Archiv für den Monat: April 2016

Arabesken, Fantasien, Andenkrieger

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Am Montag, den 9. April spielte die italienische Pianistin Ottavia Maceratini in der ‚série jeunes’ des Tonhalle-Orchesters Zürich ihr Debütkonzert im Kammermusiksaal der Zürcher Tonhalle. Nach der ersten Hälfte mit Schumanns Arabesque, Mozarts Rondo in a-moll und Schumanns Fantasie folgten Ravels Sonatine, zwei ‚Essays in the Modes’ von John Foulds, Kaikhosru Shapurji Sorabjis Pastiche über das Lied des Hindu-Händlers aus Rimsky-Korsakovs Oper ‚Sadko’ und die Uraufführung der großen, hochvirtuosen Fantasie ‚Guerrero Andino’ des peruanischen Meisterpianisten Juan José Chuquisengo.

Die ‚série jeunes’ des Zürcher Tonhalle-Orchesters ist eine Beobachtungsstätte für aufstrebende junge Künstler und wird von einem entsprechend fachkundigen, hochinteressierten, natürlich auch kritischen Publikum besucht. Und der Zuspruch zu diesen Konzerten ist ausgezeichnet, wie auch an diesem Abend zu spüren, der durchaus furios und denkwürdig war. Ottavia Maria Maceratini ist eine Musikerin, die nicht um jeden Preis Karriere machen möchte. Es geht ihr um die Musik und um die Begegnung mit dem Publikum, und eben nicht um den demonstrativen Ego-Trip, was ihrem Spiel anzumerken ist. Eine phänomenale Technik ist natürlich die Voraussetzung, um ‚ganz oben’ mitzuspielen, und ein kultivierter Klang und Stilbewusstsein sollten dazugehören, sind aber keine Selbstverständlichkeit. Bei ihr ist das alles in schönster Weise gegeben. Vor einem Jahr gab sie ihr Debüt mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin in der deutschen Erstaufführung von John Foulds’ einzigem, großartigem Klavierkonzert ‚Dynamic Triptych’, davor war sie unter anderem mehrfach mit Lavard Skou Larsen, einem der feinsten Dirigenten unserer Zeit, aufgetreten, hatte mit Gidon Kremer und der Kremerata Baltica beim Schleswig Holstein Musik Festival debütiert, mit dem Nowosibirsk Philharmonic und dem Münchener Kammerorchester konzertiert, und vieles weitere. Nun also ihr erster Zürcher Auftritt, der von großem Erfolg beim Publikum bekrönt wurde.

Sie begann mit Robert Schumanns Arabeske op. 18, vielleicht etwas flüchtig im Entwurf, dabei mit bezauberndem Feinsinn dargeboten. Es ist nicht einfach, über die zwei lyrisch kontrastierenden Zwischenspiele hinweg den großen Bogen entstehen zu lassen, doch die erwärmende Intimität des Ausdrucks nahm sofort gefangen. Es folgte Mozarts Rondo in a-moll, in der organischen Entfaltung über die weite Strecke und den vertrackten dynamischen Vorschriften durchaus ein besonders anspruchsvolles Werk von 1787, und es waren außergewöhnliche Klarheit und feinnervige Phrasierungskunst zu bestaunen. Ottavia Maria Maceratini ist hier schon einen weiten Weg der Bewusstwerdung gegangen, sehr ungewöhnlich in der die Strukturen auffächernden Ernsthaftigkeit für einen jungen Menschen. Auch klanglich fesselt ihr perlendes, niemals verwaschenes Spiel, das der Spur einer kontinuierlichen Durchdringung folgt, die keine nichtssagenden Formelhaftigkeiten kennt. Es ist sehr nahe dran an einem idealen Mozart, auch hinsichtlich des graziös gemessenen Tempos. Was noch fehlt, ist in entscheidenden Momenten eine gewisse Ruhe, das Auskosten des atmenden Gesangs. Und zugleich ist so erfreulich, dass bei ihr nicht die geringste Gefahr sentimentalen, sich selbst zelebrierenden Stillstands besteht. Diese Musik bewegt sich fortwährend auf einem schmalen Grat, und wir dürfen hoffen, dass es ihr gelingt, einen vollendeten Ausgleich zwischen Vorwärtsdrängen und subtilem Innehalten im Dienste der Gesamtform zu finden. Das ist ein Prozess, der Zeit braucht, und dem sich die wenigsten Musiker stellen.

Gleiches gilt auch für Robert Schumanns gewaltige dreisätzige Fantasie C-Dur op. 17 von 1835-36. Hier ist vorauszuschicken, dass Frau Maceratini eine Darbietung gelang, die nicht nur zum Besten gehört, was heute in Sachen Schumann zu vernehmen ist, sondern auch, dass sie dieses komplexe und gefürchtete, so viel gespielte Meisterwerk mit einer technischen Vollendung spielte, wie das kaum je geschieht. Auch die extremsten Schwierigkeiten gelangen ihr, ohne Verzerrungen des Tempos, mit phänomenaler Leichtigkeit. Nie knallt ihr äußerst kraftvolles Forte, alles ist klar und rund, legt die Polyphonie offen, folgt den harmonischen Impulsen, lässt die Musik mit unwiderstehlichem Charakter sprechen. Da fehlt nicht viel! Einzig möchte ich anmerken, dass der Mittelteil des Kopfsatzes zwischendurch zu sehr beschleunigt, dass auch im Mittelsatz einige Male in der Hitze des Gefechts das Tempo etwas davonzulaufen tendiert, dass im Finale die letzte Beruhigung etwas spät kommt. So ist auch hier der einzige kardinale Kritikpunkt, mehr Raum für die Ruhe zu lassen, die natürlich nichts mit Ermattung zu tun hat, sondern mit Innigkeit, die potentiell ohnehin da ist, jedoch noch nicht wirklich zu ihrem Recht kommt.

Ravels Sonatine erklang mit der pantomimischen Zerbrechlichkeit, die so bezeichnend für diese Musik ist, wunderbar stilisiert und natürlich zugleich in den Details – auch den formbildenden Tempokontrasten, und dort, wo es angesagt ist, den Blick in die Abgründe offenbarend. Auch hier: gelegentlich noch mehr Ausatmen lassen, der lyrischen Gegenwelt mehr Raum geben, und die schnelleren Tempi nicht davoneilen lassen.

Zwei der sieben 1926 in Paris komponierten ‚Essays in the Modes’ op. 78 von John Foulds (1880-1939) schlossen sich an, was programmatisch passender nicht hätte gewählt werden können: das Passacaglia-artig lyrisch kontrapunktierende ‚Ingenuous’ und das herrlich verinnerlichte, in vier ‚Strophen’ auf archaischen Pfaden feierlich dahinschreitende ‚Strophic’. Es ist unglaublich, welchen Reichtum Foulds einer niemals modulierenden Musik in jeweils einem einzigen Modus entlockt. In solchen Werken erweist er sich als der substantiellste und transzendenteste englische Komponist seiner Zeit, durchaus mit Ravel und Bartók auf Augenhöhe, und hier kann sich die lyrisch-introvertierte, klangsensitive Begabung der Pianistin wunderbar entfalten.

Dann Sorabji, mit seinem ‚Pastiche on the Hindu Merchant’s Song from Sadko by Rimsky-Korsakov’ – wie eine Edelstein-glitzernde Episode aus Tausendundein Nächten, von der Pianistin herrlich abschattiert in der immer vernehmlichen, reich ornamentierend umkleideten einfachen Gesangsmelodie.

Mit Spannung wurde die abschließende Uraufführung des Peruaners Juan José Chuquisengo erwartet. Er schrieb nicht den ursprünglich angekündigten Tango, sondern eine Gedächtnismusik für einen verstorbenen Freund aus den Anden, dessen Andenken das Werk gewidmet ist: ‚Guerrero Andino’. Diese große Fantasie ist nicht nur eine zugleich höchst dankbare gigantische pianistische Herausforderung, sondern besticht bei ihrem immensen harmonischen Reichtum, ihrer melodischen Schönheit, abwechslungsreichen rhythmischen Vitalität und unkonventionellen kontrapunktischen Eleganz vor allem dadurch, dass die eigentlich rhapsodische Anlage auf organisch kunstreichste Weise ineinander verwoben ist. Es ist keine ‚moderne Musik’ in dem Sinne, in welchem sie in unserer subventionierten Kulturlandschaft nach wie vor hartnäckig verstanden wird, dafür ist sie nicht nur viel zu schön, sondern auch in der Subtilität viel zu neuartig. Eine unglaublich kraft- und prachtvolle, farbenreiche, lebendige, innerlich reiche Musik, die endlos scheinende Räume eröffnet und das Gefühl einer unerschöpflichen Freiheit atmet. Es kann gut sein und ist zu wünschen, dass dieses Werk ein Klassiker der Soloklaviermusik in unserer Zeit wird. Juan José Chuquisengo beweist darin auch sozusagen ganz nebenbei, dass er nicht nur einer der feinsten Pianisten unserer Tage ist, sondern auch ein wahrhaft großartiger Komponist (am 22. April wird im Freien Musikzentrum in München seine symphonisch angelegte Piazzolla-Hommage ‚Tango-Metamorphosen’ für Streichquintett uraufgeführt, die bald darauf in Augsburg durch die Bayerische Kammerphilharmonie auch in der Streichorchesterfassung erstmals erklingen wird). Ottavia Maria Maceratini hat mit ‚Guerrero Andino’ ein gewaltiges Werk an den Schluss ihres Programms gesetzt, das ihrer Ausnahmebegabung in schönster Weise entspricht und das Publikum in Begeisterung versetzt. Sie dankt für den Applaus mit einer so wundervollen wie hochoriginellen Zugabe, dem ‚Persian Love Song’ von John Foulds, in verfeinertster Wiedergabe. Möge sie bald wieder in Zürich zu hören sein.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, April 2016]

Ärger und Faszination

The Stone People

Lisa Moore, piano and voice

Tukiliiit John Luther Adams 7:13
Ishi’s Song Martin Bresnick 8:58
Compassion Julia Wolfe 7.42
Among Red Mountains John Luther Adams 11.53
Orizzonte Missy Mazzoli 5:19
Sliabh Beagh Kate Moore 12:39
Nunataks John Luther Adams 7:41
Earring Julia Wolfe 1:48

Canteloupe CA 21115
7 13746 31152 0

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Was ist denn das? Selten habe ich eine CD gehört, in der für mich Ärger und Faszination so dicht beieinander liegen wie bei vorliegender mit dem merkwürdigen Titel „The Stone People“, gespielt von der australisch-amerikanischen Pianistin Lisa Moore.

Name-dropping über Name-dropping, wenn man ihre Website besucht, aber das ist alles hinfällig, wenn man diese merkwürdige CD auflegt: Momente schönster improvisatorischer Ergebenheit mit wunderbaren KlangEntfaltungen auf dem Steinway – she is a Steinway artist, heißt es über sie – wechseln ab mit unerträglichem Lärm, mimimalistische Träumerei mit unerträglicher Langeweile, bei vielen der Stücke stimmen weder Timing noch das Zuhören beim eigenen Spiel, da dominiert die Masche, das Machen, obwohl es doch auch auf einem Steinway „Tasten“ heißt, wenigstens im Deutschen. Im Englischen schließt man mit den „keys“ die Türen oder die Räume auf, in denen Musik werden kann, wenn die Bedingungen stimmen, wie Sergiu Celibidache nicht müde wurde, zu betonen. Und es geht eben bei  der „Musik“ – was von Muse kommt, einer unverheirateten Seelenführerin, wie man bei Peter Orban im seinem Buch „Symbolon“ nachlesen kann – nie ums „Machen“, auch nicht um „making music“, sondern um die innere Bereitschaft, es entstehen zu lassen. Das gelingt Lisa Moore leider nur an den wenigsten Stellen, meistens ist ihr „Wollen“ oder „Machen“ über-mächtig und es entstehen nur mehr oder weniger erlebte Klangfolgen oder auch nur Maschen. Besonders bei den Stücken von John Luther Adams, dem das ganze Album den Impetus verdankt, da gehen der Pianistin die Gäule durch, da wird brutal auf den Flügel eingeschlagen und es wird wieder einmal klar, warum für viele das Klavier ein „Schlaginstrument“ ist. Anders bei Ishi’s Song von Martin Bresnick, einem der wenigen innerlich erlebten und anhörbar schönen Stücke. Ich möchte gar nicht Keith Jarrett zum Vergleich anführen, lieber auf die CD „Reflections“ hinweisen, die der Berliner Pianist und Komponist Martin Torp eingespielt hat, wo 64 Miniaturen eine eindrucksvolle Bandbreite des auf dem Klavier Möglichen zu Gehör bringen mit einem sonst leider allzu selten zu erlebender Gespür für Entstehen – Lassen – Können von Musik.

Der Name „The Stone People“ weist übrigens auf die langjährige Beschäftigung des Musikers John Luther Adams mit der Inuit-Kultur hin, das erste Stück „tukiliit“ bedeutet demnach „the stone people who live in the wind“ und gab der CD auch den Titel.

[Ulrich Hermann, März 2016]

Erfreulich „unmodischer“ Mahler aus Dallas

Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 3
Dallas Symphony Orchestra, Dallas Symphony Chorus, Children’s Chorus of Greater Dallas
Kelley O’Connor (Mezzosopran)
Jaap van Zweden
Label: DSOlive
Art.-Nr.: DSOlive007, LC: fehlt, EAN: 844667036053

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Zwar spät, dann aber mit umso mehr Trara, ist die deutsche Presse darauf aufmerksam geworden, dass die New Yorker Philharmoniker mit dem Niederländer Jaap van Zweden einen aufsehenerregenden neuen Chefdirigenten bekommen haben. Nun erscheint eine neue Einspielung van Zwedens beim Label des Dallas Symphony Orchestra: ausgerechnet Mahler! Wie spannend!

Etwas merkwürdig war es schon, als nach der Verkündung dieser durchaus ungewöhnlichen Wahl in der gesamten Welt die Schlagzeilen nur so purzelten, während in Deutschland mehrere Wochen lang Totenstille herrschte. Im Zuge der neuesten CD-Veröffentlichung van Zwedens ist aber auch die deutsche Presse endlich aufgewacht. Dass neben den Berliner Philharmonikern, die mit Kyrill Petrenko ebenfalls einen Chefdirigenten gewählt hatten, der zumindest auf globaler Ebene gesehen nicht zur A-Prominenz zählte, nun auch die New Yorker Philharmoniker mit Jaap van Zweden einen Dirigenten in den Chefsessel gesetzt haben, der vorher fast nur durch Positionen in der musikalischen Diaspora, wie Hongkong und Dallas auffiel, sorgte nun endlich für hochgezogene Augenbrauen.

Trefflich ließe sich darüber nachdenken, ob diese beiden Orchester nicht vielleicht viel weiter sind, als das Gros der in ihrer vermeintlichen Komfortzone sanft vor sich hin schnarchenden deutschen Musikpresse. Beiden Orchestern geht es ganz offenbar kompromisslos um die Qualität der musikalischen Darbietung, und um nichts anderes. Währenddessen kleben weite Teile der deutschen Presselandschaft immer noch an den „großen Namen“. Jaap van Zweden war vielen Journalisten (trotz umfangreicher Diskografie, trotz nicht lang zurückliegender Deutschlandtournee des von ihm geleiteten Hong Kong Philharmonic Orchestra) noch nicht einmal im Ansatz bekannt. Das sagt viel aus, ebenso wie das: Seltsam leidenschaftslose Rezensionen und Artikel finden sich in der heutigen Musikpresse, sodass man sich eigentlich nicht sehr wundern muss, dass allerorten die Leser in Scharen davonlaufen.
Auch das orchestereigene Label des Dallas Symphony Orchestra war in Deutschland bislang nicht eben unter den Labels zu finden, die besonders häufig rezensiert werden. Mit der neuen Einspielung von Mahlers Dritter unter Leitung Jaap van Zwedens ist dies nun einmal anders: Grund ist eben die Berufung van Zwedens zum Chef in New York. Und dort ist er ja bei einem Orchester gelandet, das niemand Geringeren als Gustav Mahler höchstpersönlich Anno 1909 zum Chefdirigenten erkor und (viel) später dann mit Leonard Bernstein den wegweisenden Mahler-Zyklus der 1980er-Jahre vorlegte. Unter diesem Aspekt ist es natürlich äußerst spannend zu erfahren, was van Zweden aus einer Sinfonie wie Gustav Mahlers Dritter macht.

Das Endergebnis ist sehr erfreulich, viele werden sagen erstaunlich. Jaap van Zweden ist glücklicherweise kein Dirigent, dem es vor allem um Pomp und Gloria geht. Eigentlich ist er das krasse Gegenteil des bisherigen Chefdirigenten der New Yorker Philharmoniker Alan Gilbert, der ein echter „Showman“ war. Vielmehr fällt van Zwedens Mahler zunächst einmal durch eine vornehme Zurückhaltung auf. Das Fortissimo des Jaap van Zweden ist meilenweit entfernt von dem Fortissimo der Art Draufgänger, wie es sie schon zuhauf in der Mahler-Diskographie gibt. Jaap van Zweden greift in punkto Orchesterdynamik erfreulich selten zum Äußersten. Damit kommt er dem Mahler-Orchester der Jahrhundertwende vermutlich sehr viel näher als ein Großteil der Dirigenten, die meinen, bei Mahler mal “voll aufdrehen“ zu müssen.

Mit dem Dallas Symphony Orchestra steht van Zweden bei dieser Einspielung ein guter, wenn vielleicht auch nicht in allen Position exzellent besetzter Klangkörper zur Verfügung. Man darf sehr gespannt sein, wie dieser hochinteressante, elegante Dirigent ein Orchester wie das New Yorker Philharmonic dirigieren wird, das aus einem ganz anderen Holz geschnitzt ist.

Aber auch mit dem Dallas Symphony Orchestra erreicht van Zweden herausragend schöne Momente. Die grandiose Orchestrierung von Mahlers dritter Sinfonie nimmt der niederländische Dirigent zum Anlass zu einem veritablen Klangfarbenrausch.
Spielzeittechnisch ist Mahlers dritte unter van Zwedens Händen eine der längeren Einspielungen, die am Markt verfügbar sind. Das passt gut ins Bild: van Zweden hatte bei Naxos bereits ein „Rheingold“ vorgelegt, bei dem besonders gemäßigte Tempi zu Diskussionen in der Fachpresse Anlass gaben. Bei dieser Mahlereinspielung ist es ein ähnliches Bild: Ich persönlich finde das eigentlich ganz angenehm, denn hier ist ein Dirigent, der sich nicht an gängige Muster hält, sondern der wirklich aus dem Notentext eine eigene Interpretation erarbeitet. Mit seinen meist gemäßigten Tempi steht er ja auch in einer guten Tradition. Das erinnert an Knappertsbusch, an Kegel und Jochum. Dass eine solche Auffassung heute nicht modisch ist, dürfte klar sein. Dabei ist dies doch sehr erfrischend: Ein Dirigent, der sich nicht um Moden schert, wird in den nächsten Jahren die Geschicke des bedeutendsten US-amerikanischen Orchesters leiten. Wie schön!

[Grete Catus, April 2016]

Perlen des Nordens

audite 92.651, 92. 579, 92.669, 92.670, 92.671

EAN: 4 022143 926517, 4 022143 925794, 4 022143 926692, 4 022143 926708, 4 022143 926715

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Für audite spielt Eivind Aadland mit dem WDR Sinfonieorchester Köln das gesamte symphonische Werk des großen norwegischen Nationalkomponisten Edvard Hagerup Grieg ein. Auf 5 CDs finden sich die Symphonischen Tänze Op. 64, die Peer Gynt-Suiten Op. 46 und 55, der Trauermarsch für Richard Nordraak, Zwei Elegische Melodien Op. 34, Aus Holbergs Zeit Op. 40, Zwei Melodien Op. 53 für Streichorchester, Zwei Nordische Melodien Op. 63, die Konzertouvertüre Im Herbst Op. 11, die Lyrische Suite Op. 54, Klokkeklang Op. 54 No. 6 (nicht in die viersätzige Suite aufgenommen), Altnorwegische Romanze mit Variationen Op. 51, Drei Orchesterstücke aus „Sigurd Jorsalfar“ Op. 56, die frühe Symphonie c-Moll, das Klavierkonzert a-Moll Op. 16, Musik zu Henrik Ibsens Peer Gynt Op. 23, sechs Orchesterlieder, zwei Lyrische Stücke, Der Einsame (Den Bergtekne) Op. 32 und die von Hans Sitt orchestrierten Norwegische Tänze Op. 35 (von Grieg autorisiert). Nicht dabei sind die symphonischen Werke mit Chorbesetzung wie Landerkennung und Olav Trygvason sowie die Bühnenmusik zu Peer Gynt in ihrer vollständigen Form.

Kaum ein anderer Komponist mag uns heute so unmittelbar zu verzaubern wie der große Norweger Edvard Hagerup Grieg. Er trifft genau den Nerv unserer Zeit. Seine Schlichtheit, seine Natürlichkeit und seine Naturverbundenheit, unzertrennlich mit dem Gefühl von Freiheit und Sehnsucht geeint, sprechen den heutigen Hörer direkt an, und so gehören nicht zu Unrecht die Peer Gynt Suiten (vor allem die erste), das Klavierkonzert oder die Lyrischen Stücke für Klavier zu den meistgespielten Stücken überhaupt. Zwar gab es eine Zeit, in der Grieg nur wenig rezipiert wurde, und es schrieb beispielsweise Klaus Wolters 1967 in seinem Handbuch der Klavierliteratur, Grieg sei von der alten Generation noch geliebt worden und nun als „Eintagsfliege“ verschwunden, da seine Musik schlicht nicht mehr anspreche, doch: er kehrte wieder und das mit aller Macht. Immer mehr neue Einspielungen gibt es von seinem breiten Œuvre, Gesamtaufnahmen von Klavier-, Kammermusik-, Lied- oder Orchesterwerk, und in den Konzertsälen sind manche Werke absolute Dauerbrenner – und das, obwohl Grieg von sich selber sagte, er werde in 100 Jahren vollkommen vergessen sein.

Doch gibt es noch immer Vorurteile, die Grieg falsch interpretieren. So stellt man sich den Norweger heute meist nur als alten Mann mit Schnauzer und Hirtenstock vor, wie er glücklich auf seinem Fjord sitzt und so schöne wie harmlose Miniaturen verfasst. Wahr ist an diesem Bild eigentlich nur der Schnauzbart, und der Komponist war ein Leben lang von schwerer Krankheit gezeichnet – früh schon verlor er einen Lungenflügel und hatte bis zu seinem Tod ständige Atemnöte -, war geprägt von familiären Krisen (das lange Verbot der Eltern einer Heirat mit seiner Cousine Nina Hagerup, der Tod seiner Tochter Alexandra, kurz darauf der Tod beider Eltern, Probleme mit Nina und Gerüchte um Ehebruch von beiden Seiten aus bis hin zu einer längeren Trennung des Paares, der Suizid seines Bruders etc.) und kämpfte mit ständigen Selbstzweifeln und einem geradezu destruktiven Perfektionismus. Seine Werke überarbeitete er teils unzählige Male, im Falle der Orchestration seines Klavierkonzerts sogar bis zu seinem Tod immer wieder aufs Neue, seine Symphonie zog er vor der Uraufführung als Gesamtwerk zurück und verbot jegliche Aufführung, zu welcher es erst 1980 in Russland durch einen klassischen „Kulturraub“ kam. Und auch das Klischee eines Kleinmeisters ist letztlich nicht ausreichend, denn obgleich Grieg unzählige Klavierminiaturen und eine mit Schubert zu vergleichende Anzahl an Liedern schuf, gingen auch viele große und bedeutende Werke aus seiner Feder hervor: Fünf grandiose Sonaten schuf er, besonders die drei für Violine und Klavier sind bemerkenswert, eine Ballade, die denen von Chopin in nichts nachsteht und diese gar hinsichtlich innerer Bezüge, Länge, pianistischer Schwierigkeiten, Gesamtwirkung und Stringenz zu überbieten versucht, die hier vorliegende Symphonie und das Klavierkonzert sowie ein überwältigendes Streichquartett in g-Moll, quasi Schwesterwerk zur Ballade, um nur einige dieser Werke zu nennen. Nicht zuletzt wird Grieg vorgeworfen, zu abhängig den Traditionen verbunden geblieben zu sein ohne Sinn für Moderne und Fortschritt. Grieg war tatsächlich einigen Neuerern abgeneigt und sagte gar nach einer Aufführung von Strauss‘ Salome, er habe zu lange gelebt und die Musik habe ihn überholt, doch als Reaktionär kann er deshalb keinesfalls bezeichnet werden. Ganz im Gegenteil, gerade in Bezug auf die Harmonik war er fortschrittlicher als die meisten wissen, so beginnt beispielsweise die „Illusion“ mit einem übermäßigen Dreiklang-Akkord und in der Ballade wird ein Durseptakkord in zweiter Umkehrung gegen alle Regeln zehn Mal chromatisch nach oben gerückt, ähnliches findet sich in der Flucht vor den Trollen in der Schauspielmusik zu Peer Gynt. So mag es nicht verwundern, dass Debussy immer wieder Griegbezüge aufweist (teils ganz deutliche wie zu Beginn seines Doktor Gradus Ad Parnassum, wo er unverkennbar auf den Beginn der Holberg-Suite anspielt) und Ravel gar sagte, in jedem seiner Werke stecke der Einfluss von Grieg.

Eivind Aadland geht dem Orchesterwerk dieses grandiosen Komponisten auf den Grund, gemeinsam mit dem WDR-Sinfonieorchester Köln spielte er es auf fünf CDs für audite ein. Das Orchester spielt klar und durchhörbar, der Dirigent verzichtet auf alle unnötigen Romantizismen und überdehnte Tempi rubati. Man fasziniert mit äußerst wandelhaften Charakteren, so agiert man in der Barockgesten aufgreifenden und diese romantisierenden Suite Aus Holbergs Zeit Op. 40 recht nachdrücklich und mit angenehm bleibender Härte, wogegen beispielsweise die Symphonischen Tänzen durchaus lyrisch und weich gestaltet sind. Es entstehen vielfarbige Schattierungen und das Ganze wird nicht wie viel zu häufig zu hören in einem einzigen monochromen „Grieg-Klang“ verschmolzen. Bemerkenswert ist die Lebendigkeit aller Stimmen, also auch derer, die nicht im Vordergrund stehen, was besonders bei den Klavierstücktranskriptionen von Vorteil ist, aber auch in Symphonie und Klavierkonzert eine ungewöhnliche Plastizität und Vielschichtigkeit erwirkt. Alles in Allem entsteht so eine gewisse Sachlichkeit, die jedoch nicht ins Sterile abgleitet, sondern nur die Reflexion und das Bewusstsein über das Werk zeigt anstelle von Überrumpelung durch klischeehafte Gefühlsausbrüche. Auch wird die Dynamik zu keiner Zeit kopflos ausgereizt in übermäßig krachendes Fortissimo oder unhörbares Pianissimo, wodurch das Zuhören sich sehr angenehm gestaltet und nicht in ständiges Lautstärke-Nachpegeln ausartet. Die Aufnahmen sind von höchster Qualität und können den ganzen Farbenreichtum Griegs dem Hörer authentisch vermitteln.

Herbert Schuch ist Solist im Klavierkonzert a-Moll, dem einzigen fertiggestellten Solokonzert Griegs, der zumindest noch drei weitere für Geige, Cello und erneut für Klavier geplant hatte. Ebenso objektiv wie das Orchester versteht er seinen Solopart und passt sich auf natürliche Weise in den Orchesterklang ein. Er spielt feingliedrig und lyrisch ohne Hektik oder Überstürzung, präsentiert gediegene Sanftheit gleichermaßen wie anspringende Scherzhaftigkeit. Außergewöhnlich ist sein Gefühl für große Crescendi und Decrescendi, die in einer kaum erreichten Kontinuität anwachsen beziehungsweise ausblenden.

Eine der wohl schönsten Inspirationen darf Camilla Tilling mit ihrer vielseitigen Sopranstimme vortragen: Solveigs Lied – und fünf weitere Orchesterlieder. Gerade in diesem Lied umfängt sie mit zwei offenkundig divergierenden Seiten ihrer Stimme, einer betrübt zurückgehaltenen im Textteil und einer hell strahlenden im Vokalisenteil. Und auch in den weiteren Liedern gelingt ihr die ganze Bandbreite vom großen Operngesang bis hin zur schubertischen Verinnerlichung. Ihr Vibrato ist durchaus vielseitig, dabei recht kontinuierlich eingesetzt, und nimmt verschiedenste Färbungen ein, so dass auch hier einige Abwechslung entsteht. Auch sie setzt auf innere Gelassenheit und wohltuende Reflexion des Inhalts. Ebenso eine farbenreiche Stimme hat Ton Erik Lie, wenngleich er teilweise etwas im Orchester verloren zu sein scheint. Im Op. 32 vermittelt er ein starkes und glaubhaftes Gefühl von Einsamkeit. Das Vibrato ist ein wenig statisch, doch gleicht er dies durch dynamische Vielfalt aus.

Ohne jeden Zweifel liegt hier eine wahrlich hörenswerte Gesamteinspielung des symphonischen Werkes von Edvard Grieg vor. Aadlands Ökonomie der Gestaltung merkt man die lange Beschäftigung mit dem Komponisten an, er weiß, worauf es ankommt in Griegs Musik. Jedem, der nur die „Hits“ wie die Peer Gynt-Suiten, Holberg-Suite oder das Klavierkonzert kennt und mag, sei wärmstens empfohlen, sich auch mit dem restlichen Orchesterwerk auseinanderzusetzen. Hier (wie auch im Klavier- und Kammermusikbereich) warten bei Grieg phantastische Schätze, wahre Perlen des Nordens!

[Oliver Fraenzke, März 2016]

Dichter … Liebe?

Dichter. Liebe
Heine. Schumann

Cornelia Horak, Sopran
Stefan Gottfried, Piano
Christoph Wagner-Trenkwitz, Rezitation

Gramola 99059
9 003643 990593

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„Und kein Dichter ruft einem Fräulein, das den Sonnenuntergang gerührt betrachtet, die Worte zu:
Mein Fräulein, sein Sie munter,
das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter,
Und kehrt von hinten zurück.
Nicht aus Respekt vor dem Fräulein, aber aus Respekt vor dem Sonnenuntergang.“

(Karl Kraus: Heine und die Folgen,  Auswahl aus dem Werk, Seite 183. Kösel-Verlag 1957 Kempten)

So urteilte Karl Kraus in seinem bis heute viel zu wenig beachteten Essay über den angeblich so großen Dichter Heinrich Heine. Ja, er geht noch weiter und schreibt von „jenem Heinrich Heine, der der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert hat, dass heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern dürfen“ (Seite 187)

Ob Robert Schumann bei der Auswahl der Gedichte, die er in seinem Liederzyklus „Dichterliebe“ von Heine vertont hat, nicht mit seinem auch sonst so sicheren Gefühl für den Wert  seiner vertonten Lyrik – man denke nur an op. 39 nach Eichendorff – sich genau an die gehalten hat, die als Lieder vorliegen? Und die ausgespart hat, die eben nicht dazu gehören sollten?  Und nun meinen Cornelia Horak (mit dem ihr eigenen Talent des Singens) und ihr Mann Christoph Wagner-Trenkwitz (mit dem ihm eigenen Talent des Sprechens – so formuliert es das Booklet) mit der zusätzlichen Rezitation der angeblich passenden und vom Komponisten eben eigentlich fälschlicherweise nicht vertonten Gedichte dem Ganzen eine „überraschende Bereicherung“ angedeihen lassen zu müssen. Als hätte der gute Schumann eben nicht die ganze lyrische Tragweite dieser Gedichte – in der ihm eigenen Beschränktheit – übersehen, was hiermit nachgeholt werden muss…

„O tempora, o mores!“ Wenn dann zum sowieso merkwürdigen „Ich grolle nicht“  als nächstes unmittelbar darauf rezitiert wird: „ Ja, du bist elend, und ich grolle nicht…“, dann wirkt das auf mich nun genau so, wie es Robert Schumann eben nicht wollte: Totschlag mit dem Hammer! Und zieht diesen ganzen Zyklus in die banalste Ebene der auch für jeden Tölpel verdoppelt verständlich gemachten Erfassbarkeit. So simpel war der Komponist eben nicht, dass er dieser Verdoppelung auf den Leim gegangen wäre. Und seinem Liederzyklus tut die Balance zwischen romantischer Ironie, die man dem Heine so gerne unterschiebt und der Naivität, die angeblich den Komponisten kennzeichnet, augenscheinlich so gut, dass die dadurch ausgelöste Spannung den Hörer bis zum heutigen Tage beschäftigt

Wenn nun die ausgelassenen Texte eingebaut werden und damit eine ach so korrekte Festlegung stattfindet, ist genau diese Balance zu Gunsten einer peinlich unkünstlerischen Eindeutigkeit aufgehoben. Schade!

Abgesehen davon überzeugt mich auch die sängerische Leistung von Cornelia Horak nicht, denn ihre Wortverständlichkeit wird – wie allzu oft – der Stimme geopfert, ohne Textbeilage wäre man, was die Verständlichkeit des Gesanges angeht, hoffnungslos aufgeschmissen.

[Ulrich Hermann, März 2016]

Maeckel auf der Probe

„Liszt plus“ lautet der Titel des Konzerts von Professor Gregor Weichert am Nachmittag des 3. April 2016 im Johannissaal des Schloss Nymphenburg in München. Das Konzert der Reihe „Klavierspielkunst – Stationen der Musikgeschichte“, veranstaltet von Jürgen Plich, enthält Werke von Liszt, nämlich zwei Legenden, Die Zelle in Nonnenwerth und die Polonaise aus dem Stanislaus-Oratorium, sowie von Louis Vierne Le glas und von César Franck Prélude, Choral et Fugue. Zwei Intermezzi von Johannes Brahms, dessen Todestag begangen wird, bilden die Zugabe.

Vor einiger Zeit besprach ich für The New Listener das Buch „Das organische Klavierspiel“ von O. V. Maeckel, eine in Vergessenheit geratene Methode eines zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirkenden und damals hoch angesehenen Klavierpädagogen, der versuchte, die noch nie in Worte gefasste Methode der großen Klaviervirtuosen wie Franz Liszt zu entschlüsseln und authentisch zu unterrichten. Herausgeber des im Staccato-Verlag erschienenen Reprint ist Gregor Weichert, emeritierter Professor in Münster, der selber nach Maeckels Methode spielt und lehrt. So lasse ich mir natürlich die Chance nicht nehmen, seinem Konzert im Münchner Schloss Nymphenburg beizuwohnen und die praktische Umsetzung von Maeckels Methode unter die Lupe zu nehmen.

Wie auch der Pädagoge des frühen 20. Jahrhunderts ist Weichert ein großer Anhänger von Franz Liszt und Erforscher auch von dessen geistig-spiritueller Seite. Da verwundert nicht, dass sowohl Liszt als auch das Religiöse das Konzertprogramm einem roten Faden gleich durchziehen. Zwei Legenden von großen Heiligen, die Zelle in Nonnenwerth, und eine Polonaise aus dem lediglich als Klavierparticell vorliegenden Stanislaus-Oratorium des Chopin-Freundes machen den ersten Teil des Recitals aus, Francks Prélude, Choral et Fugue sowie das Totengeläut, Le glas, des für seine Orgelsymphonien berühmten Franck- und Widor-Schülers Louis Vierne den zweiten. Kurze Moderationen Weicherts vermitteln leger und gekonnt sein fundiertes Wissen und tiefes Verständnis der gespielten Werke.

Der Klang verzaubert und erstaunt gleichermaßen von der ersten Sekunde an: Professor Gregor Weichert entlockt dem Broadwook & Sons Full Concert Grand von 1896 einmalige Schattierungen und einen sauberen, klaren und vollendet abgerundeten Ton. Tatsächlich manifestiert sein Spiel nach der Klaviermethode von O. V. Maeckel eine ganz eigene Art des Anschlags, der ein unerwartetes Hörerlebnis hervorruft. Besonders auffällig sind hierbei die weittragenden Gesangslinien (die 3. Spielart nach Maeckel) sowie die genauestens durchbalancierten Akkorde (wovon Maeckels zweites Kapitel handelt). Zu keiner Zeit scheint sich Weichert sonderlich anzustrengen, er geht nur mit dem nötigen Druck in die Tasten hinein, wodurch niemals Härte entsteht, alles geschieht aus der Entspanntheit der Muskeln und aus der natürlichen Schwerkraftenergie heraus.

Darüber hinaus ist für das Spiel von Gregor Weichert innere Ruhe und Gelassenheit bezeichnend, aus welcher heraus die Musik entstehen kann. Locker und entspannt nimmt Weichert selbst die virtuosesten Passagen und lässt sie in aller Einfachheit entstehen, ohne isolierte, nachdrückliche Effekte nötig zu haben.

Ein Stück, das noch besonders hervorgehoben werden sollte, ist die Polonaise aus dem Stanislaus-Oratorium von Franz Liszt. Welch eine fortschrittliche harmonische Kraft in diesem Stück liegt, das ist wirklich faszinierend – niemals hätte man bei solch einer Musik an Franz Liszt gedacht, viel eher an einen späteren Neuerer. Besonders manche scheinbar falschen Noten stechen hervor, die im Gesamtkontext jedoch einen Sinn ergeben und nur punktuell fast wie „Blue Notes“ wirken. Nicht weniger beachtlich sind aber auch die restlichen Werke: die beiden programmbeladenen Legenden, Viernes düsteres und stimmungsgeschwängertes Le glas, welches wohl niemanden kalt lassen kann – vor allem nicht in solch einer reflektierten Darbietung -, und die chromatisch schillernde Virtuosität der Musik von César Franck, die rein musikalischen Zwecken dient. Unfassbar fesselnd geraten insbesondere die beiden Intermezzi von Johannes Brahms, welche es als Zugabe gibt, wie gewohnt in innerer Lockerheit und meditativer Ruhe – und umso stärker mit echt empfundenem Gefühl und Reife der Gestaltung.

So leitet Weichert direkt über in den nächsten Klaviernachmittag, der am 8. Mai mit seinem ehemaligen Schüler und nunmehr Kollegen sowie Veranstalter Jürgen Plich stattfinden wird. Bei „Brahms plus“ gibt es dessen dritte Sonate sowie die 3 Phantasiestücke Op. 111 von Robert Schumann. Auf dieses Konzert bin ich sehr gespannt.

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Trier blickt gen Norden

Die Manfred-Ouvertüre Op. 115 von Robert Schumann, das Klavierkonzert a-Moll Op. 16 Edvard Griegs sowie die dritte Symphonie Op. 44 (ebenfalls in a-Moll) von Sergej Wassilijewitsch Rachmaninoff stehen auf dem Programm des sechsten Sinfoniekonzerts des Philharmonischen Orchesters der Stadt Trier unter Leitung von Generalmusikdirektor Victor Puhl am 31. März 2016. Solist des im Theater Trier stattfindenden Konzerts ist der aus Moldawien stammende Alexander Paley.

Ein anspruchs- und gehaltvolles Programm wählt das Philharmonische Orchester der Stadt Trier für sein 6. Sinfoniekonzert am 31. März. Schon die eröffnende Manfred-Ouvertüre Op. 115 ist ein tiefgreifendes Seelengemälde und erfüllt von Hintergründigkeit. Die düstere Geschichte von Manfred, der sich durch Inzest mit Astarte – vermutlich, doch nicht im Text von Lord Byron wörtlich zu finden, seiner Halbschwester – schuldig machte und so ihren Tod verursachte, läuft durch Magie, Geister und Dämonen unweigerlich auf seinen Tod zu und birgt unermesslichen Stoff zur musikalischen Umsetzung. Schumann schuf daraus ein epochales Melodram-Meisterwerk, das in der Ouvertüre eine gedrängte psychologische Zusammenfassung erfährt. Trotz des vorgezeichneten Es-Dur steht sie eigentlich in es-Moll, todnah und von innerer Zerrissenheit. Nicht weniger ein Meisterwerk ist das einzig vollendete der mindestens vier geplanten Solokonzerte des Schumannverehrers Edvard Hagerup Grieg. Nicht zu Unrecht ist der Geniestreich des in der Mitte seines dritten Lebensjahrzehnts stehenden Norwegers eines der meistgespielten Klavierkonzerte aller Zeiten, und dies trotz der erheblichen Selbstzweifel Griegs an seiner Musik, die ihn dazu brachten, auch dieses Werk mehrfach zu revidieren. Seit der Uraufführung nicht gleichermaßen beliebt ist die dritte Symphonie a-Moll Op. 44 von Sergej Rachmaninoff, fast 30 Jahre nach seiner zweiten Symphonie entstanden. Tatsächlich weist sie wohl doch ein paar Längen auf und besitzt nicht ganz die Stringenz seiner Klavierkonzerte oder der Symphonischen Tänze Op. 45, die sein letztes Werk werden sollten.

Die erste Konzerthälfte ist vor allem durchzogen von Temposchwankungen, die zum Teil äußerst irritierend wirken. Grund dessen sind hauptsächlich die ausladenden und nicht ausschließlich zu musikalischen Zwecken eingesetzten Gesten von Generalmusikdirektor Victor Puhl, die ihm teilweise wörtlich genommen über den Kopf zu wachsen scheinen. So wird es schwierig, die wie magisch miteinander verschweißten Übergänge mitzuverfolgen oder den unweigerlich aufs Ende hin verlaufenden Fluss zu verspüren. Einige klanglich ansprechende Momente gibt es schon, etwa das Versterben vor dem letzten kurzen Aufbegehren gerät recht stimmungsvoll. Insgesamt gelingt es Victor Puhl auch recht gut, den Unterstimmen zur Geltung zu verhelfen und eine stetige polyphone Wirkung zu erreichen, die in allen der dargebotenen Werke durchaus vernehmlich ist, doch von vielen Dirigenten als reine Begleitwirkung vernachlässigt wird.

Eine absolute Premiere findet beim Klavierkonzert a-Moll Op. 16 Edvard Griegs statt: Alexander Paley übernimmt erstmals in diesem Werk öffentlich den Solopart nach jahrzehntelanger Konzerttätigkeit. Rückblickend ist es unvermeidlich, zu sagen: Hätte er es doch mal lieber sein lassen. Der durchaus informative Einführungsvortrag vor dem Konzert warnt bereits, Paley habe einige Eigenheiten und bringe seine persönliche Note in die vorgetragenen Werke. Dass sich diese „Eigenheiten“ in komplett unmusikalischen Freiheiten, vollkommen unpassenden ständigen Rubati und an den Haaren herbeigezogenen Akzentuierungen ausdrücken, war dann doch ernüchternd. Es ist dem Dirigenten unmöglich, den wirren Temposchwankungen zu folgen und der brutalen und gehackten Lautstärke etwas nur halbwegs Passendes entgegenzubringen. Lediglich am Ende des zweiten Satzes scheint Paley zu merken, wie sinnlos und stupide er an der Musik vorbeigeht, und lässt sich einmal von den Noten tragen, statt sie frappierend grotesk zu entstellen. Zu Beginn des Finales ist dies jedoch schon wieder vergessen und er schmettert statt dem schwungvollen Halling einen tosenden Säbeltanz – ein lauter „Hayja“-Schrei seinerseits verstärkt dieses Zerrbild überdies. Von mir unerklärlichen Bravo-Ausrufen angespornt, rattert er noch eine kurze Zugabe herunter, die allerhöchstens als erträglich bezeichnet werden kann. Das Orchester bemüht sich wirklich, etwas Musikalität einzubringen – Paley unterbindet dies resolut und mit Erfolg.

Ein vollkommen anderes Bild bietet sich nach der Pause, Rachmaninoff scheint wesentlich mehr geprobt zu sein als Schumann, und dies ist hörbar! Durch lebendige Hervorbringung der Nebenstimmengeflechts glänzt das umstrittene Werk in Plastizität und Vielseitigkeit, wodurch auch einige der bekannten Längen gar nicht so lang erscheinen. Auch ist der Klang nun wesentlich ausgewogener als zuvor. Zwar bleiben noch immer einige eher blässliche Stellen und die bereits beanstandeten unfunktionellen Temposchwankungen, doch ist alles in allem eine enorme Steigerung gegenüber der ersten Konzerthälfte offenkundig.

Gab es zwar in der ersten Hälfte doch einige Komplikationen, zumal vom Pianisten ausgehend, so kann doch das Schlussstück einigermaßen überzeugen, nicht zuletzt einiger Musiker wegen, die mit ihrem Können und ihrer Einfühlung in teils glänzenden Soli das Publikum in innere Bewegung bringen.

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Frauenrollen und Frauengestalten

Carattere di Donne
Frauenrollen und Frauengestalten bei Schubert, Rossini und Verdi

Cornelia Lanz, Mezzosopran

Stefan Laux, Klavier

Hänssler Classic
HC16019
8 81488 126019 2

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Merkwürdig! Sonst wird üblicherweise bei einer Aufnahme für Gesang und Klavier zuerst die singende Person genannt, dann der „Begleiter“ oder die „Begleiterin“. Nicht so in diesem Booklet: Hier lässt sich der Pianist Stefan Laux ausgiebig und exklusiv über die Wichtigkeit der Klavierbegleitung und des Klavier bei Schubert aus, dann kommt – nach den notwendigen Texten, denn wie üblich verstünde man den gesungenen Text ohne Beilage kaum – dazu nachher mehr! – der ausführliche Lebenslauf des Begleiters, bevor am Schluss die eigentliche Hauptperson der CD, die Sängerin Cornelia Lanz, zu ihrem Recht kommt. Wobei ihre Beschreibung wieder einmal –wie so oft – primär aus name-dropping besteht, mit wem sie schon berühmterweise zusammen sich hat hören lassen und welche Berühmtheit sie folglich eigentlich ist.  Das also ist der erste Eindruck, der sich leider beim Anhören nur bestätigt: Die Klavierbegleitung drängt sich bei fast allen Schubert-Liedern ungebührlich in den Vordergrund, obwohl sie – bei allem wohlverdienten Anspruch – doch eben der „Begleitung“ des Sängers, der Sängerin zu dienen hat; außer an den Stellen – die es natürlich gibt –, wo das Klavier fortführt, entscheidend kommentiert oder ergänzt.

Dass die sehr genauen Dynamik-Vorschriften und Tempovorgaben  – wobei zu berücksichtigen ist, dass die Musiker von damals keine höheren Geschwindigkeiten kannten als ein galoppierendes Pferd, und weder Radio noch TV noch CD oder sonstiges Entertainment hatten –  vom Pianisten und der Sängerin oft nicht oder nur teilweise beachtet werden, ist zudem fragwürdig – es gibt bei Schubert, vor allem, wenn man die damaligen Klaviere mit  berücksichtigt, vom ppp bis zum fff alle Stufen mit sämtlichen Zwischenwerten,  auch bei den Tempoangaben ist Schubert ungemein vielseitig und genau, aber das scheinen für die Aufführenden nur Marginalien zu sein. Und natürlich ist beim heutigen Gesangsunterricht die Stimme das Wichtigste, die Poesie oder das Wort sind zumindest sekundär, wenn nicht völlig ausgeklammert. Aber Musik und Poesie sind Geschwister, und vor allem beim Lied bilden  die beiden im idealen Fall zusammen einen Gipfel und nicht einen Berg, bei dem die eine Flanke, nämlich die Musik das Übergewicht haben soll, sonst entsteht statt eines Gipfels nur eine seltsame Abplattung. Hans Gal beschreibt in seinem Buch „Schubert und die Melodie“ (dem meines Erachtens besten Buch über Franz Schubert) solch ein „Gipfelerlebnis“ als Ziel jeglichen Liedgesangs. Die Sentenz „prima la musica è poi le parole“ mag bei der Oper eine gewisse Berechtigung haben, aber beim Lied ist diese Reihenfolge völlig verfehlt. Man bedenke nur, wie normalerweise vom Text die Energie zur Vertonung ausgeht, wie also das Gedicht das Primäre ist, dann gesellt sich die Musik dazu, im allerbesten Fall – wie eben bei Schubert und ähnlichen Liedmeistern – als gleichberechtigte Schwester, aber nicht als übergeordnete „Herrscherin“. Und auch heute noch machen Sänger wie Herr Gerhaher deutlich, wie solch ein Gipfelerlebnis sich anhören kann.

Im Großen und Ganzen ein zwar interessantes Thema für eine Lieder-CD, aber vom Begleiter und auch von der Sängerin kein „Gipfelerlebnis“!

[Ulrich Hermann, März 2016]

cpo schlägt wieder zu

Friedrich Gernsheim  (1839-1916)

Violinkonzert Nr. 1 op. 42 in D-Dur
Fantasiestück für Violine und Orchester op. 33 in D-Dur
Violinkonzert Nr. 2 op. 86 in F-Dur

Linus Roth, Violine
Hamburger Symphoniker
Johannes Zurl

cpo 777 861 – 2
7 61203 78612 1

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Friedrich Gernsheim? Nie gehört!
Und wieder hat cpo „zugeschlagen“ und eine CD veröffentlicht, die grandiose unbekannte Musik bereithält. „Das Wichtigste in der Musik, mein Freund, ist die Melodie!“, soll Gioacchino Rossini zu Gernsheim in Paris gesagt haben. Gernsheim hat sich daran gehalten, denn seine drei Kompositionen auf dieser CD – die beiden Violinkonzerte und das Fantasiestück für Violine und Orchester – stecken voller erinnerungswürdigen Melodien – welch eine wunderbare Neuentdeckung eines Komponisten, an dem sich sicher viele seiner Vorbilder fest machen lassen, der aber doch einen ganz eigenen Stil und seine ureigensten Klänge und musikalischen Strukturen komponiert hat, die äußerst ansprechend und mitreißend sind.

Schon der Anfang des ersten Konzerts, bevor der Solist – hervorragend Linus Roth! – nach 54 Takten einsetzt, sind überraschend und machen neugierig auf das, was folgt. In Satz 1 und 2 hat der Solist Gelegenheit, in zwei brillianten Kadenzen seine ganze Kunst und sein Können zu zeigen. Von D-Dur im ersten Satz moduliert der zweite nach E-Dur, und dann ist H-Dur dran, also nicht allzu klassisch. Wobei dem Komponisten, der schon früh als Wunderkind auf Klavier und Geige reüssierte – das Booklet von Jens Laurson gibt reiche Auskunft über Weg und Schicksal des Komponisten –, das allzu Klassische vermutlich kaum wichtig gewesen sein dürfte. Seine Musik klingt jedenfalls so überzeugend und frisch, dass es hoffentlich bald viele weitere CDs mit Musik von Friedrich Gernsheim geben wird.

Auch das Fantasiestück op. 33 für Violine und Orchester ist eine gelungene, melodiöse Komposition, und ganz besonders das zweite Violin-Konzert op. 86 in F-Dur, das mit einer unerhört spielfreudigen und bewegenden Musik aufwartet. Der dritte Satz ist ein richtiger rhythmischer und  virtuoser „Reißer“.

Wie gut, dass der interessierte Hörer, die interessierte Hörerin vieles von Gernsheim via Internet mitlesen oder sogar ausdrucken kann, das gibt doch einen ganz anderen Einblick in die Kompositionen, in die Potenziale dieser Musik. Zusammen mit den engagierten Plattenfirmen wird so der sowieso schon riesige Kosmos der Musik auf erfreuliche und oft überraschende Weise erweitert, auch wenn der allgemeine Musikbetrieb – von wenigen Ausnahmen abgesehen – immer noch die gleiche Repertoire-Einfalt breit und breiter vor sich herschiebt. Aber freuen wir uns über das Erfreuliche, denn dort liegt die Zukunft, auch wenn sie vor langer Zeit ins Leben gerufen wurde. Neben Mendelssohn, Schumann, Brahms, Bruch, Strauss, Busoni und Pfitzner, auch den großen Außenseitern Hermann Goetz und Hans Huber, hat das deutschsprachige Musikleben der romantischen Epoche so wunderbare Violinkonzerte wie die beiden Gernsheim’schen hervorgebracht, das lässt uns beinahe ungläubig staunen, wie hoch die Qualität des Wiederzuentdeckenden sein kann.

[Ulrich Hermann, März 2016]