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Hoffnung, Versprechen, Gewissheit

Am 15. und 17. Dezember 2023 spielte das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich unter der Leitung von John Storgårds im Großen Musikvereinssaal Wien die Midnight Sun Variations der finnischen Komponistin Outi Tarkiainen, Ludwig van Beethovens Violinkonzert D-Dur op. 61 und Carl Nielsens Symphonie Nr. 5 op. 50. Als Violinsolist war Augustin Hadelich zu hören.

Die Welt ist voll mit hervorragenden Geigerinnen und Geigern, Virtuosen, die keine technische Schwierigkeiten kennen; Beherrscher ihres Instruments, wie es sie in dieser Zahl vielleicht noch nie gegeben hat. Jedoch gibt es in der absoluten Spitze, wo die technische Meisterschaft bereits allein im Dienst der Kunst steht, nur ganz wenige, die ein Werk nicht nur brillant darstellen können, sondern wirklich etwas zu sagen haben, hinter das Werk zurücktreten und ihr Instrument als Künstlerinnen und Künstler beherrschen.

Zu dieser außergewöhnlichen Kategorie gehört Augustin Hadelich, der in diesen Tagen, begleitet vom Niederösterreichischen Tonkünstlerorchester, in Wien mit dem Violinkonzert von Ludwig van Beethoven zu hören war – nach wie vor und für alle Zeiten das Konzert, mit dem man entweder den Olymp besteigt oder an ihm scheitert.

Sein phänomenales Spiel berechtigt zu jener seltenen Hoffnung, einmal wieder einen absoluten Geiger hören zu können, jemanden, der sich musikalisch und künstlerisch jenseits des Instrumentalen bewegt.

Fast war es also perfekt, doch fehlte die letzte und absolute Eindeutigkeit der Meisterschaft. Dies war zunächst, unabhängig vom Solisten, der Temponahme im ersten Satz geschuldet, und zwar nicht als Problem des musikalischen Pulses, sondern in seiner Organisation als Metrum: der Dirigent John Storgårds konnte oder wollte sich nicht entscheiden, ob er vier oder zwei schlagen sollte, vielmehr bevorzugte er es, sich frei dem jeweiligen musikalischen Augenblick anzupassen, die Kontinuität des Metrums damit einer gewissen instinktiven Willkür überlassend. Das entspricht eventuell einer modernen Ansicht des Dirigierens, ist im Ergebnis jedoch eine der Möglichkeiten, an der perfekten Balance eines Werkes wie dem Violinkonzert von Beethoven zu scheitern.

Details, die Zeit gebraucht hätten, um ihre vollkommene Schönheit zu entfalten, wie zum Beispiel der Pianissimo-Wendepunkt beim Einsatz der Trompeten am Ende der Durchführung, fielen diesem metrischen Mäandern zum Opfer. Hier muss leider auch bemerkt werden, dass dies, neben der typischen Routine und mutmaßlich mangelnden Probenzeit, die für ein Solokonzert grundsätzlich im Normalbetrieb vorgesehen ist, dazu führte, dass die ansonsten hervorragenden Tonkünstler ausgerechnet bei Beethoven ihr wirkliches Potenzial klanglicher und musikalischer Differenziertheit nicht entfalten konnten.

Der zweite Satz entbehrte dann in einer schönen Linearität leider des harmonischen In-die-Tiefe-Hörens und wurde so bereits am Beginn der Tiefe und einzigartigen Wirkung der frühen Erweiterung der harmonischen Perspektive beraubt, als es von G-Dur mit einem ganz kurzen Anklang von e-moll direkt auf den vermeintlichen Ruhepunkt auf Fis-Dur geht – weiter entfernt und scheinbar der Schwerkraft enthoben geht es kaum. Es ist dies ein Moment, dessen heute noch erhör- und erlebbaren Radikalität des seelischen Ausdrucks in dieser Aufführung nicht stattfand und dadurch nach nichts und wieder nichts klang: flach und ziellos, wie es eben passiert, wenn man nur auf die Melodie hört. Das innige Spiel des Solisten konnte das fehlende innere Momentum nicht mehr ausgleichen, die weiteren Töne und Klänge wurden nur noch schön aneinandergereiht anstatt zu einem Ganzen vereint.

Dem vollkommenen Gelingen des letzten Satzes stand dann ein etwas zu rasches Tempo im Wege, so dass die aus der erforderlichen inneren Ruhe entstehende Farbigkeit und Lebendigkeit des 6/8-Takts der geigerischen Brillanz geopfert wurde, was unter anderem dazu führte, dass die entwaffnend schöne Dialogstelle zwischen Fagotten und Solovioline zu vordergründig geriet und in ihrer Sensibilität nicht funktioniert hat.

Alles in allem hörenswert, teilweise beglückend, nur eben mit der leisen Einschränkung, dass Solist, Dirigent und Orchester letztlich im künstlerischen Konjunktiv blieben, letztere aufgrund von Routine und Augenblickswillkür; ersterer, künstlerisch auf diese Weise von letzteren unmerklich gebremst.

Denn alle in allem nur latent erscheinende Ungehörtheiten und Unbedachtsamkeiten summierten sich in ihrer Wirkung, so dass das Publikum für jetzt nur die Gewissheit eines großen Versprechens hören konnte, das nicht deutlich genug betont werden kann: Augustin Hadelich ist in der Tat als ein wunderbarer, technisch überwältigend makelloser Geiger eine wirklich große Hoffnung auf eine Form von künstlerischer Reife, wie man ihr nur selten, und in der jüngeren Vergangenheit kaum, begegnet. Sein Wachsen wird sich fortsetzen und noch wunderbare Früchte tragen.

Der Konzertnachmittag wurde ansonsten eingerahmt von zwei in Wien selten zu hörenden Werken, eröffnet von den „Midnight Sun Variations“ von Outi Tarkiainen, uraufgefürt 2019, sowie der 5. Symphonie von Carl Nielsen.

Das Werk von Outi Tarkianen besticht durch klare Formgebung und sehr differenzierte und klarer Instrumentation. Es will nicht, was es nicht kann, und kann oder will auch nicht den Einfluss des finnischen Übervaters Jean Sibelius verleugnen, man könnte sogar sagen, dass die Komponistin im Sinne der Tonmalerei und pastoralen Adaption der fernen nordischen Welten ihm Reverenz erweisend eine legitime Nachfolgerin des Meisters ist. Und schon Ravel empfahl einst einem jungen Komponisten, sich in der Imitation eines Vorbilds zu üben, da nur in der unbewussten Abweichung vom Original zu hören sei, ob der junge Komponist etwas zu sagen habe. Dies ist bei Tarkianen zweifellos der Fall, womit zu hoffen ist, dass es auch in Wien möglich sein wird, die weitere vielversprechende Entwicklung dieser Komponistin mitverfolgen zu können.

Die kraft- und effektvolle 5. Symphonie von Carl Nielsen entfaltete nach der Pause ein eindrückliches Psychogramm einer Zerissenheit zwischen ebenfalls pastoraler Stimmung und einer traumatisierenden Störung dieses Idylls. Auffallend ist, wie Nielsen einige motivische Details bis zur Redundanz repetiert, es im Ganzen jedoch im ersten Satz trotzdem schafft, zu einer geschlossenen Form zu finden. Der zweite Satz bleibt leider hinter dieser Geschlossenheit zurück und hinterlässt die Frage, ob er der Form entbehrt, oder, was wahrscheinlicher ist, ob die Aufführenden nur nicht in der Lage waren, diese entstehen zu lassen. Nielsen konnte hier, jedenfalls nach diesem Höreindruck, nicht an den großen Wurf seiner 4. Symphonie anknüpfen, sondern unterwirft sich hier unter Inkaufnahme der Gefahr, dieses Werk der Zeitlosigkeit zu entziehen, einer Ästhetik, die nicht immer die seine zu sein scheint.

Der Dirigent John Storgårds war nun aber in seinem Element und brachte das hier furios aufspielende Niederösterreichische Tonkünstlerorchester zur orchestralen Exzellenz.

[Jacques W. Gebest, Dezember 2023]

Nur solides Mittelfeld: Fabio Luisis Nielsen-Zyklus

DG 486 3471 (3CD); EAN: 0028948634712

Der Italiener Fabio Luisi leitet das Danish National Symphony Orchestra seit 2017 und hat nun mit diesem seit jeher eng dem Werk Carl Nielsens verpflichteten Klangkörper einen neuen Zyklus von dessen sechs Symphonien auf Deutsche Grammophon eingespielt. Die Vokalisen in der „Sinfonia espansiva“ gestalten Fatma Said und Palle Knudsen. Kann die neue Box unter den mittlerweile zahlreichen Gesamtaufnahmen bestehen?

Von den im Zeitraum von 1892 bis 1925 entstandenen sechs Symphonien Carl Nielsens (1865–1931) brauchte selbst die berühmteste – Nr. 4 „Das Unauslöschliche“ – sehr lange, bis sie halbwegs ins feste, internationale Repertoire gefunden hat. Erst seit wenigen Jahren spielen selbst engagierte studentische Orchester dieses anspruchsvolle Werk. Dennoch setzen es auch die großen Profi-Institutionen nicht wirklich häufig auf ihre Programme – von den übrigen fünf Symphonien des dänischen Meisters, die sämtlich mit außergewöhnlichen Qualitäten aufwarten können, ganz zu schweigen. Dass Herbert von Karajan 1981 die Vierte mit den Berlinern für DG – sehr schön – eingespielt, aber praktisch nie im Konzert aufgeführt hat, spricht für sich.

Trotzdem existieren mittlerweile gut 20 Gesamtaufnahmen der 6 Nielsen-Symphonien, alleine vier mit dem Danish National Symphony Orchestra (identisch mit dem Dänischen Rundfunk-Symphonieorchester – DRSO). Deren erste aus den 1950er Jahren wurde noch von verschiedenen Dirigenten gestemmt (Erik Tuxen, Thomas Jensen und Launy Grøndahl), später folgten Zyklen mit Herbert Blomstedt (1975, EMI) und Michael Schønwandt (1999–2000, Danacord). Begonnen 2019, kurz vor dem Corona-Ausbruch, wollte man dann wohl auch dem seit 2017 amtierenden italienischen Chefdirigenten Fabio Luisi die Gelegenheit geben, sich mit diesen höchst individuellen Werken auseinanderzusetzen.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Das Ergebnis fällt sehr uneinheitlich aus. Betrachtet man die Spielkultur des DRSO, so ist es eigentlich selbstverständlich, dass in den bald 50 Jahren seit Blomstedts EMI-Aufnahme die technische Qualität nochmals hörbar gewachsen ist. Und natürlich kennt das Orchester alle Symphonien Nielsens wahrscheinlich besser als jeder Dirigent: Sie gehören definitiv zu dessen Aushängeschildern.

Blomstedt hat dann Ende der 1980er mit der San Francisco Symphony eine der bis heute maßstabsetzenden Einspielungen präsentiert (Decca). Gerade bei diesem Vergleich – seine Kopenhagener ‚Box‘ wurde kürzlich wieder von Erato als Streaming-Version aufgelegt – erkennt man, inwieweit selbst ein hochgradig befähigter Dirigent an diesem Repertoire noch wachsen kann – und muss! Etwa auf diesem Level bewegte sich auch Schønwandts Lesart: klar, unprätentiös, ohne „Macken“ oder persönliche Eitelkeiten – das DRSO zelebrierte Nielsens Musik dabei makellos.

Vielleicht überraschend, dass gerade berufene Sibelius-Interpreten wie Paavo Berglund (unterkühlt), Colin Davis (völlig überhetzt und oberflächlich) oder John Storgårds (langweilig) Nielsens Symphonik überhaupt nicht gerecht wurden. Bei Fabio Luisi wäre man geneigt, anzunehmen, dass Nielsen seinen Repertoire-Vorlieben – man denke an die guten Franz Schmidt Einspielungen – entgegenkommen sollte. Nielsen hingegen verweigert sich jeglichen Profilierungsneurosen: Wenn ein Dirigent versucht, diese Musik zu „pushen“, rächt sich das ausnahmslos. Manches wirkt so sofort geschwollen, gewollt; der Charakter eines Satzes leidet schon unter geringen „aufgesetzten“ Tempomodifikationen, beträfen die das Grundzeitmaß oder zu auffällige agogische Freiheiten.

Zunächst das Positive: Abgesehen von der – wie bei Schønwandt – durchgehend souveränen Orchesterleistung, gelingen Luisi einige Sätze rundum zufriedenstellend: Dazu zählt – bis auf den eindeutig zu flotten 3. Satz, der eher Brahmssche Intermezzo-Qualitäten haben könnte – die 1. Symphonie; diese bereits ein toller Gattungsbeitrag. In der 2. Symphonie Die 4 Temperamente verlangt ja der Titel verbatim nach sehr klar modellierten „Charakterzügen“; der Choleriker zu Beginn wird noch gut getroffen. Der Phlegmatiker ist analog zum „Scherzo“ – Nielsen verwendet den Begriff nie – der Ersten zu hastig. Der melancholische dritte Satz wird dafür ein wenig zu breitgetreten, der Höhepunkt übertrieben. Das Finale geht ziemlich schief und der Sanguiniker kommt plump wie ein Dorftrottel daher: Undifferenziert rammt Luisi den Hauptrhythmus in den Boden. Blomstedt (Decca) oder Sakari Oramo (BIS) demonstrieren, welch tänzerische Offenbarungen hier stattfinden könnten.

Wie zuvor versteht Luisi auch in der Sinfonia espansiva (Nr. 3) zumindest einen Satz gar nicht – wiederum das Finale. Zu breit, zu laut: Der ganze Hymnus bläht sich so unehrlich auf. Das können die überaus ansprechenden, freilich marginalen Vokalisen im zweiten Satz – mit der fantastischen Fatma Said und Palle Knudsen – nicht aufwiegen. Sehr gut funktionieren die ersten drei Sätze der durchgehenden Unauslöschlichen – organisch im Aufbau und prägnanter als im Rest werden Sinn und Zweck der verschiedenen Themen klar. Das Finale mit seinem berühmten Paukenduell – das nur oberflächlich an Artillerie des Ersten Weltkriegs erinnern soll – nimmt Luisi für den Geschmack des Rezensenten um Einiges zu schnell. Karajan liegt hier goldrichtig; ein Übermaß an äußerlicher Virtuosität dient dem anschaulich vorgetragenen „Lebenskampf“ nicht wirklich. Unerträglich dann wieder Luisis völlig aus dem Ruder laufende Verbreiterung ganz zum Schluss – da übertrieb allerdings selbst der bekanntlich bescheidene Herbert Blomstedt.

Die beiden letzten Symphonien Nielsens aus den 1920ern sind tatsächlich wesentlich moderner: Der Komponist geht damit viel weiter als der gleichaltrige, freilich zu dieser Zeit weitgehend verstummte Jean Sibelius. Die geheimnisvollen wie irritierenden Klangflächen bzw. Ostinati zu Beginn der Fünften erscheinen etwa bei Blomstedt wie der Zaubertrank des Miraculix – unverzichtbare Ingredienzien eines starken, zugleich ambivalenten Mysteriums. Bei Luisi sind das eher Störfelder, die es zu übertünchen gilt. Kontrapunktische Abschnitte werden zwar durchsichtig, jedoch der wieder hymnische Schlussteil – durchaus mit Anspielungen an die Vierte – zu schreierisch, im Detail nicht annähernd ausbalanciert.

Die zunächst sehr verstörende 6. Symphonie – nichts ist da „semplice“ – mit ihren eigentümlichen, hohen Schlagwerkakzenten wirkt bei Luisi zwiegespalten. Nach einem schönen Kopfsatz kommt die Humoreske schon ordentlich schräg daher, was sie ja zweifellos ist; echten Humor sucht man dabei leider vergebens. Dasselbe gilt für den Variationssatz, vor allem erneut für dessen künstlich aufgepumpten Schluss. Insgesamt enttäuscht in Luisis Darbietungen eine deutlich zu pauschale Dynamik: Die Bläser überdecken sehr häufig die Streicher und alles ist über Strecken schlicht zu laut. Hier schaffen mehrere Kollegen einen konsequenteren Aufbau der Klangschichtungen.

Aufnahmetechnisch kommt die DG-Veröffentlichung zwar bei Weitem nicht an Oramos klanglich sensationelle drei BIS-SACDs heran, ist trotzdem ordentlich. Nur gibt es grenzwertig viel Hall, wodurch natürlich einige laute und komplexe Stellen etwas matschig und verschwommen ankommen. Der Rezensent fragt sich, ob DG mit der Abmischung von Dolby Atmos® Produktionen in simples Stereo noch generell Probleme hat: Besonders negativ fiel dies z. B. bei Richard Strauss‘ Orchesterwerken unter Andris Nelsons auf.

Fazit: Luisis Dirigate stellen keinen Fortschritt zur Schønwandt-Aufnahme des DRSO – mittlerweile in Lizenz bei Naxos erhältlich – dar: Der Maestro steht des Öfteren der Musik im Wege. Das Orchester setzt selbstverständlich bravourös Luisis Ideen um; die stören allerdings eher, als dass sie bestimmte Aspekte von Nielsens Symphonik klarstellen oder glaubwürdig unterstreichen würden. Im DG-Katalog ergibt sich so immerhin ein gewichtiges Upgrade zur ziemlich missratenen Gesamtaufnahme Neeme Järvis, die mit ganz heißer Nadel gestrickt war – Turbo ohne Sinn und Verstand. Blomstedts zweiter Zyklus aus San Francisco bildete offensichtlich in seiner durchdachten Profiliertheit den Nährboden für aktuellere, sehr gelungene Neueinspielungen. Neben Schønwandt bleiben dies insbesondere die Dacapo-Produktion mit New York Philharmonic unter Alan Gilbert sowie Sakari Oramos aufnahmetechnisch gleichermaßen absolut konkurrenzloser Zyklus aus Stockholm.

Vergleichsaufnahmen: San Francisco Symphony, Herbert Blomstedt (Decca 460 985-2 & 460 988-2, 1987-89); Göteborgs Symfoniker, Neeme Järvi (DG 00289 477 5514, 1990–92); Danish National Symphony Orchestra, Michael Schønwandt (Naxos 8.570737-39 [3 Einzel-CDs], 1999–2000); New York Philharmonic, Alan Gilbert (Dacapo 6.200003, 2011–14); Royal Stockholm Philharmonic Orchestra, Sakari Oramo (BIS-2028, BIS-2048 & BIS-2128, 2012–14) – [Nr. 4] Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan (DG 445-518, 1981)

[Martin Blaumeiser, August 2023]

Antonio Pappanos erster Auftritt in der Isarphilharmonie

Sir Antonio Pappano trat an drei Abenden (17.–19.2.2022) zum ersten Mal mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in der neuen Isarphilharmonie auf. Auf dem Programm standen Dvořáks Othello-Ouvertüre op. 93, Liszts Klavierkonzert Nr. 1 Es-Dur mit Yuja Wang sowie Nielsens 4. Symphonie „Das Unauslöschliche“. Die Rezension bezieht sich auf das dritte Konzert vom Samstag, 19.2.2022.

Yuja Wang und Sir Antonio Pappano; Konzertfoto vom 17.2.2022 © Astrid Ackermann

Wohl aus organisatorischen Gründen hatte sich der Bayerische Rundfunk entschieden, nach einer erneuten, coronabedingten Zwangspause bis Ende Februar bei 50% Saalauslastung – erlaubt wären bereits 75% – zu bleiben. Unter dieser Prämisse schienen die Konzerte mit Antonio Pappano ihr Publikum gefunden zu haben – vielleicht gerade wegen der chinesischen Starpianistin Yuja Wang, die zwar in München schon öfter mit den Philharmonikern zu hören war, tatsächlich beim BRSO mit diesem Programm debütierte.

Der charmante, irgendwie immer noch jugendlich erscheinende Musikdirektor des Royal Opera House (Covent Garden) in London beginnt mit der mittlerweile selten aufgeführten, knapp viertelstündigen Konzertouvertüre Othello von Antonín Dvořák– nicht nur von der Länge her fast eine symphonische Dichtung. Pappano ist musikalisch ein Ästhet; handwerklich – auch er dirigiert neuerdings ohne Taktstock – sowieso. So erklingt bei ihm der Beginn weich und innig, dabei immer hochpräzise. Für den Rezensenten ist dies der zweite Besuch in der Isarphilharmonie – diesmal eher im Zentrum (Reihe 10) des Geschehens. Die Streicher wirken hier einerseits homogener, dabei zugleich körperlicher als am Rosenheimer Platz. Dass Solostellen ebenso unmittelbar ankommen, kann man später am Abend bei Nielsen hören. Dvořák hat den Bezug zum Shakespeare-Drama erst nachträglich gewählt; ursprünglich sollten die drei Ouvertüren opp. 91–93 eine Naturtrilogie bilden. Der Hörer darf daher keinerlei bildhafte Assoziationen, etwa zum Meer, Venedig oder dergleichen erwarten. Zum von den Holzbläsern herrlich vorgetragenen „Natur-Motiv“ stehen kontrastierend scharfkantige Streichereinwürfe für – hier durch Othello personifizierte – zerstörerische Kräfte, die dann das Hauptmotiv des Allegro con brio in Sonatenform generieren. Viele Ideen der Ouvertüre finden sich wenig später in der 9. Symphonie – so der Paukenwirbel unmittelbar vor dem schnellen Teil – und in Rusalka wieder. Die Steigerungswellen geraten Pappano stets sehr natürlich, durchaus energisch, aber eben ohne jeden zusätzlichen „Drücker“; beim fulminanten Schluss legt er nicht derartig den Turbo ein wie Kubelik in seiner Aufnahme. Dennoch dürfte die Dynamik gerade bei Decrescendi noch differenzierter sein.

Yuja Wang – heute im knallroten Kleid und nach der Laser-OP erstmals ohne Brille – spielt Franz Liszts Klavierkonzert Nr. 1 die ganze Zeit quasi mit geschlossenen Augen; ihrer perfekten Treffsicherheit tut das keinen Abbruch. Wie man mit derart hohen Pumps die Pedale so kultiviert bedienen kann, bleibt hingegen dem männlichen Publikum völlig schleierhaft. Mit ihren absolut überragenden technischen Fähigkeiten ist Liszt für die Pianistin kein großes Ding. Wie gestaltet sie nun dieses Standardkonzert? Dezidiert und mit geradezu männlicher Wucht und Riesen-Dynamik erscheint bereits die Fortsetzung des Hauptthemas wie ein direkter Schlagabtausch mit dem Orchester – den Wang bei seiner Wiederkehr vor dem Allegro marziale animato nochmals steigern kann. Wo immer möglich agiert sie jedoch gesanglich, klanglich dabei etwas zu trocken. Aber leider wird auch einiges regelrecht verschenkt, wodurch der ganze erste Abschnitt wie eine Einleitung wirkt: aber zu was? Überzeugend gelingt Wang das große Solo im Quasi Adagio, als sei es improvisiert – ganz im Sinne Liszts; kontrastierend dazu die Recitativo-Einwürfe als Realitäts-Schock. Dass von der oft belächelten Triangel im Scherzo-Abschnitt, obwohl von Pappano vorne in den Streichern platziert, wenig zu hören ist, irritiert ziemlich, mag aber der Sitzposition des Rezensenten direkt hinter dem geöffneten Klavierdeckel geschuldet sein. Der Dirigent hat hier nicht mehr zu tun, als sensibel zu begleiten; das ginge durchaus präziser. Das Orchester läuft bei Yuja Wang zum Glück nie Gefahr, sie zuzudecken. Die heutige Darbietung bleibt so eine Shownummer, die den Hörer zwar packt, es jedoch an echter Tiefe fehlen lässt. Dass es bei Liszt zudem verstörend dunkle Seiten gibt, hat z.B. Martha Argerich regelmäßig gezeigt; davon will Yuja Wang – noch? – nichts wissen. Frenetischer Applaus für die Pianistin, die sich mit zwei aberwitzigen Zugaben bedankt.

Carl Nielsens (1865–1931) 4. Symphonie ist ein in Deutschland leider immer noch unterschätztes Meisterwerk. Der Däne begann mit der Komposition bereits kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, und der Titel Das Unauslöschliche – gemeint ist der Überlebenswille der Natur und des Menschen – stand wohl ebenfalls sofort fest. In der Einführung wies Antonio Pappano bei seinem empathischen Plädoyer für das Stück auf Gemeinsamkeiten mit Liszt – etwa die Integration der Viersätzigkeit in eine große Bogenform – sowie Mahler (Naturmystik) hin. Natürlich ist diese Musik bereits „moderner“ als die des gleichaltrigen Jean Sibelius, allerdings geht Maestro Pappano der unmittelbare, bewusst chaotische Beginn der Symphonie ganz schön in die Hose. Zwar trifft der Hörer hier auf gegenstrebige Materialien; so ungeordnet wie hier ist das aber keineswegs gedacht; bereits ab Ziffer [2] könnte die Musik strukturierter erklingen als an diesem Abend. Das eigentliche Hauptthema des ganzen Werkes – wie bei Dvořák ein „Naturmotiv“ zunächst im Holz – kommt dadurch fast wie aus einer anderen Welt. Immer wieder fordert Pappano vom Orchester – beim kleinsten Detail ist er bei den entsprechenden Spielern – höchste Emotionalität; und das Orchester liefert! Ein Kabinettstückchen für die Holzbläser ist das idyllische Poco allegretto; die von harten Akzenten gestörte, breite Streicherlinie des Poco adagio quasi andante geht in der Isarphilharmonie durch Mark und Bein. Wer die Symphonie bereits kennt, wartet freilich auf das phänomenale Paukenduell im Finale – ein absolutes Novum der zeitgenössischen Symphonik. Ob hier wirklich – in Stereo! – realistisch an Artilleriefeuer erinnert werden soll, oder die Musik mahnend die emotionalen Schrecken des Krieges reflektiert: Diese Stelle wird jedem Hörer auch optisch im Gedächtnis bleiben; für die beiden Pauker des BRSO natürlich eine Paradenummer. Am Ende siegt das Naturthema als triumphale Hymne. Pappano hat sich samt dem ihm bis an die energetischen Grenzen folgenden Orchester ziemlich verausgabt und Nielsens großartige Symphonie dem begeisterten Publikum eine Spur zu direkt nahegebracht. Nach Stenhammar mit Blomstedt – der Nielsen noch um einiges besser draufhätte – ein weiterer Beweis für die Qualität nordischer Musik. Da gibt’s noch mehr!

[Martin Blaumeiser, 20. Februar 2022]

Der goldene Klang

Ondine, ODE 1340-2; EAN: 0 761195 134023

Clara Andrada widmet sich tonalen Flötenkonzerten des 20. Jahrhunderts. Gemeinsam mit der Frankfurt Radio Symphony unter Jaime Martín spielt sie für Ondine die Gattungsbeiträge von Carl Nielsen (1926), Jacques Ibert (1934) und Malcolm Arnold (1954) ein.

Der zarte, eloquente und unfassbar lyrische Ton, den die Flöte innehat, ist Fluch und Segen zugleich. Kein anderes Instrument kann derart überirdische Klänge erzeugen und ohne jede Härte den Hörer direkt ansprechen, bis in dessen Innerstes vordringen. Doch ebenso stören sich viele Komponisten eben am Mangel der Härte und der Unnachgiebigkeit, wie sie eine Geige charakterisiert. Spätestens die französischen Flötensoli um die Jahrhundertwende, namentlich Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune, festigten dieses Bild; und es fällt auf, dass es außerhalb Frankreichs erstaunlich wenige Flötenkonzerte gibt, besonders im direkten Vergleich zu den Violinkonzerten.

Dass dieses Bild der Flöte als Solist nicht der Wahrheit entspricht, beweist Clara Andrada auf ihrer neuesten CD mit Flötenkonzerten von Nielsen, Ibert und Arnold. Natürlich besticht die schwebende Zärtlichkeit der cantabile-Linien, doch ebenso kann Andrada ihr Spiel intensivieren und in rhythmisch aufstachelnden Passagen auch finsteren Tönen frönen. Hier erleben wir, wie dicht Flötenspiel doch sein kann, wenn sich die Flötistin eben nicht in den reinen Klang verliebt, sondern auch dessen Gegenstück erforscht. So gelingt Andrada ein kontrastreiches und beredtes Spiel, dass immer wieder durch schnelle Wechsel Aufsehen erregt. Gerade bei Nielsen kommen die dunklen Sphären gut zum Vorschein, sein Flötenkonzert nimmt vor allem im Kopfsatz symphonischen Charakter an und wallt die orchestralen Mächte gegen das Solistenpult auf. Ibert lässt zwar noch die Unbekümmertheit der französischen Schule zu, sucht aber ebenfalls bereits nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten und beruft sich auf das leidenschaftliche Spiel, das er in Italien kennenlernte. Der heute in erster Linie als Oskar-gekrönter Filmmusikkomponist bekannte Malcolm Arnold (der überdies übrigens neun beachtliche Symphonien, zwanzig Solokonzerte und Kammermusik verfasste) beruft sich auf die Tonalität, bringt innerhalb der gefestigten Bahnen durch ‚filmische‘ Dur-Moll-Wechsel und rhythmische Finesse Würze in seine Musik – im Ohr bleibt vor allem der Bolero-Rhythmus des Kopfsatzes und der Wirbelwind des Finals. Der Frankfurt Radio Symphony gelingt es, den schmalen Grad zu finden zwischen Zurückhaltung gegenüber der Solistin und Aufbegehren zugunsten symphonischer Wucht der Orchesterstimmen. Unter Jaime Martín branden die orchestralen Kräfte enorm auf und erreichen große Plastizität, ohne dabei die Flöte klanglich zu erdrücken. Das Konzert Arnolds leitet Andrada selbst und präzisiert den Rhythmus der Streicher, was lebendigen Witz und Charme evoziert.

[Oliver Fraenzke, Februar 2020]

Musikalische Kostbarkeiten

Konzert mit der Kammerphilharmonie dacapo am 5. Juli 2019 im Künstlerhaus

Werke von Mozart (1756-1791), Weber (1786-1826), Grieg (1843-1907) und Nielsen (1865-1931); Klarinette: Sofia Molchanova; Leitung: Franz Schottky

Nach der Ouvertüre zu Mozarts Don Giovanni in der Fassung für Streichorchester von einem Komponisten namens Joseph Küffner (1776-1856) mit dem die Kammerphilharmonie dacapo das Konzert eröffnete, folgte das Hauptwerk des Abends, Carl Maria von Webers Klarinettenquintett in Bb Dur op. 34 mit der Solistin Sofija Molchanova und wiederum in der Fassung für Streichorchester. Die vier Sätze zeigten die unglaublichen Möglichkeiten dieses Instrumentes, vor allem, wenn es so überzeugend mit Leib und Seele alle Facetten ausleuchtend gespielt wird wie von Sofija Molchanova! Und dazu so kongenial begleitet von den Streichern der Kammerphilharmonie! Richard Wagner schätzte Webers Musik so hoch, dass er nach dessen Tod ein Chorwerk zu dessen Begräbnis schrieb. In diesem Quintett öffnet Weber das Schatzkästlein seiner Meisterschaft, sowohl von der Melodik als auch von der Dramatik her, genauso wie auch die tiefste elegische Seite seines Wesens zum Vorschein kommt. Die vier Sätze sind höchst vergnügliche tiefgreifende Musik, kein Wunder, dass Solistin und Orchester samt Dirigenten mit Beifall überschüttet wurden. Als Zugabe spielte sie uns einen fantasievollen Tanz aus ihrer serbischen Heimat.

Nach der Pause – Franz Schottky vergaß nicht, Sponsoren des Orchesters zu erwähnen – erklang noch einmal Musik von Mozart: das Divertimento in C KV 157. Es ist auch in Form für Streichorchester überliefert, also sehr passend für die Kammerphilharmonie. Die größere Überraschung waren allerdings die beiden folgenden Stücke von Edvard Grieg, die in ihrer melancholischen spätromantischen und doch schon in die Moderne weisenden Klangsprache dem Orchester die berückendsten Klangfarben und die ausgeprägteste Dynamik abverlangte. Vom fahlen Pianississimo bis zum Fortississmo- Ausbruch zogen die elegischen Klänge die Zuhörer in ein intensives und faszinierendes Musikgeschehen. Zum Anschluss eine typisch dacapo mäßige Entdeckung: Die Little Suite op. 1 vom dänischen Komponisten Carl Nielsen. Die drei kunstvoll komponierten Sätze sind eine Meisterleistung und zeigten zum wiederholten Mal die Musiker in Höchstform. Sie spielten mit Leib und Seele, jede Instrumental-Gruppe intensiv auf die anderen hörend und besonders herausheben möchte ich da die Bassgruppe der beiden Cellistinnen und den jungen Kontrabassisten, die für das unerlässliche Fundament sorgen. Über dem sich der ganze Reiz der tänzerischen Melodien und der rhythmischen Finessen der übrigen Mitspielerinnen und Mitspieler wunderbar entfalten konnte. Franz Schottky führte an diesem Abend „sein“ Orchester mit untrüglichem Gespür für Klang, Zusammenspiel und dem richtigen atmenden Tempo von einer musikalischen Kostbarkeit zur nächsten! Rauschender Beifall, Blumen, die er galant an die entsprechenden Damen der Kammerphilharmonie weiterreichte.

[Ulrich Hermann, Juli 2019]

Vom Staub zu den Schwänen

Unter John Storgårds spielen die Münchner Philharmoniker am 27. und 28. Februar sowie am 1. März 2019 Orchesterwerke aus dem Norden. Für The New Listener besuche ich das Konzert am 28. und höre dort die beiden Suiten aus Peer Gynt op. 46 und op. 55 von Edvard Grieg, das Violinkonzert op. 33 von Carl Nielsen mit der Solistin Baiba Skride sowie die Symphonie Nr. 5 Es-Dur op. 82 von Jean Sibelius.

Als Gastdirigent und Violinsolist mit dem Münchner Kammerorchester machte sich John Storgårds bereits einen Namen hier in München. Nun dirigiert er die Münchner Philharmoniker mit einem rein nordischen Programm. Zu Beginn beider Konzerthälften erklingt je eine der Suiten aus Peer Gynt von Edvard Grieg, die zum größten Teil mit viel Liebe zum Detail erarbeitet wurden. John Storgårds setzt die je vier Stücke nicht lose nebeneinander, sondern schafft einen dramaturgischen Bogen, der in der ersten Suite deutlich zwischen den voll orchestrierten Randsätzen und den rein mit Streichern besetzten Mittelsätzen kontrastiert, in der zweiten Suite immer weiter kulminiert bis zum fulminanten Sturm, wonach die Musik zu Solveigs Sang verebbt. Ausgerechnet das rein für Streichorchester gesetzte Stück Åses Død stellt den einzigen Tiefpunkt der Aufführung dar: Es fehlen dynamische Kontraste und ein facettenreiches Pianissimo, zudem ist der Streicherklang zu weich und friedvoll. Hier wünsche ich mir dieses ur-nordischen Timbre der Streicher her, wie es Juha Kangas mit seinem Ostrobothnian Chamber Orchestra perfektioniert hat und das auch Storgårds den Streichern des Lapland Chamber Orchestras entlockt; in Ermangelung dessen bei den Philharmonikern zieht John Storgårds das Tempo an und versucht dadurch, die unpassende Reinheit des Klangs zu überspielen. Überzeugen können dafür die Kontraste in Bruderovet und die kontinuierliche Steigerung in I Dovregubbens Hall. Mitreißend gestaltet sich auch der bildhaft dargebotene Sturm von Peer Gynts Hjemfart, auch wenn bedauernswerterweise das letzte Aufbegehren der Holzbläser etwas untergeht.

Das groß angelegte Violinkonzert von Carl Nielsen gilt nach wie vor als Rarität in den großen Hallen, obgleich einige prominente Violinisten sich für dieses Stück eingesetzt haben. Das Stück besticht durch seine eigenwillige Form, die gleichsam sperrig wie auch faszinierend ist. Bei diesem Virtuosenkonzert steht das Orchester im Hintergrund, wird zum Impulsgeber degradiert und erhält kaum eine themengebende Funktion, ist allgemein selten ohne die Solovioline zu hören. Den Solisten jagt Nielsen dafür durch fünf kadenzartige Abschnitte, ihm überlässt der Komponist auch die meisten Themen und deren reiche Verarbeitungen und Variationen. Trotz zahlreicher Ornamentik und Figurationen gehen die Themen ins Ohr und der Hörer kann die allmähliche Transformation der Keimzellen gut mitverfolgen. Baiba Skride meistert den hoch anspruchsvollen Solopart scheinbar mühelos, obgleich sie in den kurzen Orchesterzwischenspielen doch froh um die Pause scheint: was wir aber nur sehen und nicht hören! Selbst in den wildesten Passagen verliert Skride nicht den thematischen (und auch nicht den harmonischen) Überbau aus dem Auge, wodurch sie den Hörer im Mitverfolgen der Musik unterstützt. Das Orchester ordnet sich ihr unter und hält seine Mittel zurück, um sie nicht zu übertönen, greift dennoch ihre Impulse gekonnt auf und setzt sie um.

Zum Abschluss erklingt die grandiose Symphonie Nr. 5 von Jean Sibelius, die durch ihr „Schwanen-Thema“ einen festen Platz in den Konzertprogrammen gefunden hat. Hier wurde besonders intensiv geprobt, wie man schnell erkennt: Die Keimzellen fließen ineinander über, man kann dem Thema förmlich beim Entstehen zuhören und auch sein Zerfasern aktiv miterleben. John Storgårds fürchtet sich nicht vor den teils grellen Dissonanzen in dieser Symphonie, die von anderen Dirigenten nach Möglichkeit entschärft werden: nein, heute erhalten sie besonderen Nachdruck und verleihen der Symphonie sogar erst ihre besondere Würze. Ohne übermäßige Effekthascherei hält Storgårds selbst den Mittelsatz formal zusammen und führt das Orchester unbeschwert hinüber in das Finale, welches durch extreme Kontraste und die zwei unvergesslichen Themen sowie ihr Ineinander-Übergehen überragt. Die Sonne scheint aufzugehen, wenn sich das Schwanen-Thema langsam aus der Hülle der energischen Streichermotive schält und die Musik in ungeahnte Höhen transzendiert: Vom Staub zu den Schwänen.

Am Kalevala-Tag, dem Tag der finnischen Kultur, dieses Monumentalwerk hier in München zu erleben und darüber hinaus in solch einer ausgeklügelten und inspirierten Darbietung der Münchner Philharmoniker unter John Storgårds, das hat etwas Erhebendes.

[Oliver Fraenzke, März 2019]

Routiniert polierte Perfektion

Orchid Classics, EAN: 5060189560790, Kat.-Nr.: ORC100079

Carl Nielsen, Erich Wolfgang Korngold: Violinkonzerte; Odense Symphony Orchestra, Kristiina Poska (Leitung), Jiyoon Lee (Violine)

Empfehlenswert ist dieses Album vor allem wegen seines erlesenen Repertoires: Mit Erich Wolfgang Korngolds und Carl Nielsens jeweils einzigen Violinkonzerten stehen hier zwei ausgesprochen interessante Konzerte aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Fokus. Korngolds herrlich komplexes, dabei üppig und mit allen Finessen orchestriertes Violinkonzert ist dazu äußerst selten auf Tonträger zu hören und macht mit Nielsens nach wie vor aufregendem Konzertboliden auch eine großartige Figur.

Beide Werke sind auf dem vorliegenden Album der britischen Edel-Schmiede Orchid Classics dazu in einer äußerst ansprechenden Aufnahme eingefangen worden, die in den Aspekten Spieltechnik, Aufnahmeklang und Poliertheit kaum Wünsche offenlässt.

Das bedeutet aber im Umkehrschluss auch, dass man eben nicht mit Ecken und Kanten, Persönlichkeit und neuen Erkenntnissen rechnen sollte. Auf geradezu frappierende Weise regiert hier die vollständige Routine: Jiyoon Lee, eine technisch perfekte Violinistin, trifft auf ein technisch perfektes Sinfonieorchester aus Odense, denkbar routiniert dirigiert von Kristiina Poska, die sicherlich eine notengetreue Wiedergabe der Partitur erreicht: aber auf eine so polierte, goldglänzende Weise, dass die ganze Angelegenheit eher wirkt wie ein prêt-à-porter-Schaulaufen.

Sowohl von Korngold als auch von Nielsen gibt es weitaus charaktervollere Aufnahmen, die auch die Abgründe und Extasen beider Konzerte ausloten und in Grenzbereiche vorstoßen, die erst den Wert von Kunst, gerade von solch spätromantischer, harmonisch gewagter, ausmachen. Für Nielsen empfehle ich deshalb nach wie vor die Einspielung der Göteborger Sinfoniker unter Myung-Whun Chung bei BIS mit dem zeitlos unterschätzten Geiger Dong-Suk Kang, während ich für Korngold eine ebenso uneingeschränkte Empfehlung für die Einspielung des Colburn Orchestra unter der Leitung Sir Neville Marriners mit dem jungen Nigel Armstrong ausspreche, erschienen bei Yarlung.

[Grete Catus, Juni 2018]

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Eine außergewöhnliche Ausgrabung

Naxos, 8.573738; EAN: 7 47313 37387 1

Die große Ehre der Weltersteinspielung des Violinkonzerts Op. 28 von Johan Halvorsen (1907-8) gestattet sich Henning Kraggerud zusammen mit dem Malmö Symphony Orchestra unter Bjarte Engeset. Zudem spielt Kraggerud das Violinkonzert Op. 33 von Carl Nielsen und die Romanze von Johan Svendsen; die CD erschien bei Naxos.

Anhänger der nördlichen Musik warteten sehnlichst auf vorliegende Aufnahme, die ein Stück vergessen geglaubte Kultur Norwegens zu uns zurückbringt. 2015 wurde das scheinbar verlorene Musikwerk in Toronto wiederentdeckt: das Violinkonzert Op. 28 von Johan Halvorsen (1864-1935). Halvorsen ist heute lediglich durch seine Passacaglia über ein Thema von Händel berühmt, welche eine beliebte Zugabe darstellt, doch er ist auch Autor dreier überragenden Symphonien und anderer Orchesterwerke wie unter anderem zwei Norwegischen Rhapsodien sowie einer Vielzahl Klavier- und Violinkompositionen. Er galt zu seiner Zeit als einer der bedeutendsten Dirigenten Norwegens und auch als ausgezeichneter Violinist, so dass sein Violinkonzert zu Lebzeiten durchaus Furore machte, bevor es schließlich – vor allem mangels verschiedener aufführenden Solisten – verschwand.

Energetisch aufgeladen und von dramatischer Ader geprägt gibt sich das Konzert. Beeindruckend ist die enorme Ausdifferenzierung von dissonanter Spannung und leichter Lösung, verbunden mit überraschenden Modulationen und Sprüngen zwischen den Tongeschlechtern. Es hat, etwas an Grieg und Svendsen angelehnt, unverkennbare Bezüge zur Norwegischen Volksmusik, die deutlich stilisiert wird, so dass der dritte Satz gar ein Halling – ein beliebter Norwegischer Bauerntanz – ist. Schillernd sind die Orchesterfarben und die geschickten Einsätze einzelner Instrumente in Gegenüberstellung mit ganzen Gruppen.

Etwas ungeschickt war jedoch die Wahl des Solisten, der selbst mechanisch nicht immer sicher ist, schnelle Läufe und Sprünge gerne verschleift, durch übermäßiges Vibrato Detailarbeit nivelliert und sich in virtuosen Passagen orientierungslos abmüht. An mancher sanfteren Stelle vermag er auch auf das Orchester zu hören, solche wie auch die gemäßigten Abschnitte der Kadenzen bei Nielsen können dann etwas mehr aufblühen.

Das Orchester reißt durch große Plastizität der Gestaltung und Klangkultur mit, ist voluminös und flexibel, dabei adäquat abgestimmt. Engeset holt den Witz aus der nicht immer ganz ernst gemeinten Musik Nielsens, legt die subtilen Seitenhiebe mit sicherer Hand offen. Halvorsen erforschte er genau und vermittelt eine, besonders für eine Ersteinspielung, beachtliche Menge an Detailkenntnis und ein klares Bewusstsein, sowohl über den Zeitstil der Komposition als auch über die Individualität des Komponisten.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2017]

Dänische Miniaturen im Energiesparmodus

Dacapo 8.226091; EAN: 6 36943 60912 5

Musik von Hans Abrahamsen ist auf der neuesten CD des dänischen Ensembles MidtVest zu hören: neben zwei Originalkompositionen, den 10 Preludes (String Quartett Nr. 1) und den Sechs Stücken für Violine, Horn und Klavier, auch Bearbeitungen von Erik Saties Trois Gymnopédies und Carl Nielsens Fantasiestücken op. 2.

Das bisherige Schaffen Hans Abrahamsens lässt sich klar in zwei Abschnitte untergliedern, die durch eine zehnjährige Schaffenspause voneinander getrennt sind. Der 1952 geborene Däne begann als äußerst inspirierter, vielseitiger und offener Komponist, der seinen eigenen Stil zwischen verschiedenen Einflüssen suchte und immer wieder auch fand. Er verschloss sich weder Formen und Ideen älterer Zeit, noch Einflüssen der „leichteren Muse“, und auch nicht neuen Techniken der Klangerzeugung. Vielleicht sind es gerade seine ersten großen Werke in den 1970er Jahren, die sein verblüffendes Talent am kraftvollsten bezeugen. So auch sein immer wieder gespieltes Erstes Streichquartett, das aus zehn vollkommen unterschiedlichen Präludien besteht, die in prägnanter Kürze kontrastierende Stile auskundschaften, bis das letzte beinahe Händel’sche Klangwelten aufstößt. In den 1980er Jahren hatte sich sein Stil gewissermaßen gefestigt, was ihn – wie in den Sechs Stücken für Violine, Horn und Klavier eindeutig zu vernehmen – aber auch die Spontaneität und nicht zuletzt die Originalität ein Stück weit verlieren lässt. In den 1990er Jahren schließlich kam der große Einschnitt, zehn Jahre lang gingen aus seiner Feder nur noch einige Arrangements hervor, wonach er zur Jahrtausendwende mit einem neuen, avantgardistischeren Stil wiederkehrte, der wenig von seiner ursprünglichen Energie und Aussagekraft weiterleben lässt. Aus der Zeit des Schweigens sind zwei Arrangements von Werken Saties und Nielsens zu hören, luzide im Klang und gar nicht überladen in der Instrumentation. Was alle zu hörenden Stücke eint, ist ihre miniaturistische Kürze, kein Satz überschreitet die vier-Minuten-Grenze.

Das Ensemble MidtVest gibt sich wenig Mühe, diese Stücke in ihrer janusköpfigen Schlichtheit zu verstehen. Die Noten werden buchstabiert und pflichtbewusst dargeboten, damit endet allerdings auch die Erarbeitung. Selbst die ganz kurzen Miniaturen bekommen keinen Zusammenhalt, Phrasierung ist ebenso Fehlanzeige wie empathisches Eingehen auf die anderen Stimmen. Am ehesten versucht noch Peter Kirstein an der Oboe, in Nielsen und noch mehr in Satie musikalisch etwas tiefer Enthaltenes zu finden, was jedoch sogleich von den Streichern nivelliert wird.

Nur weil ein Werk wenig bekannt ist, bedeutet das nicht, dass dem Hörer nicht auffallen könnte, wenn es leblos und „im Energiesparmodus“ dargeboten wird – leider wird derart jedoch viel zu häufig ein Werk fälschlicherweise als langweilig oder zusammenhangslos abgeurteilt, wenn es lediglich nicht adäquat gespielt wird. Als Beweis der Hochwertigkeit dieser Musik sei wärmstens die Aufnahme des Danish String Quartet des ersten Abrahamsen-Quartetts empfohlen (ECM 2453), die ganz andere Perspektiven eröffnet, als nach dieser Aufnahme auch nur erahnt werden könnte.

[Oliver Fraenzke, September 2017]

Herrlicher Krach bis zum Vulkanausbruch

Ondine, LC 3572; EAN: 0761195121023

Normalerweise mache ich ja bei Klassik-Samplern einen Bogen um eine Rezension. Aber die Wiederveröffentlichung der schon legendären „Earquake“-CD (1997) beim finnischen Label Ondine – Untertitel: The Loudest Classical Music of All Time – darf man schon mit einer Besprechung feiern…

Zunächst einmal: Diese inhaltlich gegenüber der Erstveröffentlichung unveränderte CD ist ein Gag; vielleicht ein brauchbarer Party-Rausschmeißer à la „The Glory??? of the Human Voice“ (Florence Foster Jenkins) – mehr nicht. Und leider fehlt jetzt das entscheidende Gimmick; im transparenten Tray lagen seinerzeit zwei gelbe Ohrstöpsel – wohlgemerkt: for your neighbor! Für diese Aufnahme durfte ein äußerst körperbetont, aber immer präzise agierender Dirigent mal so richtig „die Sau rauslassen“. Der Finne Leif Segerstam ist nicht nur ein weltweit tätiger Orchesterdompteur, sondern komponiert nebenbei auch noch ein wenig: Seine Werkliste umfasst mittlerweile z.B. 309 (!) Symphonien; er ist da wohl der absolute Rekordhalter. Der Legende nach hat das mit Anfang zwanzig noch spindeldürre Nordlicht seinerzeit mit voller Absicht innerhalb kürzester Zeit 30 kg draufgepackt – nur um so auszusehen wie der dirigierende Johannes Brahms auf den berühmten Bleistiftzeichnungen. Und wenn ich den etwas korpulenten, aber höchst agilen Herrn mal live erleben durfte (ob mit Frau ohne Schatten an der Zürcher Oper oder Turangalîla in der Kölner Philharmonie), war ich immer von seinen mitreißenden Darbietungen begeistert. Auch hier mit dem Helsinki Philharmonic Orchestra weiß Segerstam natürlich genau, wie er die hypertrophen Klangmassen selbst im allergrößten Krach zu bändigen hat, damit das Ganze noch irgendwie vernünftig ausbalanciert scheint.

Trotzdem: Was mich naturgemäß an diesem Sampler stört, ist nicht etwa die Vielzahl der Komponisten und Stile (alles 20. Jahrhundert), sondern dass hier nur Ausschnitte aus zum Teil deutlich umfangreicheren Werken zu Gehör gebracht werden; und in der Regel noch nicht einmal komplette Sätze, sondern tatsächlich nur eben die lauten Stellen – Häppchenkost nach Art von Klassik Radio. So wird dem Hörer die Sinnhaftigkeit solcher Passagen, also die Entwicklung, die überhaupt erst zu solch hemmungslosen Ausbrüchen führt, vorenthalten.

Das ist natürlich ein dann doch einseitiges Vergnügen. Neben den 13 echten „Krachern“ gibt es noch drei ruhige Stücke (Druckman, Segerstam und Rautavaara) als Kontrast. Gespielt wird zumeist auch rhythmisch sehr attraktive Musik, etwa der Lateinamerikaner Revueltas und Ginastera, dazu einiges aus Skandinavien (Rangström, Nielsen…), aber auch Lärm aus den USA oder Russland (Hanson, Bolcom, Prokofjew…). Als Höhepunkt am Schluss dann der vom Isländer Jón Leifs 1961 sensationell in Orchestersprache übersetzte, große Vulkanausbruch der Hekla (1947/48) – dagegen war der Eyjafjallajökull 2010 nur ein Huster. Da wird innerhalb eines 140-Mann-Orchesters so fast alles aufgeboten, was das Schlagwerk zu bieten hat. Schlecht ist das magere Booklet, das selbst die Vornamen der Komponisten unterschlägt und auch sonst keinerlei Infos zu den Stücken – mit Ausnahme von Hekla – bereithält.

Der Anspruch, hier wirklich die lauteste, klassische Musik aller Zeiten auf einer CD zu versammeln, wird allerdings verfehlt. Stücke wie Iannis Xenakis‘ Jonchaies, Leonardo Baladas Steel Symphony und einiges mehr, das bereits vor 1997 geschrieben war, sind lauter und aggressiver. Ganz zu schweigen von Dror Feiler – da halten sich einige Musiker des BR-Symphonieorchesters schon beim Erklingen nur des Namens die Ohren zu. Und warum hat man von Ginastera den Malambo aus Estancia ausgewählt, und nicht etwa die brachialen Stellen aus Popol Vuh? Sei’s drum – das hier eingespielte Repertoire reicht allemal, um gepflegt die Wände wackeln zu lassen und macht wirklich Spaß. Ein Paar Ohrstöpsel für die Nachbarn bereit zu halten, wäre dann aber gar keine so verkehrte Idee…

[Martin Blaumeiser, März 2017]

Purer Gesang

Musikproduktion Dabringhaus und Grimm, MDG 901 1964-6; EAN: 7 60623 19646 6

Gemeinsam mit den Hamburger Symphonikern spielt Vladimir Soltan für die Musikproduktion Dabringhaus und Grimm Klarinettenkonzerte von Carl Nielsen und Jean Françaix ein sowie die Première Rhapsodie für Klarinette und Orchester von Claude Debussy.

Drei vergleichsweise selten zu hörende Klarinettenkonzerte offeriert das Debütalbum von Vladimir Soltan (ob er mit dem gleichnamigen weißrussischen Komponisten verwandt ist?). Als „neue Klarinettenkonzerte“ bewarb er dieses Projekt auf Startnext und konnte es so via Croudfunding finanzieren – wie dort zu entnehmen, sollte statt Debussy übrigens ursprünglich das Konzert von Henri Tomasi zu hören sein.

Eine wahre Perle der Klarinettenkonzertliteratur ist das Opus 57 des Dänen Carl Nielsen, dessen Musik nach wie vor hierzulande viel zu wenig bekannt ist. Während seine Symphonien, eine Auswahl seiner Kammermusik und sein Violinkonzert mit Glück noch manchmal live zu erleben sind, kennt kaum jemand seine beiden Opern außer deren Ouvertüren oder seine späten Bläserkonzerte – eines für Flöte und das hier vorliegende für Klarinette. Der einsätzige Opus 57 glänzt durch kreative Formerweiterungen, die trotz weiter Räume steten Zusammenhang haben, die bestechen durch eingängige Melodien und das unerhörte Charakteristikum des Konzerts, dem Solisten eine kleine Trommel als „Duettpartner“ beizugesellen – welch ein herrlicher und unverwechselbarer Einfall! Die Première Rhapsodie für Klarinette und Orchester von Claude Debussy zeigt den Komponisten in voller Pracht und beeindruckender Schönheit mit zarten Melodien, fließenden Übergängen und höchster Kunst der Instrumentation auf Grundlage der ursprünglichen Klavierbegleitung. Eine Renaissance – nein, eine Naissance – darf endlich die Musik von Jean Françaix erfahren, der nun immer häufiger im Konzert gehört werden kann und eingespielt wird. Knappe zwanzig Jahre nach seinem Tod wird man auf die elegante Musik des Franzosen aufmerksam, die eine heitere Leichtigkeit und unverstellte Natürlichkeit versprüht, treibende Rhythmen und tänzerische Heiterkeit, die dennoch höchste Ansprüche vertritt und zu keiner Sekunde ihre hohe Inspiration verliert oder spannungsmäßig abfällt.

Widerpart des weißrussischen Klarinettisten sind die Hamburger Symphoniker unter José Luiz Gomez. Der Klangkörper bietet eine solide Klanggrundlage in warmem und dichtem Gestus, aus welchem Gomez in den meisten Fällen alle wichtigen Stimmen hervortreten lassen kann. Die orchesterinternen Solisten fallen durch ein hohes Maß an Musikalität und Integration ihrer Soli in den Fluss des Geschehens auf. Die Tempowechsel in Nielsens Konzert geraten hingegen oft unorganisch und stockend, allgemein verliert Gomez phasenweise die klare strukturelle Orientierung und agiert folglich etwas benebelt.

Eine wahrhafte und kontinuierliche Freude beim Zuhören löst Vladimir Soltan aus. Nicht nur, dass er sein Instrument bis ins letzte Detail beherrscht, nein, auch einen besonderen Klang entlockt er ihm. Es ist purer Gesang, der der Klarinette entströmt, sei es in zarten Kantilenen, in großen Tutti oder halsbrecherischen Läufen, die bei Soltan eine beherzte Frische und Heiterkeit atmen und niemals das Ideal der menschlichen Stimme vergessen. Die Regel bestätigen wenige Ausnahmefälle, wenn Soltan gegen das volle Orchester anzukämpfen hat, wobei dies den unter Gomez zu massiv agierenden Symphonikern geschuldet ist und nicht dem Solisten, der nur seine Hauptstimme verteidigen muss. Vladimir Soltan besticht mit beeindruckendem Einfühlungsvermögen in die Musik und versteht tiefe Zusammenhänge wie auch den lyrischen Moment, welchen er auszukosten vermag.

Auf ein zweites Album kann man sich nur freuen und hoffen, dass Soltan noch mehr unbekannte Klarinettenliteratur in überzeugender Darbietung ins Licht rücken kann.

[Oliver Fraenzke, Juli 2016]