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Gelungene Gitarrentranskriptionen hervorragend gespielt

Naxos, 8.574259; EAN: 7 47313 42597 6

Für Naxos hat Christophe Dejour (Gitarre) eigene Transkriptionen von Werken Carlo Gesualdos, Johann Sebastian Bachs, Alban Bergs und Béla Bartóks eingespielt.

Der dänische Gitarrist Christophe Dejour hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen guten Ruf als Bearbeiter erworben, der dem Repertoire für sein Instrument mehrere Meisterwerke hinzugewonnen hat. So arrangierte er für das von ihm mitbegründete Trio Campanella Isaac Albéniz‘ Iberia und Enrique Granados‘ Goyescas für drei Gitarren. Den bei Naxos erschienenen Einspielungen dieser beiden Zyklen durch das Trio Campanella hat Dejour nun sein erstes Solo-Album folgen lassen. Unter dem Titel The Art of Classical Guitar Transcription präsentiert er eigene Arrangements vierer Kompositionen, die in verschiedenen Epochen für verschiedene Instrumente geschrieben wurden: Carlo Gesualdos Canzon Francese del Principe (eines der wenigen Werke, die der Madrigalfürst für ein Clavierinstrument hinterlassen hat), Johann Sebastian Bachs Chromatische Fantasie und Fuge BWV 903, die Klaviersonate h-Moll op. 1 von Alban Berg und Béla Bartóks späte Sonate für Violine solo. Es werden also – dies lässt sich unschwer als Leitfaden des Programms erkennen – Komponisten zusammengebracht, die allesamt starke Harmoniker gewesen sind und mit kühnem Entdeckersinn den jeweiligen Zeitgenossen neue Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der tonalen Ordnung aufgezeigt haben.

In allen Bearbeitungen hält sich Dejour möglichst eng an die Vorlage und legt nur dann Stimmen um, wenn dies der verglichen mit Tasteninstrumenten geringere Tonumfang der Gitarre nötig macht. Wie sich trotz solchen Einschränkungen bemerkenswert volle Klänge realisieren lassen, zeigt sich namentlich in Dejours Übertragung der Berg-Sonate. Die Möglichkeiten des Zupfinstruments zur Wiedergabe polyphoner Musik kommen in den Gesualdo- und Bach-Transkriptionen wunderbar zur Geltung. Große Sorgfalt in der Übersetzung violintypischer Spielweisen ins Gitarrenidiom lässt sich im Fall der Bartók-Sonate feststellen. Beispielsweise hat sich Dejour, da naturgemäß der Gegensatz von Arco und Pizzicato auf der Gitarre nicht realisierbar ist, an den entsprechenden Stellen der Sonate entschieden, das normale Pizzicato durch ein deutlich weniger resonanzstarkes, das charakteristische „Bartók-Pizzicato“ (wie auf der Violine) durch ein sehr kräftiges Anreißen der Saite wiederzugeben.

Bei den Darbietungen vertieft sich Dejour intensiv in die Beschaffenheit des jeweiligen Stückes und verhilft dadurch jedem der Werke zu einem charakteristischen Klangbild, das sich von dem der übrigen deutlich abhebt. Gesualdos Canzon Francese, eine fugierte Fantasie mit virtuosen Einschüben, entfaltet sich feierlich und gelassen. Die gelegentlichen chromatischen Ausweichungen wirken nicht als aufgesetzte Effekte, sondern als natürlicher Bestandteil des Ganzen. Bachs Chromatische Fantasie gliedert Dejour klar mittels dynamischer Kontraste und passend eingesetzter Rubati. Von dem Vorteil, dass auf der Gitarre im Gegensatz zum Cembalo eine direkte Einwirkung des Spielers auf die Saite möglich ist, macht er reichlich Gebrauch und gestaltet namentlich den ariosen Schluss der Fantasie hochexpressiv. Dass die Fuge den Gitarristen vor hohe spieltechnische Herausforderungen stellt, ist in der Aufnahme gelegentlich zu hören. Dejour begegnet ihnen, indem er ein deutlich langsameres Grundtempo anschlägt als die meisten Clavierspieler und dieses durch sorgfältige Artikulation spannungsvoll belebt. Um die dissonanten Akkordtürme der Bergschen Klaviersonate möglichst umfassend darzustellen, bedient sich Dejour in diesem Stück ausgiebig des Portamentos, was den nicht unwillkommenen Nebeneffekt zur Folge hat, dass das Stück unter seinen Händen einen geradezu vokalen Charakter annimmt, dass es „singt“. Die Struktur dieses einzeln stehenden Sonatensatzes wirkt in Dejours Einspielung erfreulich klar und übersichtlich, der Verlauf wirklich prozesshaft. Wohltuend unterscheidet sich diese Aufnahme von der Auffassung der Sonate als zerklüfteter Abfolge von Einzelereignissen, als welche sie mitunter zu hören ist. Ist die Sonate Bergs eine Äußerung des Wiener Fin de Siècle, so zeigt sich in der über dreißig Jahre später entstandenen Solo-Violinsonate seines Generationsgenossen Bartók eine Haltung, die zur Musik der Jahrhundertwende, in der sie freilich wurzelt, deutlich auf Distanz gegangen ist – nicht zuletzt durch das Rekurrieren auf barocke Vorbilder. Entsprechend lässt Dejour dieses Stück rauer, „sachlicher“ klingen. Er verzichtet auf „Fülle des Wohllauts“, nicht aber darauf, die Feinheiten der Musik herauszuarbeiten. Als besonders gelungen lässt sich die Fuge hervorheben, die Dejour stringent und mit unwiderstehlichem Schwung darbietet.

Wer also hören möchte, wie sich die bekannten Clavier-, Klavier- und Violinwerke in meisterlichen Bearbeitungen auf der Gitarre ausnehmen, und dies ebenso hervorragend gespielt, der kann bedenkenlos zu dieser CD greifen. Sie zeugt eindrucksvoll von Christophe Dejours Kunstfertigkeit auf beiden Gebieten.

Norbert Florian Schuck [Mai 2021]

Der Wandel als Markenzeichen

TYXart, TXA19130; EAN: 4 250702 801306

Das Duo Maiss You spielt die Violinsonaten von Leoš Janáček und Béla Bartók (Nr. 2 Sz 76) und stellt sie neben ein Werk eines zeitgenössischen Komponisten: Roland Leistner-Mayer: Von diesem erklingt die Bratschensonate op. 156. Diesen Wechsel zwischen Musik für Violine und für Viola macht sich das Duo zum Markenzeichen, so changierte Burkhard Maiss auch im Debutalbum (Schumann, Brahms) zwischen den beiden Instrumenten.

Nach ihrem hochromantischen Debutalbum geht das Duo Maiss You nun über zur Musik des frühen 20. Jahrhunderts und widmet sich den Violinsonaten von Leoš Janáček und Béla Bartók: während Bartók mittlerweile zum Standardrepertoire gehört, kommt die viersätzige Sonate von Janáček kaum zu Gehör [frisch erschien sie mit Augustin Hadelich und Charles Owen: zur Rezension]. Die Sonaten fügen sich im Programm wunderbar zusammen, leben sie doch beide von den selben Charakteristika, die sie jeweils auf ureigene Weise umsetzen: hinreißende Melodien, abrupte bis ruppige Wechsel, harmonisch vagierende Akkordverläufe und ein Gespür für Proportion. Gefühl spielt für beide Werke eine größere Rolle als das tatsächliche Verständnis – wenngleich natürlich beide Komponisten genau wussten, was sie taten. Zwischen ihnen passt sich ideal die Bratschensonate op. 156 von Roland Leistner-Mayer ein, die klanglich ebenso in die Zeit der beiden Violinsonaten passen könnte. Leistner-Mayer kehrte sich früh von den Avantgardeströmungen ab und ging dazu über, traditionellere Formen individuell aufzuarbeiten und auf seine Vorstellungen zu personalisieren. In seiner Musik nimmt die Melodie den höchsten Stellenwert ein; sie wandelt durch harmonisch eindeutig bestimmbare, nicht aber der klassischen Harmonielehre folgenden Akkordfelder; das Prinzip beschreibt er selbst als „freitonale Funktionalität“.

Das Duo Maiss You scheint nach ihrem Debutalbum beinahe noch dichter aneinandergewachsen zu sein und spielt vollständig aus einem Atem und einer Intention heraus. Gerade bei Janáček wird dies ersichtlich, der rhythmisch vertrackt das Zusammenspiel auf eine harte Probe stellt. Die Musiker spannen große Bögen, finden sich also bestens zurecht in den oft weitschweifenden bis gar abstrakten Verläufen dieser Musik; ebenso gelingen abenteuerliche Brüche mit fanatischen Ausbrüchen, sofern es die Musik vorschreibt. Die Harmoniemodelle werden am Klavier plastisch erkennbar und verständlich, Ju-Yeoun You differenziert die einzelnen Schichten klar aus und kann besonders durch eine breite Palette an Piano-Schattierungen brillieren. Ihr Forte kracht nicht, sondern schwingt voluminös als ideale Basis für das Streichinstrument. Burkhard Maiss meistert Violine und Bratsche gleichermaßen, passt sich den individuellen Gegebenheiten der beiden Instrumenten an und zieht sogar aus den Vorteilen des einen Erkenntnisse für das andere: so erhält die Violine mehr von dem runden, weichen Klang der Viola, umgeht so die dem Instrument innewohnende scharfe Kantigkeit; dafür darf sich die Bratsche mehr Glanz und Brillanz erfreuen. Eine perfekte Symbiose zweier optisch ähnlicher, klanglich aber vollkommen unterschiedlicher Instrumente.

[Oliver Fraenzke, August 2020]

Skride folgt der Musik

Orfeo, C 950 191; EAN: 4 011790 950129

Béla Bartók steht im Zentrum von Baiba Skrides neuen CD-Produktion. Gemeinsam mit dem WDR Sinfonieorchester Köln unter Eivind Aadland spielt sie das zweite Violinkonzert Sz 112 und die beiden Rhapsodien für Violine und Orchester Sz 87 und Sz 90.

Neben dem Klavier inspirierte vor allem die Geige die musikalische Vorstellungskraft von Béla Bartók. Durch ihre Verwandtschaft mit Fiedeln eignet sich dieses Instrument perfekt für die Darstellung folkloristisch angehauchter Werke; außerdem kann sie problemlos Mikrointervalle realisieren. Die beiden Violinkonzerte und die beiden Rhapsodien (insbesondere die erste) zählen nach wie vor zu den meistgespielten Konzertstücken der Moderne, ihre rhythmische Kraft, prächtige Virtuosität und die formale Ausgewogenheit machen sie zu wahren Publikumslieblingen.

Baiba Skride folgt der Musik. Die technisch-mechanischen Höchstschwierigkeiten meistert sie beiläufig, während sie sich mental auf den Fluss der Musik fokussiert. Skride hält das Ganze im Auge, sie weiß um die verwinkelten Abzweigungen und plötzlichen Charakterwechsel, deren Übergänge sie adäquat ausgestaltet. So entsteht ein nachvollziehbarer Zusammenhang selbst in den großen Dimensionen des Violinkonzerts. Dabei besitzt sie eine hinreißende Tongebung, die entsprechend der Musik nicht zu lyrisch, ebenso aber nicht zu harsch erscheint, sondern kernig und voll; ergriffen, aber nicht sentimental; distanziert, aber nicht kalt. Die beiden volksmusiknahen Rhapsodien, die Béla Bartók traditionell in Lassù und Friss teilte, erklingen beinahe spielerisch leicht nach dem gewaltigen Violinkonzert. Dennoch nimmt Skride sie nicht leitfertig, sondern sucht auch in ihnen die innermusikalischen Bezüge und entlockt den Werken durch ihre Spielfreude reinste Eleganz.

Das Orchester integriert Skride als prima inter parens, so dass sie trotz der deutlichen Zurschaustellung des Soloparts nicht herausbricht, sondern nur in der Gemeinschaft wirken kann. Eivind Aadland erweist sich als präziser und luzide hörender Dirigent, der jede Stimme hörbar macht und ein geklärtes Bild freigibt, in dem die Effekte der Musik umso frappierender zur Geltung kommen. In den kleiner besetzten Passagen entsteht so eine beinahe kammermusikalische Wirkung, wonach die Tuttis deutlich kontrastieren.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2019]

Drei Konzerte einer geladenen Zeit

Solo Musica, SM 308; EAN: 4 260123 643089

Auf ihrer Debut-CD mit dem Titel „1939“ präsentiert Fabiola Kim drei Violinkonzerte einer politisch zum Bersten geladenen Zeit, die alle die Lage ganz eigen darstellen. Zunächst hören wir Sir William Waltons politisch distanziertes Violinkonzert h-Moll, dann das Concerto funèbre für Geige und Streicher von Karl Amadeus Hartmann und zuletzt Bartóks endzeitmäßiges zweites Violinkonzert. Unterstützt wird Kim von den Münchner Symphonikern unter Kevin John Edusei.

Als Karl Amadeus Hartmann sein Concerto funèbre schrieb, stand er vor einer aussichtslosen Situation, die er in Töne bannte. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten blieb er in seinem Heimatland – trotz aller Einschränkungen durch die Partei – und kehrte sich in ein inneres Exil zurück. In den Randsätzen seines Violinkonzerts schimmert etwas Hoffnung durch, die beiden finsteren Mittelsätze machen allerdings unmissverständlich, wie schlimm die Umstände sind. Die Aufführung des Concerto funèbres 1940 in der Schweiz blieb die letzte des Komponisten bis 1946.

Anders als Hartmann verließ Bartók seine Heimat, als die Lage zu dringlich wurde. Den Plan dazu fasste er bereits einige Zeit zuvor, doch haderte lange mit dem Vorhaben. In diese Zeit des Abwägens, der Unschlüssigkeit und Unsicherheit fällt die Entstehungszeit seines zweiten Violinkonzerts, das für diese CD eigentlich um einen Tag „zu früh“, am 31. Dezember 1938, fertiggestellt wurde.

William Walton blieb vergleichsweise unbehelligt von der politischen Anspannung, als er an seinem h-Moll-Konzert arbeitete. Erst als es uraufgeführt wurde, bekam er die Zuspitzung zu spüren: denn er konnte England nicht verlassen, um der Aufführung beizuwohnen. Statt politischer Umstände verarbeitete Walton ein ganz anderes Thema, nämlich den Biss einer Tarantel, den er im Mittelsatz als wahnwitzige Tarantella umsetzte.

Fabiola Kim taucht in diese drei gänzlich unterschiedlichen Welten ein und zieht aus ihnen je den Kern der Stimmung, aus der heraus sie entstanden sind. Besonders beklemmend gelingt dies bei Hartmanns Concerto funébre, wo sie jeden Ton für sich auflädt und so die Linienführung elektrisiert. In Bartóks Konzert holt sie besonders schwebende Zustände zum Vorschein, bleibt zugleich präzise und virtuos. Die teils gewaltigen Brüche nutzt sie für unvermittelte und doch zugleich organische Wandel der Situation. Einzig verstehe ich nicht, warum sie in der Kadenz des ersten Satzes so stark aus der Partitur heraustritt, wo doch die Rhythmik so dezidiert vorgezeichnet wurde und zwischen Sechzehntel, Triolen und Punktierungen unterscheidet. Walton erklingt deutlich freundlicher als die beiden anderen Konzerte, Kim findet einen gänzlich verschiedenen Zugang zu dieser Musik. In der Tarantella blüht sie auf und genießt die Verrücktheit und die subtilen Brüche z.B. zum Walzer-Mittelteil.

Die Aufnahmetechnik stellt die Violine deutlich in den Vordergrund, worüber das Orchester oftmals zurückbleibt. Gerade bei Bartók vermisse ich orchestrale Nebenstimmen, die hier von der Geige überdeckt werden. Bei Hartmann kommen sie Streicher besser zum Vorschein als in den anderen Konzerten; hier blühen die Symphoniker auch am meisten auf, wallen dynamisch mehr auf und kommen aus ihrem oftmals eher flachen und flächigen Spiel heraus hin zu einer Plastizität.

[Oliver Fraenzke, August 2019]

Ringen um die Musik

Genuin classics, GEN 19656; EAN: 4 260036 256567

Liv Migdal spielt Werke für Violine solo. Das Programm beginnt mit der Violinsonate Nr. 3 in C-Dur BWV 1005 von Johann Sebastian Bach; dieser folgt die Sonate in G op. 44 von Paul Ben-Haim, wonach Béla Bartóks Sonate für Violine Solo Sz 117 (BB 124) die CD beschließt.

Auf den ersten Blick scheinen diese drei Werke nichts miteinander zu tun zu haben: Bach lebte in etwa 200 Jahre vor Bartók und Ben-Haim, jene beiden trennte eine gewaltige Distanz von Amerika bis nach Palästina. Und doch sind sie eng miteinander verbunden, zusammengehalten vom Geiger Yehudi Menuhin. Bartók war hingerissen von Menuhins Darbietung der Bach’schen C-Dur-Violinsonate (und der seiner eigenen ersten Sonate für Geige und Klavier); und als dieser ihn später bei einem persönlichen Kennenlernen nach einem Werk für Geige solo fragte, orientierte er sich formal an den Gattungsbeiträgen von Bach. Formal lehnte Bartók sich an der C-Dur-Sonate an: inklusive einer Fuge, einer darauffolgenden langsamen Melodie und einem raschen Schlusssatz. Die Idee des Kopfsatzes „Tempo di ciaccona“ entnahm er der berühmten Chaconne aus der d-Moll-Partita. Eben diese Bartók’sche Sonate spielte Menuhin in Tel Aviv und beauftragte den anwesenden Komponisten Paul Ben-Haim nach dem Konzert mit einem eigenen Gattungsbeitrag. Die Uraufführung des Resultats fand wie acht Jahre zuvor auch die Premiere von Bartóks Solosonate in der Carnegie-Hall statt, nur zwei Monate nach Fertigstellung. Alle drei der gehörten Werke sind erfüllt von Schmerz und Verarbeitung, bilden eine Art innere Zuflucht: Bach hatte vor Vollendung seiner sechs Violinsoli seine Frau verloren, Bartók war nach Amerika emigriert und litt neben finanziellen Schwierigkeiten an seiner fortschreitenden Leukämie; und auch Ben-Haim war im zweiten Weltkrieg aus Deutschland geflohen, was bis in diese Sonate fortwirkte.

Eine enorme Offenheit der Musik gegenüber charakterisiert das Spiel von Liv Migdal, sie taucht ein in die Noten und ringt mit den daraus hervorgehenden Effekten. Dabei schont sie sich nicht, durchleidet die musikalischen Erlebnisse an sich selbst und strahlt das in ihrem Spiel aus, was sie in diesem Kampf wahrgenommen und gewonnen hat. Anstelle theoretischer Reflexion treten bei Liv Migdal tiefe Empfindungen, was sie als wahre und gelebte Musikerin auszeichnet.

In der Musik Bachs entdeckt Migdal eine durchgehende Zartheit, die sie feinfühlig aus der Musik hervorholt. Besonderes Augenmerk legt sie auf die Polyphonie und die sich oft in mehrere Stimmen auffächernde Melodielinie. Die einzelnen Stimmzweige setzt die Geigerin durch kleine Rubati voneinander ab, wobei sie aufmerksam darauf achtet, diese nicht zur Manier werden zu lassen. Das Largo nimmt sie wie auch die Melodia aus Bartóks Sonate in vorwärtsgehendem Tempo. Diese passen zu den technischen Gegebenheiten der CD und vermeiden somit ein Schleppen der Ruhepole, die im Konzertsaal auch deutlich langsamer noch ihre volle Wirkung entfalten würden. In Bartóks Violinsonate fokussiert Liv Migdal die enormen Kontraste, um den Hörer über diese für eine Sologeige erstaunlich lange Strecke von 27 Minuten zu tragen. Der erste Satz bildet einen in sich abgeschlossenen Kosmos, dem eine brachiale Fuge folgt, welcher Migdal in entsprechend aggressiver, vorwärtsdrängender, jedoch nie zügelloser Weise begegnet. Die Melodia entfaltet ihre volle Klangmagie und bringt die Zeit zum Stillstehen. Gespenstisch begegnet uns der Beginn des Finales, worauf sich eine trügerische Ausgelassenheit auftut, welche Bartók beinahe gezwungen erscheinen lässt – besonders hier wird Liv Migdals Ringen um die Noten deutlich bemerkbar und zahlt sich aus! Die Geigerin setzt sich schon lange für die kaum bekannte Musik von Paul Ben-Haim ein (geboren als Paul Frankenburger, doch nach seiner Emigration umbenannt in Ben-Haim, „Sohn des Heinrich“) und diese Zuneigung zu seiner Musik wird in jedem Ton spürbar. Hier holt Migdal die feinsten und zärtlichsten Töne hervor, umgarnt jede der hinreißenden Melodien und verschmilzt die westlich-europäische mit der orientalischen Klangwelt.

[Oliver Fraenzke, Mai 2019]

Siebzig Jahre Klaviermusik von den Darmstädter Ferienkursen

NEOS 11630 (7CDs), LC 15673; EAN: 4 260063 116308

Wohl kein Ort der Welt scheint nach 1945 so mit dem Begriff der „Musikalischen Moderne“ verknüpft wie Darmstadt mit seinen berühmt-berüchtigten Ferienkursen. Von den etwa tausend bei den dortigen Begleitkonzerten aufgeführten Klavierwerken hat jetzt das Label NEOS auf sieben CDs eine kluge Auswahl als „Darmstadt Aural Documents – Box 4 · Pianists“ vorgelegt, die dem Hörer gut die mannigfaltigen ästhetischen Positionswechsel der letzten siebzig Jahre demonstriert. Dabei hatte die Klaviermusik, vergleichbar mit dem Streichquartett in früheren Epochen, immer eine Schlüsselfunktion inne. Unter den Aufnahmen etlicher für die Interpretation von neuer Klaviermusik prägender PianistInnen – darunter viele CD-Erstveröffentlichungen – finden sich auch einige echte Schätze, gerade aus den Anfangsjahren. Das komplette Programm der Box findet man hier.

In der Reihe Darmstadt Aural Documents widmet sich die vierte Veröffentlichung bei NEOS (nach Orchesterwerken, John Cage und Ensemblemusik) endlich der Darmstädter Auseinandersetzung mit der Klaviermusik. Die 7-CD-Box enthält 54 Werke von 49 verschiedenen Komponisten mit insgesamt über 8½ Stunden Musik. Im Gegensatz zur großen Anthologie Musik in Deutschland 1950-2000 (RCA), die dem Hörer Stücke oft nur häppchenweise vorsetzt, sind hier zum Glück aus mehreren Teilen bestehende Werke immer vollständig zu hören. Das unerwartet dünne Booklet enthält neben der Trackliste zunächst nur ein Vorwort sowie einen schönen Text von Stefan Fricke, der die historische Position des Klaviers nach dem Zweiten Weltkrieg und deren Veränderung beleuchtet. Nachfolgend versucht Michael Zwenzner zwar, die meisten der vorgestellten Werke innerhalb ihres konkreteren ästhetischen Kontexts zu verorten – tatsächliche Werkbeschreibungen zu den einzelnen Stücken fehlen aber. Dies kann und soll diese Besprechung natürlich nicht nachholen.

Die Verteilung der Musik auf die 7 CDs entspricht so sicher nicht ganz ihrer anteiligen historischen Bedeutung für Darmstadt. CD1 enthält Klavierwerke vor 1950 – hier findet man neben Arnold Schönbergs opp. 19 u. 23 und einigen zu Unrecht vergessenen Raritäten (Wolpe, Sessions, Apostel) z.B. auch die Klaviersonate von Béla Bartók (1926), was zunächst verwundern mag, da diese heute allenfalls gemäßigt modern erscheint. Man muss sich allerdings vor Augen führen, dass die erste Aufgabe der Darmstädter Ferienkurse darin bestand, dem interessierten Publikum und den (jungen) Komponisten nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst die Musik zugänglich zu machen, die während des Dritten Reichs schlicht verfemt war (Stichwort: Entartete Musik). Auch in der Aufführungsstatistik etwa der Münchner Musica-Viva-Konzerte während der 1950er-Jahren hatte Bartók einen erstaunlich hohen Stellenwert. CD2 ist allerdings etwas unbefriedigend: Auf nur einer CD erscheinen die Werke der 50er und 60er-Jahre unterrepräsentiert, da gerade diese zentrale Bedeutung für die weitere Entwicklung, insbesondere auf Reflexionsebene, in Darmstadt hatten – nicht zuletzt dadurch, dass die Kurse bis 1970 noch jährlich stattfanden (danach im Zweijahreszyklus). Hier bedauert man auch die Entscheidung der Herausgeber, Werke für zwei Klaviere ganz herauszunehmen. Die komplexesten Werke dieser Zeit sind oft gerade für diese Besetzung konzipiert. CDs 3-6 präsentieren jeweils ca. ein gutes Jahrzehnt (1970-2010). Die zweite Hälfte von CD6 und CD7 sind dann Stücken gewidmet, bei denen das Klavier modifiziert ist (andere Stimmung, Präparation, Hinzunahme von Tonbändern oder Live-Elektronik, computergenerierte Klänge etc.), oder aber der Pianist noch andere Aktionen – etwa als Sprecher – ausführen muss bzw. gänzlich fehlt (Player Piano).

Darmstadt stand jahrzehntelang nicht nur für einen wichtigen Aufführungsort Neuer Musik – das war Donaueschingen bereits seit den Zwanzigerjahren – sondern vor allem auch für den Ort kritischer Reflexion unter Komponisten und Musikwissenschaftlern. Bezeichnend ist hier allerdings das fast dogmatische Festhalten an einem bestimmten, sicher auch ideologisch geprägten Fortschrittsbegriff, wie ihn etwa Theodor W. Adorno und Heinz-Klaus Metzger vertraten. Dieser fordert eine rational herstell- und analysierbare Materialstimmigkeit („Materialfortschritt“), die auf der anderen Seite musikalische Begrifflichkeiten wie etwa „Ausdruck“ völlig ignoriert und so auch – besonders deutlich im Fall von Pierre Boulez‘ 3. Klaviersonate – quasi das „Fehlen des Autors“ geradezu heraufbeschwört.

Vielleicht lässt sich diese (Fehl?)entwicklung anhand der ersten beiden CDs für den Hörer gut nachvollziehen. So finden wir hier eine Darbietung von Anton Weberns Variationen op.27 durch den Uraufführungspianisten Peter Stadlen, dem der Komponist 1937 mit auf den Weg gegeben hatte, das hochkonstruktive Werk quasi romantisch und mit Rubato vorzutragen. Erstaunlich angesichts der Tatsache, dass schon die erste Phrase nicht nur ein Palindrom in  zeitlicher Richtung, sondern auch noch in der Vertikalen spiegelsymmetrisch ist. Tatsächlich folgt der Pianist in seiner Wiedergabe von 1948 dieser Aufforderung überzeugend. Und wenn man Stadlens Interpretation von Schönbergs op. 23 (das letzte Stück, der Walzer, ist das erste offizielle Zwölftonwerk Schönbergs) mit der staubtrockenen, rationalen Aufnahme von Schönbergs eigentlich expressionistischen Sechs kleinen Klavierstücken op. 19 unter den Händen von Eduard Steuermann – seinerseits Widmungsträger der Webernschen Variationen – aus dem Jahre 1957 vergleicht, wundert man sich nicht schlecht über den ästhetischen Wandel des Klavierspiels, der da stattgefunden hat. Wenn Weberns hermetische Kunst einer konsequenten Materialbeschränkung von den „Darmstädtern“ (insbesondere Boulez und Stockhausen) quasi zur Prämisse erklärt wurde, so war der Weg zur seriellen Musik unaufhaltsam. Dass diese dann (Ligeti erklärt dies bereits in einem frühen Aufsatz mit unweigerlich auftretender Entropie) irgendwie immer „gleich“ klingt, führte sehr schnell – bereits ab 1955 – zu einer Abkehr von simpler Reihentechnik, aber dafür zu noch komplexeren Ableitungen des Ausgangsmaterials unter dem Gesetz der Zahl – teilweise aber bereits unter Einbeziehung von Zufallsentscheidungen, die man in Darmstadt durch John Cage kennengelernt hatte. Auf CD2 finden sich hintereinander gleich zwei Schlüsselwerke dieser Periode: Karlheinz Stockhausens Klavierstück XI (gespielt vom legendären David Tudor) und Pierre Boulez‘ Troisième Sonate. Letztere ist ein work in progress geblieben; von den fünf geplanten Sätzen –  hier: Formanten – sind nur zwei im Druck erschienen (Trope und Constellation/Miroir). Die übrigen Sätze wurden nie fertig. Die vorliegende Aufnahme ist ein ganz besonderes Tondokument, da sie nicht nur die stupenden Fähigkeiten von Boulez auch als Pianist zeigt. Er spielt hier eine vorläufige (bei den unveröffentlichen Formanten noch sehr rudimentäre) fünfsätzige Fassung. Immerhin erscheint es bei der ganzen Gehirnakrobatik hinter dieser Komposition als menschlich, dass selbst der Komponist es nicht schafft, sauber einen Weg durch das von ihm erschaffene Labyrinth zu finden: Boulez lässt – offensichtlich aus Versehen – etliche Wege in Miroir (das später gedruckte eine Notenblatt misst 3,47m x 59,6 cm!) aus, die er eigentlich obligatorisch spielen müsste. Dem oben erwähnten John Cage ist zwar eine eigene CD in der Reihe der Darmstadt Aural Documents gewidmet; in der Klavierbox fehlen aber leider auch die anderen wichtigen Vertreter der New York School (so Morton Feldman oder Earle Brown), die wichtige Bezugspunkte für Darmstadt geliefert haben.

Bei CD2 empfehle ich dringend, den CD-Player auf jeweils ein Werk zu programmieren und dies eventuell mehrfach anzuhören. Beim ersten Hören ist sonst die Gefahr in der Tat groß, sich schon im nächsten Stück – eines anderen Komponisten! – zu befinden, ohne etwas davon gemerkt zu haben. Ob so Werken wie der 3. Boulez-Sonate (über die es ein halbes Dutzend umfängliche Dissertationen gibt) etwas abzugewinnen ist, sei jedem Hörer selbst überlassen.

Es ist interessant, dass gerade das Klavier mit seinem monochromen Klang über die Jahre so wichtig für die Vertreter der seriellen Schiene geblieben ist, obwohl es auch die Schwächen dieses Komponierens mehr als deutlich zu Tage treten lässt. Vielleicht ist das Klavier aber auch – schon als Möbelstück geradezu das Repräsentationsobjekt des Bürgertums – einfach historische Reibungsfläche par excellence; man denke nur an die geradezu genüsslichen Klavierdestruktionen nicht erst der Fluxus-Bewegung.

In Darmstadt hielt man länger als irgendwo sonst an seriellen Konzepten fest. Wer damit nicht konform ging, wurde oft schlicht hinausgeekelt (etwa Hans Werner Henze). So entstand eben nicht nur ein Ort gegenseitiger künstlerischer Befruchtung, sondern auch zerbrochener Freundschaften und unerledigter Diskurse – später etwa um den Begriff einer musikalischen Postmoderne, die manchem von vornherein als regressiv galt. Als selbst Adorno die aktuelle Entwicklung kritisch hinterfragte (in seiner Schrift Vers une musique informelle, 1961), erntete er überwiegend „zementierte“ Reaktionen.

Trotzdem hinterließen auch die „Abweichler“ in Darmstadt unweigerlich ihre Spuren: Als vielleicht typische Beispiele für die musikalische Postmoderne der 70er- bzw. 80er-Jahre höre man z.B. Wolfgang Rihms Klavierstück Nr. 5 „Tombeau“ (Neo-Expressionismus?) und Wilhelm Killmayers Klavierstück Nr. 7 (unverschämter Weise mit tonalen Zitaten, die einzigen in der Box). Nachdem die Postmoderne-Diskussion Anfang der 1990er urplötzlich abbrach, komponierten etliche Jüngere anscheinend ein wenig unbeeinflusster von „Trends“, gerade bei der Klaviermusik allerdings oft in quasi ironisch gebrochener Weise – und auch der „Komplexismus“ ist bis heute keineswegs aus Darmstadt verschwunden.

Ob manche der in der Box vorgestellten Werke nach 1970 irgendwann – und wenn auch nur aus historischen Gründen – Repertoirestücke werden, wird erst die Zeit entscheiden. Lob verdienen auf jeden Fall die Ausführenden: Sowohl die Beispiele virtuoser Entgrenzungen (Xenakis, Boucourechliev, Ferneyhough, Sciarrino, Rothman…) als auch sich solchem verweigernde Gegenpole (Febel, Tanaka, Lang…) werden hier absolut überzeugend dargeboten – nicht von ungefähr darf ein Großteil der hier tätigen Pianisten als creme de la creme bei der Bewältigung Neuer Musik gelten. Wirklich überragend – auch gerade im Vergleich mit späteren Einspielungen – seien stellvertretend Alois Kontarsky mit Xenakis‘ Evryali und Claude Helffer mit Boucourechlievs Six études d’après Piranèse genannt.

Besonderes Augenmerk wurde bei der Auswahl für die Box auch auf solche Werke gelegt, bei denen das übliche Gespann – Pianist(in) plus wohltemperiert gestimmter Konzertflügel – verworfen wird. Hier finden sich einerseits Stücke, die den normalen Tonvorrat in Richtung Mikrotonalität verändern oder erweitern (Roland Kayns Quanten, Jean-Etienne Maries Trois pièces brêves, Pascal Critons Thymes) – andererseits solche, die den Pianisten völlig ignorieren (Player Piano bzw. Computerrealisationen mit und ohne Live-Elektronik bei Barlow und Zuraj) oder aber zusätzliche Aktionen wie Singen oder Sprechen von ihm abfordern (Aperghis, Baltakas). Stockhausens Luzifers Traum oder Klavierstück XIII (1981) ist ja eigentlich auch eine Opernszene: aus Samstag aus »Licht«.

Man sollte hoffen, dass die Quintessenz des Ganzen nicht so schlimm ist, wie sie Steffen Krebber (*1976) in seinem witzigen faire signe (für Automatenklavier und einen Lautsprecher) von 2014 ironisch zu ziehen scheint. Das Stück beginnt – vom Tonband – mit dem Text: „Es lohnt sich nicht zuzuhören, weil spätere Kunst sicher besser sein wird. Bitte verlassen Sie den Saal!“

Aufnahmetechnisch ist die Box nicht zu beanstanden. Der Digital-Transfer gerade auch vieler älterer, monauraler Aufnahmen (beginnend 1948) ist gut gelungen, die zeitüblichen Störungen wurden weitgehend herausgefiltert – bei ein, zwei Aufnahmen war wohl etwas Jitter nicht zu beheben. Einige der Einspielungen zeigen neben ihrem historischen Wert die jeweiligen Interpreten auf dem absoluten Höhepunkt ihrer Möglichkeiten – zudem hört man gleich drei Komponisten (Boulez, Castiglioni und Lachenmann) in der eher seltenen Rolle als Pianisten mit ihren eigenen Werken. Dass viele der dargebotenen Werke bisher gar nicht in anderer Form auf CD zugänglich waren, spricht alleine schon für eine Kaufempfehlung – allerdings eher nur für hartgesottene Fans moderner Musik. Dies ist alles andere als leichte Kost!

[Martin Blaumeiser, August 2016]

Zu den Wurzeln

Martin Fröst
Roots
The Royal Stockholm Philharmonic Orchestra

Verschiedenste Stücke verschiedenster Couleur

Sony Classical 88875065292

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Voilà! La Musique!  Vom ersten Ton auf dieser CD mit dem schwedischen Klarinettisten – und Ausnahme-Musiker – Martin Fröst bis zum letzten: einfach nur Musik! Aber was für eine! Von alten Griechen – Seikilos-Epitaph – über Georg Philipp Telemann (1681-1767), über schwedische Folklore, jiddische Klezmer-Musik, Bernhard Crusell (1775-1838), einem der Ahnväter der schwedisch-finnischen  Musik, Johannes Brahms (1833-1897), Robert Schumann (1810-1856), Béla Bartók (1881-1945), Manuel de Falla (1876-1946), Astor Piazzolla (1921-1992) bis hin zu zeitgenössischen schwedischen Komponisten wie Göran Fröst (geb. 1974), Anders Hillborg (geb. 1954) und dem Letten Georgs Pelècis (geb. 1947) brennt dieser „Klarinetten-Spieler“ ein musikalisches Feuerwerk vom Hinreißendsten ab, aufgenommen  in hervorragender Klangqualität, was einem immer wieder staunende Bewunderung „abnötigt“. Er selbst beschreibt seine „roots“, also die Wurzeln seines Musizierens als riesigen Bogen von ersten Tönen bei den alten Griechen bis zu rein Improvisatorischem. Diese Wurzeln öffnen für Martin Fröst eben auch dadurch die Türen für eine Musik der Zukunft, wie sie sein großer Landsmann, der schwedische Komponist Anders Eliasson (1947-2013), in seinen Kompositionen schon aufgestoßen hat. Vielleicht hören wir demnächst auf einer neuen CD diesen wunderbaren Musiker einmal mit den grandiosen Klarinettenwerken von Eliasson, und dürfen Zeugen sein, wie beide durch dieses Tor durchgehen und uns einen musikalischen Ausblick in eine noch unerschlossene Zukunft der Menschheit ermöglichen.
Ob mit einer der ältesten überlieferten Melodien, dem griechischen Seikilos-Lied, dem sich  ein Stück von Hildegard von Bingen nahtlos anschließt, ob Stücke aus der schwedischen Folkore oder Klassisches vom finnisch-schwedischen Komponisten Bernhard Crusell zusammen mit dem Royael Stockholm Philharmonic Orchstra, die 5 Stücke im Volkston von Robert Schumann oder Rumänische Tänze von Béla Bartók oder aber Stücke im Blues-Charakter oder tangoähnliche von Astor Piazzolla oder Georgs Pelécics, immer überzeugt die überwältigende Spielfreude und musikalische Präsenz des Martin Fröst, man kann sich beim Hören nicht enthalten, selber ins Tanzen zu kommen, wie es dem Klarinettisten ja auch beim Spielen auf dem blauen Coverbild zu überkommen scheint. Musica vincit omnia – wie der alte Lateiner sagt.
Natürlich könnte ich über jedes dieser Musikstücke auf der CD seitenlang schwärmen, aber am besten ist es, diese CD sofort selber anzuhören, sie ist es im allerhöchsten Maße wert und zeigt die immerwährende Kraft wahrer Musik als einer diese Welt wenigstens eine Zeit lang transformierende musische Möglichkeit. Die Hoffnung stirbt – glücklicherweise – immer noch zu allerletzt.

[Ulrich Hermann, Februar 2016]

Hungary for Music

Im Festsaal an der Maria-Ward-Straße 5 findet am 12. und 13. Februar das diesjährige Konzert des Münchner Internationalen Orchesters, des MIO, mit dem unmissverständlichen Titel „Hungary for Music“ statt. Auf dem Programm des von Michael Mader geleiteten Klangkörpers steht das Vorspiel zu „Die Königin von Saba“ Karl Goldmarks neben Béla Bartóks drittem Klavierkonzert, sodann die Ruralia Hungarica von Ernst von Dohnányi sowie aus der Feder von Franz Liszt Les Préludes. Solist des Abends ist Gerold Huber.

Gleich mit zwei Raritäten wartet das Münchner Internationale Orchester an diesem Konzertabend des 13. Februar (sowie am Vortag, am 12. Februar) auf. Die Königin von Saba, eine biblische Figur, ist ein beliebter Stoff: Eine bekannte Erzählung von Knut Hamsun trägt diesen Titel ebenso wie das Ballett Belkis, Regina di Saba von Ottorino Respighi, außerdem tritt die Figur in Händels Oratorium Solomon im dritten Akt auf. Wenig bekannt hingegen ist die Oper von Karl Goldmark auf dasselbe Sujet. Der ungarische Komponist Karl (in Ungarn bis heute Károly) Goldmark erlebte zu Lebzeiten große Erfolge, einige Opern des Autodidakten wurden von Gustav Mahler dirigiert und auch bekannte Größen erhielten Unterricht von ihm, so etwa Jean Sibelius. Später verschwand der Komponist vollends in Versenkung, vor allem zur Zeit der Nationalsozialisten wurde er aufgrund seiner jüdischen Abstammung geächtet. Der Grund für das Verschwinden von Ernst (Ernő) von Dohnányi, Klavierlehrer von Berühmtheiten wie György Cziffra und Géza Anda, liegt anders: Er wurde als spätromantischer Emigrant in Amerika vergessen. Sein Sohn wurde von den Nationalsozialisten als Kollaborateur Stauffenbergs hingerichtet, seine Enkel machten als Dirigent (Christoph) und Hamburger Oberbürgermeister (Klaus) Karriere. Dohnányis Ruralia Hungarica sind eine Suite aus dem Jahr 1923 in sieben Sätzen für Klavier solo mit der Werkkennung Op. 32a, aus der er zum fünfzehnjährigen Bestehen der zusammengesetzten Stadt Budapest fünf Sätze orchestrierte (Op. 32b, eine Fassung 32c für Violine und Klavier sowie 32d für Violoncello und Klavier sollten auch noch folgen).

Das Münchner Internationale Orchester zeigt an diesem Konzertabend eine große Freude am Musizieren und einen vollen, ausgewogenen Ton. Die Musiker, bunt gemischt durch alle Altersklassen und Professionalitätsstufen, sind hochmotiviert und größtenteils auf einem wahrlich beachtlichen Niveau. Bei der Musik von Goldmark scheinen sich manche noch etwas warmzuspielen und die Synchronizität ist nicht durchgängig vorhanden, doch schon hier zeigt sich ein warmer Klang und es wird deutlich, wie intensiv das Orchester an einigen Feinheiten geprobt hat und verborgene Details ans Licht bringen konnte. Auch der in den Orchesterstimmen höchst anspruchsvolle Bartók gelingt größtenteils, nur an wenigen Stellen wirken einzelne Stimmen mit dem komplexen Zusammenspiel ein wenig überfordert. Spätestens nach der Pause kommen die Musiker voll zum Zug und können ihre Qualitäten präsentieren. Die Ruralia Hungarica Dohnányis erhalten schwungvollen Glanz und sanfte Kantabilität zugleich, das Blech darf wie überall kraftvoll schmettern und das Holz besticht durch virtuose Solopassagen. Darbietungstechnisch das Highlight sind dennoch zweifelsohne Les Préludes von Franz Liszt, in diesem bekannten Stück in vertrauter Tonsprache kommt eine Freude an dieser Musik auf, wie ich sie so von großen reinen Profiorchestern nur selten gehört habe. Das Zusammenspiel komplettiert sich nun vollends zu einer mitreißenden Einheit und die divergenten Teile der Préludes werden in feiner Stringenz zusammengehalten. Die Musiker geben durchwegs ihr Bestes und überzeugen mit hoher Qualität. An dieser Stelle seien nur wenige von ihnen besonders hervorgehoben, dies wäre zum einen die hochvirtuose Klarinette, die ihre seiltänzerischen Solopassagen mit größter Lockerheit und spürbarem musikalischen Verständnis präsentiert, das Schlagwerk, welches dynamisch stets auf das restliche Orchester abgestimmt agiert, ohne darin unterzugehen oder sich in den Vordergrund zu drängen, sowie die Basssektion. Lediglich zwei Kontrabässe spielen an diesem Abend – und das bei acht Celli -, dennoch können die beiden Spieler stets vernehmbar bleiben und zeigen eine Klangfülle, die ein solides Fundament für den Klangkörper bildet. Obgleich beide Kontabassisten vollständig unterschiedliche Techniken verwenden, mischt sich der Klang und sogar bei Bartók passen sie sich im Wechselspiel mit dem Pianisten an dessen dominierenden Tonfall an.

Den für seine enormen Schwierigkeiten bis heute respektgebietenden Solopart in Béla Bartóks 3. Klavierkonzert übernimmt Gerold Huber, der bisher vor allem als Liedbegleiter von Christian Gerhaher Aufmerksamkeit erlangte. Auch den Anforderungen an einen Orchestersolisten wird Huber gerecht, die technisch-mechanischen Höchstschwierigkeiten in dem Konzert gelingen ihm in gelassener Lockerheit. An diesem Abend steht das Klavier in der Mitte vor dem Dirigenten und teilt das Orchester quasi in zwei Teile, wodurch in dem akustisch angenehmen Saal ein interessantes Klangexperiment entfacht wird, welches größtenteils gelingt – abgesehen davon, dass das tiefe Holz bei mir auf der rechten Seite etwas schwer hörbar ist in manchen Passagen. Doch ist dazu zu sagen, dass Gerold Huber stets zu laut und hart spielt und das Orchester damit an ruhigeren Stellen übertönt. Anstelle von formbarer Klangfülle durch aktiven Anschlag aus dem Körperzentrum heraus erhalten die Akkorde eine kühle und granitene Härte und Trockenheit durch reinen Armeinsatz. So mag sich der Klang auch wenig in das warm und voll klingende Orchester einpassen. Erst im dritten Satz gelingt die Synthese zwischen Solist und Orchester besser, hier wird auch ein gewisses Verständnis für die Musik merklich.

Michael Mader hält den Klangapparat vom Dirigentenpult aus gut zusammen. Mit Sicherheit lässt sich behaupten, dass die Musiker ihn schätzen und respektieren, jeder folgt intensiv seinem Wink. Mader hat hörbar viel Arbeit in die Proben gesteckt und erhält an diesem Abend seinen Lohn dafür, das Orchester ist trotz Unterbesetzung in einigen Instrumentengruppen beziehungsweise Überschuss in anderen sorgsam abgestimmt und präsentiert ein erstaunlich einheitliches Klangbild.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]