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St. Florianer Brucknertage 2024 [1]: Ein Streichquartett von und ein Buch über Franz Xaver Müller

Angesichts der Tatsache, dass sich 2024 der Geburtstag Anton Bruckners zum 200. Male jährt, nimmt es nicht Wunder, dass die Veranstaltungen im Stift St. Florian dieses Jahr besonders opulent ausfallen. Das Stift feierte das Jubiläum seines größten Musikers bereits mit der Ausstellung Bruckners Visionen, die noch bis Oktober besucht werden kann und neben klassischen Vitrinen auch drei im Stiftshof aufgestellte Pavillons mit virtuellen Präsentationen umfasst. Dazu traten nun im August die St. Florianer Brucknertage, in deren Rahmen diesmal nicht nur ein einfaches wissenschaftliches Symposium abgehalten wurde, sondern ein viertägiger Internationaler Bruckner-Kongress, den die Brucknertage gemeinsam mit der Bruckner Society of America ins Werk setzten. Auch gipfelte das musikalische Programm in zwei Symphoniekonzerten besonderer Art: Am 23. und 24. August spielte das Altomonte Orchester St. Florian unter der Leitung von Rémy Ballot Bruckners Neunte Symphonie einschließlich erhaltener Fragmente des unvollendeten Finalsatzes. Neben diesen Konzerten besuchte der Verfasser dieser Zeilen das Kammerkonzert am 21.August, in welchem das Varga Quartett, verstärkt durch Florian Eggner am zweiten Violoncello, Ludwig van Beethovens Streichquartett e-Moll op. 59/2 und Franz Schuberts Streichquintett C-Dur vortrug. Dazwischen kam ein weiterer Meister aus St. Florian zu Wort: Franz Xaver Müller mit seinem Quartettino D-Dur von 1928.

Christoph Lettner: Franz Xaver Müller. Priester, Musiker, Mensch.

Eigenverlag Marktgemeinde Dimbach 2023, 100 Seiten.

ISBN: 978-3-200-09369-0

Bevor wir zur Schilderung des auf den Brucknertagen Gehörten kommen, sei der Blick auf ein neues Buch gerichtet, das in engem Zusammenhang mit St. Florian steht und im dortigen Stiftsladen erhältlich ist. Anton Bruckner ist zwar der überragende, keineswegs jedoch der einzige große Komponist in der Geschichte des oberösterreichischen Augustiner-Chorherrenstiftes. Franz Xaver Müller (1870–1948), der selbst Augustiner-Chorherr war, darf als die bedeutendste Musikerpersönlichkeit gelten, die im frühen 20. Jahrhundert in St. Florian wirkte. Wie einst Bruckner begann er seine musikalische Laufbahn als Sängerknabe im Stift. 1904 wurde er dort Stiftsorganist und zwei Jahre später Regens Chori, was er bis 1924 blieb. Danach wirkte er bis 1943 als Domkapellmeister in Linz. Müller war kein Schüler Bruckners – er studierte bei Johann Evangelist Habert und Josef Venantius von Wöss –, doch hatte er in seiner Jugendzeit ausgiebig Gelegenheit, diesen als Mensch und Musiker näher kennenzulernen. So assistierte er Bruckner wiederholt bei der Überprüfung der Stimmführungen in dessen Partituren und hörte ihn oft an der Orgel der Stiftskirche improvisieren. Diesen Tagen gedenkend verfasste Müller 1931 für die schweizerische Zeitung Der Bund den kurzen Text „Anton Bruckner. Persönliche Erinnerungen“, der zu den lebendigsten Schilderungen der Persönlichkeit Bruckners gehört. Müller komponierte vorrangig geistliche Musik, darunter sechs lateinische Messen in verschiedenen Besetzungen, ein Requiem für A-cappella-Chor und, als Hauptwerk, das 1924 uraufgeführte Oratorium Der heilige Augustinus. Unter seinen Instrumentalkompositionen ragt eine D-Dur-Symphonie von Brucknerschen Ausmaßen hervor. – In wie weit Müller als Symphoniker stilistisch auf Bruckners Spuren wandelt, müsste eine Aufführung dieses zuletzt 1960 gespielten Werkes klären.

Das Interesse an Müller kommt nun erfreulicherweise wieder in Gang. Lange Zeit existierte nur eine einzige Monographie zu Leben und Schaffen des Komponisten, das 1970 anlässlich seines 100. Geburtstages erschienene Buch von Joseph Mayr-Kern: Franz Xaver Müller. Ein oberösterreichischer Komponist zwischen Anton Bruckner und Johann Nepomuk David. (David war Schüler Müllers und sang unter seiner Leitung als St. Florianer Sängerknabe.) Es enthält neben einer Biographie eine ausführliche Betrachtung der Müllerschen Messen und im Anhang Aufsätze aus Müllers Feder, darunter die oben erwähnten Erinnerungen an Bruckner. An die Seite dieser Veröffentlichung ist im vergangenen Jahr ein weiteres Buch über Müller getreten. Herausgegeben von der Markgemeinde Dimbach, Müllers Heimatort, erschien Christoph Lettners Dokumentation: Franz Xaver Müller. Priester, Musiker, Mensch. Wichtigste Grundlage des Buches ist der private Nachlass des Komponisten, der von seinen Verwandten sorgfältig aufbewahrt wurde, bislang aber der Forschung unbekannt war. Christoph Lettner stellt nun erstmals dieses reiche Korpus an Dokumenten vor: Die Briefe, die Müller mit seinen Verwandten und Freunden gewechselt hat, finden ihre Ergänzung in zahlreichen Photographien sowie zeitgenössischen Zeitungsberichten. Es wird dadurch nicht nur der Lebenslauf des Komponisten nahezu lückenlos abgedeckt, auch tritt daraus Franz Xaver Müllers Charakter plastisch hervor. Wir lernen einen Menschen kennen, der sich sowohl als Musiker, als auch als Priester hingebungsvoll seinen Aufgaben widmet und stets um das Wohl seiner Mitmenschen, namentlich seiner Geschwister (die er alle überlebt) und deren Kinder, besorgt ist, der aber auch herzlich lachen kann, eigene Theaterparodien zur Aufführung bringt und bei Kuraufenthalten seine Mitgäste gut zu unterhalten weiß; der auf Reisen von den Schweizer Bergen und der Blauen Grotte von Capri schwärmt, und gegen Ende seines Lebens ohnmächtig zusehen muss, wie Linz im Zweiten Weltkrieg verheert wird; der Nachforschungen über Bruckner betreibt und Auskünfte ehemaliger St. Florianer Sängerknaben sammelt. Gleichsam im Vorübergehen erhalten wir Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse des ländlichen Oberösterreich, wo der „Fleischhacker-Franzl“ als Neffe des Bürgermeisters im schwer erreichbaren Dimbach heranwächst, wo seine Schwestern sich in ihrer Jugend als Dienerinnen bei örtlichen „Herrschaften“ verdingen müssen und wo man in der Familie zum Feierabend mehrstimmig das Andreas-Hofer-Lied singt. Natürlich kommen auch Linz und das Stift St. Florian nicht zu kurz. Lettner lässt sich als Autor nur dort ausführlicher vernehmen, wo Hintergrundinformationen nötig sind, etwa zu Beginn bei der Schilderung Dimbachs und der Vorstellung der Familie Müllers. Ansonsten begnügt er sich damit, den Rahmen zu setzen und Müller bzw. seine Zeitgenossen selbst sprechen zu lassen. Er gliedert den Stoff, der im Wesentlichen chronologisch präsentiert wird, in eine Vielzahl kurzer Kapitel, die meist nur eine Doppelseite umfassen und jeweils eine bestimmte private oder berufliche Situation Müllers in den Fokus rücken. Diese Form der Darstellung bewirkt, dass man sich als Leser den Personen stets sehr nahe fühlt. Man legt das Buch aus der Hand mit dem Empfinden, tief in den Brunnen der Vergangenheit eingetaucht zu sein.

Lettners Buch ist eine biographische Arbeit, keine Werkmonographie. Es möchte mit Müllers Persönlichkeit und seinen Lebensumständen bekannt machen, wozu selbstverständlich auch Erwähnungen seiner Kompositionen gehören. Ausführliche Werkbetrachtungen enthält es allerdings ebenso wenig wie ein Verzeichnis der Kompositionen Müllers. Da auch bei Mayr-Kern ein solches fehlt (er beschränkt sich auf genaue Angaben zu den Messvertonungen), ist eine Übersicht über sämtliche Werke des Komponisten nach wie vor ein Desiderat der Forschung. Die Musikwissenschaft lasse sich also von Christoph Lettners schöner Vorarbeit dazu anregen, diese Lücke alsbald zu schließen!

Das Grab Franz Xaver Müllers auf dem Priesterfriedhof gegenüber der Stiftsbasilika. Schräg dahinter sieht man in der Bildmitte das Grab des Komponisten, Stiftsorganisten und Regens Chori Augustinus Franz Kropfreiter (1936-2003).

Kammerkonzert: Beethoven, Müller, Schubert (Varga Quartett, Florian Eggner)

Franz Xaver Müller stand im Mittelpunkt des vom Varga Quartett (Pavol Varga, Katharina Veselská, Peter Zwiebel und Stefanie Huber) im Marmorsaal des Stiftes dargebotenen Kammerkonzerts der Brucknertage – zumindest stand sein Quartettino in D-Dur in der Mitte der Vortragsfolge. Davor und danach hörte man je ein Gipfelwerk der Kammermusikliteratur: Beethovens Streichquartett e-Moll op. 59/2 (das zweite der Rasumowskij-Quartette) und das Streichquintett C-Dur D 956 von Franz Schubert, bei welchem Florian Eggner als zweiter Cellist zum Quartett hinzustieß. Müllers Komposition bestand in dieser Nachbarschaft, wie die freundliche Blumenwiese zwischen zwei Bergriesen besteht: als anmutiger Kontrast. Der Name „Quartettino“ ist durchaus angemessen, denn das viersätzige Werk dauert keine zehn Minuten. Es entstand 1928 als Geschenk zur Silberhochzeit für den St. Florianer Musiklehrer Karl Aigner, der einst zu den Ausbildern des Sängerknaben Müller gehört und sich für Bruckner als Notenkopist betätigt hatte. Entsprechend ist jeder Satz als Gratulationsadresse gedacht. So steht über dem einleitenden Adagio: „Bruckner kommt zu gratulieren.“ Im Folgenden erhält Aigner außerdem Glückwünsche für die weitere Lebensfahrt mittels eines ganz kurzen Allegros, den Segen des Himmels für seine Chordienste in Form eines choralhaften Andantes und schließlich im fugierten Schluss-Allegro Gratulationen der früheren Chorregenten Ignaz Traumihler und Bernhard Däubler, sowie aller Sängerknaben. Wüsste man nicht um Müllers enges Verhältnis zu Bruckner, man würde ein solches sofort anhand der ersten Takte des Quartettinos vermuten: Sie könnten tatsächlich einem Brucknerschen Adagio entnommen sein. Das gleiche lässt sich vom ebenfalls langsamen dritten Satz sagen, einem äußerst zarten, in sich gekehrten Stück. Auch die raschen Sätze zeugen in Harmonik und Kontrapunkt von Bruckners Einfluss, ohne dass sich aber aus dessen Schaffen konkrete Vorbilder benennen ließen. Gerade die leichtfüßige Schlussfuge belegt, dass Müller originell genug war, auf der von Bruckner übernommenen Grundlage eigenständig weiter zu schaffen. Alles in allem ein handelt es sich bei dem Quartettino um ein ungemein ansprechendes kleines Meisterwerk – und man fragt sich, was ein Komponist, der eine solche Gelegenheitsarbeit zustande bringt, in seinen Hauptwerken geleistet hat.

Das Beethovensche Quartett und das Schubertsche Quintett bedürfen keiner näheren Vorstellung. Die Aufführungen erinnerten daran, wie wichtig es ist, die akustischen Gegebenheiten des Aufführungsortes zu berücksichtigen. Ist die St. Florianer Stiftskirche für ihre hallige Akustik bekannt (und berüchtigt), so stellt der Marmorsaal die Musiker vor nicht geringere Herausforderungen. Für ein Streichquartett ist es hier nicht schwer, eine orchestral anmutende Klangfülle hervorzubringen. Die Töne fluten gewichtig durch den Raum, aber sie verhallen nur langsam. Rasche Tempi können hier leicht zu rasch erscheinen, da der Nachhall die Konturen der Musik verschwimmen lässt. Leider hat das Varga Quartett nicht genug Rücksicht auf die akustischen Bedingungen dieses Raumes genommen, sodass in den raschen Sätzen des Beethoven-Quartetts viele Einzelheiten im Hall untergingen. Weniger schnelle Tempi wären hier von Vorteil gewesen. Schuberts Quintett erwies sich – ähnliches lässt sich von Müllers Quartettino sagen – aufgrund seiner insgesamt gemächlicheren Zeitmaße und des mehr flächigen Tonsatzes als weniger anfällig, sodass die zweite Hälfte des Konzerts gegenüber der ersten eine Steigerung bedeutete. Auch wirkte das Ensemble nun ausgewogener als noch in der ersten Konzerthälfte, wo der Primgeiger gegenüber seinen Mitspielern mitunter gar zu dominant auftrat, namentlich im Finale des Beethoven-Quartetts. So gelang eine schöne Aufführung des Schubertschen Quintetts, die im langsamen Satz die Kontraste deutlich herausstellte und im Scherzo wie im Finale durch musikantischen Schwung bestach.

Das Konzert war dem Andenken an Thomas Wall gewidmet, den langjährigen Intendanten des Altomonte-Orchesters St. Florian, dessen Tod im Mai dieses Jahres eine schmerzliche Lücke in das Musikleben des Stiftes riss. Wall hatte 1996 gemeinsam mit Augustinus Franz Kropfreiter das Altomonte-Orchester gegründet und diesem seither als Solocellist selbst angehört.

(Zur Fortsetzung siehe hier.)

[Norbert Florian Schuck, September 2024]

Gesangslegenden

SWR-Music, 6 CD’s; Bestellnr.: SWR 19436CD, EAN: 747313943685

Legendary Singers, so der Titel einer vom Label SWR-Music herausgegeben Box, erinnert an Martina Arroyo, Marilyn Horne, Peter Anders, Nicolai Gedda und Dietrich Fischer-Dieskau. Die Erklärung für die auf den ersten Blick beliebig erscheinende Auswahl liegt auf der Hand: der Südwestfunk hat in seinem Archiv Soloalben dieser historischen Gesangsgrößen aufgestöbert und bietet sie nun in einer preislich attraktiven Kassette an.

Mit einer Doppel-CD- wird Peter Anders gewürdigt. Der 1908 geborene Tenor gehörte bis zu seinem Unfalltod mit nur 46 Jahren zu den Publikumslieblingen der Nachkriegszeit. Er begann im lyrischen Fach und eignete sich allmählich jugendlich-heldische Partien an, besaß den Charme für die Operette und ein Gefühl für das Kunstlied. Die beiden Alben mit zwischen 1946 und 1952 entstandenen Aufnahmen versammeln einen Querschnitt aus Anders‘ Repertoire. Dramatische Arien, etwa Wagners Lohengrin und der Florestan aus Fidelio sind darunter, Duette von Verdi-, Puccini- und Bizet mit der hinreißenden Sena Jurinac, Szenen aus Der Zigeunerbaron und vorwiegend deutsche Lieder. Stimmlich ist Anders auf der Höhe seines Könnens, gelegentliche enge Spitzentöne fallen angesichts der vokalen Pracht und des eindringlichen Vortrags bei absoluter Textverständlichkeit nicht ins Gewicht.

Dietrich Fischer-Dieskau, auf Tonträgern so präsent wie kaum ein anderer Klassikkünstler, nahm im Frühstadium seiner Karriere Anfang der 50er Jahre Barock-Kantaten auf. Auch auf diesem Terrain, mit dem man den Bariton weniger verbindet, erweist er sich als gestalterische Kapazität und offen für abseitige Musikpfade. Mit frischem Organ, geschmeidigen Verzierungen, auch in der hier geforderten Basslage, und beispielhafter Diktion singt er Geistliches nicht nur von Buxtehude, sondern auch von weniger geläufigen Komponisten wie Franz Tunder, Nicolaus Bruhns und Adam Krieger.

Das Porträt des gleichaltrigen Nicolai Gedda dokumentiert die enorme stilistische Bandbreite des schwedischen Tenors. Von diesen Aufnahmen kann man nur schwärmen: wegen der durchgehenden Klangschönheit, der perfekten Artikulation in fünf Sprachen und der ausgefeilten Phrasierung. Imponierend, wie mühelos er die Stratosphärenhöhen des Sobinin in Glinkas Ein Leben für den Zaren oder des Chapelou in Adams Postillon von Lonjumeau erklimmt; meisterhaft, wie idiomatisch und elegant er so unterschiedliche Stücke wie PoulencMélodies, italienische Lieder der Spätromantik oder russische von Nikolai Rimski-Korsakow darbietet.

Die beiden weiblichen Gesangslegenden sind in Mitschnitten zweier Liederabende aus Schwetzingen zu hören. Martina Arroyo, zu ihrer Zeit eine der führenden Verdi-Soprane, doch für ihren Rang wenig dokumentiert, gab 1968 dort ein Solokonzert. Ihre üppige, dunkelgolden timbrierte Stimme beeindruckt auch in den Liedern von Rossini (mit federleichten Spitzentönen bei La Danza), Schubert, Brahms und Dvořák. Sie ist eine ausdrucksvolle, dynamisch variable Interpretin, nur hapert es ihr an einer klaren Aussprache. Abgerundet wird das Programm durch vier tief empfundene, mit Wärme gesungene Spirituals, die im hymnischen Witness gipfeln.

Ganz im Zeichen Gioacchino Rossinis stand das Schwetzinger Recital, mit dem Marilyn Horne 1992 dem „Schwan von Pesaro“ anlässlich seines 200. Geburtstags gratulierte. Die Mezzosopranistin mit der unverwechselbaren Stimmfarbe, die im Januar 2024 neunzig Jahre alt wurde, bekräftigte bei dieser Hommage noch im Karriere-Spätherbst ihre Ausnahmestellung als Belcantointerpretin. Mit verblüffenden Koloraturen und Verzierungen, wie in der feurigen Canzonetta spagnuola, mit lang gesponnenen Kantilenen und vollendeter Legatokultur, wie in der berühmten Tancredi– Arie Di tanti palpiti, beschenkte sie den Jubilar. Der vernehmbare Dank des Publikums: Jubel und Bravos zwischendurch und am Ende.

Karin Coper [August 2024]

Freies Spiel der Kräfte

Das Wiener Publikum hat am letzten Dienstag [30. Juli] die Möglichkeit gehabt und leider teilweise verpasst, einem außergewöhnlichen Klavierabend beizuwohnen. Es ist durchaus entschuldbar: es ist Sommer, und man hält sich großteils auf dem Land oder in der Ferne auf; alles macht Pause, während die Touristen mit Touristenkonzerten in Perücke und Kostüm abgespeist werden. Andererseits ist es aber vollkommen unentschuldbar, da es hier wenigstens zwei Entdeckungen zu machen gab, und einem Konzert zu lauschen, wie man es nicht oft zu erleben das Glück hat.

Die erste Entdeckung betrifft den Konzertort. Man kennt das etwas renovierungsbedürftige, aber gerade dadurch sehr charmante Jugendstiltheater im Otto-Wagner-Areal mehr vom Hörensagen. Dem Publikum ist es hauptsächlich durch die Wiener Festwochen bekannt, und zur Zeit finden dort die Konzerte der Wiener Meisterkurse statt.

Die Geschichte des Areals, erbaut zwischen 1905 und 1907, umfasst einerseits die Absicht, einen echten Fortschritt für die Patienten in der Psychatrie zu erreichen, andererseits war das Areal aber auch Schauplatz der NS-Euthanasie-Morde am Spiegelgrund, denen Hunderte von Kindern zum Opfer fielen, an die das Mahnmal aus einem zarten Meer von Lichtstelen vor dem Jugendstiltheater erinnert. Diese Gegenwärtigkeit der Vergangenheit verleiht dem schönen Ort einen Ernst, dem sich die Konzertbesucher vor allem beim Verlassen des Theaters in der Dunkelheit nicht entziehen können

Der kleine Saal des Jugendstiltheaters verfügt über eine schöne Akustik dieses kleinen Saals. Im ersten Eindruck etwas überakustisch, verwandelt sich der Saal im Konzert in einen Resonanzraum für feinste musikalische Details.

Diese waren an diesem Abend, und das ist die zweite und eigentliche Entdeckung, dem Pianisten Martin Hughes zu verdanken, der dem Publikum in Wien vor allem als ehemaliger Vorstand der Klavierabteilung der Musikuniversität mdw ein Begriff ist. Dass er selber ein außergewöhnlicher Pianist und Musiker ist, ist ein vielleicht allzu gut gehütetes Geheimnis, das sich jedoch dem mit Staunen zuhörenden Publikum sofort offenbarte.

Das Konzert begann mit der 1. Klaviersonate op. 2 Nr. 1 von Ludwig van Beethoven, die Martin Hughes mit größter Klarheit und Unmittelbarkeit zu Gehör brachte. Man horcht auf, weil alles, was man vom Pianisten an dem hervorragenden Bösendorfer-Flügel hörte, einfach und richtig war, man folgt der erhellend selbstverständlichen Bewegung der Musik: frei von interpretatorischer Über-Absichtlichkeit der Darstellung geschieht ein natürliches Sich-Entfaltenlassen der Musik durch den Pianisten, dem das Publikum gebannt lauschte.

Alles war an seinem Platz, jede Note, jede Phrase, jede Gestalt, und nicht zuletzt der Raum selber: dass dieser mit seiner Akustik immer ein Teil der klanglichen Realität ist, und damit einen Einfluss auf Spiel und Tempo hat, ist eine Erkenntnis, die sogar unter Musikerinnen und Musikern nicht selbstverständlich ist, sich an diesem Abend aber als ein Aspekt der absoluten Meisterschaft von Martin Hughes zeigte.

Die pianistische und kompositorische Brillanz der Intermezzi op. 4 von Robert Schumann entfalten sich unter seinen Händen frei und umstandslos. Doch lief alles an diesem Abend auf die Sonate in B-Dur, op. posth. D960, von Franz Schubert hinaus.

Diese spielte Martin Hughes auf eine Weise, dass man Angst hat, sie jemals wieder anhören zu müssen, weil es schwer vorstellbar ist, dass es mehr als einmal im Leben möglich ist, dieses Werk in seiner Schönheit, Tiefe und geistigen Klarheit so vollkommen wiedergegeben zu hören.

Dabei folgt Martin Hughes einem scheinbar einfachen Ansatz; einem, der streng genommen keiner ist: er hört dem Stück zu und sich selber, während er spielt. Es scheint banal und wie eine Selbstverständlichkeit, es ist aber keine. Und in welche seelische Tiefe sich der langsame Satz damit ausbreitet, wie die Dinge, die man einfach nicht beim Namen nennen kann, erscheinen und entstehen, ist eine wunderbare und schlüssige Konsequenz aus dieser Musizierhaltung.

Die Idee, dass man als Musiker oder Musikerin sich selber ausdrückt durch das Werk, dass man es interpretiert, dass man eine persönliche Art der Darstellung, also eine eigene Interpretation, formt, wird auf diese Weise obsolet und löst sich ganz in Luft auf, weil es bei Martin Hughes nur noch um das freie Spiel der Kräfte geht, die Schubert auf dem Notenpapier gebunden und niedergeschrieben hat.

Man kann diese Sonate natürlich auch anders spielen, da sich das Spiel der Kräfte unter anderen Bedingungen vielleicht auch anders entfalten mag, aber an diesem Abend war die Sonate so wahrhaftig und vollkommen wie nur möglich, und wie sie komponiert wurde.

Die Schönheit der Musik existiert ja tatsächlich nur im Moment des Erklingens; also in einer Zeitspanne, die so jenseits der gemessenen Zeit ist, dass sie ohne Zeit wahrgenommen wird, also nicht eigentlich als Zeit wahrgenommen wird. Das ist nun nicht neu, aber der Zeit auf diese Weise als Maß des Vergehens zu entkommen, ist immer wieder eine besondere, schöne, und vor allem plötzliche Erfahrung, der man erst gewahr wird, wenn sie gerade wieder vorüber ist. Und mit dem Verklingen des Werkes ist der Moment, das Momentum des musikalischen Erlebnisses vorbei und unwiderruflich vergangen. Und so klingt die Musik in den Konzertbesuchern noch lange nach. Denn es ist ja nicht nur die Musik, die nachklingt, sondern ihr Wesen, dem wir in Konzerten wie diesem begegnen und lauschen.

Nur Menschen, die ihr Leben damit verbringen, in das Wesen der Musik einzudringen, sind in der Lage, solche seltenen Ewigkeitsmomente zu erschaffen. Michelangeli sagte einmal, dass ein Leben gerade so dazu ausreicht, eine Sache gut zu machen. Dies ist das Niveau, auf dem sich Martin Hughes pianistisch, musikalisch, und vor allem geistig bewegt, und das ist das eigentliche, das das Publikum in diesem Konzert erleben konnte.

[Jacques W. Gebest, August 2024]

Wirkungsvoller Adès, problematischer Beethoven – Simon Rattle im Herkulessaal

Auch bei den Abo-Konzerten am 14. und 15. März 2024 im Münchner Herkulessaal erlebte das Publikum die Uraufführung eines Auftragswerks für das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks: Thomas Adès‘ „Aquifer“. Zuvor dirigierte Sir Simon Rattle „Vorspiel und Liebestod“ aus Richard Wagners „Tristan und Isolde“, nach der Pause dann Beethovens Symphonie Nr. 6. Der Rezensent besuchte die Aufführung am Donnerstag, 14. 3.

Thomas Adés und Sir Simon Rattle mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks © BR/Astrid Ackermann

Auf dem ziemlich engen Podium des Herkulessaals wirkt bereits die volle Orchesterbesetzung einer Wagner-Oper – in diesem Fall noch nicht mal des Rings – respekteinflößend, zumal wenn zusätzlich schon der ganze Schlagzeugapparat plus Konzertflügel etc. für eine Uraufführung bereitstehen. Und der Saal ist augenscheinlich komplett ausverkauft. Beim Programm dieses Abends scheint sich vieles um den Topos „Wasser“ zu drehen: In Wagners Tristan und Isolde spielt ja der komplette erste Aufzug auf dem Meer, und im dritten Akt beherrscht dessen Nähe psychologisch vor allem den unglücklichen Helden. In Beethovens Pastorale gibt es das anmutige Bächlein, aber ebenso ein beängstigendes Gewitter, und Aquifer, der Titel von Thomas Adès‘ neuem Orchesterwerk, bezeichnet in der Geologie eine Grundwasser führende Gesteinsschicht.

Simon Rattle beginnt beim Vorspiel und Liebestod aus Wagners Oper sehr langsam, steigert sukzessive mit der zunehmenden Komplexität der sich ineinander verzahnenden Motivik wohldosiert das Tempo, ist dann am Höhepunkt des Vorspiels – da vermisst man leider die zu verhalten gespielten Hörner, Bassklarinette und Violoncelli als echte Gegenstimme – angenehm flüssig. Zwingend gelingt auch der Aufbau von Isoldes Liebestod, jedoch mit britischem Understatement, das Wagners musikalischen Strukturen vertraut und nicht versucht, diese ohnehin dichte Gefühlswelt noch künstlich hochzupushen. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks überzeugt hier klanglich in jedem Detail, mit der genau richtigen Balance für den Saal.

Thomas Adès (Jahrgang 1971) dirigierte im Herkulessaal zuletzt – Anfang 2020 – selbst sein Klavierkonzert, längst ein Erfolgsstück trotz einiger Eklektizismen. Sein viertelstündiges Auftragswerk fürs BRSO – mit Unterstützung der Carnegie Hall und des Wiener Musikvereins – knüpft qualitativ an die besten Orchesterwerke an, die er bislang geschrieben hat. Die Idee des Aquifers wird so vielmehr allgemeines Sinnbild für Werden und Vergehen als nur eine pittoreske Darstellung von fließendem Wasser, das mit Widerständen zu kämpfen hat. Adès kann hierbei einmal mehr seiner ganz besonderen Begabung gerade für dunkle Klangfarben frönen. Zu Beginn bewegt sich der junge Grundwasserlauf allerdings als quicklebendiger Schwall, mit glänzenden Bläser- und Schlagzeugeinwürfen, bevor er – Streicher auf Blech-Untergrund – bald ins Stocken gerät: ein, zwei Minuten ziemlicher Leerlauf mit eintönigen, chromatischen Abwärtsbewegungen meist nur innerhalb kleiner Terzen. Adès‘ Harmonik bleibt in weitgehend tonalen Rahmen, verzichtet zunächst völlig auf Mikrointervalle. Später – im Lauf einer grandiosen, wirkungsvollen Steigerung – erscheinen dann teils unisono bedrohlichere Wendungen in den Streichern, die mittels Glissandi auch mal um einen Viertelton „verrutschen“. Die rhythmischen Schichten werkeln dafür wie gewohnt komplexer: Erstaunlicherweise erhalten sie dabei für den Hörer ihren geradezu unwiderstehlich natürlichen Fluss, sind jedoch für den Dirigenten eine enorme Herausforderung, die Sir Simon selbstverständlich souverän meistert. Zuletzt scheint der Wasserlauf – mit recht traditionell anmutenden Fanfaren im Blech – seine Freiheit bis ans Tageslicht gefunden zu haben; was passt besser zu frischem Wasser als strahlendes C-Dur? Ganz am Schluss muss der einstige Schlagzeuger Rattle mit einer großen Ratsche (rattle) in der Rechten den gewaltigen Strom abwinken – netter Gag britischen Humors. Sicher kein Werk für die musica viva, aber einfach großartig, was vom Publikum ebenfalls begeistert honoriert wird.

Problematischer gerät dem BRSO diesmal Beethovens Pastorale. Rattle bleibt seinem Konzept, das u. a. auf extrem flexiblen, zugleich immer äußerst flüssigen Tempi basiert, und welches er seit seinen Aufnahmen mit den Wiener oder den Berliner Philharmonikern konsequent verinnerlicht hat, treu. Leider folgt ihm das Orchester von Beginn an nicht aufmerksam genug. So viel Geklappere, mangelnde Präzision im Zusammenspiel und stellenweise klangliche Mattigkeit bei einer Beethoven-Symphonie habe ich hier lange nicht mehr gehört. Liegt es daran, dass am Abend nach einer sicher anstrengenden Generalprobe leichte Ermüdungserscheinungen auftreten? Kaum ein Übergang gelingt perfekt – gerade im Kopfsatz. Schon beim minimalen Ritardando vor der Fermate im vierten Takt ist man sich uneins. Natürlich möchte Rattle das eigentliche Hauptzeitmaß erst im Tutti Takt 37 erreichen; dass er die Musiker zuvor jedoch regelrecht antreiben muss, ist vermutlich so nicht geplant. Dennoch bezaubern durchweg ordentliche Klangfarben; auch die im ersten Satz (Durchführung) mittels Ostinati erzeugten quasi Klangflächen sowie die des „Bächleins“ im Andante molto mosso stiften Atmosphäre und werden nie langweilig. Dort ist die synkopierte Holzbläsergrundierung erneut hörbar ungenau.

Richtig bei der Sache ist man dann erst im Lustigen Zusammensein der Landleute: Besonders stimmig wird es ab dem derberen Mittelteil im Zweier-Takt, und schon der Übergang zum Gewitter wirkt unheimlich. Das folgende Naturschauspiel ist an Intensität kaum zu überbieten, ohne an Klangkultur einzubüßen. Dem Finale fehlt es ein wenig an Aufrichtigkeit: Innige Dankbarkeit kann man hier jedenfalls nicht spüren. An einigen Stellen nimmt der Dirigent das eigentliche Hauptthema zugunsten des Hirtenmotivs zurück – unklar, warum. Immerhin endet das Ganze zumindest nachdenklich. Der Eindruck dieser Darbietung bleibt für den Rezensenten jedoch zwiespältig, obwohl sie im Saal wahre Beifallsstürme auslöst.

[Martin Blaumeiser, 16. März 2024]

Hans Winterbergs 4. Klavierkonzert in Baden bei Wien uraufgeführt

Am 21. Februar 2024 fand im Congress Center Baden bei Wien die Uraufführung des 4. Klavierkonzerts von Hans Winterberg statt – 52 Jahre nach seiner Entstehung. Die Beethoven Philharmonie spielte unter der Leitung von Thomas Rösner. Solist war Jonathan Powell, der anschließend noch Schuberts „Wanderer-Fantasie“ in der Lisztschen Bearbeitung für Klavier und Orchester darbot. Im zweiten Teil des Konzerts erklang Beethovens 5. Symphonie c-Moll op. 67.

Jonathan Powell und Thomas Rösner mit der Beethoven Philharmonie. Photo © Willi Pleschberger

Es gehört schon großer Mut dazu, wenn ein relativ kleines Orchester – das sich jeweils nur projektbezogen mit wenigen Proben trifft – außerhalb der großen Musikzentren recht komplexe, moderne Musik zur Uraufführung bringt und dies dann in einem Abo-Programm unterzubringen versteht. Der Titel Schicksal für das Konzert letzten Mittwoch im Congress Center von Baden bei Wien bezog sich somit klug nicht nur auf Beethovens Fünfte, die ja seit jeher mit diesem Begriff in Verbindung steht, sondern ebenso auf den komplizierten und ungewöhnlichen Weg des deutschsprachigen, jüdischen Prager Komponisten Hans Winterberg (1901–1991), der in seiner zweiten Lebenshälfte in Bayern wirkte. Dessen Musik wird gerade zu Recht wiederentdeckt und erst jetzt wissenschaftlich ediert und verlegt. Die ersten 3 Klavierkonzerte waren in Winterbergs Münchner Zeit aufgeführt worden, die Premiere des knappen 4. Konzerts von 1972 – da war der Komponist quasi schon „in Rente“ und schnell in Vergessenheit geraten – konnte mit Unterstützung des Wiener Exilarte Zentrums an der MDW und des Verlags Boosey & Hawkes nun in Baden stattfinden.

Der britische Pianist Jonathan Powell – der als Musikwissenschaftler über die Skrjabin-Nachfolge promovierte und derzeit alle Klavierkonzerte sowie das gesamte Solo-Klavierwerk Winterbergs herausgibt – ist nicht nur in den Augen des Rezensenten einer der faszinierendsten Klaviervirtuosen weltweit, zugleich ein Spätberufener, freilich mit ungewöhnlichem Erfahrungsschatz und geradezu übermenschlichen pianistischen Fähigkeiten. Er hat bereits Winterbergs 1. Klavierkonzert neu auf CD eingespielt (siehe unsere Besprechung) und verband letzten November die 3. Klaviersonate des Komponisten in Konzerten in Bad Tölz und kurz darauf in Wien mit Werken, die Winterbergs kulturelle Wurzeln verdeutlichten.

Das nur knapp 11-minütige, einsätzige 4. Klavierkonzert erfüllt nach nur einmaligem Hören vielleicht nicht ganz die Erwartungen an ein vollwertiges Werk mit dieser Gattungsbezeichnung, fällt aber in eine Entstehungszeit, wo solche tradierten Titel ziemlich aus der Mode gekommen waren. Winterberg wollte offenkundig dezidiert an die Geschichte des „echten“ Konzerts anknüpfen. Das zeigt sich gerade in der Faktur des Klaviersatzes, die z. B. mit Verlagerungen von Figurationen über mehrere Oktaven durchaus an Liszt oder Bartók erinnert und in Punkto Geläufigkeit dem Pianisten einiges abverlangt – für Powell natürlich kein Problem. Dennoch ist das Klavier hier nur primus inter pares, komplett eingebettet in ein oft dichtes Geflecht polyrhythmischer Muster, die freilich nie wirklich atonal werden. Dies und die blockhafte Behandlung gröberer, dabei vielschichtiger Texturen gewissermaßen als stehende „Klangflächen“, jedoch immer mit engagiertem Innenleben, weisen dann vielmehr in Richtung des späten Ligeti (Klavierkonzert!), wären aber auch ein Gegenentwurf zu den Stücken Morton Feldmans der 1980er, wo musikalisches „Gewebe“ sich nur minimal verändert. Winterberg kann Steigerungen konzis komponieren: In der zweiten Hälfte entwickelt sich so ein martialischer, brutaler Abschnitt. Das Faszinierendste ist hier Winterbergs völlig eigenständige Orchestrierung und die überaus gekonnte, stetige Rückentwicklung aus dramatischem Geschehen wieder in ruhiges Fahrwasser, zum Schluss mit fast tonalen Anklängen. Thomas Rösner und seine empathisch mitgehende Beethoven Philharmonie bringen die Details dieses anspruchsvollen Stückes sehr plastisch und klanglich differenziert zur Geltung – eine ganz vorzügliche Leistung! Das Publikum nimmt das „neue“ Stück sehr achtsam und positiv auf, ist anscheinend lediglich überrascht von dessen Kürze.

Franz Liszt hat sich sehr früh für Schuberts Werke eingesetzt und durch zahlreiche Bearbeitungen maßgeblich zu deren Verbreitung beigetragen. Dass der Jahrhundertvirtuose dessen Wanderer-Fantasie sogar vereinfacht habe, zumindest deren Klaviersatz ökonomischer und effektiver umarbeitete, stimmt allenfalls für die Solo-Bearbeitung S. 565a (1868), keinesfalls für die Fassung für Klavier & Orchester S. 366 von 1851, die als zweiter Programmpunkt erklingt. Natürlich wusste Liszt, dass der Klavierpart noch mehr „Dampf“ braucht, um gegen ein Orchester anzukommen. Das wird dann stellenweise horrend schwierig – eben echter Liszt. Strukturell hält er sich weitgehend an Schuberts Vorbild – aber im ersten Satz gibt es etwa eine kleine, zusätzliche Kadenz mit typisch Lisztschen Figurationen, und auch sonst erscheinen recht effektvolle Eingriffe. Der Orchesterklang wird oft mit neuen Bewegungsmustern intensiviert, wodurch das Stück mehr den Charakter einer symphonischen Dichtung bekommt. Powell bewältigt seinen Part souverän; das Zusammenspiel mit dem Orchester erweist sich leider alles andere als „überprobt“: Die Dynamik ist schon innerhalb des Orchesters nicht sauber abgestuft, insbesondere die Trompeten decken den Pianisten stets gnadenlos zu. Die Kommunikation zwischen Powell und Rösner am heiklen Ende des Adagio-Abschnitts, wo sich der Pianist durch eine Orgie von 64tel-Noten kämpfen muss, ist unzureichend. Dennoch gibt es danach den verdienten Beifall vor allem für den Solisten.

Den Kopfsatz von Beethovens Schicksalssymphonie nimmt Rösner sehr flott und unnachgiebig, obwohl das Grundtempo anfangs nicht ganz klar ist. Eine heute übliche Strenge, die die strukturell beeindruckende Konsistenz des Stücks hervorhebt, anstatt das „Ta-ta-ta-taaa“ emotional künstlich aufzupumpen. Vieles erinnert den Rezensenten hier an die Lesart etwa von Teodor Currentzis, auch das ein wenig zu schnelle Tempo im Andante con moto: Das Fanfarenmotiv benötigt später im Blech doch eher mehr Raum, ohne deshalb gleich in falsches Pathos zu verfallen. Das Scherzo gelingt grandios, ist nicht überhetzt; Celli und Bässe im quasi Trio-Abschnitt agieren großartig. Nur der Übergang zum triumphalen Finale könnte unheimlicher daherkommen, heißt: noch leiser. Generell ist hier alles sehr gründlich erarbeitet, Phrasierung und Dynamik überzeugen. Das Finale als reiner Triumphmarsch wirkt eigentlich vor allem immer zu lang. Currentzis versuchte hier den Kunstgriff, es in heitere Volksfest-Stimmung umschlagen zu lassen. Auch die Scherzo-Reminiszenz erscheint dann bedrohlicher, die Temposteigerung auf mehr als das Doppelte logischer. Hier bewegt sich Rösner zwar in vertrauten Konventionen, aber bringt sein Orchester zu einer kohärenten und packenden Darbietung, die angesichts der begrenzten Probenmöglichkeiten absolute Hochachtung verdient. Das Publikum ist eh nach dem Beethoven erwartungsgemäß vollends begeistert.

[Martin Blaumeiser, 23. Februar 2024]

Hoffnung, Versprechen, Gewissheit

Am 15. und 17. Dezember 2023 spielte das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich unter der Leitung von John Storgårds im Großen Musikvereinssaal Wien die Midnight Sun Variations der finnischen Komponistin Outi Tarkiainen, Ludwig van Beethovens Violinkonzert D-Dur op. 61 und Carl Nielsens Symphonie Nr. 5 op. 50. Als Violinsolist war Augustin Hadelich zu hören.

Die Welt ist voll mit hervorragenden Geigerinnen und Geigern, Virtuosen, die keine technische Schwierigkeiten kennen; Beherrscher ihres Instruments, wie es sie in dieser Zahl vielleicht noch nie gegeben hat. Jedoch gibt es in der absoluten Spitze, wo die technische Meisterschaft bereits allein im Dienst der Kunst steht, nur ganz wenige, die ein Werk nicht nur brillant darstellen können, sondern wirklich etwas zu sagen haben, hinter das Werk zurücktreten und ihr Instrument als Künstlerinnen und Künstler beherrschen.

Zu dieser außergewöhnlichen Kategorie gehört Augustin Hadelich, der in diesen Tagen, begleitet vom Niederösterreichischen Tonkünstlerorchester, in Wien mit dem Violinkonzert von Ludwig van Beethoven zu hören war – nach wie vor und für alle Zeiten das Konzert, mit dem man entweder den Olymp besteigt oder an ihm scheitert.

Sein phänomenales Spiel berechtigt zu jener seltenen Hoffnung, einmal wieder einen absoluten Geiger hören zu können, jemanden, der sich musikalisch und künstlerisch jenseits des Instrumentalen bewegt.

Fast war es also perfekt, doch fehlte die letzte und absolute Eindeutigkeit der Meisterschaft. Dies war zunächst, unabhängig vom Solisten, der Temponahme im ersten Satz geschuldet, und zwar nicht als Problem des musikalischen Pulses, sondern in seiner Organisation als Metrum: der Dirigent John Storgårds konnte oder wollte sich nicht entscheiden, ob er vier oder zwei schlagen sollte, vielmehr bevorzugte er es, sich frei dem jeweiligen musikalischen Augenblick anzupassen, die Kontinuität des Metrums damit einer gewissen instinktiven Willkür überlassend. Das entspricht eventuell einer modernen Ansicht des Dirigierens, ist im Ergebnis jedoch eine der Möglichkeiten, an der perfekten Balance eines Werkes wie dem Violinkonzert von Beethoven zu scheitern.

Details, die Zeit gebraucht hätten, um ihre vollkommene Schönheit zu entfalten, wie zum Beispiel der Pianissimo-Wendepunkt beim Einsatz der Trompeten am Ende der Durchführung, fielen diesem metrischen Mäandern zum Opfer. Hier muss leider auch bemerkt werden, dass dies, neben der typischen Routine und mutmaßlich mangelnden Probenzeit, die für ein Solokonzert grundsätzlich im Normalbetrieb vorgesehen ist, dazu führte, dass die ansonsten hervorragenden Tonkünstler ausgerechnet bei Beethoven ihr wirkliches Potenzial klanglicher und musikalischer Differenziertheit nicht entfalten konnten.

Der zweite Satz entbehrte dann in einer schönen Linearität leider des harmonischen In-die-Tiefe-Hörens und wurde so bereits am Beginn der Tiefe und einzigartigen Wirkung der frühen Erweiterung der harmonischen Perspektive beraubt, als es von G-Dur mit einem ganz kurzen Anklang von e-moll direkt auf den vermeintlichen Ruhepunkt auf Fis-Dur geht – weiter entfernt und scheinbar der Schwerkraft enthoben geht es kaum. Es ist dies ein Moment, dessen heute noch erhör- und erlebbaren Radikalität des seelischen Ausdrucks in dieser Aufführung nicht stattfand und dadurch nach nichts und wieder nichts klang: flach und ziellos, wie es eben passiert, wenn man nur auf die Melodie hört. Das innige Spiel des Solisten konnte das fehlende innere Momentum nicht mehr ausgleichen, die weiteren Töne und Klänge wurden nur noch schön aneinandergereiht anstatt zu einem Ganzen vereint.

Dem vollkommenen Gelingen des letzten Satzes stand dann ein etwas zu rasches Tempo im Wege, so dass die aus der erforderlichen inneren Ruhe entstehende Farbigkeit und Lebendigkeit des 6/8-Takts der geigerischen Brillanz geopfert wurde, was unter anderem dazu führte, dass die entwaffnend schöne Dialogstelle zwischen Fagotten und Solovioline zu vordergründig geriet und in ihrer Sensibilität nicht funktioniert hat.

Alles in allem hörenswert, teilweise beglückend, nur eben mit der leisen Einschränkung, dass Solist, Dirigent und Orchester letztlich im künstlerischen Konjunktiv blieben, letztere aufgrund von Routine und Augenblickswillkür; ersterer, künstlerisch auf diese Weise von letzteren unmerklich gebremst.

Denn alle in allem nur latent erscheinende Ungehörtheiten und Unbedachtsamkeiten summierten sich in ihrer Wirkung, so dass das Publikum für jetzt nur die Gewissheit eines großen Versprechens hören konnte, das nicht deutlich genug betont werden kann: Augustin Hadelich ist in der Tat als ein wunderbarer, technisch überwältigend makelloser Geiger eine wirklich große Hoffnung auf eine Form von künstlerischer Reife, wie man ihr nur selten, und in der jüngeren Vergangenheit kaum, begegnet. Sein Wachsen wird sich fortsetzen und noch wunderbare Früchte tragen.

Der Konzertnachmittag wurde ansonsten eingerahmt von zwei in Wien selten zu hörenden Werken, eröffnet von den „Midnight Sun Variations“ von Outi Tarkiainen, uraufgefürt 2019, sowie der 5. Symphonie von Carl Nielsen.

Das Werk von Outi Tarkianen besticht durch klare Formgebung und sehr differenzierte und klarer Instrumentation. Es will nicht, was es nicht kann, und kann oder will auch nicht den Einfluss des finnischen Übervaters Jean Sibelius verleugnen, man könnte sogar sagen, dass die Komponistin im Sinne der Tonmalerei und pastoralen Adaption der fernen nordischen Welten ihm Reverenz erweisend eine legitime Nachfolgerin des Meisters ist. Und schon Ravel empfahl einst einem jungen Komponisten, sich in der Imitation eines Vorbilds zu üben, da nur in der unbewussten Abweichung vom Original zu hören sei, ob der junge Komponist etwas zu sagen habe. Dies ist bei Tarkianen zweifellos der Fall, womit zu hoffen ist, dass es auch in Wien möglich sein wird, die weitere vielversprechende Entwicklung dieser Komponistin mitverfolgen zu können.

Die kraft- und effektvolle 5. Symphonie von Carl Nielsen entfaltete nach der Pause ein eindrückliches Psychogramm einer Zerissenheit zwischen ebenfalls pastoraler Stimmung und einer traumatisierenden Störung dieses Idylls. Auffallend ist, wie Nielsen einige motivische Details bis zur Redundanz repetiert, es im Ganzen jedoch im ersten Satz trotzdem schafft, zu einer geschlossenen Form zu finden. Der zweite Satz bleibt leider hinter dieser Geschlossenheit zurück und hinterlässt die Frage, ob er der Form entbehrt, oder, was wahrscheinlicher ist, ob die Aufführenden nur nicht in der Lage waren, diese entstehen zu lassen. Nielsen konnte hier, jedenfalls nach diesem Höreindruck, nicht an den großen Wurf seiner 4. Symphonie anknüpfen, sondern unterwirft sich hier unter Inkaufnahme der Gefahr, dieses Werk der Zeitlosigkeit zu entziehen, einer Ästhetik, die nicht immer die seine zu sein scheint.

Der Dirigent John Storgårds war nun aber in seinem Element und brachte das hier furios aufspielende Niederösterreichische Tonkünstlerorchester zur orchestralen Exzellenz.

[Jacques W. Gebest, Dezember 2023]

37. Jahrestagung und Konzert der Internationalen Draeseke-Gesellschaft in Coburg

Die 37. Jahrestagung der Internationalen Draeseke Gesellschaft e. V. Coburg findet vom 06. bis 08. Oktober 2023 in Coburg statt. Zu ihrer 37. Mitgliederversammlung treffen sich die aus ganz Deutschland anreisenden Mitglieder der Gesellschaft am Freitag, 06. Oktober 2023 im Landhaus Kaiser in Dörfles-Esbach. Im Rahmen dieser Versammlung wird auch das 10jährige Jubiläum der Alan Krueck Foundation gefeiert, eine Stiftung der IDG zur überregionalen Förderung von Draesekes Musik in öffentlichen Konzerten.

Am Samstag, 07.Oktober 2023, Draesekes Geburtstag, werden um 17.00 Uhr im Landhaus Kaiser zwei bisher ungedruckte Werke des Coburger Meisters in einer audio-visuellen Vorstellung gleichsam „uraufgeführt“. IDG-Mitglied Manfred Eibl aus Coburg hat für die Akademische Festouvertüre Op.63 (1890) wie auch für das Konzert-Stück für Harfe und Orchester Feenzauber WoO 36 die Partituren mit dem kompletten Aufführungsmaterial hergestellt und wird seine wertvolle Arbeit der Versammlung klanglich vorstellen. Manfred Eibls Material steht für künftige Aufführungen in Konzerten zur Verfügung.

In Zusammenarbeit mit dem Kunstverein Coburg e. V. wird die 37. Jahresversammlung der IDG am Sonntag, den 08. Oktober 2023 um 11.00 Uhr mit einer Klavier-Matinee beschlossen. Für diese musikalische Morgenfeier, die gleichzeitig als glanzvoller Schluss-Akkord der laufenden Ausstellung im Kunstverein gedacht ist, konnte die Pianistin Haruka Izawa aus Berlin verpflichtet werden. Die Künstlerin ist Preisträgerin beim III. Internationalen Hans-von-Bülow-Wettbewerb 2018 in Meiningen gewesen und wird von der IDG e.V. gefördert. Die junge Meisterpianistin eröffnet ihr Programm mit der Petite Histoire, einem Frühwerk von Felix Draeseke, und wird nach den Kinderszenen von Robert Schumann die große Sonate in B-Dur op. 106 von Ludwig van Beethoven, die berühmte und technisch höchst anspruchsvolle „Hammerklavier-Sonate“ interpretieren. Zu dieser musikalischen Morgenfeier mit Haruka Izawa und Spitzenwerken der Klaviermusik laden beide Vereine sehr herzlich ein.

Haruka Izawa begann das Klavierspiel im Alter von vier Jahren. Sie gewann zahlreiche Preise bei den japanischen Musikwettbewerben und war 2018 Preisträgerin beim III. Internationalen Klavierwettbewerb Hans von Bülow. Sie trat als Solistin mit dem Nagoya Philharmonic Orchester, dem Geidai Philharmonia Orchester und der Meininger Hofkapelle auf. Ihr Studium an der Universität der Künste in Tokyo schloss sie mit Auszeichnung ab und setzt derzeit weiterführende Studien an der Universität der Künste Berlin fort. Daneben erhält sie durch die Zusammenarbeit mit Alfred Brendel in den letzten Jahren unschätzbare Anregungen für ihre musikalische und gesamtkünstlerische Entwicklung.

Internationale Draeseke-Gesellschaft e. V.
Der Vorstand
i.A.
Udo-R. Follert, LKMD i.R.

Musik in Bern 2: Ein humoristischer Abend

Der Tragödie folgt bei den alten Griechen das Satyrspiel. Ganz ähnlich erging es dem Verfasser bei seinem Aufenthalt in Bern, denn er bekam die Gelegenheit, einen Tag nach der Aufführung des Raffschen Samson, am 9. September 2023, im Konzertsaal des Berner Casinos einen musikalischen Abend besonderer Art zu besuchen. Die Schweizer Bundesstadt stand ganz im Zeichen des Musikfestivals Bern, dessen vielgestaltiges Programm ernstes und heiteres, klassisches und modernes vereinte. „Im Orchester Graben“ war die unter der Regie von Tom Ryser zustande gekommene Veranstaltung betitelt, die das beliebte Schweizer Komiker-Duo Ursus & Nadeschkin (Ursus Wehrli und Nadja Sieger) gemeinsam mit der Camerata Schweiz unter der Leitung ihrer Ersten Gastdirigentin Graziella Contratto, der Produzentin der Raff-Aufführung und -Einspielung, auf die Bühne brachte.

Zwar ahnt man schon zu Beginn, wenn Ursus und Nadeschkin sich auf dem Podium einen Platz suchen, aber die Stühle immer wieder den hinzukommenden Orchestermitgliedern überlassen müssen, dass man hier kein gewöhnliches klassisches Konzert erlebt, doch scheint mit dem Auftritt der Dirigentin genau ein solches anzufangen. Es gibt Beethovens Fünfte. Der erste Satz erklingt, rasant, streng, unerbittlich, ganz so wie Graziella Contratto sich im Folgenden auch selbst verhält. Denn da Ursus und Nadeschkin es wagen, bereits nach dem ersten Satz zu klatschen, werden sie von der Kapellmeisterin zurechtgewiesen: Das tue man nicht, die Symphonie sei zerrissen worden! Sie gibt das Zeichen zum zweiten Satz, doch weit kommt da Orchester nicht. Nur zu berechtigt ist der in quirligem Schwyzerdütsch vorgebrachte Einwand der Komödianten, warum denn mit dem zweiten Satz fortgefahren werde, da doch die Einheit des Werkes verloren gegangen sei. In dem folgenden Wortwechsel stellt sich heraus: Ursus und Nadeschkin sind heute hier als Botschafter der Musik, um den Graben zuzuschütten zwischen „denen mit Konservatorium“ auf dem Podium und „denen ohne Konservatorium“ im Parkett. Nachdem die Dirigentin empört das Podium verlassen hat, geht es zu wie beim Zauberlehrling: Ursus greift zum Taktstock, das Orchester fängt wieder an zu spielen, allerdings schrecklich falsch. In dem Momant aber, als Graziella Contratto wieder ans Pult kommt und den Taktstock wieder in ihre Hand nimmt, stimmt sofort wieder alles. Anschließend werden Ursus und Nadeschkin von Contratto geprüft, was sie über Beethoven, aber auch allgemein über Musikgeschichte und Musiktheorie wissen, doch die Fachtermini der Sonatenhauptsatzform haben sie nur ungenügend gelernt. Danach kann das Publikum zeigen, wie „die ohne Konservatorium“ ihren Beethoven beherrschen. Nadeschkin dirigiert, das Publikum singt die Anfangstakte der Fünften, aber schon einige Takte später stellt sich Unsicherheit ein. Contratto will zeigen, wie man es besser macht, tatsächlich singen die Leute sofort mit mehr Kraft, aber auch hier verliert sich der Gesang nach wenigen Takten. Nun demonstriert die Dirigentin, was „die mit Konservatorium“ alles können, und lässt ihr Orchester souverän Takte von Rachmaninow und Tschaikowskij in der Kopfsatz der Fünften einfügen. Die Musiker gehen nach einer gewissen Zeit in die ihnen vertraglich zustehende Pause. Contratto bleibt allein zurück. Ursus und Nadeschkin kommen mit ihr ins Gespräch, wobei sich herausstellt, dass sie nur die strenge Chefin ist, wenn sie vor dem Orchester steht.

So beginnt der zweite Teil versöhnlicher: Das Publikum wird aus der Pause von Klängen eines Kinderkeyboards in den Saal zurückgelockt: Contratto wechselt zwischen Disco-Musik, Mozarts Alla turca, Beethovens Für Elise und Bachs d-Moll-Toccata, Ursus und Nadeschkin kommen hinzu, ale drei spielen und singen Falco (Amadeus), dann Abba (Money, Money, Money), zu welchen Tönen das Orchester freudig auf die Bühne stürzt. Man beginnt wendet sich dann wieder Beethovens Fünfter zu, doch nun alles andere als streng: Der Erste Satz (bzw. nur die Exposition) wird verjazzt, in Dur gespielt, rückwärts gespielt (sodass ein unbefriedigender Dominanschluss stehen bleibt). Dann kommen Ursus und Nadeschkin auf die Idee, die Noten zu vertauschen: So erhält der erste Hornist die Paukenstimme und soll zum Vergleich spielen, was er selbst und was die Pauke in den ersten vier Takten des Werkes zu spielen hat. Man stellt fest: Es klingt genau gleich! Also wird von allen Orchestermitgliedern das Notenmaterial eingesammelt und anders wieder ausgeteilt. Contratto dirigiert unter Protest. Es klingt schief, so schief, dass während des Spiels (!) die Musiker ihre Noten untereinander zurücktauschen, bis jeder wieder die richtige Stimme vor sich hat. Man wird noch rechtzeitig fertig, um den Schluss des Satzes korrekt wiederzugeben. Zu guter Letzt singen Ursus und Nadeschkin die ganze Exposition des Satzes virtuos vor (der Text besteht aus den Namen der jeweils erklingenden Instrumente) und werden daraufhin von Contratto als Botschafter der Musik anerkannt. Als Zugabe gibt es Beethovens Fünfte, wie Beethoven sie selbst gehört hat…

Damit endete in geschäftiger Stille ein höchst vergnüglicher Abend! Und gewiss wird der eine oder andere Besucher Beethovens Fünfte nun mit anderen Ohren hören.

[Norbert Florian Schuck, September 2023]

Grundsolide und tiefgründig: Beethovens Klavierkonzerte Nr. 3 & 4 mit Boris Giltburg

Naxos 8.574152; EAN: 7 47313 41527 4

Nach der aufsehenerregenden Gesamteinspielung sämtlicher Beethoven-Sonaten 2020 setzt Boris Giltburg mit den Konzerten Nr. 3 & 4 des Bonner Meisters nun auch den Schlussstein zu seinem Konzertzyklus. Es begleitet das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Vasily Petrenko.

Wollte man das Spiel des russischstämmigen, in Israel aufgewachsenen Starpianisten Boris Giltburg charakterisieren, erscheinen sehr schnell Begriffe wie grundsolide oder seriös als zutreffend: geradezu das Gegenteil von spektakulär. Dann wären jedoch detailliert Qualitäten zu nennen, die in dieser Konzentration heutzutage ganz selten zusammentreffen: erstaunliche Tempokonstanz bei gleichzeitig atmender Agogik – sogar zwingender als beim legendären Swjatoslaw Richter. Dazu durchsichtigster, feiner Anschlag mit einem Schuss jeu perle wie bei Gieseking, vor allem jedoch die besondere Fähigkeit, Emotionalität gänzlich aus einem tiefen Verständnis des Komponierten heraus logisch zu entwickeln, ohne dabei auch nur einen Funken persönlicher Eitelkeit durchscheinen zu lassen. Das ist so in der Tat meilenweit entfernt von Künstlern wie Ivo Pogorelich, Lang Lang, Yuja Wang oder selbst Igor Levit, um nur einige schon wegen ihres eben bereits spektakulären Auftretens populäre Pianisten zu nennen.

Im Falle der Beethoven-Klavierkonzerte – kaum ein Werkzyklus dürfte durch unzählige Aufnahmen für die Hörerschaft mittlerweile derart bis ins kleinste Detail erschlossen sein – lässt Giltburgs Herangehensweise diese Meisterwerke trotzdem spannend, beinahe unverbraucht erklingen. Dass Giltburg nicht nur auf dem Podium ein wahrhaftig gestaltender Musiker ist, dazu ein exzellenter Pädagoge – man sehe sich nur die genialen Internet-Meisterklassen etwa zu Rachmaninoff an –, sondern ebenso ein befähigter Essayist, beweisen seine Booklettexte zu dieser Beethoven-Serie auf Naxos. Die sind mehr als lesenswert – gerade für Laien, denen hier nie musikalische Fachbegriffe um die Ohren gehauen werden. Mit größter Sorgfalt, Empathie und tiefen Einblicken in den viele Jahre währenden Entwicklungsprozess des eigenen künstlerischen Standpunkts gegenüber dieser Musik, beschreibt der Pianist die Stücke schon sprachlich auf höchstem Niveau.

Wer bei den vorliegenden Konzerten das Essay vor dem Anhören gelesen hat, darf zum Glück attestieren, dass Giltburg dann alles genauso gelingt, wie verbal erörtert. Katapultierte sich der Künstler 2019 mit den Konzerten Nr. 1 & 2 (Naxos 8.574151) nach Meinung des Rezensenten sofort in den Olymp der allerbesten Einspielungen und überzeugte ebenfalls mit dem Es-Dur-Konzert (Nr. 5, Naxos 8.574153), durfte man gespannt auf die beiden verbliebenen Werke sein, innerhalb des Zyklus offenkundig die Lieblingsstücke des Pianisten.

Das c-Moll Konzert wirkt bereits in der Orchestereinleitung niemals dick, die Phrasierung – bei sich wiederholenden Motiven wird die Dynamik eben beim dritten Mal meist zurückgenommen – ist stets Beethoven-gerecht. Das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Vasily Petrenko agiert wie auf den bisherigen CDs der Reihe als exzellenter Begleiter, freilich mit typisch britischer Routiniertheit, die kaum Überraschungen bietet. Allerdings entdeckt Petrenko gerade im 3. Konzert jeden noch so kleinen motivischen Anklang auch in den Mittelstimmen. Giltburg gestaltet den Solopart im ersten Satz zwar nachdrücklich bedrohlich, lässt der Musik aber immer wieder den nötigen Raum zur Entspannung, so dass man staunt, wie sehr sich selbst ein derart düsterer Topos doch ganz aus dem Geist der Improvisation vielschichtig zu entwickeln vermag. Im zweiten Satz – wiederum im exakt richtigen Tempo – werden die unzähligen kleinen Notenwerte zelebriert, ohne den intimen Charakter je zu stören: eine wunderschöne Insel der Ruhe. Im Rondo wählt man ein nicht zu schnelles Tempo, bleibt dennoch virtuos und spritzig. Die Presto-Coda wirkt keck, ohne den Rahmen zu sprengen.

Das vierte Konzert – pianistisch ja bekanntlich das anspruchsvollste der fünf – wurde erst im April 2022, also nach der Corona-Krise, aufgenommen. Selten hat man die klanglichen Delikatessen im Klavier derart bewusst, zugleich völlig locker gehört: Von für Beethoven ungewöhnlicher Introvertiertheit im Kopfsatz und einem sagenhaft angstvollen Klagegesang im Andante – von fast überpointiert scharfen, eiskalten Orchestereinwürfen unnachgiebig kleingehalten – wird so der zunächst zögerliche Beginn des Finales umso glaubhafter, steigert sich erst allmählich zu „reiner Lebensfreude“ (Giltburg) – Beethovens Teleologie in grandioser Umsetzung. Die Kadenzen beider Kopfsätze erfasst Giltburg mit faszinierender Überlegenheit und formaler Übersicht: Trotz ihrer Längen geraten sie unter seinen Händen deshalb auch nicht zu Fremdkörpern, vielmehr zu herrlich epischen Klaviererzählungen, die den emotionalen Gehalt des Materials nochmals überhöhen.

Der Fazioli-Flügel glänzt inmitten der wohl eher kleinen Orchesterbesetzung mit feinen Klangfarben – und Naxos kann hier einmal mehr aufnahmetechnisch mit den alteingesessenen Labels tadellos mithalten. Keine Referenzeinspielung – falls bei diesem Repertoire überhaupt noch so etwas auszumachen wäre –, jedoch unbestreitbar Weltklasseniveau mit tief empfundenem, erfülltem Musizieren, das den Geist Beethovens durchgängig verständlich macht. Daher auch eine eindeutige Empfehlung an alle, die schon ein paar gute Aufnahmen der Konzerte ihr Eigen nennen: Diese hier macht echt Laune.

[Martin Blaumeiser, August 2023]

Gedenkkonzert zu Draesekes Todestag in Leipzig

Am 25. Februar 2023, dem Vorabend des 110. Todestages Felix Draesekes, veranstaltet die Internationale Draeseke-Gesellschaft e. V. ein Gedenkkonzert in der Grieg-Begegnungsstätte in Leipzig. Es spielt der Pianist Aris Alexander Blettenberg.

Die musikgeschichtliche Bedeutung Leipzigs ist hinlänglich bekannt. Die Stadt der Thomaskantoren und des Gewandhauses beheimatet seit 1843 das älteste Konservatorium Deutschlands. Für Felix Draeseke wurde sie zur ersten herausragenden Station seiner Musikerlaufbahn. Als von den neuen Ideen Wagners begeisterter Konservatoriumsschüler erregte er das Missfallen seiner Lehrer, fand aber in Franz Brendel, dem Chefredakteur der Neuen Zeitschrift für Musik, einen tatkräftigen Förderer.

Von Leipzig aus verbreitete sich Draesekes Name in der musikalischen Welt, zunächst vor allem als Musikkritiker. Als Draeseke nach seinem langjährigen Aufenthalt in der Schweiz nach Deutschland zurückkehrte, ließ er sich zwar in Dresden nieder, doch fand er in Leipzig seinen wichtigsten Verleger: Bei Fr. Kistner erschienen etwa die Hälfte seiner Werke. Leipzig ist viel, so auch eine Draeseke-Stadt. Deshalb freut es die Internationale Draeseke Gesellschaft, anlässlich des 110. Todestages in Leipzig dieses Konzert veranstalten zu können.

Auch eines anderen Jubiläums wird in dem Konzert gedacht: Vor 200 Jahren, 1823, wurde Theodor Kirchner geboren, ein großer Meister der kleinen Formen. 1843 wurde er der erste Schüler am gerade von Felix Mendelssohn Bartholdy ins Leben gerufenen Konservatorium. Viele Jahre später, in den 1880ern, war er Draesekes Kollege am Konservatorium zu Dresden.

Aris Alexander Blettenberg, Gewinner des Internationalen Beethoven Klavierwettbewerbs Wien 2021, geleitet an diesem Abend durch ein musikalisch ebenso reichhaltiges wie musikgeschichtlich erhellendes Programm, das von Mozart und Haydn über Schubert und Beethoven schließlich zu Schumann, Kirchner und Draeseke führt.

25. Februar 2023, 19 Uhr

Grieg-Begegnungsstätte Leipzig

Eintritt: 15 € / ermäßigt 10 €

Programm:

Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791): Präludium und Fuge C-Dur KV 394

Joseph Haydn (1732-1809): Sonate F-Dur Hob.XVI:23

Franz Schubert (1797-1828): Sonate As-Dur/Es-Dur D 557

Ludwig van Beethoven (1770-1827): Alla Ingharese quasi un Capriccio op. 129 ‍

PAUSE

Theodor Kirchner (1823-1903): Capricen op. 27, Nr. 1-3

Robert Schumann (1810-1856): Arabeske op. 18

Felix Draeseke (1835-1913): Sonata quasi fantasia op. 6

[Nobert Florian Schuck, Februar 2023]

Klassisches vom Klangkollektiv Wien: Ballot dirigiert Mozart, Stamitz und Beethoven

Besprechung des Konzerts:

Wien, ORF RadioKulturhaus, 19. November 2022

  • Wolfgang Amadé Mozart: Eine Kleine Nachtmusik KV 525
  • Carl Stamitz: Flötenkonzert G-Dur
  • Ludwig van Beethoven: Streichquartett Nr. 16 F-Dur op. 135 (Fassung für Streichorchester)

Karin Bonelli, Flöte

Klangkollektiv Wien

Rémy Ballot, Dirigent

Zugleich Vorstellung der CD:

Ludwig van Beethoven: Streichquartette op. 131 und op. 135

Gramola, 99248; EAN: 9 003643 992481

Das erst vor wenigen Jahren von Norbert Täubl, dem Klarinettisten der Wiener Philharmoniker, und Rémy Ballot, dem Dirigenten der St. Florianer Brucknertage, ins Leben gerufene Klangkollektiv Wien hat sich rasch den Ruf eines der hervorragendsten Kammerorchester unserer Zeit erworben. Mehrere Mitschnitte von Konzerten des international zusammengesetzten Ensembles, dessen Repertoireschwerpunkt auf der Epoche zwischen Joseph Haydn und Franz Schubert liegt, sind bei Gramola auf CD erschienen. Sie zeugen gleichermaßen von der hohen Spielkultur, die in diesem Orchester herrscht, wie von der außerordentlichen Kapellmeisterbegabung Rémy Ballots. Wer sich am Abend des 19. November 2022 im großen Sendesaal des ORF RadioKulturhauses einfand, konnte ein weiteres Mal bestätigt finden, dass die Auftritte des Klangkollektivs zu den Höhepunkten des Wiener Musiklebens zählen. Das Orchester spielte unter Ballots Leitung in einer Besetzung von 16 Streichinstrumenten zuerst Eine kleine Nachtmusik von Wolfgang Amadé Mozart. Anschließend begleiteten die Streicher die Flötistin Karin Bonelli im Flötenkonzert G-Dur von Carl Stamitz, bevor am Ende des Programms mit dem chorisch gespielten Streichquartett Nr. 16 F-Dur op. 135 von Ludwig van Beethoven wieder ein reines Streichorchesterstück zu hören war.

Die Auswahl der Stücke ließ bereits erwarten, dass der Abend dem fließenden Übergang von kammermusikalischem und orchestralem Musizieren gewidmet war. Die Kleine Nachtmusik ist Mozarts einzige nur für Streicher geschriebene Serenade und auch als Quartett ausführbar, doch ihr Tonsatz ist über weite Strecken eindeutig der eines Orchesterwerks. Umgekehrt animiert Beethoven in seinen späten Quartetten das Kammerensemble an zahlreichen Stellen geradezu, sich als ein Orchester zu fühlen. Selbst in op. 135, dem anmutigsten dieser Werkgruppe, in dem das Pathos der vorangegangenen Quartette opp. 130–132 und der Großen Fuge op. 133 weitgehend in ein hintersinniges Spiel verwandelt scheint, finden sich solche quasi-orchestralen Takte, etwa in der Einleitung des Finales, wo die Frage „Muss es sein?“ mit bohrender Intensität gestellt wird. Es liegt also durchaus nahe, dieses Stück auch in größerer Besetzung vorzutragen. Carl Stamitz bildete zwischen den Werken seiner großen Zeitgenossen das entspannte Intermezzo. Sein Flötenkonzert versetzte die Zuhörer in die Welt des galanten Rokoko, als Orchester zum großen Teil tatsächlich noch in der Kammer spielten.

Rémy Ballot führt das Klangkollektiv sicher und unbeirrt durch diese Grenzregion zwischen Symphonik und Kammermusik. Dass er neben seiner Dirigententätigkeit auch als Kammermusiker wirkt, dürfte seinen Anteil daran haben. (An dieser Stelle sei auf die in jeder Hinsicht herausragende Aufnahme von Anton Bruckners Streichquartett und -quintett durch das Altomonte-Ensemble mit Ballot als Primgeiger hingewiesen.) Vor allem aber befähigt ihn sein Gespür für die Entwicklung melodischer Linien und die Darstellung polyphoner Strukturen dazu. Ballot ist kein Mann der schrillen Effekte. Wenn etwa Sforzati oder abrupte Wechsel von Forte und Piano vorgeschrieben sind – wie man dergleichen namentlich bei Beethoven immer wieder antrifft –, ist das für ihn nicht zwingend ein Anlass, dem Publikum rohe Kraft zu demonstrieren oder es durch die virtuose Darbietung scharfer Kontraste zu verblüffen. Er achtet vor allem darauf, in welcher Beziehung die entsprechenden Stellen mit ihrer Umgebung stehen. Sie werden nicht als isolierte Momente vorgeführt, sondern als Teile eines größeren Zusammenhangs begriffen, als Ereignisse, die eine Vor- und Nachgeschichte haben. Welche Funktion hat der durch das Sforzato hervorgehobene Ton innerhalb der Melodie, zu der er gehört? Welchen Verlauf nimmt die Periode, in der mehrfach die Lautstärke wechseln soll? Die Frage des richtigen Vortrags ist für Ballot offensichtlich immer mit der Frage nach der schlüssigen Wiedergabe der musikalischen Handlung verknüpft. Nichts überlässt er dem Zufall, jede Phrase erscheint auf ihre Stellung im großen Ganzen hin geprüft. Das „kammermusikalische“ und das „orchestrale“ Musizieren ergeben sich ganz natürlich aus der jeweiligen Situation im Verlauf der Musik. Es sind nicht Gegensätze, sondern Wechsel des Zustands. Eines geht aus dem anderen hervor. Die Differenziertheit im Vortrag, zu der Ballot sein Orchester animiert, ist nichts anderes als eine genaue Darstellung der Vielgestaltigkeit des Mozartschen und Beethovenschen Tonsatzes. Besonders loben muss man, wie wunderbar das Klangkollektiv die kontrapunktischen Abschnitte umsetzt. Wenn die Motive durch die Stimmen wandern, erlebt man in aller Deutlichkeit, wie trefflich die einzelnen Instrumentengruppen in Kontakt miteinander stehen, wie gut sie aufeinander zu hören wissen. So wird kein Themeneinsatz überdeckt. Jede Stimme kann führen, jede kann begleitend zurücktreten. Gesittete Dialoge geraten ebenso vorzüglich wie spannungsvolle Engführungen. Aber auch in einer mit kontrapunktischen Demonstrationen kaum aufwartenden Partitur wie der Kleinen Nachtmusik bewährt sich der Sinn des Dirigenten für Polyphonie, sodass durch die Aufführung deutlich wurde, wie feinsinnig Mozart auch in diesem schlicht gehaltenen Stück zu Werke gegangen ist.

Sehr aufschlussreich ist es, Dirigent und Orchester bei der Aufführung zuzusehen. Ballot achtet sorgsam darauf, dass die Kommunikation zwischen ihm und den Musikern nicht abreißt. Der Augenkontakt ist ihm sichtlich nicht minder wichtig als die Bewegungen der Hände. So dirigierte er den Anfang des Finales der Kleinen Nachtmusik beinahe nur mit den Augen und brachte die Hände erst beim ersten Forte ins Spiel. Seine Bewegungen sind im allgemeinen sparsam und immer präzise. Stärker ausladende Gesten hebt er sich für besondere Stellen auf. Die Orchestermitglieder achteten hellwach auf alle Zeichen und spielten hochmotiviert.

Zum reinen Streicherklang gesellte sich in Stamitzens Flötenkonzert Karin Bonelli, ebenfalls Mitglied des Klangkollektivs, als Solistin. Das Orchester hat hier weitgehend begleitende Funktion – auch in dieser Rolle agiert das Klangkollektiv tadellos –, während die Flöte eindeutig im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Stamitz führt die Solostimme regelmäßig durch den gesamten Tonraum des Blasinstruments und gibt damit Karin Bonelli ein geeignetes Betätigungsfeld, ihre Stärken zu zeigen. Das Spiel der Flötistin erfreut besonders durch ihre Fähigkeit, jedem Register eine charakteristische Klangfarbe zu verleihen, sodass, wenn sie zwischen den Lagen wechselt, dialogische Wirkungen entstehen. Noch deutlicher wurde dies in ihrem Zugabestück, dem Kopfsatz der Solosonate h-Moll von Carl Philipp Emanuel Bach.

Auch die Streicher spielten eine Zugabe nach dem abschließenden Beethoven-Quartett. Angesichts der anhaltenden Kriegshandlungen in der Ukraine, der Heimat dreier Mitglieder des Klangkollektivs, hatte man sich entschieden, den sorgsam gesetzten klassischen Rahmen zu verlassen und das Konzert mit einem Werk des 20. Jahrhunderts zu beenden, das auf eine lange Tradition der Verwendung als Trauermusik zurückblicken kann: Samuel Barbers Adagio for Strings. Wie intensiv die Aufführung auf das Publikum wirkte, zeigte sich daran, dass nach dem Verklingen des letzten Tons im Saal vollkommene Stille herrschte. Erst nach einer – gefühlt sehr langen – Pause sahen sich die Zuhörer in der Lage zu applaudieren, und sie taten es in spürbarer Begeisterung darüber, einen Konzertabend höchster Qualität erlebt zu haben.

Seit kurzem liegt eine Aufführung von Beethovens Quartett op. 135 durch das Klangkollektiv unter der Leitung Rémy Ballots auf einer CD vor, die, wie die anderen CDs des Orchesters, bei Gramola erschienen ist. Es handelt es sich um den Mitschnitt eines Konzerts im Penzinger Lorely-Saal vom 7. Oktober 2020, in welchem neben op. 135 auch das Quartett Nr.  14 cis-Moll op. 131 erklang. Dieses erlebte eine Wiedergabe, die seine ganze Vielgestaltigkeit in nahezu idealer Weise erfahrbar machte. Welch eine blühende Polyphonie in der einleitenden Fuge! Welch eine Leichtigkeit in den beiden scherzoartigen Sätzen! Der langsame Mittelsatz entfaltet sich in einem großen Bogen von knapp 17 Minuten Dauer, wobei die Variationen ganz natürlich auseinander hervorgehen. Zum Herzstück des Ganzen gerät der kurze sechste Satz, der im Wesentlichen eine langsame Einleitung zum Finale ist. Wie Ballot die Musik hier innehalten lässt und gleichzeitig eine enorme Spannung erzeugt, die sich erst im Schlusssatz entlädt, ist schlichtweg große Kunst. Das Finale wird, ohne übereilt zu wirken, mit unwiderstehlicher Energie musiziert, doch kommt im Seitensatz auch Ballots Meisterschaft im Gestalten schlüssiger Rubati zu tragen.

Die akustischen Bedingungen waren bei dieser Aufnahme nicht ganz so ideal wie jetzt im RadioKulturhaus, doch trübt dies den Gesamteindruck der CD angesichts der meisterlichen Darbietungen keineswegs. Wer erleben möchte, wie prächtig sich Beethovens späte Quartette als Streichersymphonien ausnehmen, dem sei diese Platte nachdrücklich empfohlen.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2022]

Vielschichtige Charaktere – Charlotte Steppes spielt Debussy, Beethoven und Draeseke in Bad Rodach

Nach dem Auftritt Aris Alexander Blettenbergs im Juni dieses Jahres erklang im Bad Rodacher Jagdschloss am 16. Oktober 2022 ein weiteres Mal Felix Draesekes Klaviersonate op. 6 unter den Fingern eines berufenen jungen Talents. Die Leipziger Pianistin Charlotte Steppes spielte das Werk am Ende eines Programms, das mit Claude Debussys Suite bergamasque begann und als Herzstück Ludwig van Beethovens Sonata quasi una Fantasia cis-Moll op. 27/2 enthielt. Veranstaltet wurde das Konzert von der Internationalen Draeseke-Gesellschaft, deren 36. Jahrestagung es beschloss, in Zusammenarbeit mit dem Rückertkreis Bad Rodach.

© Manfred Sonnenschmidt

Bereits mit dem Beginn der Suite bergamasque wurde klar, dass man hier Gelegenheit hatte einer Künstlerin zu lauschen, die es trefflich versteht, die von ihr vorgetragenen Stücke als profilierte Charaktere zu präsentieren. Jeder der vier Sätze hatte ein eigenes Gesicht. Im Prélude wurde Debussys geistige Verwandtschaft mit Couperin deutlich. Dem Menuett fehlte es weder an Grazie noch an Energie. Das Mondscheinpanorama, das Steppes in Clair de Lune entfaltete, klang vor allem deshalb so zart und innig, da die Pianistin jedes Zerfließen der melodischen Konturen geschickt vermied. Man hörte, dass Debussy nicht nur ein Klangfarbenkünstler, sondern auch ein großer Melodiker war. Die durchlaufenden Achtelfiguren im abschließenden Passepied spielte Steppes sehr markiert und zeigte dabei, dass der Bass nicht einfach nur die spritzige Melodie begleitet, sondern im Verlauf des Satzes sehr wohl gewichtige Worte mitzusprechen hat. Angemessen sanfte Töne fand sie für den kontrastierenden Mittelteil, den sie geschickt in die Wiederkehr des Anfangs zu überführen wusste.

Das einleitende Adagio der Beethovenschen cis-Moll-Sonate korrespondierte schön mit Debussys Clair de Lune, denn auch hier erklang ein vielschichtiges Charakterbild. In flüssigem Tempo, mit dezentem Rubato, modellierte Steppes die Basslinie als weit ausholenden Gesang und arbeitete den Dialog zwischen Ober- und Unterstimme in der Mitte des Stücks prägnant heraus. In den letzten beiden Sätzen gestaltete sie pointiert die inneren Kontraste der Themen. Die Sechszehntelläufe des Finales wurden sorgfältig periodisiert; bei aller Geläufigkeit war doch stets Gesang in ihnen.

Steppes‘ Aufführung von Draesekes op. 6 – wie Beethovens op. 27/2 eine Sonata quasi Fantasia mit langsamem Kopfsatz – bildete den krönenden Abschluss des Konzerts. Ich sage dies mit umso größerer Freude, da ich dieses von Draesekes einstigem Förderer Franz Liszt hochgeschätzte und regelmäßig gespielte Meisterwerk selten so hervorragend dargeboten gehört habe wie an diesem Tag. Die Pianistin traf durchaus den heroischen Grundton der Komposition. Man merkte, warum Draeseke als junger Mann im Liszt-Kreis „der Recke“ hieß. Aber dieser Recke konnte nicht nur mit Kraftakten imponieren, er besaß auch eine empfindsame Seele und viel Feingefühl in der Formulierung seiner Gedanken.

Steppes begann die Einleitung des Kopfsatzes sehr rasch und energisch, fand jedoch sogleich die nötige Ruhe für den folgenden Abschnitt, den sie frei im Tempo, wie improvisierend, vortrug, wobei sie aber stets auf die Struktur der Perioden Rücksicht nahm. Spannungsvoll leitete sie in den Trauermarsch über, der herb und streng tönte, mit grollenden Bässen, und an den Höhepunkten orchestrale Wucht entfaltete. Der auf die Einleitung zurückgreifende Mittelteil (mit gut gegliederter Triolenbewegung) bot in seiner Geschmeidigkeit einen wirkungsvollen Kontrast. Das Ende des Satzes wurde feierlich zelebriert.

Den zweiten Satz hat Draeseke als „Valse-Scherzo“ bezeichnet. Mit viel Liebe zum Detail widmete sich Steppes den zahlreichen kapriziösen Hakenschlägen, vergaß aber nie, den Walzertakt noch durchklingen zu lassen. Die Doppelnatur dieses Intermezzos – halb Walzer, halb Scherzo – kam wunderbar heraus. Ein einziges Mal stellten sich mir in dieser Aufführung Bedenken ein: als die Pianistin das Finale so stürmisch begann, dass ich mich fragte, ob von diesem Ausgangspunkt aus die großen Steigerungen, die der Satz bereithält, noch realisiert werden können. Charlotte Steppes tat aber das Richtige: Durch gut angebrachte Ritardandi wurde sie zum Seitensatz hin langsamer, ließ es dort an gesanglichem Vortrag und Detailfreudigkeit nicht fehlen, und hielt auch im folgenden Geschehen das Tempo flexibel. So gelang es ihr, die höchste Kraftentfaltung bis zum Schluss aufzusparen und das Werk mit ekstatischem Jubel zu bekrönen.

Das Publikum dankte mit stehendem Applaus.

[Norbert Florian Schuck, Oktober 2022]

(NB: Der Verfasser dieses Artikels ist Mitglied der Internationalen Draeseke-Gesellschaft und wurde auf der Mitgliederversammlung am 15. Oktober zu ihrem neuen Ersten Vorsitzenden gewählt. Da die Organisation des hier besprochenen Konzerts aber in den Händen des früheren Vorstands lag, dem er nicht angehörte, spricht der Verfasser im vorliegenden Artikel nicht als IDG-Vorsitzender, sondern als einfacher Rezensent.)

Besser spät als nie: Angela Hewitts sehr persönliche Auseinandersetzung mit Beethovens opp. 106 & 111

Hyperion CDA68374; EAN: 0 34571 28374 6

Auch die kanadische, insbesondere für ihr Bach-Spiel gerühmte Pianistin Angela Hewitt hat nun ihre Einspielung sämtlicher 32 Beethoven-Sonaten auf CD komplettiert: mit den beiden späten Sonaten Nr. 29 B-Dur op. 106, der Hammerklaviersonate, und der letzten Sonate Nr. 32 c-Moll op. 111.

Wenn eine weltberühmte Pianistin ihren Zyklus aller Beethoven-Klaviersonaten mit der letzten – der c-Moll-Sonate op. 111 – und der gewaltigsten, der Hammerklaviersonate op. 106, abschließt, scheint das in gewisser Weise taktisch klug (das Beste kommt zum Schluss…), aber keineswegs ungewöhnlich. Hellhörig wird man allerdings, wenn man aus Angela Hewitts umfangreichem, eigenen Booklettext erfährt, dass sie genau diese beiden Stücke tatsächlich auch erst mit knapp über sechzig erstmals einstudiert hat. Barenboim soll ja einmal gesagt haben: „Die Hammerklaviersonate wird nicht leichter, wenn man sie nicht spielt.“ So werden natürlich die Erwartungen der Interpretin an sich selbst wie die der Zuhörerschaft besonders hoch.

Da hier nicht der Raum ist, die beiden 47 bzw. 31 Minuten langen Darbietungen bis ins Detail zu verfolgen, seien nur ein paar Beobachtungen wiedergegeben, und dabei Hewitts Ergebnisse auf dem – neuen – Fazioli-Flügel mit ihren geistreichen Anmerkungen zu den Stücken verglichen. Hewitt wählt bei Opus 106 durchgehend sehr schlüssige Tempi, überhastet weder die ersten beiden Sätze noch die Fuge. Letztere beginnt sie mit Viertel = ca. 128: Ein Tempo, das sich in vielen guten Aufnahmen wiederfindet (Richter, Pollini usw.) und für moderne Flügel vielleicht ideal ist. Ebenso gilt Halbe = ca. 108 für den Kopfsatz als bewährtes Grundtempo, auch wenn es noch weit unter den gedruckten 138 liegt. Im Adagio vertraut Hewitt hingegen auf Beethovens Tempovorgabe (Achtel = 92), was sich über weite Strecken als Glücksfall erweist. Insgesamt gestaltet Hewitt das Tempo jedoch äußerst flexibel, gibt ihren Vorstellungen von Klangqualität und Ausdrucksnuancen klar den Vorrang vor metronomischer Konstanz. Dem kann man nur zustimmen, trotzdem hören wir bisweilen recht komische Ausdeutungen. Das beginnt bereits beim Kopfthema, dessen durch den punktierten Achtelauftakt so rigorosen Charakter sie durch die Verbreiterung fast zu einer Viertel aufweicht; man könnte das Kontra-B auch mit der rechten Hand nehmen. Eigentlich gelingen Hewitt im Kopfsatz viele Stellen sehr schön, sie beachtet genau die Sforzati und was sie im jeweiligen Kontext bewirken sollen – etwa in den Takten 17 ff. auf der „Zwei“. Darüber hinaus kann sie durchaus den großen, symphonischen Zusammenhalt vermitteln.

Im Scherzo ist Hewitt recht flott, die oft etwas zu undeutlich vorgetragene Zweistimmigkeit im Trio ist absolut vorbildlich. Das Prestissimo wird nicht zur Raserei: Sie betrachtet es als „ungarischen“ Exkurs. Der Beginn des Adagios ist enorm ausdrucksstark, trotz des eher flüssigen Tempos. Da, wo die Zweiunddreißigstel zu dominieren beginnen (nach T. 87), muss Hewitt ihren offenkundigen Drang nach vorne künstlich zurücknehmen, die Agogik erscheint nicht immer natürlich. Und wo sich dann – in anderer Tonart – quasi reprisenartig ein längerer Abschnitt wiederholt, verliert sie schließlich derart den Fokus, dass der più forte Ausbruch über dem verminderten Septakkord (T. 165) tatsächlich nur wie „ein Moment der Krise“ (Hewitt) und nicht wie ein letzter, verzweifelter Aufschrei wirkt, bevor bei ihr der Satz nebulös ins Nichts dahindämmert.

Die Fuge packt die bewunderte Bach-Spielerin wirklich souverän, begreift die einzelnen Durchführungen so, wie es z. B. Charles Rosen in Der klassische Stil beschrieben hat: als eine Folge von – bei Hewitt in der Tat enorm abwechslungsreichen – Charaktervariationen. Wenn jedoch nach der Trillerorgie zur Dominante A (T. 243 ff.) „ein drittes Thema“ erscheint – nach Meinung des Rezensenten der bewusste Rückzug von der Monsterfuge zu einer kleinen D-Dur-Fughetta – verbreitert sie das Tempo viel zu stark, so dass der Wiederaufbau des „alten“ Fugenwahnsinns seiner sich schnell erneut verdichtenden Struktur etwas hinterherhinkt. Der Schluss hat dennoch Größe – so wie die gesamte Darbietung, wenn hier auch keine Glanzleistung à la Murray Perahia vollbracht wird – der sich übrigens ebenfalls erst sehr spät an diesen Klavier-Himalaya wagte.

Noch interessanter und konsequenter erscheint dem Rezensenten op. 111. Hewitt lässt sich Zeit, schon bei der Einleitung: Dramatik ohne jede Spur von Hektik; wie jemand, der in fortgeschrittenem Alter so viel Resilienz entwickelt hat, dass er die Fügungen des Schicksals genauestens und bewusst reflektiert, jedoch auszuhalten vermag. Der ganze Satz bleibt dabei hochenergetisch. Die Arietta spielt Hewitt vielleicht eine Spur zu langsam. Das geht bei den ersten Variationen noch gut: Klar, dass sie die (virtuelle) Beschleunigung nicht als Boogie-Woogie verfremdet, sondern ganz in barocker Tradition exerziert. Ab der vierten Variation (T. 65) verliert sich die Pianistin leider. Was sie als „eine Art jenseitige Musik, die in ihrer Zartheit geradezu ätherisch ist“ beschreibt, gerät mit seiner potenziert ternären Struktur dann zur indifferenten Suppe. Erst in der langen Coda agiert Hewitt wieder gestalterisch überzeugend. Trotzdem ist diese Aufnahme von op. 111 ausgereift und hebt sich aus einer Masse von Einspielungen hervor, die dem Geheimnis dieses legendären Werkes weit weniger abgewinnen können. Aufnahmetechnisch ausgezeichnet und mit einem sehr persönlichen Booklettext, legt Angela Hewitt hier eine in vielerlei Hinsicht besondere Beethoven-Auseinandersetzung vor.

Vergleichsaufnahme: [op. 106] Murray Perahia (DG 00289 479 8353, 2016)

[Martin Blaumeiser, Oktober 2022]

Eröffnungskonzert des neuen Bösendorfer-Saales in Wien mit Aris Alexander Blettenberg

Wien, Haus der Ingenieure (Eschenbachgasse 9)

Donnerstag, 29. September 2022, 19:30

Aris Alexander Blettenberg, Klavier

Ludwig van Beethoven (1770–1827)
32 Variationen über ein eigenes Thema WoO 80

Georges Bizet (1838–1875)
Variations chromatiques de concert

Ludwig van Beethoven
Polonaise op. 89

Julius Zellner (1832–1900)
Andante und Scherzo op. 13

Hans von Bülow (1830–1894) / Franz Liszt (1811–1886)
Dante-Sonett Tanto gentile e tanto onesta S. 479

Felix Draeseke (1835–1913)
Sonata quasi Fantasia op. 6

1872 richtete Ludwig Bösendorfer, der angesehenste Klavierfabrikant Österreichs, im Wiener Palais Liechtenstein einen Konzertsaal ein, der in den folgenden vier Jahrzehnten zu einer der wichtigsten Spielstätten der österreichischen Hauptstadt wurde. Weithin gerühmt wurde seine hervorragende Akustik. Keinem Geringeren als Hans von Bülow war es vorgehalten, den Saal am 19. November 1872 einzuweihen. Es folgten Auftritte zahlloser berühmter Musiker wie Franz Liszt, Richard Wagner, Anton Rubinstein, Hugo Wolf, Ignacy Paderewski, Eugen d’Albert, Richard Strauss, Ferrucio Busoni, Max Reger, Artur Schnabel und das Rosé-Quartett. Mit dem Abriss des Palais Liechtenstein endete die Reihe aufsehenerregender Konzerte im Jahr 1913.

Nun wird in Wien im Haus der Ingenieure ein neuer Bösendorfer-Saal eingeweiht. Das Konzert, mit dem Bösendorfer Artist Aris Alexander Blettenberg die Spielstätte am 29. September 2022 eröffnen wird, schlägt in mehrfacher Weise den Bogen zum historischen Konzert Hans von Bülows. Felix Draesekes Sonate op. 6 wird dabei erstmals in Wien zu hören sein. Das Werk, das 1870 mit einer Widmung an Bülow erschienen war, erfreute sich der besonderen Wertschätzung Franz Liszts, der es regelmäßig spielte und als bedeutendste Klaviersonate seit Schumanns op. 11 ansah.

Aris Alexander Blettenberg, geboren 1994 in Mühlheim an der Ruhr, ist Komponist, Dirigent und Pianist. Er gewann 2015 in Meiningen den Internationalen Klavierwettbewerb Hans von Bülow in der Kategorie Dirigieren vom Klavier und 2020 den Internationalen Beethoven Klavierwettbewerb Wien.

[Nobert Florian Schuck, September 2022]

Ein außerordentlicher Kammermusikabend mit dem Quartet Berlin-Tokyo

Besprechung des Konzerts:

Berlin, Konzerthaus, 12. Juni 2022

  • Kurt Hauschild: Streichquartett Nr. 5 D-Dur
  • Ludwig van Beethoven: Streichquartett Nr. 11 f-Moll op. 95
  • Boris Yoffe: fünf Stücke aus dem Quartettbuch
  • Gawriil Popow: Quartett-Symphonie c-Moll op. 61

Quartet Berlin-Tokyo

Zugleich Vorstellung der CD:

  • Erwin Schulhoff: Fünf Stücke für Streichquartett
  • Gawriil Popow: Quartett-Symphonie c-Moll op. 61

QBT Collection, QBT 001; EAN: 0 048544 807747

Es gibt Konzerte, die man nicht vergisst, Konzerte, in denen man als Zuhörer einer solch überragenden künstlerischen Leistung teilhaftig wird, dass das Erklungene als ein beständiges Echo im Gedächtnis nachklingt. Der Kammermusikabend, den das Quartet Berlin-Tokyo am 12. Juni 2022 im Berliner Konzerthaus gegeben hat, war ein solches Konzert. Das Quartett – Tsuyoshi Moriya und Dimitri Pavlov an den Violinen, Gregor Hrabar an der Bratsche und Ruiko Matsumoto am Violoncello – präsentierte ein von echtem Entdeckerspürsinn zeugendes Programm, dem kein besonderer Titel beigegeben war, durch das sich jedoch erkennbar ein roter Faden zog. Alle hier zusammengebrachten Werke sind nicht in Hinblick auf die Öffentlichkeit entstanden, sondern dokumentieren den Zustand einer (freiwilligen oder erzwungenen) Zurückgezogenheit. Es handelt sich, um es mit einem Werktitel des hier nicht vertretenen Jean Sibelius zu sagen, um „Voces intimae“.

Der Ost-Berliner Kurt Hauschild (1933–2022) schrieb sein Fünftes Streichquartett, wie alle seine zu DDR-Zeiten komponierten Werke, abseits des öffentlichen Musikbetriebs. Ludwig van Beethoven betrachtete sein Quartett op. 95 als ein so privates Dokument, dass er es zunächst nur engsten Freunden zeigte und sich erst nach sechs Jahren zur Veröffentlichung entschließen konnte. Die Stücke aus Boris Yoffes (*1968) Quartettbuch sind musikalische Tagebuchaufzeichnungen im wahrsten Sinn des Wortes. Gawriil Popows (1904–1972) Quartett-Symphonie op. 61 entstand zu einer Zeit, als die Lenker der sowjetischen Kulturpolitik dem ehemals sehr erfolgreichen Komponisten längst nur noch der Rang einer Randfigur des Musiklebens zugestanden.

Vier unterschiedliche Geisteswelten hat das Quartet Berlin-Tokyo in diesem Konzert durchschritten. In jedem Falle bewundern muss man die Meisterschaft der vier Instrumentalisten im kammermusikalischen Zusammenspiel. Wir haben es hier mit einem Ensemble zu tun, in dem ausnahmslos alle Mitglieder vortreffliche Musiker sind. Keines steht hinter den übrigen zurück, keines spielt sich zu Ungunsten der anderen in den Vordergrund. Im Gegenteil: Jede Stimme ist ein ausgeprägter Charakter, der, wenn der Komponist es verlangt, die Führung übernehmen kann – aber noch bemerkenswerter erscheint, wie gut sie alle aufeinander hören. Die Vier lassen einander Raum zum Atmen, dann spornen sie sich wieder gegenseitig zu Höchstleistungen an. Man hört einen auf allen Ebenen gleichermaßen kräftig und prägnant durchgebildeten Quartettklang.

Bei zeitgenössischer Musik muss man sich heutzutage bekanntlich auf einiges gefasst machen, doch ist dem Ensemble mit Kurt Hauschilds Streichquartett Nr. 5 tatsächlich eine Überraschung gelungen. Hauschild, der im Brotberuf als Mathematiker arbeitete und seine Kompositionen erst nach 1989 öffentlich spielen ließ, suchte nämlich zum Komponieren das Rokoko als geistiges Refugium auf und schrieb Musik, als wäre seit den Tagen Joseph Haydns keine Zeit vergangen. „Ja, darf man denn das?“, hat sich vielleicht der eine oder andere Zuhörer gefragt. Ja, natürlich darf man – namentlich, wenn man sich so gut in den Stil dieser Epoche eingelebt hat und im sicher beherrschten Quartettsatz ansprechende Gedanken so gewandt verarbeiten kann, wie Hauschild dies vermochte. Die Mandolinenimitationen des Finales zeugen zudem von einem an Haydn gemahnenden Humor. Ich habe beim Anhören dieses Werkes an den trefflichen Weimarer Komponisten und Pädagogen Reinhard Wolschina denken müssen, dessen Musik freilich ganz anders klingt, der aber seine Schüler zu fragen pflegt, ob die Musik, die sie schreiben, auch die Musik ist, die sie selbst hören wollen. Kurt Hauschild hat offenbar Musik geschrieben, die er selbst hören wollte. Wer möchte es ihm verübeln? Dass sich das Quartet Berlin-Tokyo dem Werk mit hörbarem Vergnügen gewidmet hat, ist jedenfalls als ein Glücksfall für den Komponisten zu bezeichnen, und man kann nur bedauern, dass er das Konzert nicht mehr erleben konnte.

In Beethovens f-Moll-Werk op. 95 zeugten namentlich die kantablen Stellen von der Sorgfalt, mit der das Quartett zu Werke geht. So gelang im dritten Satz der Kontrastabschnitt sehr schön. Man hörte hier einen wirklichen „Chorgesang“ der drei Unterstimmen, den der Primgeiger dezent mit Achtelfigurationen zu begleiten verstand. Auch der langsame Satz mit seinen längeren fugierten Abschnitten befand sich in guten, polyphonieerprobten Händen. Im Übrigen zeichneten die Musiker das Bild eines heftigen, cholerischen, zwischen Extremen hin- und hergerissenen Beethoven. Die Hauptthemen des ersten und dritten Satzes wurden betont scharfkantig artikuliert. Das Finale war deutlich mehr Agitato als Allegretto. Auch den Kopfsatz hörte man in rasantem Tempo. Geschah dies, wie es in jüngerer Zeit zur Mode geworden zu sein scheint, unter dem Eindruck der nachträglich vom Komponisten hinzugefügten, in ihrer Aussagekraft fraglichen Metronomisierungen? Freilich ist es eine Leistung, in solch hoher Geschwindigkeit so sauber zu spielen, wie es das Quartett tat, doch zeigte sich an einzelnen Stellen die Problematik des Geschwindigkeitsrauschs. So gelang es den Musikern weder in der Exposition, noch in der Reprise des Kopfsatzes die Überleitung zum Seitenthema schlüssig darzustellen: Das abrupte Bremsen wirkte seltsam unentschieden.

Die fünf Stücke aus Boris Yoffes Quartettbuch bildeten das ruhige Intermezzo des Abends. Yoffe, der sich mit seinem 2014 erschienenen Buch Im Fluss des Symphonischen den Ruf eines vorzüglichen Kenners sowjetischer Symphonik erworben hat, konzentriert sich als Komponist auf kleine Formen. Im Falle der Quartettstücke kann man durchaus sagen: kleinste Formen, denn die im Konzert erklungenen dauern zusammengenommen nur rund fünf Minuten. Das Quartettbuch ist anscheinend ein veritables Tagebuch, das täglich um ein neues Stück wächst. Die vom Quartett ausgewählten Nummern Bell, Sunshine, Rain, Far und Visit machten den Eindruck, als hätten den Komponisten beim Verfassen derselben mehr oder weniger die gleichen Gedanken beherrscht. Sie sind alle karg, leise, langsam und im Hinblick auf die Harmonik nicht sonderlich dissonant, und man fragt sich, ob eine andere Auswahl vom Komponisten Boris Yoffe vielleicht einen umfassenderen Eindruck geliefert hätte.

Eindeutig der Höhepunkt des Abends war die Aufführung des einzigen Streichquartetts von Gawriil Popow, dem der Autor den Titel Quartett-Symphonie gab. Popow hatte in den 1920er Jahren seine Laufbahn erfolgversprechend begonnen: Er galt als einer der begabtesten Komponisten der jungen Sowjetunion, und seine Frühwerke sorgten für ein vergleichbares Aufsehen wie diejenigen seines Freundes Dmitrij Schostakowitsch. Diese Phase seines Schaffens gipfelte in der Ersten Symphonie, einem ungeheuer ausdrucksstarken, düster gestimmten Werk in hochgradig dissonanter Harmonik, das sich seit seiner Wiederentdeckung vor einigen Jahren berechtigter Wertschätzung als eines Höhepunkts des sowjetischen „Futurismus“ in der Musik erfreut. Nach seiner Uraufführung 1935 wurde das Werk von der Leningrader Zensur als Ausdruck „der Ideologie uns feindlich gesinnter Klassen“ verboten – ein Vorbeben des großen Scherbengerichts, das von der Partei 1936 anlässlich von Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk veranstaltet wurde. Über Popows späteres Schaffen hat sich eine Legende gebildet, derzufolge ein genialer Komponist durch die stalinistische Kulturpolitik einerseits, durch Alkoholismus anderseits künstlerisch zerstört worden sei. In beiden Punkten wurden Tatsachen zu Ungunsten Popows überspitzt. In der Tat war die Verurteilung durch die Kommunistische Partei ein Gewaltakt, der den Komponisten schwer traf. Popow komponierte danach nicht mehr so wie zuvor. Er wurde von Seiten der Musikfunktionäre argwöhnisch beobachtet, und konnte im Konzertsaal nie wieder an seine früheren Erfolge anknüpfen. Allerdings muss Behauptungen, er sei ein Konformist geworden, der sein Talent letztlich im Alkohol ertränkt habe, entschieden entgegengetreten werden. Popow mag in späteren Jahren dem Trunk verfallen sein, doch hatte dies offensichtlich keine spürbaren Auswirkungen auf seine Schaffenskraft. Man kann nicht einmal sagen, seine Produktivität habe in quantitativer Hinsicht darunter gelitten: Ein kurzer Blick in die im Netz verfügbaren Werkverzeichnisse (deutsche, englische, russische Wikipedia) zeigt, dass er bis an sein Lebensende kontinuierlich komponierte. Und die Qualität? Wurde der geniale Modernist zu einem linientreuen Verfertiger staatstragender Propaganda? Ein hübsches Beispiel, wie durch – hier sicherlich unbeabsichtigte – Verdrehungen von Daten Erzählungen fabriziert werden, welche suggerieren, dergleichen sei der Fall gewesen, bietet ein Text des US-amerikanischen Kritikers Alex Ross, in welchem es heißt: „Popov, exploding with talent but lacking that eerie detachment from his creative self, collapsed under the outward pressure. He felt obligated to produce programmatic Socialist-Realistic pieces on a regular basis (Komsomol Is The Chief of Electrification).“ Ein Blick ins Werkverzeichnis verrät, dass die genannte Filmmusik-Suite aus dem Jahre 1931 stammt! Popow ist bei weitem nicht der einzige sowjetische Komponist gewesen, der seinen Lebensunterhalt wesentlich durch Filmmusik bestritt – vor wie nach seiner Verdammung. Immer noch in Russland populär ist sein Lied Schwarzer Rabe aus der Musik zum Film Tschapajew (1934). Nun finden sich unter Popows Werken auch „vaterländische“, „heroische“ und „festliche“ Kompositionen (die Zweite, Dritte und Sechste Symphonie heißen explizit so), aber dieser Umstand sollte niemanden überraschen, der einigermaßen mit der Musikgeschichte der Sowjetunion – und speziell mit den Werkverzeichnissen von Prokofjew, Schostakowitsch, Chatschaturjan – vertraut ist. Hört man die besagten Symphonien Popows, so kommt man nicht umhin, festzustellen, dass der Komponist zwar seine Harmonik etwas entschärft hat, aber handwerklich virtuos in einem ausgeprägten Personalstil schreibt, in welchem sich auffallend viele Charakterzüge aus seiner Frühzeit erhalten haben. Als Orchesterkomponisten reizte es ihn offensichtlich, „kammermusikalisch“ zu schreiben und reduzierte Besetzungen zu verwenden. So ist seine Dritte Symphonie ein reines Streichorchesterwerk, und die Sechste enthält zahlreiche Passagen nur für Bläser (Nr. 4 ist gar für A-cappella-Chor geschrieben!). Anderseits hatte Popow eine Vorliebe für Kammermusik, die sich an der Grenze zum Orchestralen bewegt. So finden sich unter seinen Werken ein Oktett, ein Septett, das ausdrücklich als Kammersymphonie bezeichnet ist, und ein Quintett für Flöte, Klarinette, Trompete, Violoncello und Kontrabass.

Verwundert es vor diesem Hintergrund noch, dass er sein 1951 komponiertes Streichquartett op. 61 als Quartett-Symphonie konzipierte? Popow schreibt hier tatsächlich Klänge, die den Eindruck erwecken, kein Solistenensemble, sondern ein Orchester aus vier Streichern vor sich zu haben. Auch hinsichtlich der Spieldauer strebt das viersätzige Werk in symphonische Weiten. Die Aufführung nimmt beinahe eine Stunde in Anspruch, von welcher der erste Satz allein bereits 25 Minuten dauert. Stilistisch komponiert Popow hier ebenso eigen wie in seinen Symphonien. Er ist wiederholt mit Schostakowitsch verglichen worden, doch haben beide Komponisten – abgesehen von der Tatsache, dass sie der gleichen Generation angehören, der gleichen Tradition entstammen und ihre Biographien Parallelen aufweisen – letztlich nicht allzu viel miteinander gemeinsam. Ihre Musik zeigt, wie unterschiedlich Künstler auf vergleichbare Situationen reagieren können. Schostakowitsch erscheint als das Urbild eines psychologisierenden Komponisten. In seiner Musik zeichnet er bestimmte psychische Zustände in Tönen nach. Wenn er davon spricht, seine Fünfte Symphonie thematisiere „das Werden der Persönlichkeit“, so ist das keineswegs nur eine Phrase im Sinne der staatlichen Kulturdoktrin. Seine Musik handelt von den Empfindungen des Menschen in der Gesellschaft. Popow erscheint dagegen als ein musikalischer Landschaftsmaler. Eine Pastorale Symphonie von Schostakowitsch erscheint schwer vorstellbar. Popow hat eine solche mit seiner Fünften vorgelegt („eine wunderbare Welt der Natur ohne Menschen“ nennt sie Boris Yoffe treffend), und bereits seine Zweite, die Vaterländische, lässt sich als in Tönen geschaffene Landschaft bezeichnen.

Auch die „Symphonie“ für Streichquartett enthält viel „Landschaftliches“, „Naturfrommes“, das man bei Schostakowitsch so kaum finden wird. Im Kopfsatz hat Popow einen allmählichen Beruhigungsprozess auskomponiert: Von der Hektik des Anfangs, die tatsächlich etwas an Schostakowitsch gemahnt (dessen ein Jahr später entstandenes Fünftes Quartett recht ähnlich beginnt), gelangt die Musik in mehreren Stufen (die den Stationen der Sonatenform entsprechen) zur Gelassenheit der letzten Minuten des Satzes. An zweiter Stelle folgt ein kürzeres Stück, das in etwa die Waage zwischen einem Elfenspuk-Scherzo und einem elegischen Walzer hält. Der langsame dritte Satz beginnt mit einer verhaltenen Melodie, in welche, beinahe wie Lockrufe, Volksliedintonationen hineinklingen. Der Satz wird im Folgenden immer lebhafter und tänzerischer, kehrt dann zur Stimmung des Anfangs zurück, schließt aber mit einer feierlichen Coda. Das Finale, das anders als die übrigen Sätze von Anfang an in Dur steht, ist mit „Allegro giocoso“ überschrieben, beginnt aber introvertiert und sehr kantabel und nimmt erst nach und nach energischen Charakter an. Der letzte Abschnitt des Satzes, nach dem langsamen Mittelteil, ist eine einzige große Steigerung über mehr als fünf Minuten und bezieht auch Themen früherer Sätze ein – ein Triumph des Symphonikers Gawriil Popow!

Das Quartet Berlin-Tokyo wurde auf dieses Werk durch Boris Yoffe aufmerksam gemacht, der in seinem oben erwähnten Buch Popow ausführlich würdigt. Die Quartett-Symphonie wurde in der für sowjetische Komponisten im Allgemeinen schweren Zeit zwischen dem zweiten großen Scherbengericht (1948) und Stalins Tod (1953) komponiert. Zwar konnte Popow erreichen, dass das Werk bereits kurz nach seiner Vollendung uraufgeführt wurde, doch teilte es anschließend das Schicksal vieler anderer Kompositionen seines Autors und blieb jahrzehntelang unbeachtet – bis zur Ersteinspielung auf CD durch das Quartet Berlin-Tokyo, auf welche aufmerksam zu machen der Zweck des Konzerts im Berliner Konzerthaus war. Die Musiker haben sich während der von den Covid-19-Restriktionen geprägten Monate, als zwar Proben, aber keine Konzerte möglich waren, aufs Intensivste mit dem Stück auseinandergesetzt, es immer wieder gespielt, Aufnahmen davon gemacht und kritisch abgehört, sodass sie es sich schließlich voll und ganz zu eigen gemacht haben. Sie spielten das Werk, das gewiss nicht einfach zu meistern ist, mit einer Selbstverständlichkeit und erhabenen Leichtigkeit, die Staunen machte. Man hatte nicht mehr den Eindruck, als würden da mit Bögen und Fingern den Streichinstrumenten Töne abgewonnen: die Musik entstand im Hier und Jetzt wie von allein und entfaltete sich unaufhaltsam vom Anfang ausgehend in weitem Bogen hin zum Schluss. Wer an diesem Abend im Konzerthaus anwesend war, wurde einer großen Aufführung teilhaftig, wie man sie wahrlich nicht alle Tage erlebt! Glücklich das vergessene Werk, das so aus seinem Dornröschenschlaf wachgeküsst wird!

Das Quartet Berlin-Tokyo hinterließ übrigens nicht nur musikalisch einen hervorragenden Eindruck, sondern wirkte auch menschlich durch seine Kommunikation mit dem Publikum sympathisch. Bratschist Gregor Hrabar trat vor jeder Nummer des Programms nach vorn und sprach ein paar einleitende Worte zum jeweiligen Werk und zur Beziehung, die das Quartett zu ihm aufgebaut hat. Am Schluss gab es als Zugaben zwei kurze Stücke von Erwin Schulhoff und Alexander Glasunow (Orientale aus den Novelletten op. 15). Ersteres gehörte zu Schulhoffs Fünf Stücken für Streichquartett, die das Quartett auf der gleichen CD eingespielt hat wie Popows op. 61, und dies ebenso meisterlich, mit ebensolcher Hingabe. Die CD ist eine Eigenproduktion des Ensembles und unter dem Label „QBT Collection“ erschienen. Ausdrücklich sei hier auf sie hingewiesen, und damit der Wunsch verbunden, dass das Quartet Berlin-Tokyo die Musikwelt mit weiteren so gelungenen Aufführungen und Aufnahmen beehren möge.

[Norbert Florian Schuck, Juni 2022]