der Lage. Mit feinst differenzierter Stimmungskunst führte sie uns durch die Hochgebirgsweiten von Chuquisengos Guerrero Andino, einer gigantischen Klavier-Rhapsodie zwischen Naturlaut, Volkslied und rassigen rhythmischen Riffs, die höchste pianistische Virtuosität verlangt. Diese erbringt die Maceratini mit stupender Selbstverständlichkeit, doch betören auch ihre Sanftmut und Eleganz der Übergänge. Das neue Werk ist elf Tage zuvor durch sie in Zürich zur Uraufführung gelangt, und man spürt in jedem Ton die tiefe Verbindung und Liebe zur Klangsprache des Komponisten, der trotz aller Befähigung an diesem Abend nicht selbst als Pianist in Erscheinung tritt. Aber dann als Dirigent: Chuquisengo dirigiert das Symphonia Momentum Streichquintett in der Uraufführung seiner Tango-Metamorphosen. Der Stil dieses Werkes ist vollkommen anders als in der Klavier-Rhapsodie mit ihrem vollendeten Schönklang, ihren rauschhaften Aufwallungen. Hier, in diesem in der großen Form so spannenden wie überzeugenden Tango nuevo, tritt eine unerschöpfliche Palette inneren Reichtums ans Tageslicht, von zerreißendem Schmerz und aufreibenden Kämpfen über herrliche Tagträume hin zu schlicht mitreißendem Tango der entschiedensten Sorte. Manchmal scheint gar die Musik über sich selbst hinaus wachsen zu wollen, schwankt zwischen Euphorie und Atemlosigkeit, um plötzlich abzureißen und wieder etwas ganz Anderem Platz zu machen. Großartig, beide Werke in ihrer Art. Man kann nur sagen: ein großer Komponist ist geboren, der schon symbolhaft für die Emanzipation Lateinamerikas stehen wird. Das Publikum reagierte mit jedem Stück begeisterter und war in der Pause völlig „aus dem Häuschen“.

Nach der Pause wurde es zunächst problematischer. Christoph Schlüren, der in den Abend einführte, hatte die Zuhörer schon zuvor mit seinen fast unfreiwillig satirischen Kommentaren genervt, und nun pries er uns einen Komponisten als „groß“, von dem man nur sagen: „des Kaisers neue Kleider“. Wieso lässt man einen so musikalisch unbegabten Menschen so viel reden und uns dann noch simpelste Musik aus Neuseeland, von den „Antipoden“, auftischen, die zwar schön und gut gemacht ist, jedoch einfach nicht aus den Kinderschuhen der einfachsten Tonalität, aufgepeppt mit teilweise ein wenig Kontrapunkt, schlüpfen will. Von Douglas Lilburn hörten wir drei Duos für Geige und Bratsche (von Rebekka Hartmann und Shasta Ellenbogen fantastisch gespielt) und ein Duo für zwei Geigen. Legen wir den Mantel des Schweigens über diese peinlichen Nichtigkeiten, und hoffen wir, dass uns Herr Schlüren mit seinen Privatideologien künftig in der Öffentlichkeit erspart bleibt. Es ist ein bisschen, als wollte er mit seiner sperrigen Idiosynkrasie den Putin der Klassische-Musik-Szene spielen…

Zum Schluss dann Beethovens erstes Klavierkonzert in C-Dur in einer erstaunlich gut funktionierenden Fassung für Klavier und Streicher von Vinzenz Lachner, einem sonst kaum bekannten Romantiker. Dass es so gut funktionierte, lag in erster Linie an dem von Chuquisengo einstudierten Streichquintett, das tatsächlich die Illusion eines wirklichen Orchesters schuf. Man muss lange Zeit zusammen gearbeitet haben (die Musiker spielen seit 2010 zusammen), um eine solche Klasse sowohl musikalischer Interaktion als auch bewusster Interpretation zu erreichen. Obwohl uns auch hier noch einmal Herr Schlüren mit einem Sermon höchst fraglicher Informationen zuschüttete, war die Laune des Publikums angesichts einer denkwürdig hochklassigen Aufführung nicht in Schieflage zu bringen. Ottavia Maria Maceratini erwies sich als eine der besten Musikerinnen unserer Tage, technisch und tonlich auf dem höchsten Stand, der sich denken lässt, und musikalisch mit einer Klarheit und intuitiven Richtigkeit der Auffassung gesegnet, die einfach frappiert. Und doch, so gut, wie das „Orchester“ gespielt hat, ist es fast unanständig, sie besonders hervorzuheben. Primaria Rebekka Hartmann spielte ihre ganze Weltklasse aus, und ich möchte ausdrücklich auch noch die fulminante Cellistin Nargiza Yusupova und den so mutig wie rücksichtsvoll agierenden Kontrabassisten Artem Ter-Minassian nennen. Im Finale haben die Musiker den Saal, der bis zum letzten Platz besetzt war, regelrecht „gerockt“. So etwas – völlig überraschend – Tolles haben wir schon lange nicht gehört. Diese Musiker haben jeden Preis verdient und sollten unbedingt eine Platte machen, die man dann am Ausgang auch kaufen kann. Wie gut das Konzert war, merkte man übrigens auch daran, wie hellwach und berührt das Publikum bis zum Schluss war, und dass nach nicht enden wollendem Anlass kaum Anstalten gemacht wurden, den Saal zu verlassen.

[Josef Rottweiler, April 2016]

„Ein Kosmos feinsinniger Musik“

Georg Philipp Telemann: The Grand Concertos for mixed instruments Vol. 3
La Stagione Frankfurt, Conductor: Michael Schneider
CD 63‘09 Min., 5/2013 und 1/2014
©& cpo 2016, cpo 777 891-2
EAN  7  61203  78912  2

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Mag das (allerdings missverstandene) Diktum Strawinskys über das eine Konzert Vivaldis, das er sechshundertmal geschrieben haben soll, reichlich arrogant wirken (ich denke, es gibt sicher eine Anzahl doch im höheren zweistelligen Bereich von untereinander verschiedenen Repräsentanten Vivaldis etwa 500 erhaltener Konzerte), so kennen wir von Telemann, dessen Gesamtproduktion diejenige Bachs und Händels zusammen genommen noch übertrifft, über 100 Konzerte (leider nur ein Bruchteil dessen, was einmal existierte), und davon gleicht nun wirklich keines dem anderen.

Und so war es für mich ein Freudentag, endlich das Volume 3 der Sammlung The Grand Concertos for mixed instruments, die Michael Schneider mit seinem Orchester La Stagione Frankfurt, einem handverlesenen Ensemble von Experten für Alte Musik, in Händen zu halten. Vom gleichen Team gibt es bei cpo bereits Telemanns sämtliche verfügbaren Bläserkonzerte auf 8 Silberscheiben. Bei den 5 Konzerten der vorliegenden CD ist zwar diesmal keine Ersteinspielung dabei, aber das schmälert den Repertoirewert des Gesamtprojekts – abgesehen von der schwer zu toppenden Qualität –  keineswegs. So kenne ich zum Beispiel keine vergleichbar gute Einspielung des wunderbaren Quadrupel-Konzerts TWV 54:D1 für zwei Traversflöten, Solo-Violine und Solo-Violoncello. Das Gleiche gilt für das Tripelkonzert TWV 53:e2 für 2 Oboen und Solo-Violine. Michael Schneider, einer der ganz großen Experten für Alte Musik, sowohl in Forschung als auch in Lehre, und auch als Ausführender – 2000 hat ihm die Stadt Magdeburg den renommierten Telemann-Preis verliehen – präsentiert uns hier, wie schon bei seinen vorangehenden Produktionen, wieder „Telemann vom Feinsten“, wobei er bei einem Konzert auch selbst die Traversflöte spielt. Und er konnte für diese Produktion wieder die besten Solisten auf ihrem Gebiet verpflichten. Ich nenne dazu als Beispiel den Oboisten Hans-Peter Westermann (ebenso hätte ich den Oboisten Martin Stadler, den Traversflötisten Karl Kaiser, die Violinistin Ingeborg Scheerer und viele andere auswählen können): Man kennt Westermann schon vom Concentus Musicus, der Neuen Düsseldorfer Hofmusik, der Musica Antiqua Köln, dem Ensemble Anima Eterna oder den Sonatori della Gioiose Marca, und er ist darüber hinaus auch noch Inhaber einer Manufaktur für historische Oboen. Dass eine mit so viel Prominenz besetzte Produktion auch gelingt, ist durchaus nicht selbstverständlich (wofür es auch prominente Beispiele gibt), ist hier jedoch absolut der Fall. Nirgends habe ich Telemann schöner, „richtiger“ und kurzweiliger musiziert gehört.

Ein extra Lob gebührt an dieser Stelle dem Booklet-Text: Wie schon für die Reihe mit Telemanns Bläserkonzerten, so ist auch für die (auf 4 CDs konzipierte) Serie von Telemanns Gruppenkonzerten cpo der Coup gelungen, dafür als Autor Wolfgang Hirschmann zu gewinnen. Er ist Professor für Historische Musikwissenschaft an der Uni Halle-Wittenberg und Editionsleiter der Telemann-Ausgabe im Bärenreiter Verlag. Ich habe selten einen differenzierteren und informativeren CD-Begleittext gelesen. Nimmt man die Heftchen dieser 11 CDs (die zwölfte kommt hoffentlich auch mit einem Text Hirschmanns) zusammen, so hat man ein Büchlein über Telemanns Instrumentalmusik, zu dem in der heute am Markt verfügbaren Literatur schwerlich Alternativen zu finden sind.

Ein Lob auch für die editorische Glanzleistung des Labels cpo in Sachen Telemann: Mit der in Aussicht gestellten vierten CD dieser Reihe (ca. 20 Konzerte), den 8 CDs mit den Bläserkonzerten (46 Stück), den 5 CDs von Elizabeth Wallfisch mit 22 Violinkonzerten (zuzüglich 5 Konzert-Ouvertüren mit Solo-Violine) ist man auf einem guten Weg zu einer Gesamtedition der Konzerte Telemanns. Und sie verdienen es alle, eingespielt  zu werden, ist es doch kein Zufall, dass Telemann der beliebteste und erfolgreichste Komponist seiner Zeit war, und nebenbei gesagt kann es das damalige Publikum an musikalischer Bildung und an gutem Geschmack durchaus aufnehmen mit unserem heutigen. An dieser Stelle kommt nun mein ganz großer Wunsch: Erhalten (wiederum nur ein Bruchteil des ursprünglichen Œuvres) sind auch noch 126 Orchestersuiten Telemanns. Ich kenne davon ungefähr die Hälfte und kann jetzt schon sagen: Auf diesem Gebiet gibt es – mehr noch als bei den Konzerten -, was musikalische Qualität, Abwechslungsreichtum, Geschmack und Esprit anbelangt, nichts Vergleichbares aus der Feder anderer Komponisten. Die 30-40 CDs, die man für eine Gesamteinspielung etwa brauchen würde, würden mich kaum langweilen, vorausgesetzt, die Produktion ist in den richtigen Händen. Und momentan traue ich solch ein Projekt am ehesten Micheal Schneider zu. Ähnlich wie Christopher Hogwood mit seinen Haydn-Symphonien sind bisher auch die Versuche einer Gesamt-Edition der Ouvertüren Telemanns gescheitert: Beim Collegium Instrumentale Brugense war nach 8 CDs (33 Suiten) vorläufig Schluss, bei Pratum Integrum nach 7 CDs (23 Suiten). Letzteres ist besonders bitter, weil diese 7 CDs mit das Beste sind, was an Telemann’scher Orchestermusik momentan zur Verfügung steht. Einzig  Micheal Schneider, mit Wolfgang Hirschmann als Booklet-Autor, könnten mich über diese Enttäuschung  hinwegtrösten! So kann ich nur bekräftigen, was Letztgenannter (als er sich bei der achten Folge der Bläserkonzerte eine Fortsetzung mit gemischten Solobesetzungen wünschte) geschrieben hat: „(…) entfalten Telemanns Konzerte einen Kosmos feinsinnigster Musik, in den einzutauchen auch heutige Hörer auf das Reichste beschenkt und zugleich erfahrbar macht, warum Telemann seinen Zeitgenossen schlicht als (…) überragende Musikerpersönlichkeit galt.“

[Hans von Koch, April 2016]

Viva la Salsa

Naxos 8.559817; EAN: 6 36943 98172 6

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„La Salsa“ lautet der Titel der Sinfonía No. 3 von 2005 des 1953 geborenen Roberto Sierra. Zusammen mit Borikén (2005), El Baile (2012) und dem Orchesterliederzyklus Beyond the Silence of Sorrow (2002) wurden sie von Maximiliano Valdés und dem Puerto Rico Symphony Orchestra für die Reihe American Classics bei Naxos eingespielt. Sopransolistin in den Liedern ist Martha Guth.

Es gibt so manche großartigen Komponisten, an denen man unerklärlicherweise jahrelang komplett vorbeigeht. Doch in glücklichen Fällen wird man dann doch auf eines seiner Werke aufmerksam, legt eine CD ein und ist gebannt vom ersten Ton an. So erging es mir mit der Musik des 1953 geborenen Komponisten Roberto Sierra aus Puerto Rico. Der Titel der dritten Symphonie macht gespannt. „La Salsa“: Dies als Symphoniename evoziert sogleich eine Kombination aus lateinamerikanischer und europäischer klassischer Musik. Jeder, der einmal ein Konzert mit Musik Lateinamerikas besucht hat, kann bestätigen, wie fesselnd die Rhythmik ist, welch ein Schwung und welch unvergleichliche Atmosphäre aufkommen und wie doch jedes Land seine spezifischen Eigenheiten kann, die ganz klar zu differenzieren sind – ein Potpourri der Stile, zeitgleich divergierend und einheitlich verbunden. Die Versuche, solche Musik mit der europäischen Tradition zu verschmelzen, brachten bereits manch ein großes Meisterwerk hervor, wobei Namen wie Villa-Lobos, Ginastera, Serebrier, Hamel, Chuquisengo oder Iturriaga, Carpio oder León repräsentativ zu nennen sind.

Ein weiterer Name ist nun zweifelsohne in eine solche Favoritenliste aufzunehmen: Roberto Sierra. Seine Musik umfängt mit belebtem Schwung und tänzerisch-leichtfüßigem Elan, die lateinamerikanischen Tanzrhythmen und Charakteristika verschmelzen auf elegante Weise mit klassischen oder barocken Formen und schaffen eine einzigartige Mixtur, in welcher die grundverschiedenen Welten in Einklang zusammenleben. Der erste Satz der Symphonie entreißt den Hörer der vertrauten Welt und schmeißt ihn bereits in den ersten dreißig Sekunden in den Süden Amerikas dank seiner prägnanten Rhythmik und des gekonnten Einsatzes der Instrumente. Sowohl in der Symphonie als auch in den anderen Werken belässt Sierra es nicht bei einem einzigen Salsa-Stil, sondern mischt ältere und neuere Rhythmen. In Borikén herrscht zentral auch die spanische Musik und über lange Zeit eine gewisse dissonante Reibung vor, die nach dem spektakulären Höhepunkt nahtlos in einen bewegten Tanz ausmündet, dessen Thematik trotz des großen melodischen Ambitus lange Zeit im Kopf bleibt. Die Motivzelle von El Baile birgt zeitlos deutschen Kontext, denn hier findet sich unverkennbar die Notenfolge B-A-C-H, die wie die Chaconneform von Borikén auf das Barockzeitalter verweist – wenngleich dies nicht wirklich auf Anhieb herauszuhören ist. Sierra schafft kontinuierliche Entwicklungen, einen vollkommen eigenen Stil in der Kombination der unterschiedlichsten Einflüsse, und demonstriert eine unvergleichliche Gabe der Orchestration, die Instrumente eines klassischen Symphonieorchesters wie auch lateinamerikanische Rhythmusinstrumente einbezieht.

Das Puerto Rico Symphony Orchestra spielt makellos und klar durchhörbar, Dirigent Maximiliano Valdés sorgt für eine merkliche Strukturierung der Stimmpolyphonie und auch der Dynamik. Er achtet auf authentisch vermittelten Spannungsaufbau und lässt die Abschnitte organisch ineinander übergehen, ohne dass Lücken entstehen. Ihm gelingt es, die grundverschiedenen Elemente der Musik einzeln ans Licht zu rücken, einander abwechseln zu lassen und doch zugleich als zu einheitlicher Wirkung zu bringen. Alle Werke entstehen somit in einer spielerischen Leichtigkeit, die den Tanzcharakter unterstreicht, die Rhythmik ist dabei penibel genau eingehalten und überträgt unwiderstehlich den markanten Ausdruck der Musik. Eindrucksvoll ist die Plastizität, mit der alles so natürlich geschieht, der volle und gleichzeitig durchsichtige Klang, die schnelle Wandlungsfähigkeit zwischen Dissonanz und Tanz sowie im Bezug auf die Stimmwechsel. Teils etwas gekünstelt wirkt der Sopran von Martha Guth mit divenhafter Opernprätention und statisch-monotonem Vibrato. Dennoch passt sich die Stimme erstaunlich gut in das Orchestergeschehen ein und vermag, die enormen Kräfte zu lenken. Dabei beweist Guth frappierende Brillanz in abenteuerlichen Sprüngen und in sämtlichen Lagen ihrer Stimme.

Zusammenfassend eine restlos empfehlenswerte Einspielung aus dem Hause Naxos von einem grandiosen Komponisten, von dem hoffentlich noch mehr Musik auf CD erscheinen wird oder vielleicht sogar bald einmal im Konzertsaal zu erleben ist!

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Blockflötenkonzerte

German & French Recorder Concertos

Markus Zahnhausen (* 1965)  Recordare (2015)

Fabrice Bollon (*1965)  Your Voice Out Of The Lamb (2014)

Günter Kochan (1930-2009)  Music for alto recorder, 25 string instruments and percussion 2000

Drei Welt-Ersteinspielungen

Michala Petri, Flöte
Odense Symphony Orchestra
Christoph Poppen, Conductor

Our Recordings 6.220614
7 47313 16146 1

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Wie hat sich das Verhältnis zu diesem Instrument im letzten Jahrhundert doch gewandelt! Vom ersten Anfänger-Instrument von der Tante für Kinder – und gerade besonders für Kinder fast immer völlig ungeeignet – zu einem hochentwickelten, spannenden und unglaublich vielseitigen Konzert-Instrument vom Barock bis zu den neuesten Kompositionen eines Markus Zahnhausen. Und Michala Petri hat dem Ganzen mit ihrer Präsenz und grenzenlosen Fertigkeit noch ganz andere, neue Möglichkeiten erschlossen. Vieles davon ist auf dieser Ersteinspielung zu hören und zu bestaunen.

Besonders im ersten Konzert, wo Markus Zahnhausen – selber Blockflötist – nicht nur die Möglichkeiten der verschiedensten Flöten einbaut, sondern auch der Solistin im Orchester-Part die bezwingendsten Begleitungen mitgibt, so z.B.  gleich zu Beginn mit Glockenklängen oder Rhythmen von Schlagzeug und großer Trommel. Glücklicherweise lag mir sogar die gesamte Partitur von zwei der aufgenommenen Stücke vor, ich konnte also die Strukturen auch im Notenbild mit verfolgen, ein ganz besonderer Zusatz-Genuss! Zahnhausens Konzert hat, da auch als zusammenhängende Form sehr gelungen, das Zeug dazu, ein moderner Klassiker für die Blockflöte zu werden.

Nicht nur Werke und Aufführungen sind auf exzellentem Niveau. Hinzu kommt ein außergewöhnlich umfangreiches und informatives Booklet, eine wahre Fundgrube über Anlass der Kompositionen und ihre Schöpfer. Von Günter Kochan hatte ich in einem Liederbuch schon einmal ein Klavierlied gefunden, der war mir also kein ganz Unbekannter mehr. Sein Konzert für Blockflöte, Streicher und  Schlagzeug zeigt seine Beherrschung des Handwerks natürlich ebenso wie seine eigenwilligen kompositorischen Ideen und deren souveräne Umsetzung: Kein Wunder, dass er zu den  besten Komponisten der ehemaligen DDR gehörte, auch wenn vieles seiner Musik  heute fast boykottiert zu werden scheint.

Michala Petri spielt alle Herausforderungen mit ihren unbegrenzten Möglichkeiten souverän aus,  es müssen  eben nicht nur Vivaldi, Händel, Bach oder die modischen Komponisten der Blockflöten-Literatur sein. Gerade moderne Kompositionen, die neue Spielweisen, neue Klänge, neue Herausforderungen an die Musikerinnen und Musiker stellen, zeigen – vor allem, wenn sie so überlegen gemeistert werden wie von der Dänin –, was aus diesem Instrument an Musik noch lange nicht an einem  Endpunkt – die entsprechenden Komponisten vorausgesetzt! – noch zu erwarten und bereits zu erleben ist und sein wird.

Am wenigsten ansprechend war für mich das Konzert von Fabrice Bollon für Flöte und kleines Orchester. Er baut hier auch elektronische Elemente ein, wie Loops und Verstärkung, bezieht sich auf die Rock-Gruppe „Genesis“ und versucht eine Mixtur aus allen möglichen Stil-Elementen der E- und U-Musik. Das mag für die ausführenden Musikerinnen und Musiker sicher spannend sein, mir sagte dieses Stück am wenigsten zu, was dem Komponisten reichlich egal sein dürfte, denn wie seine Musik ankommt, war sicher nicht sein primärer Impetus, diese Komposition zu schreiben. Er selbst vergleicht sich mit einem Koch, der mit verschiedensten Gewürzen aus den verschiedensten Erdteilen jongliert, um eine wohlschmeckende Mahlzeit zuzubereiten.
Ob und wie weit ihm das gelungen ist, muss jede Person beim Hören selbst beurteilen.

Im Ganzen aber ist diese CD eine großartige Bereicherung im Zusammenhang mit einem immer noch weit unterschätzten Instrument.

[Ulrich Hermann, März 2016]

Die Tradition auf neue Wege weiterführen

Die Uraufführung des bereits fünften Solokonzerts (ein Concertino mit einberechnet) von Michael F. P. Huber spielt das Orchester der Akademie St. Blasius Tirol unter Karlheinz Siessl im VIER und EINZIG in der Haller Str. 41 in Innsbruck. In der Matinée am 17. April 2016 wird außerdem das Concertino für Klavier und Orchester von Jean Françaix dargeboten sowie die Symphonie Nr. 38 KV 504, die „Prager“, von Wolfgang Amadeus Mozart.

Ein Klavierkonzert zu schreiben ist eine der schwierigsten Aufgabe für einen Komponisten. Nicht nur, dass neben dem eigentlichen Orchester auch das Klavier eine Art zweites Orchester mit umfangreichen Möglichkeiten darstellt, auch lasten unzählige große Meisterwerke auf den Schultern des Komponisten, mit denen viele Hörer das neue Werk unweigerlich mehr oder weniger unterschwellig vergleichen. Eine aufsehenerregend neue und kreative Art, mit diesen bestehenden Werken umzugehen, gelingt dem Innsbrucker Michael F. P. Huber. Der erst im vergangenen November mit dem Landespreis für zeitgenössische Musik Tirol ausgezeichnete Komponist beginnt sein Konzert mit vier Tönen, die einem überraschend bekannt vorkommen und einen geradezu verdutzen dreinschauen lassen: Doch, tatsächlich, direkt zu Beginn erklingt das eröffnende Viertonmotiv aus Tschaikowskys b-Moll-Konzert. Damit nicht genug der Anspielungen – Beethovens c-Moll-Konzert wird wie auch das zweite von Rachmaninoff in derselben Tonart zitiert, und ein Hornmotiv aus Schumanns a-Moll-Konzert. Und dies sind alleine die Werke, die ich beim ersten Hören ausmachen konnte, wie viele weitere für mich noch im Verborgenen geblieben sind, darf sich bei weiterem Hören offenbaren. „Hommage“ nennt Huber treffend diesen ersten Satz und zeigt damit, dass er einer Tradition entspringt, derer er sich gerne bewusst ist und die er eben fortführt anstatt mit ihr brechen zu wollen.

Das Klavierkonzert von Michael F. P. Huber (Autor von derzeit drei Symphonien, nunmehr fünf Solokonzerten, Vokal- und Kammermusik) bleibt seinem bisherigen Stil treu und ist trotzdem eine Weiterentwicklung dessen. Die Musik ist zweifelsohne modern, jedoch fern aller Beliebigkeiten und avantgardistischen Moden, stets erfrischt sie mit einem ansprechenden Ton ohne maßlos aufgehäuft schmerzende Dissonanzen. Formale Struktur und Entwicklung sind zentral für Hubers Werkschaffen – und so wird auch besagtes Viertonmotiv wiederkehrendes Kernelement des Kopfsatzes. Die Musik changiert zwischen polyphonem Beinahe-Chaos und klar gegliederter Ordnung, in beiden Extremata ist die bei Huber ohnehin faszinierend beherrschte Instrumentation spürbar weiter ausgereift. Das Klavier, bisher noch wenig bedacht von Michael F. P. Huber, ist virtuos und vielseitig eingesetzt mit vollgriffigen Akkorden, rasenden Läufen, Glissandi und komplexer Polyphonie. Im Mittelsatz, einem „Nocturne“, ist ihm ein selten zu hörender Partner, das Lupophon, beigeordnet – eine Bassoboe, eine Neuerfindung, welche 2011 erstmals öffentlich präsentiert wurde, und es ist eine sehr gelungene Ergänzung der Oboenfamilie, die nun mit Oboe, Englischhorn, Heckelphon und besagtem Lupophon zum vierstimmigen Satz ergänzt ist wie ein gemischter Chor. Nach dem zweiten Satz folgt ein „Capriccio“ als Finale mit schwunghaften Rhythmen, in eine sonderbare „quasi Cadenza“ einmündend, von wo aus der Satz ein offenes Ende findet.

Mit klarem und durchsichtigem Ton glänzt der Pianist und Organist Michael Schöch am Soloinstrument. In flexibler Wendigkeit stellt er sich schlagartig auf neue Situationen ein, wobei sein Spiel stets locker bleibt. Auffallend ist sein orchestrales Denken: Übernimmt er thematisches Material aus dem Orchester, so bietet er es auch mit den klanglichen Charakteristika des jeweiligen Instruments an. Fein ist entsprechend auch sein Gespür für Phrasierung und dynamische Schattierungen.

Dem Concertino von Jean Françaix belässt er einen frischen und knackig-markanten Ton, der einen Hauch von ins Chansonmilieu abgedrifteter Wiener Klassik mitschwingen lässt: Eine klangliche Wohltat für das meist viel zu romantisch und pedallastig gespielte Werk des Franzosen. Im Übrigen ist das Concertino ein hinreißend charmantes Stück, aus vier miniaturhaften Sätzen mit ansprechend-lockerer Muse zusammengefügt, wie flüchtig hingeworfen und doch merklich ausgearbeitet und fein ziseliert. Als Zugabe gibt es Ligeti, und der Hörer staunt über die rasche linke Hand, über der sich eine sangliche Oberstimme erhebt.

Eine beeindruckende Leistung ist auch wieder einmal vom Orchester der Akademie St. Blasius unter Karlheinz Siessl zu würdigen, das sich mit keinem der Stücke leichtes Repertoire ausgesucht hat. Bis hin in die undurchdringlichste Polyphonie bei Hubers Konzert bewahrt man kultivierten Klang und technische Reinheit, bleibt bei Jean Françaix klar und strukturiert und brilliert bei Mozart vor allem im gefürchteten Bläsersatz. Siessl gelingt es gar, beide Wiederholungen des Finales von Mozarts Prager Symphonie derart entstehen zu lassen, dass sie als Potenzierung der jeweils ersten Wiedergabe zu funktionieren scheinen. Insbesondere in Hubers Konzert blühen die Musiker voll auf und stellen ihr hohes Können und ihre musikalische Gestaltungskraft als Resultat ihrer langjährigen gemeinsamen Schaffenszeit mit Karlheinz Siessl eindrücklich unter Beweis.

Michael F. P. Huber wird noch eine blühende Zukunft vor sich haben. Schon bei meiner Besprechung über die Dritte Symphonie und zwei seiner bisherigen Konzerte nannte ich ihn einen der größten Symphoniker des beginnenden Jahrtausends, und auch nun in diesem Konzert bestätigt sich diese vielleicht gewagt erscheinende Aussage. An alle Orchester lässt sich nur appellieren: Spielt Huber und verbreitet seine Musik auch jenseits der Landesgrenzen Österreichs, denn sie hat es verdient, ihr habt es verdient, und wir haben es verdient!

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Pēteris Vasks zum 70.

vox amoris: wergo WER 6750 2; EAN: 4 010228 675023

Quartette 2 & 5: wergo WER 7329 2; EAN: 4 010228 732924

Quartette 1, 3 & 4: wergo WER 7330 2; EAN: 4 010228 733020

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Ein Special zum 70. Geburtstag des großen lettische Komponisten Pēteris Vasks am heutigen Datum, den 16. April: anlässlich dessen werden hier gleich drei CD-Publikationen des großen Zeitgenossen vorgestellt, nämlich „vox amoris. works for violin and string orchestra“ mit Alina Pogostkina, der Sinfonietta Rīga und Juha Kangas, auf welcher vox amoris, tālā gaisma (Fernes Licht) und vientuļais eņģelis (Einsamer Engel) zu hören sind, sowie zwei CDs mit Vasks’ derzeit gesamten fünf Streichquartetten, gespielt vom spīķeru string quartet. Alle Aufnahmen erschienen bei wergo.

Diese Musik ist von einer einzigartigen meditativen Ruhe und sagenhafter Klangschönkeit, erfüllt von nicht enden wollender Melodik und betörender Harmonie – eine wahre Quelle, um neue Kraft zu schöpfen und sich zu entspannen, um neue Inspiration zu finden und sich auf seine Natur und Umwelt einzulassen. Die Rede kann hier nur von Pēteris Vasks sein, dem bedeutendsten lettischen und einem der substanziellsten zeitgenössischen Komponisten. Heute vor genau 70 Jahren wurde er in Aizpute im Westen Lettlands geboren. An Deutschland fast vollständig vorbeigegangen ist die diffizile und noch immer mit Schrecken verbundene jüngere Vergangenheit dieses Landes, die Unterdrückung in der Sowjetunion – sowohl von Land wie auch von Volk und ganz besonders von Sprache. Entsprechend war es Vasks nicht gestattet, das örtliche Konservatorium zu besuchen, und er, der sich bereits als Kind an der Geige versuchte, zog nach Litauen, wo er Kontrabass studierte. Zurück in Lettland, schloss er später ein Studium der Komposition in Riga an. Ständig schliff er an seinem kompositorischen Stil, der wohl so etwa ab 1980 seine vollendete Reifung erfuhr und eine durchwegs einzigartige und unverkennbare Tonsprache kundtut. Zentrum seines Schaffens ist nach wie vor der Streicherkörper, der ihn von Kindheit an prägte und der heute ausgereift das klingende Herz seines Schaffens ist. Größtenteils ist die Musik von Pēteris Vasks schlicht und leicht verständlich, sie ist überwiegend konsonant gesetzt in klarer, diatonisch fasslicher Tonalität. Auch andere Elemente finden ihren Platz, so anarchischere Verfahren wie freie Atonalität und Aleatorik, doch geschieht dies stets aus außermusikalischen Gründen als Chaosinsel innerhalb des musikalischen Kontinuums. An sich vermittelt die Musik Vasks‘ zu einem großen Teil außermusikalische Visionen, wobei oft die Geschichte seines Volkes thematisiert wird, stets schwankend zwischen Hoffnung und Angst um Land und Zukunft. So wird das Volkslied elementarer Bestandteil für ihn und findet sich immer wieder in seinen langgezogenen und gediegenen Melodiebögen, die wie ein endloser Faden das gesamte Werk durchweben, ohne je aufhören zu wollen. Dies alles wirkt ganz unmittelbar auf den Hörer, für den seine Musik auch in solcher Absicht geschrieben ist, sie bleibt verständlich und durchdringbar, mitempfindbar. Vasks sieht seine Arbeit als Fortführung der Predigerarbeit seines Vaters, weshalb er dem häufig zu hörenden Titel „Prediger in Tönen“ nicht ablehnend gegenübersteht. Spiritualität, Mystik und Religiosität stellen die geistigen Grundpfeiler seines Künstlertums dar.

Auf die Frage, wer denn sein favorisierter Dirigent sei, gibt Vasks stets die selbe Antwort: Juha Kangas. So mag nicht verwundern, dass er die Werke für Violine und Streichorchester ihm anvertraute, der schon für so viele Referenzaufnahmen nordischer Musik wie insbesondere der beiden Genies Pehr Henrik Nordgren und Anders Eliasson verantwortlich zeichnete. Solistin dieser Aufnahme ist die junge Violinistin Alina Pogostkina, die die Sinfonietta Rīga anführt. Die Fantasie vox amoris und die Meditation vientuļais eņģelis – lonely angel umrahmen das große Violinkonzert tālā gaisma – distant light. Sowohl vox amoris als auch vientuļais eņģelis bezaubern durch ihr sanftes Aufblühen aus der Stille heraus und umfangen mit meditativem und in sich gekehrtem Charakter. Das in über dreißig Minuten groß angelegte Violinkonzert entsteht ebenso aus diesem Urzustand, doch entfesselt es wesentlich mehr Kontraste und wild ausfallende Passagen bis hin zu einem ohrenbetäubenden Höhepunkt im absoluten Chaos, einer Groteske gleich, der in plötzliches Verstummen umkippt und die nun andersartig wirkende Ruhe erneut aufkeimen lässt.

Orchester und Solistin sind bestens aufeinander abgestimmt und harmonieren miteinander auf Augenhöhe. Der Satz ist trotz homophonen Anscheins recht komplex gebildet und gibt durch vielseitige Instrumentierungsarten im reinen Streichersatz unzählige Klangfacetten frei, die dem Melodieteppich ein stetig sich wandelndes Eigenleben einhauchen. Juha Kangas steuert unbeirrbar durch diesen kontinuierlichen Fluss, lässt die Musiker dem folgen und somit die Musik in aller Unbelassenheit und frei von jeglicher Verkünsteltheit entstehen. Die Sinfonietta wirkt wie ein einziges Instrument, das als Gesamtheit funktioniert und wo alles untrennbar miteinander verknüpft ist. Die Musiker spüren den gleichen Atem und setzen minutiös präzise synchron ein. Über all dem erhebt sich Alina Pogostkina als hörende wie einfühlsame Solistin, sie entringt ihrem Instrument herzzerreißende Kantilenen, mit gänzlich unprätentiöser Phrasierung. Auch im Wildwerden behält sie den Bezug zum Ausgangspunkt und vermittelt immer das Raumgefühl, wo im Stück man sich gerade befindet. Die Musik lädt gleichsam zum Träumen ein wie zum wachen und aufmerksamen Mitempfinden der groß angelegten Struktur – genau die scheinbar unverbindbaren Paradoxe, die ja auch die Meditation definieren.

Im Gegensatz zu den Streichorchesterwerken mit Solovioline sind alle fünf Streichquartette mehrsätzig angelegt; sie bestehen aus zwei bis fünf Teilen, die abgesehen von denen des dritten Quartetts alle betitelt sind. Das mit insgesamt gut 17 Minuten kürzeste erste Quartett ist das geräuschlastigste von allen, die ersten beiden Sätze sind durchzogen von Chaos und Missklang, erst das Finale bietet die bei Vasks so befreienden Melodielinien von erlesener Güte. Das zweite Quartett, Sommerweisen betitelt, ist durch besonders volksmusikalische Durchsetzung mit häufiger Quint in den tiefen Lagen gezeichnet, was sogleich Erinnerungen an bäuerliche Fideln evoziert. In Nummer Drei gestalten sich die Pause und die Stille als strukturgebende Elemente, die Ruhe ist Ausgangspunkt allen musikalischen Geschehens. Das längste, fünfsätzige vierte Quartett kontrastiert drei lange meditative Sätze mit zwei die Gelassenheit jäh unterbrechenden miteinander verwandten Toccaten, die mit einem fast an Schostakowitsch gemahnenden düsteren Jähzorn hereinbrechen. Melancholisch, volksliednah und doch auch irgendwie in sich widersprüchlich, bei aller Introversion aufbegehrend gibt sich das bisher letzte Streichquartett, dessen beiden Sätze mit „Gegenwart“ und „so fern … und doch nah“ symbolkräftige Namen tragen.

Naturhaft und sich selbst als reines Medium für die Musik sehend agiert das spīķeru string quartet auf diesen zwei Einspielungen, 2015 und 2016 bei wergo erschienen. Man lässt sich auf all die verschiedenartigen Elemente der Musik Vasks vorbehaltlos ein und es klingt immer der ganz eigene Personalstil des Jubilars durch. Das Quartett besticht durch beeindruckende Klarheit und Gefühl für die langsame Metamorphose des Geschehens, die nie gewollt gemacht scheint. Vom wispernden Naturlaut bis zur aggressiven Revolution reicht die Palette des spīķeru string quartet mit unzählige Feinheiten der Tonerzeugung. Alles wirkt wie eine einzige Einheit.

Bei wergo sind also spannende und mit überzeugender Qualität gespielte Aufnahmen des 70jährigen ‚Geburtstagskinds’ Pēteris Vasks erschienen, dessen Musik so vielseitig und doch so unverkennbar ist. Es ist schön, zu sehen, dass solch ein begabter Komponist die ihm gebührende Aufmerksamkeit erhält und von herausragenden Musikern auf CD vorgestellt wird. Herzlichen Dank und alles Gute, Pēteris Vasks!

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Auf das Leben!

Solo Musica SM 235; EAN: 4 260123 642358

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Ein vielgespieltes Programm lässt die Violinistin Liv Migdal auf ihrer nunmehr dritten CD-Aufnahme mit frischer Lebendigkeit erstehen: Die vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi (Le Quattro Stagioni Op. 8 No. 1-4) und die Einrichtung derjenigen von Astor Piazzolla (Las Cuatro Estaciones Porteñas). Nach zwei Duettaufnahmen mit ihrem Vater Marian Migdal ist es ihr CD-Debüt als Solistin mit Orchester, es spielt das Deutsche Kammerorchester Berlin.

Die Kraft dieser jungen talentierten Künstlerin ist beeindruckend! Die Stärke zu besitzen, so kurze Zeit nach dem Tod ihres Vaters eine CD mit lebensbejahender, freudiger und funkelnder Musik aufzunehmen, sollte allen Mut machen, welche so eine schwierige Situation am eigenen Leib verspürten oder noch verspüren. Marian Migdal war nicht nur ihr Vater, er war auch ihr langjähriger Kammermusikpartner und Hauptquelle für ihre musikalische Entfaltung – seine Aufnahmen von bekannter wie von unbekannter Musik dienen bis heute als unbestechliche Referenz, seine Natürlichkeit, sein langer Atem in der Phrasierung und sein Gespür für das richtige Maß bezaubern über seinen Tod hinweg. Und die Musik ist es, die immer über Leben und Tod zu erzählen vermag, wie Liv Migdal in ihrem Booklettext schrieb, und so übertitelte sie denn auch trefflich mit „Auf das Leben!“

Le quattre stagioni des Italieners Antonio Vivaldi und das Tango-Gegenstück Las Cuatro Estaciones Porteñas des Argentiniers Astor Piazzolla wählte sie für dieses Album mit dem Deutschen Kammerorchester Berlin; zwei Werke, die so stark verbunden sind in ihrem außermusikalischen Bezug und dabei so grundverschieden in Stil, Instrumentenbehandlung, Aufbau und Charakter. In beiden Werken zentral ist das ständige Mit- und Gegeneinander, Annäherung und Distanzierung der beiden elementaren Kräfte, des Solisten und des Ensembles. Eben dies bildet auch den Kern der Darbietung von Liv Migdal und des Kammerorchesters Berlin, was sich alleine schon an der Abmischung zeigt, die die Sologeige nicht ungebührlich in den Vordergrund stellt, sondern im Einklang mit den Ensemblemusikern agieren lässt.

Wie bereits in ihren vorherigen Alben besticht Liv Migdal durch reinen, sanften und absolut „gehörten“ Ton, der sich neben makelloser technischer Perfektion auch durch musikalisch-inhaltliche Abgestimmtheit auszeichnet. Migdals Horizont reicht vom zart empfundenen Pianissimo bis zur aufbrausenden Expressivität, die jedoch niemals ihre Fülle und Klangschönheit einbüßt. Sie beweist eine enorme Wandelfähigkeit je nach den Forderungen der Musik, eine chamäleonhafte Flexibilität, und kann sich auf jede neue Situation nahtlos einstellen. Wie schon ihr Vater hat sie eine wohltuende Natürlichkeit sowie eine unprätentiöse musikalische Auffassungsgabe und versteht es, lange und intensive Bögen von fein abgestimmter Phrasierung zu gestalten. Besonders bemerkenswert ist Migdals Vibrato, welches von erlesen weiter Ausdrucksvielfalt geprägt ist: Ihr gelingt es, dieses Mittel spontan und entsprechend der musikalischen Sinnhaftigkeit einzubringen, oft über große Strecken überhaupt nicht, dann wieder ganz spärlich, auf ausdrucksvollen Tönen stärker, manchmal auf einen Ton erst anschwellend oder gegen Ende verklingend, immer den Gegebenheiten entsprechend.

Auch als musikalische Leiterin des Deutschen Kammerorchesters Berlin versteht es Liv Migdal – neben der überzeugenden solistischen Darbietung -, die Musiker zu einer ausgewogenen Linienführung anzuregen und dynamische Feinheiten zu erreichen. Lediglich in den Passagen, wo Migdal solistische Höhenflüge hat und das Orchester auf sich allein gestellt ist, gerät die Begleitung tendenziell etwas fahl, vor allem in den langsamen Sätzen von Vivaldi. Doch kaum ist Liv Migdal wieder im Tutti dabei, wird die Gestaltung schon wieder lebendiger, der Klang fokussierter. Das Wechselspiel zwischen Solistin und Ensemble ist genauestens aufeinander abgehört und lässt sie auf ganz natürliche Weise aus dem Tuttiklang hervortreten und wieder in diesen zurückkehren.

Piazzolla gerät schwungvoll und mit großem Elan, auch mit einer stimmigen Prise Melancholie und Verträumtheit. Natürlich hat das hier nicht den ausgelassenen Schwung und die vehemente rhythmische Prägnanz, welche lateinamerikanische Künstler dem Werk angedeihen lassen können, aber dies ist auch nicht zu fordern. Beachtlich ist, wie deutlich die Bezüge und Anspielungen auf Vivaldis Werk hervortreten, von denen die meisten in zahlreichen Einspielungen im Verborgenen bleiben.

Ein gutes, nicht zu üppiges Maß an historisierend barocker Spielweise wird Le Quattro Stagioni von Antonio Vivaldi zuteil. Es wird mit durchaus markantem Ton genommen, doch gleichermaßen lyrisch, ohne dass es je zu trocken steril oder zu romantisch verträumt wäre. Die in der Partitur vermerkten Programmhinweise werden ohne Überakzentuierung befolgt und zum Ausdruck gebracht.

Der musikalische Stern ihres Vaters ist viel zu schnell hinter dem Horizont entschwunden, doch steigt derjenige von Liv Migdal immer weiter empor und lässt sie zweifelsohne als eine würdige Nachfolgerin dieses großartigen Musikers, dessen Verlust zugleich ein unersetzlicher Verlust für die Musikwelt ist, erscheinen. Schließen wir uns ihrem Motto an und rufen: Auf das Leben!

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Rund um die Drei

Drei Jahrzehnte Bühnenjubiläum feiert Ingolf Turban mit den drei Violinsonaten von Johannes Brahms auf drei großartigen Geigen aus drei Jahrhunderten. Im großen Konzertsaal der Hochschule für Musik und Theater München findet am 13. April um 19:00 das Jubiläumskonzert statt, am Klavier dabei seine langjährige Kammermusikpartnerin Gabriele Seidel-Hell.

Wenn Ingolf Turban sagt, er habe sein 30-jähriges Jubiläum auf der Konzertbühne, so ist dem nicht ganz richtig. Schließlich spielte er bereits mit fünf Jahren seinem Gemeindepfarrer vor und stand mit sieben auf dem Podium des großen Konzertsaals der Hochschule für Musik und Theater München, dem Ort des heutigen Konzertabends. Vielmehr bezieht sich diese Zahl auf einen denkwürdigen Auftritt kurz nach seiner Ernennung zum Konzertmeister der Münchner Philharmoniker. Als Einspringer für eine erkrankte Solistin übernahm Turban damals den Solopart von Sibelius‘ grandiosem Konzert d-Moll Op. 47 unter Sergiu Celibidache, was ihm entscheidend zum Durchbruch verhalf, vor allem jedoch eine zutiefst prägende Erfahrung war.

Später wurde Ingolf Turban vor allem bekannt durch seine Darbietungen und Einspielungen unbekannterer Musik und holte teils komplett verloren geglaubte Schätze ans Licht. Umso glücklicher schätzt sich der Virtuose, wie er selbst bekundet, heute einmal drei Werke der Standardliteratur vorzutragen. Die drei großen Violinsonaten von Johannes Brahms sind drei grundverschiedene Werke: die zart-vernebelt scheinende G-Dur-Sonate Op. 78 – welche ja auch Regen-Sonate genannt wird, was auf den Titel des dort zitierten „Regenlieds“ aus Op. 59 zurückgeht -, dann die klare und brillante ‚Meistersinger’-Sonate in A-Dur Op. 100 sowie die dunkel-herbe in d-Moll Op. 108. So entscheidet sich Turban, jedem der Werke eine eigene Stimme zu verleihen und folglich ein französisches, ein italienisches und ein deutsches Instrument, je aus einem anderen Jahrhundert und von jeweils einem äußerst namhaften Geigenbauer, zu spielen.

Den drei hochkarätigen Instrumenten entlockt Ingolf Turban immer neue, scheinbar nicht enden wollende Nuancen der Tongestaltung. Bei all dem vermeidet er allerdings dennoch die Extreme und kann die Musik vor effekthascherischen Oberflächlichkeiten bewahren, zu denen viele Virtuosen etwa in der dritten Sonate neigen. Die bewegten Sätze geraten zu keiner Zeit hastig oder überstürzt, das Tempo wirkt kontrolliert und bodenständig, und auch die ruhigeren Sätze driften nicht in überzogene Träumereien aus, was auch ganz untypisch für die robust-männliche Musik Brahms‘ wäre. Gerade bei der Phrasierung zeigt sich, dass Turban aus der Schule von Sergiu Celibidache stammt, denn er behält stets eine Natürlichkeit darin, was ausschließlich über genaueste Auslotung der Spannungs- und Intervallverhältnisse bewusst geschehen kann, wie es Celibidaches Phänomenologie lehrt. Höchst bemerkenswert ist das Vibrato Turbans, welches einmal nicht als bloße Verstärkung jedes einzelnen Tons dient, sondern in verschiedenen Schattierungen besondere und ansprechende Effekte aus bestimmten Passagen hervorlockt, während manche Stellen auch komplett ohne dieses Hilfsmittel auskommen können.

Spürbar ist die langjährige kammermusikalische Verbindung mit Gabriele Seidel-Hell, welche die anspruchsvollen Klavierparts souverän gestaltet. Beide Musiker empfinden genau denselben Tempoimpuls und lassen Tempoänderungen vollkommen synchron gefühlt entstehen. Nur an wenigen Stellen könnte Seidel-Hell ein wenig mehr in den Vordergrund treten und als gleichwertige Duettstimme agieren, anstatt im Hintergrund zu bleiben. Auch manchen Kontrast könnte sie noch etwas stärker hervorheben, gerade die rastlose Konfliktrhythmik oder plötzliche Wechsel von thematischem Material oder Harmonik könnten das fahl abschattierte Licht der Verhaltenheit verlassen. Abgesehen davon strotzt ihr Spiel von Energie und Vitalität, bleibt dennoch zart und eher hintergründig. Alles erhält eine enorme Lockerheit und Leichtigkeit, wobei auch sie nie ins impressionistische Extrem abgleitet und somit dem Geiste Brahms’ ziemlich gerecht wird.

Wie Turban richtig vermutet, erwartet jeder im Publikum als Zugabe das Scherzo der F.A.E.-Sonate als einzigen weiteren Satz für diese Besetzung von Johannes Brahms. Doch genau deshalb spielen er und Seidel-Hell es nicht, sondern lassen den Abend gemütlicher auslaufen, und zwar mit einem innig-empfundenen und genießerisch-wachen langsamen Satz von Robert Schumann.

Das Publikum liebt und dankt es sehr. Bleibt nur, den Jubilar zu beglückwünschen und auf die nächsten dreißig Jahre gespannt zu sein.

[Oliver Fraenzke, April 2016]