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Skride folgt der Musik

Orfeo, C 950 191; EAN: 4 011790 950129

Béla Bartók steht im Zentrum von Baiba Skrides neuen CD-Produktion. Gemeinsam mit dem WDR Sinfonieorchester Köln unter Eivind Aadland spielt sie das zweite Violinkonzert Sz 112 und die beiden Rhapsodien für Violine und Orchester Sz 87 und Sz 90.

Neben dem Klavier inspirierte vor allem die Geige die musikalische Vorstellungskraft von Béla Bartók. Durch ihre Verwandtschaft mit Fiedeln eignet sich dieses Instrument perfekt für die Darstellung folkloristisch angehauchter Werke; außerdem kann sie problemlos Mikrointervalle realisieren. Die beiden Violinkonzerte und die beiden Rhapsodien (insbesondere die erste) zählen nach wie vor zu den meistgespielten Konzertstücken der Moderne, ihre rhythmische Kraft, prächtige Virtuosität und die formale Ausgewogenheit machen sie zu wahren Publikumslieblingen.

Baiba Skride folgt der Musik. Die technisch-mechanischen Höchstschwierigkeiten meistert sie beiläufig, während sie sich mental auf den Fluss der Musik fokussiert. Skride hält das Ganze im Auge, sie weiß um die verwinkelten Abzweigungen und plötzlichen Charakterwechsel, deren Übergänge sie adäquat ausgestaltet. So entsteht ein nachvollziehbarer Zusammenhang selbst in den großen Dimensionen des Violinkonzerts. Dabei besitzt sie eine hinreißende Tongebung, die entsprechend der Musik nicht zu lyrisch, ebenso aber nicht zu harsch erscheint, sondern kernig und voll; ergriffen, aber nicht sentimental; distanziert, aber nicht kalt. Die beiden volksmusiknahen Rhapsodien, die Béla Bartók traditionell in Lassù und Friss teilte, erklingen beinahe spielerisch leicht nach dem gewaltigen Violinkonzert. Dennoch nimmt Skride sie nicht leitfertig, sondern sucht auch in ihnen die innermusikalischen Bezüge und entlockt den Werken durch ihre Spielfreude reinste Eleganz.

Das Orchester integriert Skride als prima inter parens, so dass sie trotz der deutlichen Zurschaustellung des Soloparts nicht herausbricht, sondern nur in der Gemeinschaft wirken kann. Eivind Aadland erweist sich als präziser und luzide hörender Dirigent, der jede Stimme hörbar macht und ein geklärtes Bild freigibt, in dem die Effekte der Musik umso frappierender zur Geltung kommen. In den kleiner besetzten Passagen entsteht so eine beinahe kammermusikalische Wirkung, wonach die Tuttis deutlich kontrastieren.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2019]

Vom Staub zu den Schwänen

Unter John Storgårds spielen die Münchner Philharmoniker am 27. und 28. Februar sowie am 1. März 2019 Orchesterwerke aus dem Norden. Für The New Listener besuche ich das Konzert am 28. und höre dort die beiden Suiten aus Peer Gynt op. 46 und op. 55 von Edvard Grieg, das Violinkonzert op. 33 von Carl Nielsen mit der Solistin Baiba Skride sowie die Symphonie Nr. 5 Es-Dur op. 82 von Jean Sibelius.

Als Gastdirigent und Violinsolist mit dem Münchner Kammerorchester machte sich John Storgårds bereits einen Namen hier in München. Nun dirigiert er die Münchner Philharmoniker mit einem rein nordischen Programm. Zu Beginn beider Konzerthälften erklingt je eine der Suiten aus Peer Gynt von Edvard Grieg, die zum größten Teil mit viel Liebe zum Detail erarbeitet wurden. John Storgårds setzt die je vier Stücke nicht lose nebeneinander, sondern schafft einen dramaturgischen Bogen, der in der ersten Suite deutlich zwischen den voll orchestrierten Randsätzen und den rein mit Streichern besetzten Mittelsätzen kontrastiert, in der zweiten Suite immer weiter kulminiert bis zum fulminanten Sturm, wonach die Musik zu Solveigs Sang verebbt. Ausgerechnet das rein für Streichorchester gesetzte Stück Åses Død stellt den einzigen Tiefpunkt der Aufführung dar: Es fehlen dynamische Kontraste und ein facettenreiches Pianissimo, zudem ist der Streicherklang zu weich und friedvoll. Hier wünsche ich mir dieses ur-nordischen Timbre der Streicher her, wie es Juha Kangas mit seinem Ostrobothnian Chamber Orchestra perfektioniert hat und das auch Storgårds den Streichern des Lapland Chamber Orchestras entlockt; in Ermangelung dessen bei den Philharmonikern zieht John Storgårds das Tempo an und versucht dadurch, die unpassende Reinheit des Klangs zu überspielen. Überzeugen können dafür die Kontraste in Bruderovet und die kontinuierliche Steigerung in I Dovregubbens Hall. Mitreißend gestaltet sich auch der bildhaft dargebotene Sturm von Peer Gynts Hjemfart, auch wenn bedauernswerterweise das letzte Aufbegehren der Holzbläser etwas untergeht.

Das groß angelegte Violinkonzert von Carl Nielsen gilt nach wie vor als Rarität in den großen Hallen, obgleich einige prominente Violinisten sich für dieses Stück eingesetzt haben. Das Stück besticht durch seine eigenwillige Form, die gleichsam sperrig wie auch faszinierend ist. Bei diesem Virtuosenkonzert steht das Orchester im Hintergrund, wird zum Impulsgeber degradiert und erhält kaum eine themengebende Funktion, ist allgemein selten ohne die Solovioline zu hören. Den Solisten jagt Nielsen dafür durch fünf kadenzartige Abschnitte, ihm überlässt der Komponist auch die meisten Themen und deren reiche Verarbeitungen und Variationen. Trotz zahlreicher Ornamentik und Figurationen gehen die Themen ins Ohr und der Hörer kann die allmähliche Transformation der Keimzellen gut mitverfolgen. Baiba Skride meistert den hoch anspruchsvollen Solopart scheinbar mühelos, obgleich sie in den kurzen Orchesterzwischenspielen doch froh um die Pause scheint: was wir aber nur sehen und nicht hören! Selbst in den wildesten Passagen verliert Skride nicht den thematischen (und auch nicht den harmonischen) Überbau aus dem Auge, wodurch sie den Hörer im Mitverfolgen der Musik unterstützt. Das Orchester ordnet sich ihr unter und hält seine Mittel zurück, um sie nicht zu übertönen, greift dennoch ihre Impulse gekonnt auf und setzt sie um.

Zum Abschluss erklingt die grandiose Symphonie Nr. 5 von Jean Sibelius, die durch ihr „Schwanen-Thema“ einen festen Platz in den Konzertprogrammen gefunden hat. Hier wurde besonders intensiv geprobt, wie man schnell erkennt: Die Keimzellen fließen ineinander über, man kann dem Thema förmlich beim Entstehen zuhören und auch sein Zerfasern aktiv miterleben. John Storgårds fürchtet sich nicht vor den teils grellen Dissonanzen in dieser Symphonie, die von anderen Dirigenten nach Möglichkeit entschärft werden: nein, heute erhalten sie besonderen Nachdruck und verleihen der Symphonie sogar erst ihre besondere Würze. Ohne übermäßige Effekthascherei hält Storgårds selbst den Mittelsatz formal zusammen und führt das Orchester unbeschwert hinüber in das Finale, welches durch extreme Kontraste und die zwei unvergesslichen Themen sowie ihr Ineinander-Übergehen überragt. Die Sonne scheint aufzugehen, wenn sich das Schwanen-Thema langsam aus der Hülle der energischen Streichermotive schält und die Musik in ungeahnte Höhen transzendiert: Vom Staub zu den Schwänen.

Am Kalevala-Tag, dem Tag der finnischen Kultur, dieses Monumentalwerk hier in München zu erleben und darüber hinaus in solch einer ausgeklügelten und inspirierten Darbietung der Münchner Philharmoniker unter John Storgårds, das hat etwas Erhebendes.

[Oliver Fraenzke, März 2019]