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Der organische Zusammenhang

Rémy Ballot, Eva Gevorgyan und die Stuttgarter Philharmoniker mit Mozart und Bruckner

Da Chefdirigent Dan Ettinger nunmehr zumindest bis Saisonende krankheitsbedingt nicht einsatzbereit ist, übernahm Rémy Ballot das Abonnementkonzert der Stuttgarter Philharmoniker am 16. Mai in der Stuttgarter Liederhalle, in welchem eigentlich eine Puccini-Gala gegeben werden sollte, und leitete das Orchester stattdessen in einem Mozart-Bruckner-Programm, welches ansonsten dem Stuttgarter Publikum vorenthalten geblieben wäre. Das ist eine insgesamt bemerkenswerte Entwicklung, da Ballot ja zunächst – mit maximalem Erfolg, wie man das wohl nennen muss – in Bruckners Fünfter Symphonie (seiner komplexesten) eingesprungen war. Dies geschah, da er als ‚Bruckner-Spezialist‘ empfohlen wurde, was insofern auf der Hand liegt, als er ja gerade für das führende österreichische Klassik-Label Gramola den ersten Zyklus der zehn reifen Bruckner-Symphonien vollenden konnte, der jemals in der Stiftsbasilika St. Florian eingespielt wurde – also an dem Ort, an welchem sich Bruckners eigene Klangvorstellung einst entscheidend ausgebildet hat. Und natürlich hat Ballot – unter akustisch weit unproblematischeren Bedingungen als in dem sehr halligen Kirchenraum unweit Linz – die Stuttgarter, das Hausorchester des frischgebackenen deutschen Fußball-Vizemeisters, auf fulminant klare, den geistigen Gehalt der Musik, ihr Drama des freien Kontrapunkts ohne Schielen auf Effekte oder Stilisierungen entfaltende Weise durch dieses Werk geführt, wie mir von mehreren Seiten, deren Wort schon des öfteren mit der Realität in Einklang stand, zugetragen wurde – eine Ansicht, die unter anderem auch, und das wiegt nun wahrlich nicht gering, von vielen der Orchestermusiker getragen wird.

Daraufhin lud man Ballot ein, auch die beiden Konzerte in Norditalien zu dirigieren, in welchen zunächst die großartige junge armenisch-russische Pianistin Eva Gevorgyan (Jewa Geworgjan) in Mozarts großem A-Dur-Klavierkonzert KV 488 begleitet wurde, bevor diesmal Bruckners Vierte – in der definitiven 3. Fassung von 1887–88 – erklang. Man spielte dieses Programm beim Klavierfestival in Brescia sowie in Bergamo, der Heimstätte der frischgebackenen Leverkusen-Bezwinger. Und, man kann es ja fast nicht glauben, man spielte dabei die Erstaufführung der Vierten Bruckner – seines zusammen mit der Siebten populärsten Werks – in Bergamo. Also nicht nur in musikalischer, sondern auch in historischer Hinsicht eine entscheidende Tat.

Dieses Programm hätte das Stuttgarter Publikum also nicht zu hören gekommen, hätte nicht Ettingers Puccini-Herzensprojekt auf dem Programm gestanden, welches man dem erkrankten Chef – dem dringend gute Besserung zu wünschen ist – nicht entreißen, sondern auf einen späteren Zeitpunkt verlegen wollte.

In Stuttgart gab es nun – einem Saison-Motto folgend – zwischen Mozart und Bruckner, besetzungsbedingt nach der Pause vor der Symphonie, An Oddment for Orchestra, ein One-Minute-Piece einer Kompositionsstudentin der Stuttgarter Hochschule, der 1997 geborenen Flämin Eveline Vervliet, als Uraufführung – eine Art stehender Klangbildung, ein bisschen gleich einem Tierchen, das auf einer Lichtung um sich schaut und überlegt, wohin es sich denn bewegen soll. Nun denn – zu Bruckner, und das deutet sich auch in den Klängen an, die da in recht bruchstückhafter Weise aufeinanderfolgen (der Titel, dadaistisch-technokratisch, könnte auch eine Hommage an Elon Musk sein). Eine freundliche Talentprobe, die das Publikum nicht beleidigt.

Zuvor gab es einen vor allem im Kopfsatz ganz wunderbaren Mozart, und Eva Gevorgyan ist eben nicht nur eine phänomenale Virtuosin, wie sie anschließend vor allem in den Finessen der Paganini-Campanella in Liszts rhapsodischer Formung in das Publikum absolut in Bann schlagender Weise bewies, sondern eine Musikerin, die in dieser niemals stillstehenden, immerfort sich organisch entwickelnden Musik vollkommen präsent ist, die harmonischen Verläufe sinnfällig aushört, die Kontrapunktik auch da deutlich hervortreten lässt, wo viele andere nur charmantes Figurenwerk durchnudeln. Eine wirklich spannende, dabei auch ganz natürliche Darbietung mit einem adäquat hellwachen Orchester als lebendig changierendem Gegenpart. Im langsamen Satz spielte Eva Gevorgyan sehr fein und stimmungsvoll, auch durchaus klar und äußerst kultiviert, jedoch können die Spannungsverläufe der Phrasen noch viel bezwingender erscheinen, zumal wenn die extreme introvertierte Spannung der Neapolitaner-Akkorde tiefgreifender begriffen würde. Aber das lässt sich ja noch entwickeln, erweitern… Im Finale herrschte geistvoller Dialog, lediglich leicht gebremst durch ein etwas zu geschwind genommenes Starttempo, aber hier ist es viel leichter, das natürliche Idiom des Komponisten zu Wort kommen zu lassen, wenn man nicht den ideologischen Flausen der sogenannten ‚historischen Aufführungspraxis‘ mit ihren nivellierenden Verzerrungen aufsitzt – und diese Gefahr bestand in keinem Moment. Der kleinen Einwände eingedenk also eine vortreffliche, grundmusikalische Darbietung aller Beteiligten.

Auf der gleichen Höhe bewegte sich die Bruckner-Symphonie. Es ist nicht möglich, dies angemessen zu beschreiben. Als Leitfaden möge dienen, dass Ballot definitiv von dem Lehrer und Meister geprägt ist, dessen jüngster Dirigierschüler er am Ende von dessen Leben war: von Sergiu Celibidache. Und da scheiden sich natürlich die Geister von den Ungeistern. Aber lassen wir die Ungeister außer Acht, die können sich ja an Wand, Harnoncourt, Skrowaczewski, Tintner, Thielemann und minderen Gesellen orientieren. Entscheidend ist, dass Ballot es einerseits überhaupt nicht nötig hat, sich irgendwie von Celibidache zu distanzieren, sondern dass er schlicht ein ergebener Diener der Musik ist, wie dies einst, in Zeiten vor dem alle Qualität niederwalzenden Starkult, das Ideal aller seriösen Musiker war. Und das Schöne ist, dass Ballot bei aller Nähe zum von Celibidache Erlernten doch ein ganz anderes Naturell ist. Spezifisch für ihn ist eine Leichtigkeit, Geschmeidigkeit, ein grundsätzlicher Optimismus, ja eine immer spürbare Freundlichkeit und Fröhlichkeit des Wesens, und das begünstigt auch die Transparenz des Orchesterklangs und überhaupt die kollektive Tongebung. Und es bedeutet keineswegs, dass es an Drama mangele! Das Scherzo ist so virtuos, wie es sein soll, und keine gemütliche Veranstaltung (das Trio hingegen selbstverständlich genau das). Kopfsatz und langsamer Satz gelingen vortrefflich, und es steht zu vermuten, dass fast niemand in Orchester und Publikum diese Musik bisher je so wunderbar gestaltet im Konzert erleben durfte. Und überwältigend, wie es eben sein muss, setzt das Finale dem Ganzen die Krone auf, um in einer apotheotischen Coda, wie dies nur möglich ist, dem Himmel zuzustreben. Ganz im Sinne seines Lehrmeisters gelingt es Ballot hier, aus dem Gegensatz der kantablen Harmoniepracht des modulierenden Bläsersatzes und dem markierten Schreiten der Streichertriolen als rhythmischer Erdung eine Wirkung zu manifestieren, die so magisch ist, dem sich nur entziehen kann, wer dümmlicherweise dagegen ist. Und welcher musikalische Geist wäre das? So geht Bruckner, und Ballot ist wohl nicht der einzige, der das heute versteht und verwirklichen kann, aber einer der ganz wenigen. Die Stars gehören jedenfalls bislang nicht dazu. Möge er also kein solcher werden wie diese, sondern seinem eigenen Stern ohne Eitelkeit und Selbstsucht folgen, wie dies bisher ganz offensichtlich der Fall zu sein scheint, und möge ihn der zunehmende Erfolg geistig nicht zu Fall bringen. Ich traue ihm das jedenfalls zu. Ich hätte mir lediglich gewünscht, dass er nicht so pedantisch die Zweier-Gruppen bei der Bruckner-Manie des halb-Zweier, halb-Dreier-Alla-breve-Takts unterschlagen hätte. Auch wenn ihm womöglich die verfügbare Probenzeit ein bisschen knapp gewesen sein mag (was vor allem für den langsamen Satz gilt), so viel Kontrolle war hier nicht nötig, und das Orchester tat, was ihm nur möglich war, um in dieser Art von Bruckner-Spiel, die in jedem Fall so ganz anders als das Gewöhnliche und so ganz neu war, mit Hingabe aufzugehen. Wie schön, wenn ein Orchester so fühl- und spürbar aufblüht und mit solchem Selbstbewusstsein das entdeckt wie beim ersten Mal, was man längst zu kennen glaubte. Großartig.

Was ist das Besondere an dieser Art des Musizierens? Kurz, allzu kurz gesagt: der organische Zusammenhang, der uns alle vier Sätze in bezwingender Weise als Einheit der Form erleben lässt. Und vielleicht sogar die Symphonie als Ganzes, wenngleich jenseits des Erklärbaren, auch wenn das Hauptthema des Beginns am Ende wieder da ist, wie ein Symbol des Ewigen. Diese einmalige Kunst des Musizierens kann man nicht eben mal erklären. Das erlebt man. Sogar als Kritiker ‚von Statur‘ hätte man die Möglichkeit…

[Annabelle Leskov, Mai 2024]

Klassisches vom Klangkollektiv Wien: Ballot dirigiert Mozart, Stamitz und Beethoven

Besprechung des Konzerts:

Wien, ORF RadioKulturhaus, 19. November 2022

  • Wolfgang Amadé Mozart: Eine Kleine Nachtmusik KV 525
  • Carl Stamitz: Flötenkonzert G-Dur
  • Ludwig van Beethoven: Streichquartett Nr. 16 F-Dur op. 135 (Fassung für Streichorchester)

Karin Bonelli, Flöte

Klangkollektiv Wien

Rémy Ballot, Dirigent

Zugleich Vorstellung der CD:

Ludwig van Beethoven: Streichquartette op. 131 und op. 135

Gramola, 99248; EAN: 9 003643 992481

Das erst vor wenigen Jahren von Norbert Täubl, dem Klarinettisten der Wiener Philharmoniker, und Rémy Ballot, dem Dirigenten der St. Florianer Brucknertage, ins Leben gerufene Klangkollektiv Wien hat sich rasch den Ruf eines der hervorragendsten Kammerorchester unserer Zeit erworben. Mehrere Mitschnitte von Konzerten des international zusammengesetzten Ensembles, dessen Repertoireschwerpunkt auf der Epoche zwischen Joseph Haydn und Franz Schubert liegt, sind bei Gramola auf CD erschienen. Sie zeugen gleichermaßen von der hohen Spielkultur, die in diesem Orchester herrscht, wie von der außerordentlichen Kapellmeisterbegabung Rémy Ballots. Wer sich am Abend des 19. November 2022 im großen Sendesaal des ORF RadioKulturhauses einfand, konnte ein weiteres Mal bestätigt finden, dass die Auftritte des Klangkollektivs zu den Höhepunkten des Wiener Musiklebens zählen. Das Orchester spielte unter Ballots Leitung in einer Besetzung von 16 Streichinstrumenten zuerst Eine kleine Nachtmusik von Wolfgang Amadé Mozart. Anschließend begleiteten die Streicher die Flötistin Karin Bonelli im Flötenkonzert G-Dur von Carl Stamitz, bevor am Ende des Programms mit dem chorisch gespielten Streichquartett Nr. 16 F-Dur op. 135 von Ludwig van Beethoven wieder ein reines Streichorchesterstück zu hören war.

Die Auswahl der Stücke ließ bereits erwarten, dass der Abend dem fließenden Übergang von kammermusikalischem und orchestralem Musizieren gewidmet war. Die Kleine Nachtmusik ist Mozarts einzige nur für Streicher geschriebene Serenade und auch als Quartett ausführbar, doch ihr Tonsatz ist über weite Strecken eindeutig der eines Orchesterwerks. Umgekehrt animiert Beethoven in seinen späten Quartetten das Kammerensemble an zahlreichen Stellen geradezu, sich als ein Orchester zu fühlen. Selbst in op. 135, dem anmutigsten dieser Werkgruppe, in dem das Pathos der vorangegangenen Quartette opp. 130–132 und der Großen Fuge op. 133 weitgehend in ein hintersinniges Spiel verwandelt scheint, finden sich solche quasi-orchestralen Takte, etwa in der Einleitung des Finales, wo die Frage „Muss es sein?“ mit bohrender Intensität gestellt wird. Es liegt also durchaus nahe, dieses Stück auch in größerer Besetzung vorzutragen. Carl Stamitz bildete zwischen den Werken seiner großen Zeitgenossen das entspannte Intermezzo. Sein Flötenkonzert versetzte die Zuhörer in die Welt des galanten Rokoko, als Orchester zum großen Teil tatsächlich noch in der Kammer spielten.

Rémy Ballot führt das Klangkollektiv sicher und unbeirrt durch diese Grenzregion zwischen Symphonik und Kammermusik. Dass er neben seiner Dirigententätigkeit auch als Kammermusiker wirkt, dürfte seinen Anteil daran haben. (An dieser Stelle sei auf die in jeder Hinsicht herausragende Aufnahme von Anton Bruckners Streichquartett und -quintett durch das Altomonte-Ensemble mit Ballot als Primgeiger hingewiesen.) Vor allem aber befähigt ihn sein Gespür für die Entwicklung melodischer Linien und die Darstellung polyphoner Strukturen dazu. Ballot ist kein Mann der schrillen Effekte. Wenn etwa Sforzati oder abrupte Wechsel von Forte und Piano vorgeschrieben sind – wie man dergleichen namentlich bei Beethoven immer wieder antrifft –, ist das für ihn nicht zwingend ein Anlass, dem Publikum rohe Kraft zu demonstrieren oder es durch die virtuose Darbietung scharfer Kontraste zu verblüffen. Er achtet vor allem darauf, in welcher Beziehung die entsprechenden Stellen mit ihrer Umgebung stehen. Sie werden nicht als isolierte Momente vorgeführt, sondern als Teile eines größeren Zusammenhangs begriffen, als Ereignisse, die eine Vor- und Nachgeschichte haben. Welche Funktion hat der durch das Sforzato hervorgehobene Ton innerhalb der Melodie, zu der er gehört? Welchen Verlauf nimmt die Periode, in der mehrfach die Lautstärke wechseln soll? Die Frage des richtigen Vortrags ist für Ballot offensichtlich immer mit der Frage nach der schlüssigen Wiedergabe der musikalischen Handlung verknüpft. Nichts überlässt er dem Zufall, jede Phrase erscheint auf ihre Stellung im großen Ganzen hin geprüft. Das „kammermusikalische“ und das „orchestrale“ Musizieren ergeben sich ganz natürlich aus der jeweiligen Situation im Verlauf der Musik. Es sind nicht Gegensätze, sondern Wechsel des Zustands. Eines geht aus dem anderen hervor. Die Differenziertheit im Vortrag, zu der Ballot sein Orchester animiert, ist nichts anderes als eine genaue Darstellung der Vielgestaltigkeit des Mozartschen und Beethovenschen Tonsatzes. Besonders loben muss man, wie wunderbar das Klangkollektiv die kontrapunktischen Abschnitte umsetzt. Wenn die Motive durch die Stimmen wandern, erlebt man in aller Deutlichkeit, wie trefflich die einzelnen Instrumentengruppen in Kontakt miteinander stehen, wie gut sie aufeinander zu hören wissen. So wird kein Themeneinsatz überdeckt. Jede Stimme kann führen, jede kann begleitend zurücktreten. Gesittete Dialoge geraten ebenso vorzüglich wie spannungsvolle Engführungen. Aber auch in einer mit kontrapunktischen Demonstrationen kaum aufwartenden Partitur wie der Kleinen Nachtmusik bewährt sich der Sinn des Dirigenten für Polyphonie, sodass durch die Aufführung deutlich wurde, wie feinsinnig Mozart auch in diesem schlicht gehaltenen Stück zu Werke gegangen ist.

Sehr aufschlussreich ist es, Dirigent und Orchester bei der Aufführung zuzusehen. Ballot achtet sorgsam darauf, dass die Kommunikation zwischen ihm und den Musikern nicht abreißt. Der Augenkontakt ist ihm sichtlich nicht minder wichtig als die Bewegungen der Hände. So dirigierte er den Anfang des Finales der Kleinen Nachtmusik beinahe nur mit den Augen und brachte die Hände erst beim ersten Forte ins Spiel. Seine Bewegungen sind im allgemeinen sparsam und immer präzise. Stärker ausladende Gesten hebt er sich für besondere Stellen auf. Die Orchestermitglieder achteten hellwach auf alle Zeichen und spielten hochmotiviert.

Zum reinen Streicherklang gesellte sich in Stamitzens Flötenkonzert Karin Bonelli, ebenfalls Mitglied des Klangkollektivs, als Solistin. Das Orchester hat hier weitgehend begleitende Funktion – auch in dieser Rolle agiert das Klangkollektiv tadellos –, während die Flöte eindeutig im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Stamitz führt die Solostimme regelmäßig durch den gesamten Tonraum des Blasinstruments und gibt damit Karin Bonelli ein geeignetes Betätigungsfeld, ihre Stärken zu zeigen. Das Spiel der Flötistin erfreut besonders durch ihre Fähigkeit, jedem Register eine charakteristische Klangfarbe zu verleihen, sodass, wenn sie zwischen den Lagen wechselt, dialogische Wirkungen entstehen. Noch deutlicher wurde dies in ihrem Zugabestück, dem Kopfsatz der Solosonate h-Moll von Carl Philipp Emanuel Bach.

Auch die Streicher spielten eine Zugabe nach dem abschließenden Beethoven-Quartett. Angesichts der anhaltenden Kriegshandlungen in der Ukraine, der Heimat dreier Mitglieder des Klangkollektivs, hatte man sich entschieden, den sorgsam gesetzten klassischen Rahmen zu verlassen und das Konzert mit einem Werk des 20. Jahrhunderts zu beenden, das auf eine lange Tradition der Verwendung als Trauermusik zurückblicken kann: Samuel Barbers Adagio for Strings. Wie intensiv die Aufführung auf das Publikum wirkte, zeigte sich daran, dass nach dem Verklingen des letzten Tons im Saal vollkommene Stille herrschte. Erst nach einer – gefühlt sehr langen – Pause sahen sich die Zuhörer in der Lage zu applaudieren, und sie taten es in spürbarer Begeisterung darüber, einen Konzertabend höchster Qualität erlebt zu haben.

Seit kurzem liegt eine Aufführung von Beethovens Quartett op. 135 durch das Klangkollektiv unter der Leitung Rémy Ballots auf einer CD vor, die, wie die anderen CDs des Orchesters, bei Gramola erschienen ist. Es handelt es sich um den Mitschnitt eines Konzerts im Penzinger Lorely-Saal vom 7. Oktober 2020, in welchem neben op. 135 auch das Quartett Nr.  14 cis-Moll op. 131 erklang. Dieses erlebte eine Wiedergabe, die seine ganze Vielgestaltigkeit in nahezu idealer Weise erfahrbar machte. Welch eine blühende Polyphonie in der einleitenden Fuge! Welch eine Leichtigkeit in den beiden scherzoartigen Sätzen! Der langsame Mittelsatz entfaltet sich in einem großen Bogen von knapp 17 Minuten Dauer, wobei die Variationen ganz natürlich auseinander hervorgehen. Zum Herzstück des Ganzen gerät der kurze sechste Satz, der im Wesentlichen eine langsame Einleitung zum Finale ist. Wie Ballot die Musik hier innehalten lässt und gleichzeitig eine enorme Spannung erzeugt, die sich erst im Schlusssatz entlädt, ist schlichtweg große Kunst. Das Finale wird, ohne übereilt zu wirken, mit unwiderstehlicher Energie musiziert, doch kommt im Seitensatz auch Ballots Meisterschaft im Gestalten schlüssiger Rubati zu tragen.

Die akustischen Bedingungen waren bei dieser Aufnahme nicht ganz so ideal wie jetzt im RadioKulturhaus, doch trübt dies den Gesamteindruck der CD angesichts der meisterlichen Darbietungen keineswegs. Wer erleben möchte, wie prächtig sich Beethovens späte Quartette als Streichersymphonien ausnehmen, dem sei diese Platte nachdrücklich empfohlen.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2022]

Gehalt gegen Geschwindigkeit

Der Pianist Martin Ivanov spielt die ersten fünfzehn Ungarischen Rhapsodien S 244 von Franz Liszt für Gramola ein. Dies ist die erste Gesamteinspielung des Zyklus seit mehr als vier Jahren – die 30 Jahre später komponierten Rhapsodien Nr. 16 bis 19, die auch stilistisch vollkommen von den ersten fünfzehn getrennt erscheinen, ließ der Pianist in seiner Aufnahme aus.

In den letzten Jahren wandelte sich die Anschauung auf einige der großen Klavierstücke von Franz Liszt, beispielsweise auf seine Reihe an Ungarischen Rhapsodien, die er größtenteils auf gehörtes oder in Quellen gelesenes Material von Zigeunermusik errichtete. Bislang wurden die Stücke aufgrund ihrer immensen technischen Anforderungen und dem effektgeschwängerten Gestus wie Zirkusnummern behandelt und von den großen Virtuosen als Showstücke heruntergerast, um die pianistische Potenz zu demonstrieren. Nun machte vor allem die neue Notenausgabe von Istvan Stelényi und Zoltán Gárdonyi darauf aufmerksam, „dass bei der Ausführung trotz der erforderlichen Virtuosität niemals reine technische Bravour vorherrschen sollte“, sondern die Werke eine poetische Substanz innehaben.

Die Rhapsodien in ihrer Gesamtheit aufzunehmen hat dennoch vor allem archivarische und nicht zyklische Zwecke, denn sie sind einander im Geiste wie im Duktus doch zu ähnlich und damit zu wenig kontrastreich, um aneinandergereiht ihre Einzelwirkung zu entfalten: der Eindruck verwischt in Gleichförmigkeit. Dabei gibt es einige wahre Schätze unter den Stücken zu entdecken und manch eine der Rhapsodien (auch jenseits der berühmten Nr. 2) birgt melodische und harmonische Reichtümer, die mehr Pianisten ausschöpfen sollten. Andere sind dann aber doch recht oberflächliche Gebilde, die mehr durch die Geschwindigkeit als durch den Gehalt Geltung erhalten.

Zu bedauern bleibt, dass sich Ivanov gegen die letzten vier der Ungarischen Rhapsodien entschied, die Liszt etwa 30 Jahre nach den ersten fünfzehn komponierte. Diese haben nicht mehr die Leichtigkeit und Unbeschwertheit der früheren inne, sondern zeigen auch die Schattenseiten auf, sind daher umso schwieriger auch musikalisch zu bewältigen. Dafür belohnen sie mit Tiefgang, der bei den früheren Werken oft noch nicht so ausgereift war.

Die Leitbilder, die Ivanov für seine Liszt-Aufnahmen nennt, divergieren: Während Vladimir Horowitz durch subtile Detailgebung wahre Magie entlockt und Glenn Gould durch seine skurrile Art vollkommen eigenwillige Nuancen freigibt, drischt György Cziffra die Werke erbarmungslos herunter, stets bemüht, immer schneller und lauter zu hämmern.

Was beim Spiel von Martin Ivanov ins Auge sticht, ist eine persönliche, aufrichtige und eigenständige Note, die sein Musizieren durchdringt. Allein dies macht ihn zu einem Musiker, den man sich merken sollte und von dem hoffentlich noch Großes erwartet werden kann. Ivanov hält sich präzise an die kritische Ausgabe und stellt sich so in den Dienst dieser Werke, die in der Vergangenheit durch eine Vielzahl an Ausgaben, Veränderungen und Überspitzungen verstümmelt wurden. Besonders fein geht der Pianist mit dem Rubato um, welches er trefflich zur Melodiegestaltung einsetzt, ohne es überzustrapazieren. An manchen Höhepunkten geht es zwar doch mit ihm durch und er verfällt ins Rasen oder zieht dem schönen Ton eine effektreichere Darbietung vor – doch ist dies nur ein kleines Manko in einer farbenreichen und forschenden Aufnahme dieser Stücke, die in ihrer Gesamtheit nur selten zu hören sind.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2020]

Von Brahms bis Gegenwart

Gramola 99172, EAN: 9 003643 991729

Johannes Brahms, Iván Eröd: Klavierwerke; Senka Brankovic (Klavier)

Die österreichische Pianistin Senka Brankovic  spielt Klavierwerke von Johannes Brahms und Iván Eröd für Gramola. Von Brahms hören wir die 7 Fantasien op. 116 und die 4 Klavierstücke op. 119, aus der Feder Eröds erklingen die Brahms Variationen op. 57. Die Aufnahme entstand in Kooperation mit Fazioli auf einem Modell F 278 in der Fazioli-Konzerthalle.

Das Klavier begleitete die Kompositionslaufbahn von Johannes Brahms von Anfang bis Ende. Schon seine ersten an die Öffentlichkeit gebrachten Werke verkündeten seine Ambitionen: die großformatigen und virtuosen Klaviersonaten opp. 1, 2 und 5. Gegen Ende seines Lebens setzt Brahms erneut einen Schwerpunkt auf Werke für dieses Instrument, jedoch nicht mehr in zusammenhängenden Großformen, sondern mit eher kurzen und auf das Wesentlichste reduzierten Einzelstücken, die er in nicht zwingend zusammengehörige Zyklen bündelte. Die musikalische Substanz erscheint hier hoch konzentriert und auf den Punkt gebracht, jede Note offenbart einen neuen Aspekt, der zu einer beispielslosen Geschlossenheit führt.

Gute 100 Jahre nach Brahms kam in Ungarn Iván Eröd auf die Welt, der sich nach Anfängen im Bereich der Zweiten Wiener Schule einer neuen Form der Tonalität zuwandte und durch seinen Lehrer Pál Kadosa ein glühender Verehrer der Musik von Brahms wurde. Ein Auftrag von András Schiff 1999 war schließlich ausschlaggebend, sich ganz intensiv mit seinem Idol auseinanderzusetzen und ein umfangreiches Variationswerk über die sechste der sieben Fantasien op. 116 zu schreiben. Die Musik leitet zu Brahms hin und von dort führt sie uns bis in die Gegenwart, greift Elemente von Messiaen auf, von Webern, Kodály und anderen, spielt mit Ragtime, ungarischer Musik und sogar dem Radetzky Marsch. Gegen Ende verneigt sich schließlich eine Fuge vor Brahms‘ ausgefeilter Satztechnik und ein ‚ungarischer Epilog‘ schließt die Trias zwischen Brahms, Schiff und Eröd.

Der feingliedrige wie präzise Anschlag des Fazioli-Flügels schmeichelt der Kernigkeit von Brahms und verleiht ihr zusätzliches Volumen; auch die Musik Eröds kommt auf dem italienischen Instrument gut zur Geltung. Brankovic überzeugt vor allem in den 7 Fantasien op. 116 durch präsentes Spiel und logische Verknüpfung der einzelnen Strukturelemente. Sie findet einen guten Mittelweg zwischen romantisch-lyrischem und geerdetem, unverfälschtem Spiel. In den 4 Klavierstücken op. 119 kommt die Hauptmelodie nicht immer zum Tragen, vor allem in den ersten beiden Intermezzi. Dort verliert die Melodie ihre Kontur, da Senka Brankovic die einzelnen Perioden nicht in sich schließt, sondern unbeirrt weiterfließen lässt, wodurch der Hörer die Orientierung verliert. In Eröds Variationen op. 57 kann die Pianistin ihre gesamte Stilpalette präsentieren und durch manch einen hinreißenden Klangeffekt bestechen, vor allem in den moderner angehauchten Variationen.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2018]

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Tribute to Stéphane & Django

Gramola Avanti Jazz 5414706 1053-2; EAN: 5414706105320

Tribute to Stéphane & Django; Roby Lakatos & Biréli Lagrène; Modern Art Orchestra

Biréli Lagrène und Roby Lakatos haben ungefähr das selbe Alter; und Herrn Lakatos ging es wie mir, als wir vor Jahren zum ersten Mal diesen jungen Gitarristen hörten und totale Begeisterung verspürten. Kein Wunder also, dass es Jahre später zur überfälligen musikalischen Begegnung kam: Sie spielten gemeinsam ein Konzert und nahmen dieses auf, woraus diese CD entstand.

Die Aufnahme ist zwei Giganten des Zigeuner-Jazz gewidmet, dem Geiger Stéphane Grapelli und dem Gitarristen Django Reinhardt. Zusammen mit einigen anderen Musikern und dem Modern Art Orchestra entstand eine Scheibe, die anzuhören einfach ein hinreißendes Vergnügen ist. Nicht nur, weil die Stücke zum bekannten Repertoire gehören, nein, die große Spielfreude aller Beteiligten überträgt sich auf den Zuhörer und lässt jedes Mal wieder eine kurzweilige Stunde höchsten Vergnügens entstehen.

Es gibt Musiker, denen Geschwindigkeit über alles geht. (Wie meinte ein Kritiker zu den rasenden Geschwindigkeiten mancher Gitarreros: Sie mögen sich doch bitte nicht so anstrengen, ein Maschinengewehr sei einfach noch immer viel, viel schneller!) Man meint oft, bei einem Wettbewerb dabei zu sein: Wer kann noch schneller spielen, besitzt noch flexiblere Finger, noch irrwitzigere Einfälle und dröhnt das ganze so unmusikalisch wie möglich in die Ohren der Hörer? Anders jedoch diese beiden Protagonisten! Nicht nur ihre Finger sind schnell und ihre Technik atemberaubend, nein, in erster Linie ist es ihr Bewusstsein. So dient die Schnelligkeit keinem demonstrativen Selbstzweck, sondern bindet sich in die Persönlichkeit und das musikalisches Bewusstsein der beiden ein. Mir fällt dazu immer wieder der Pianist Cecil Taylor ein, der diesen Gesichtspunkt par excellence verkörperte und repräsentierte.

Wie leicht und doch überzeugend solche Fähigkeit des Spielens zu hören und zu genießen sind ebenso wie diese ja oftmals aus dem Moment heraus improvisierten Melodien und Läufe, Ausbrüche und Weiterführungen, das wird auf dieser eindrucksvollen CD deutlich und hörbar. Die Live-Atmosphäre wurde darüber hinaus vortrefflich eingefangen.

Insgesamt also eine wunderbare Huldigung von zwei exzellenten Solisten mit ebenso herausragenden Musikerkollen, von denen jeder eine Nennung wert wäre: Man denke allein an den Trompeter Kornél Fekete-Kovács, den Leader des Modern Art Orchestras, sowie natürlich den Schlagzeuger Niek de Bruijn und den zweiten Gitarrist Andreas Varady, die allesamt feinfühlig und sicher agieren.

[Ulrich Hermann, Juli 2018]

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Die Kunst der Improvisation

Gramola, 99142; EAN: 9 003643 991422

Die Austrian Art Gang arrangiert und improvisiert über Fugen aus Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge, namentlich die Nummern 1, 4, 5, 7, 10, 12, 13 und 17.

Die Kunst der Fuge gilt nicht zu Unrecht als gewichtigstes Fugen-Kompendium in der Musikgeschichte. Bachs neunzehn Fugen über ein einziges, wenngleich variables Thema erkunden alle nur erdenklichen Möglichkeiten der Fugentechnik und verlangen dem Musiker ein geradezu übermenschliches Bewusstsein über vier autonom geführte Stimmverläufe ab. Das Werk blieb unvollendet, die finale Tripelfuge bricht noch vor dem geplanten Höhepunkt ab, welcher alle drei Themen parallel behandeln hätte sollen.

Die Austrian Art Gang trägt acht dieser Fugen vor, allerdings nicht auf einem Instrument und auch nicht als homogenes Ensemble, sondern bewaffnet mit Saxophonen, Klarinetten, Gitarre, Fagott, Cello und Kontrabass. Die Fugen werden auch nicht notengetreu wiedergegeben, sondern dienen als Ausgangspunkt für Improvisationen der fünf Musiker Klaus Dickbauer, Daniel Oman, Wolfgang Heiler, Thomas Wall und Wolfram Derschmidt, die alle in unterschiedlichen Genres der Musik verwurzelt sind und so jeder für sich ein eigenes Element in die Kombination einbringen.

Was zunächst beinahe absurd scheint, entpuppt sich als uneingeschränkt empfehlenswert. Der Übergang zwischen Barockfuge und freier Improvisation bleibt unhörbar, die Symbiose ist verfließend. Da stimmen die Musiker noch „brav“ die erste Fuge an und sind plötzlich schon in ganz anderen Welten, die bis hin zu Latin und Jazz reichen. Doch selbst hier in der Improvisation beackern die fünf dichten Kontrapunkt und wohlfunktionierende Vielstimmigkeit. Das klangliche Resultat bleibt stets stil- und geschmackvoll und technisch gekonnt, zeitgleich kommt ein „Spirit“ unseres Jahrhunderts hinein – die Musiker tragen eine aktualisierte Herangehensweise an Bach heran, die auch bei Nicht-Klassikhörern sehr beliebt werden könnte. Gunar Letzbor, welcher das Geleitwort verfasste, resümiert trefflich: „Ob Bach sich im Grab umgedreht hat? Blöde Vorstellung – der hat sicher ein Tänzchen gewagt und sich einen Liter seines Lieblingsweines eingeschenkt!“

Oft wird diskutiert, wie man junge Hörer an die „ernste“ Musik heranführen kann, ob mit David Garrett, Lindsey Stirling oder anderen Musikern zwischen Pop und Klassik. Wohl kaum im Ernst. Eine neue und künstlerisch in allen Belangen höchst anspruchsvolle Alternative bietet nun die Austrian Art Gang, die Bach zum Grooven bringt und ihn gleichzeitig Bach sein lässt.

[Oliver Fraenzke, April 2018]

Leider hochaktuell…

Die letzten Tage der Menschheit
Karin Wagner, Klavier   Csongor Szántó, Bariton   Fritz Schuh, Sprecher

Österreichische Kriegslieder vs. Texte von Karl Kraus

Gramola 99116
9 003643 991163

So erschreckend die Zusammenstellung von Liedern, die den Krieg (wenigsten den ersten Weltkrieg damals) verherrlichten und scheinbar notwendig werden ließen gegen die übermächtigen Feinde rings um die beiden Kaiserreiche Deutschland und Österreich – und damals waren ja bis auf ganz wenige Ausnahmen wie Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht fast alle, auch die Besonnenen, für die militärische Auseinandersetzung –, und den geradezu hellsichtigen und auf den Punkt genauen Texten des Österreichers Karl Kraus (1874-1936) auch ist: Sie ist leider auch heute noch oder wieder fürchterlich aktuell, wie man ja auch am Erstarken des Rechtsradikalismus hier und überall sieht.

Dass sich Komponisten wie Robert Stolz (1880-1975) oder Carl Michael Ziehrer (1843-192), Emil Hochreiter (1872-1938 oder Ralph Benatzky (1884-1957) für solche „patriotischen“ Machwerke hergaben, wundert heute vielleicht keinen mehr, denn die meisten hatten ihren „common sense“ damals zu Hause gelassen; im Booklet stehen einige erschreckende Zeugnisse sogar von Arnold Schönberg (1874-1951) und Anton Webern (1883-1945)!

Der Kontrast zwischen den durchaus überzeugend vorgetragenen Liedern – die Pianistin und der Sänger geben fast zu viel Herzblut darein, was aber beabsichtigt zu sein scheint – und den auch heute noch bezwingenden Kraus-Texten gegen den Wahnsinn der Kriegsmaschinerie, angeheizt durch eine entsprechende Presse – die Parallelen zu heute sind geradezu schockierend – ist dennoch schwer auszuhalten, denn Sprecher Fritz Schuh lässt die Unerbittlichkeit (und da steckt ja das Wort „bitter“ durchaus drin!) mit beklemmender Intensität Wirklichkeit werden. Man denkt natürlich auch an die einmalige Sprachkunst des Helmut Qualtinger, wenn Schuh seine ganzes Können in den Dienst dieser auch heute noch nichts von ihrer Aktualität verloren habenden Texte des Mahners Karl Kraus stellt und sie in all ihrer Wahrhaftigkeit gestaltet. Oft läuft es einem kalt den Rücken hinunter ob der furchterregenden Übereinstimmung mit heutigen Phänomenen. Und das ist sicher beabsichtigt von einer CD, die genau diese Abgründe zwischen „gut“ gemeint und „böse“ geworden, zwischen objektiver Klarheit und oberflächlichem Mitläufertum schauererregend erlebbar werden lässt.

[Ulrich Hermann, September 2016]

Dante mit Bildern bei Mondschein

Gramola 99083; EAN: 9 003643 990838

Für Gramola spielt die gebürtige Japanerin Yuko Batik Ludwig van Beethovens Sonata quasi una fantasia Nr. 14 cis-Moll op. 27, 2 mit dem bekannten Beinamen „Mondschein-Sonate“, Franz Liszts Fantasia quasi Sonata „Après une lecture de Dante“ und Modest Mussorgskys Bilder einer Ausstellung auf einem Bösendorfer-Flügel ein.

Es sind bekannte Werke, die Yuko Batik für ihre CD-Einspielung „Pictures“ auswählte, und entsprechend hoch sind die Erwartungen wie auch die Ansprüche. Bei Beethovens Sonata quasi una fantasia gibt Batik einen warmen und vollen Ton vor mit einer wohligen Wärme. Was mich dabei leider sehr stört, sind im ersten Satz die fortwährenden, standardisiert-mechanischen Ritenuti auf den nächsten Taktschwerpunkt hin, da dieser Effekt unweigerlich abstumpft, sowie, dass im dritten Satz die Sforzati unverhältnismäßig stark aus dem Kontext herausknallen. Vergleichsweise am stimmigsten gerät der zweite Satz, der in aller Schlichtheit und Kürze eine herrliche Farbenpracht offeriert. Allgemein habe ich jedoch das Gefühl, Yuko Batik habe nur rudimentär Bewusstsein über das Spektrum der Spannung in diesem progressiven Werk, zu sehr verharmlost sie die stechenden Dissonanzen und die engen Griffe in der tiefen Lage, die Kernelemente des harmonischen Reizes darstellen.

Weitaus am überzeugendsten gelingt Liszts groß angelegte „Après une lecture de Dante: Fantasia quasi Sonata“ aus den Années de pélerinage. Knappe zwanzig Minuten dauert das einsätzige Werk und verlangt höchste Virtuosität und ein reiches Spektrum an Klangqualitäten und Dynamikabstufungen. Genau damit besticht Batik bei der Fantasia: Die Pianistin lässt die Zusammenhänge der divergierenden Abschnitte ans Licht treten und den Hörer die ausgedehnte Form verstehen, die ihr in einem großen Bogen zusammenzuhalten gelingt, ohne dabei die fließende Unbeschwertheit zu verlieren. Die Expressivität Batiks stimmt mit derjenigen ein, die Liszt in dieses Werk legte, so dass diese wie von sich heraus entstehen kann.

In Modest Mussorgskys Bildern einer Ausstellung erklingt ebenso vieles ausgesprochen stimmig und natürlich, Yuko Batik präsentiert einen durchsichtigen und abgestuften Klang, welcher sich warm und abgerundet gibt. Woran es noch etwas fehlt, ist die Bildhaftigkeit, die die zeichnerischen Vorlagen musikalisch auferstehen und lebendig werden lässt. So fehlen in Gnomus und Bydło die markante Härte und das massive Gewicht, das gerade den Ochsenkarren charakterisiert, Il vecchio castello mangelt es an dem zauberhaften Schleier, der es mit minimalen Dynamikchangierungen der Gleichförmigkeit entreißen könnte, Schmuÿle hält sein nervöses Gestottere in den schnellen Triolen und Wechselnoten aufgrund unpassender Ritenuti nicht unter Spannung und verliert somit an Glaubhaftigkeit und Kontrast zu Goldenberg, die Küken haben nicht die unbeschwerte Leichtigkeit, und der Markt von Limoges wirkt zu „geordnet“ anstelle des wimmelnden Chaos, welches ihn ausmacht. Überzeugen können hingegen die Promenade in all ihrer unendlichen Variationsbreite sowie die letzten drei Bilder (Catacombae – Cum mortuis in lingua mortua, Die Hütte auf Hühnerkrallen und das Bohatyr-Tor in Kiew), die am ausgefeiltesten, reflektiertesten und natürlichsten erklingen, während sie zugleich dem innermusikalischen Bild gerecht werden.

[Oliver Fraenzke, Juli 2016]

Dichter … Liebe?

Dichter. Liebe
Heine. Schumann

Cornelia Horak, Sopran
Stefan Gottfried, Piano
Christoph Wagner-Trenkwitz, Rezitation

Gramola 99059
9 003643 990593

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„Und kein Dichter ruft einem Fräulein, das den Sonnenuntergang gerührt betrachtet, die Worte zu:
Mein Fräulein, sein Sie munter,
das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter,
Und kehrt von hinten zurück.
Nicht aus Respekt vor dem Fräulein, aber aus Respekt vor dem Sonnenuntergang.“

(Karl Kraus: Heine und die Folgen,  Auswahl aus dem Werk, Seite 183. Kösel-Verlag 1957 Kempten)

So urteilte Karl Kraus in seinem bis heute viel zu wenig beachteten Essay über den angeblich so großen Dichter Heinrich Heine. Ja, er geht noch weiter und schreibt von „jenem Heinrich Heine, der der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert hat, dass heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern dürfen“ (Seite 187)

Ob Robert Schumann bei der Auswahl der Gedichte, die er in seinem Liederzyklus „Dichterliebe“ von Heine vertont hat, nicht mit seinem auch sonst so sicheren Gefühl für den Wert  seiner vertonten Lyrik – man denke nur an op. 39 nach Eichendorff – sich genau an die gehalten hat, die als Lieder vorliegen? Und die ausgespart hat, die eben nicht dazu gehören sollten?  Und nun meinen Cornelia Horak (mit dem ihr eigenen Talent des Singens) und ihr Mann Christoph Wagner-Trenkwitz (mit dem ihm eigenen Talent des Sprechens – so formuliert es das Booklet) mit der zusätzlichen Rezitation der angeblich passenden und vom Komponisten eben eigentlich fälschlicherweise nicht vertonten Gedichte dem Ganzen eine „überraschende Bereicherung“ angedeihen lassen zu müssen. Als hätte der gute Schumann eben nicht die ganze lyrische Tragweite dieser Gedichte – in der ihm eigenen Beschränktheit – übersehen, was hiermit nachgeholt werden muss…

„O tempora, o mores!“ Wenn dann zum sowieso merkwürdigen „Ich grolle nicht“  als nächstes unmittelbar darauf rezitiert wird: „ Ja, du bist elend, und ich grolle nicht…“, dann wirkt das auf mich nun genau so, wie es Robert Schumann eben nicht wollte: Totschlag mit dem Hammer! Und zieht diesen ganzen Zyklus in die banalste Ebene der auch für jeden Tölpel verdoppelt verständlich gemachten Erfassbarkeit. So simpel war der Komponist eben nicht, dass er dieser Verdoppelung auf den Leim gegangen wäre. Und seinem Liederzyklus tut die Balance zwischen romantischer Ironie, die man dem Heine so gerne unterschiebt und der Naivität, die angeblich den Komponisten kennzeichnet, augenscheinlich so gut, dass die dadurch ausgelöste Spannung den Hörer bis zum heutigen Tage beschäftigt

Wenn nun die ausgelassenen Texte eingebaut werden und damit eine ach so korrekte Festlegung stattfindet, ist genau diese Balance zu Gunsten einer peinlich unkünstlerischen Eindeutigkeit aufgehoben. Schade!

Abgesehen davon überzeugt mich auch die sängerische Leistung von Cornelia Horak nicht, denn ihre Wortverständlichkeit wird – wie allzu oft – der Stimme geopfert, ohne Textbeilage wäre man, was die Verständlichkeit des Gesanges angeht, hoffnungslos aufgeschmissen.

[Ulrich Hermann, März 2016]