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Erstaunlicher Bernd Alois Zimmermann aus Helsinki

Ondine ODE 1325-2; EAN: 0 761195 132524

Hannu Lintu hat mit seinem Finnischen Radio-Symphonieorchester auf Ondine eine interessante CD mit drei Hauptwerken von Bernd Alois Zimmermann vorgelegt: das Violinkonzert (mit Leila Josefowicz), „Photoptosis“ und die aus einigen Szenen des ersten und zweiten Aktes zusammengestellte Vokal-Sinfonie zur Oper „Die Soldaten“.

Hannu Lintu hat gerade in der Gattung Violinkonzerte des 20. Jahrhunderts schon einige bemerkenswerte CD-Aufnahmen veröffentlicht (etwa mit Christian Tetzlaff); da war dann das Violinkonzert von Bernd Alois Zimmermann (1918-1970) vielleicht nur eine Frage der Zeit. Bei dem Stück handelt es sich um ein Schlüsselwerk des Komponisten, das 1950 entscheidende Wendungen in Zimmermanns Umgang mit der Zwölftontechnik mit sich brachte. Leila Josefowicz, bei derartigem Repertoire eigentlich immer überzeugend, legt erneut eine intensive, klanglich ausgeklügelte Interpretation hin. Im Vergleich zu Thomas Zehetmair, der in der ECM-Aufnahme von 2005 unter Heinz Holliger versucht, jedes noch so kleine Detail besonders „auszudeuten“, stellt die amerikanische Geigerin allerdings den mehr improvisatorischen Charakter einiger Passagen in den Vordergrund, ohne dabei jedoch emotional nachzulassen. Die Orchesterbegleitung von Lintus finnischem RSO ist dem des WDR hörbar überlegen, auch die durchsichtigere Aufnahmetechnik kitzelt hier mehr Details heraus. Der Spannungsbogen der Fantasia, des fantastischen Mittelsatzes, bleibt dank des etwas flüssigeren Tempos stets erhalten, das unterlegte Thema des Dies irae dadurch noch gut erkennbar; Josefowicz entdeckt an einer Stelle beinahe jiddische Melodiewendungen. Im finalen Rondo greifen Solistin wie Orchester beherzt zu, wenn auch hier gleich die erste Rumba-Passage – wie so oft – ein wenig zu steif und martialisch daherkommt, was Steigerungspotenzial verschenkt. Eine hochkarätige Darbietung dieses immer noch unterschätzten Violinkonzerts, die eine ausdrückliche Empfehlung verdient.

Bei Zimmermanns spätem Orchesterprélude Photoptosis hingegen mag kaum Spannung aufkommen. Insgesamt ist das Tempo eine Spur zu langsam. Die irisierenden Farbflächen in Holzbläsern und Harfe wirken nicht nur zu Anfang etwas fade; die große Steigerung nach den ganzen eingestreuten Zitaten wird nur laut, aber nicht wirklich bedrohlich – das haben andere Dirigenten wie Hans Zender, Michael Gielen oder Markus Stenz schon besser hingekriegt.

Ganz anders wieder die – live aufgenommene – Vokal-Sinfonie aus den Soldaten. Hier gefallen eigentlich alle, zumeist finnischen, Solisten mit empathischer Diktion, die dabei erstaunlich natürlich bleibt, verständlichem Deutsch und adäquater stimmlicher Präsenz. Besonders hervorzuheben ist der ausgezeichnete Wesener des wagner-erfahrenen Juha Uusitalo. Das Umschalten zwischen den Urgewalten des Preludio und Intermezzo zu quasi kammermusikalischer Begleitung – selbst dort ist das Orchester meist noch riesig – gelingt Lintu tadellos. Ein paar Tempi sind wieder etwas zäh, aber der klangliche Pluralismus Zimmermanns wird dadurch umso deutlicher. Ondine kann sich nun rühmen, die wohl einzig relevante Aufnahme dieses Stückes nach der sagenhaften WDR-Produktion von 1978 unter Hiroshi Wakasugi auf den Markt gebracht zu haben.

[Martin Blaumeiser, Juli 2019]

Ein Abend für Bernd Alois Zimmermann


Foto: ©Astrid Ackermann

Zum ausklingenden Zentenarium von Bernd Alois Zimmermann widmete die musica viva ihm am 14.12.2018 gleich zwei aufeinanderfolgende Konzerte. Nach dem Sinfoniekonzert, wo neben Zimmermanns „Sinfonie in einem Satz“ und den „Dialogen“ noch das Violinkonzert von John Adams erklang, brachte das fabelhafte GrauSchumacher Piano Duo in einem Late Night Konzert noch Zimmermanns „Monologe“ sowie zwei Transkriptionen Debussyscher Orchesterwerke zu Gehör.

Vor allem Bernd Alois Zimmermanns (1918-1970) Requiem für einen jungen Dichter sowie das mittlerweile vielgespielte Orchesterstück Photoptosis hinterließen bei mir als Jugendlicher einen tiefen Eindruck, der – nicht gerade selbstverständlich bei „Neuer Musik“ – immer noch unverändert Bestand hat. Erst viel später lernte ich auch das Frühwerk Zimmermanns zu schätzen, zu dem man die Erstfassung der Sinfonie in einem Satz (1951) sicherlich als einen Höhepunkt zählen darf. Diese basiert zwar auf einer Zwölftonreihe, ist aber vom sich da schon etablierenden totalen Serialismus bei Boulez oder Stockhausen weit entfernt, noch ganz den expressionistischen Qualitäten der Zweiten Wiener Schule verpflichtet. Die Erstfassung verwendet im Unterschied zur späteren Version vor allem die Orgel, die hier geradezu bildhaft wie das Schicksal oder ein ungreifbares Über-Ich dreinschlägt und die Integrität des Orchesterklanges zu sprengen droht. Brad Lubman ist im gesamten Programm ein Dirigent, dessen Zeichengebung äußerst umsichtig (Einsätze!) und hochpräzise ist, was die hier umzusetzende rhythmische Komplexität angeht. Bei der Dynamik – und das bestätigt leider meinen Eindruck seiner bisherigen Münchner Auftritte – bleibt er, möglicherweise auch durch seine im Ambitus zu ausladende Schlagtechnik ohne Taktstock, ziemlich undifferenziert, recht pauschal und verlässt sich auf das, was seine hervorragenden Musiker diesbezüglich in den Proben mit ihm erarbeitet haben mögen. So bleibt er aber auch im Ausdruck über weite Strecken blass: Kantables vor dem wieder desolaten Schluss der Symphonie fällt beinahe unter den Tisch, die gerade in dieser Version überdeutlichen Schroffheiten erklingen eher nivelliert, obwohl der militaristische Schrecken klar die Oberhand behält. Trotzdem gelingt dem BR Symphonieorchester hier ein überzeugendes Plädoyer für dieses immer noch unterschätzte Werk Zimmermanns.

In den Dialogen für zwei Klaviere und Orchester (1960/65) ist der Komponist schon ganz in seiner persönlichen Welt einer pluralistischen Raum/Zeit-Auffassung bei auf seriellen Prozessen fußender Materialentfaltung angekommen. Auch hier verpasst man einmal mehr – schiebt man es wieder auf die Unzulänglichkeiten des Herkulessaals? – Zimmermanns intendierte, gänzlich durchmischte Sitzordnung des Orchesters umzusetzen. Ich habe die Dialoge vor etlichen Jahren einmal unter Gary Bertini in der Kölner Philharmonie mit der in der Partitur empfohlenen Aufstellung gehört; nicht nur der Klang, auch die Kommunikation innerhalb des Orchesters gewann dadurch ganz wesentlich. Wie das Klavierduo Grau/Schumacher dieses schon spieltechnisch an der Grenze des Realisierbaren stehende Konzert auch noch auswendig spielt und sich dabei über Blickkontakt perfekt synchronisiert, ist schon ein kleines Wunder. Das Stück, das nicht nur durch die eingeflochtenen Zitate bereits ein Vorbote der Postmoderne ist, wird hier insgesamt selten schön umgesetzt und die Solisten erhalten verdienten, langanhaltenden Applaus.

Eine ganz andere Welt eröffnet sich dem Zuhörer nach der Pause mit John Adams‘ Violinkonzert von 1993. Nur vordergründig bedient sich Adams minimalistischer Techniken, der Solopart ist hochvirtuos, in der Gesamtanlage auch wirklich attraktiv. Der Kopfsatz hat dann aber doch Längen, wirkt ein wenig eintönig und bietet keinerlei Raum für Agogik. Die zentrale Chaconne überzeugt mit schönem Streicherklang, der allerdings durch sehr künstlich wirkende Synthesizer-Klänge erweitert und gleichzeitig denaturiert wird. Es gibt einen fließenden Mittelteil und durch das Horn viel Wärme zum Ende des Satzes hin. Das Finale, Toccare betitelt, beginnt erwartungsgemäß wie ein Perpetuum mobile, ist aber insgesamt abwechslungsreicher als die vorangegangenen Sätze. Ilya Gringolts ist mir bereits in seinen Kammermusikaufnahmen – etwa mit dem von ihm gegründeten Streichquartett – als ein Geiger aufgefallen, der empathischen Zugriff und Klangschönheit mit einer Intonationssicherheit verbindet, die selbst unter Spitzenvirtuosen ihresgleichen sucht. Natürlich bleibt er ausdrucksmäßig hier im Spinnennetz der Adamsschen Pattern ein wenig gefangen und bringt dennoch so viel Leidenschaft herüber, dass der Beifall am Schluss dieses Konzerts fast frenetisch wird. Adams schafft es immer wieder, mit eigentlich dürftiger Substanz ein für den Hörer nachvollziehbares, begeisterndes Konzerterlebnis herzustellen.

Um 22 Uhr darf dann das GrauSchumacher Piano Duo nochmals zeigen, was mit nur zwei Klavieren überhaupt möglich ist. Bernd Alois Zimmermanns Monologe (1965) sind keineswegs eine Bearbeitung oder gar Transkription seiner Dialoge, sondern weitestgehend eine Neukomposition. Technisch und musikalisch sicher mit das Anspruchsvollste, was je für Klavierduo komponiert wurde, meistern Andreas Grau und Götz Schumacher die Partitur (diesmal nach Noten) mit einem nun über 25 Jahre gewachsenen Verständnis auch fürs kleinste Detail. Der Klang gerät einfach überwältigend, die dynamische Spannweite wird von fast die gesamte Klaviatur umfassenden fff-Clustern bis zum beiläufigsten Pianissimo-Schnörkel kongenial umgesetzt. Die – verglichen mit den Dialogen – zahlreicheren Fremdzitate (von Bachs „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ über Beethovens Hammerklaviersonate bis zu Debussys „Feux d’artifice“) erscheinen sofort identifizierbar, fügen sich ohne erhobenem Zeigefinger ganz im Sinne des Komponisten ins pluralistische Gesamtgeschehen ein. Die Cluster werden nie zum Gedresche – ein Extralob für die sensationelle Realisation der extrem vertrackten 64tel-Cluster im IV. Monolog (Ziffer 3). Was für eine bravouröse Interpretation – das große Wunder dieses Abends!

Umrahmt wird die Zimmermann-Orgie von zwei Transkriptionen Debussyscher Orchesterwerke. Die des Prélude à l’après-midi d’un faune vom Komponisten selbst erweist sich als nur halbwegs gelungener Versuch, die Klangfarben des Vorbilds aufs Klavier zu übertragen: Die Harmonik wirkt hier lange nicht so überzeugend wie im Original. Dagegen zeigt Ravel bei seiner pianistischen Übersetzung der Trois Nocturnes, wie vollkommen er mit Klang und Resonanzen der Instrumente umzugehen versteht: Einerseits wirkt diese Bearbeitung klaviermäßiger, technischer, wird aber auch der kompositorischen Vorlage bis in alle Einzelheiten gerecht. Die Darbietung des GrauSchumacher Piano Duo ist auch hier Weltklasse, das Publikum – da gilt mein Mitleid jetzt den vielen Zuhörern, die schon nach dem Sinfoniekonzert den Herkulessaal verlassen haben – darf in impressionistischen Klängen schwelgen, die zu einem einzigartigen Genuss werden. Für die nun einhellige Begeisterung bedanken sich die beiden Pianisten – vierhändig an nur einem Steinway – mit dem letzten Satz aus Ravels Ma Mére l’Oye.

[Martin Blaumeiser, Dezember 2018]

Siebzig Jahre Klaviermusik von den Darmstädter Ferienkursen

NEOS 11630 (7CDs), LC 15673; EAN: 4 260063 116308

Wohl kein Ort der Welt scheint nach 1945 so mit dem Begriff der „Musikalischen Moderne“ verknüpft wie Darmstadt mit seinen berühmt-berüchtigten Ferienkursen. Von den etwa tausend bei den dortigen Begleitkonzerten aufgeführten Klavierwerken hat jetzt das Label NEOS auf sieben CDs eine kluge Auswahl als „Darmstadt Aural Documents – Box 4 · Pianists“ vorgelegt, die dem Hörer gut die mannigfaltigen ästhetischen Positionswechsel der letzten siebzig Jahre demonstriert. Dabei hatte die Klaviermusik, vergleichbar mit dem Streichquartett in früheren Epochen, immer eine Schlüsselfunktion inne. Unter den Aufnahmen etlicher für die Interpretation von neuer Klaviermusik prägender PianistInnen – darunter viele CD-Erstveröffentlichungen – finden sich auch einige echte Schätze, gerade aus den Anfangsjahren. Das komplette Programm der Box findet man hier.

In der Reihe Darmstadt Aural Documents widmet sich die vierte Veröffentlichung bei NEOS (nach Orchesterwerken, John Cage und Ensemblemusik) endlich der Darmstädter Auseinandersetzung mit der Klaviermusik. Die 7-CD-Box enthält 54 Werke von 49 verschiedenen Komponisten mit insgesamt über 8½ Stunden Musik. Im Gegensatz zur großen Anthologie Musik in Deutschland 1950-2000 (RCA), die dem Hörer Stücke oft nur häppchenweise vorsetzt, sind hier zum Glück aus mehreren Teilen bestehende Werke immer vollständig zu hören. Das unerwartet dünne Booklet enthält neben der Trackliste zunächst nur ein Vorwort sowie einen schönen Text von Stefan Fricke, der die historische Position des Klaviers nach dem Zweiten Weltkrieg und deren Veränderung beleuchtet. Nachfolgend versucht Michael Zwenzner zwar, die meisten der vorgestellten Werke innerhalb ihres konkreteren ästhetischen Kontexts zu verorten – tatsächliche Werkbeschreibungen zu den einzelnen Stücken fehlen aber. Dies kann und soll diese Besprechung natürlich nicht nachholen.

Die Verteilung der Musik auf die 7 CDs entspricht so sicher nicht ganz ihrer anteiligen historischen Bedeutung für Darmstadt. CD1 enthält Klavierwerke vor 1950 – hier findet man neben Arnold Schönbergs opp. 19 u. 23 und einigen zu Unrecht vergessenen Raritäten (Wolpe, Sessions, Apostel) z.B. auch die Klaviersonate von Béla Bartók (1926), was zunächst verwundern mag, da diese heute allenfalls gemäßigt modern erscheint. Man muss sich allerdings vor Augen führen, dass die erste Aufgabe der Darmstädter Ferienkurse darin bestand, dem interessierten Publikum und den (jungen) Komponisten nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst die Musik zugänglich zu machen, die während des Dritten Reichs schlicht verfemt war (Stichwort: Entartete Musik). Auch in der Aufführungsstatistik etwa der Münchner Musica-Viva-Konzerte während der 1950er-Jahren hatte Bartók einen erstaunlich hohen Stellenwert. CD2 ist allerdings etwas unbefriedigend: Auf nur einer CD erscheinen die Werke der 50er und 60er-Jahre unterrepräsentiert, da gerade diese zentrale Bedeutung für die weitere Entwicklung, insbesondere auf Reflexionsebene, in Darmstadt hatten – nicht zuletzt dadurch, dass die Kurse bis 1970 noch jährlich stattfanden (danach im Zweijahreszyklus). Hier bedauert man auch die Entscheidung der Herausgeber, Werke für zwei Klaviere ganz herauszunehmen. Die komplexesten Werke dieser Zeit sind oft gerade für diese Besetzung konzipiert. CDs 3-6 präsentieren jeweils ca. ein gutes Jahrzehnt (1970-2010). Die zweite Hälfte von CD6 und CD7 sind dann Stücken gewidmet, bei denen das Klavier modifiziert ist (andere Stimmung, Präparation, Hinzunahme von Tonbändern oder Live-Elektronik, computergenerierte Klänge etc.), oder aber der Pianist noch andere Aktionen – etwa als Sprecher – ausführen muss bzw. gänzlich fehlt (Player Piano).

Darmstadt stand jahrzehntelang nicht nur für einen wichtigen Aufführungsort Neuer Musik – das war Donaueschingen bereits seit den Zwanzigerjahren – sondern vor allem auch für den Ort kritischer Reflexion unter Komponisten und Musikwissenschaftlern. Bezeichnend ist hier allerdings das fast dogmatische Festhalten an einem bestimmten, sicher auch ideologisch geprägten Fortschrittsbegriff, wie ihn etwa Theodor W. Adorno und Heinz-Klaus Metzger vertraten. Dieser fordert eine rational herstell- und analysierbare Materialstimmigkeit („Materialfortschritt“), die auf der anderen Seite musikalische Begrifflichkeiten wie etwa „Ausdruck“ völlig ignoriert und so auch – besonders deutlich im Fall von Pierre Boulez‘ 3. Klaviersonate – quasi das „Fehlen des Autors“ geradezu heraufbeschwört.

Vielleicht lässt sich diese (Fehl?)entwicklung anhand der ersten beiden CDs für den Hörer gut nachvollziehen. So finden wir hier eine Darbietung von Anton Weberns Variationen op.27 durch den Uraufführungspianisten Peter Stadlen, dem der Komponist 1937 mit auf den Weg gegeben hatte, das hochkonstruktive Werk quasi romantisch und mit Rubato vorzutragen. Erstaunlich angesichts der Tatsache, dass schon die erste Phrase nicht nur ein Palindrom in  zeitlicher Richtung, sondern auch noch in der Vertikalen spiegelsymmetrisch ist. Tatsächlich folgt der Pianist in seiner Wiedergabe von 1948 dieser Aufforderung überzeugend. Und wenn man Stadlens Interpretation von Schönbergs op. 23 (das letzte Stück, der Walzer, ist das erste offizielle Zwölftonwerk Schönbergs) mit der staubtrockenen, rationalen Aufnahme von Schönbergs eigentlich expressionistischen Sechs kleinen Klavierstücken op. 19 unter den Händen von Eduard Steuermann – seinerseits Widmungsträger der Webernschen Variationen – aus dem Jahre 1957 vergleicht, wundert man sich nicht schlecht über den ästhetischen Wandel des Klavierspiels, der da stattgefunden hat. Wenn Weberns hermetische Kunst einer konsequenten Materialbeschränkung von den „Darmstädtern“ (insbesondere Boulez und Stockhausen) quasi zur Prämisse erklärt wurde, so war der Weg zur seriellen Musik unaufhaltsam. Dass diese dann (Ligeti erklärt dies bereits in einem frühen Aufsatz mit unweigerlich auftretender Entropie) irgendwie immer „gleich“ klingt, führte sehr schnell – bereits ab 1955 – zu einer Abkehr von simpler Reihentechnik, aber dafür zu noch komplexeren Ableitungen des Ausgangsmaterials unter dem Gesetz der Zahl – teilweise aber bereits unter Einbeziehung von Zufallsentscheidungen, die man in Darmstadt durch John Cage kennengelernt hatte. Auf CD2 finden sich hintereinander gleich zwei Schlüsselwerke dieser Periode: Karlheinz Stockhausens Klavierstück XI (gespielt vom legendären David Tudor) und Pierre Boulez‘ Troisième Sonate. Letztere ist ein work in progress geblieben; von den fünf geplanten Sätzen –  hier: Formanten – sind nur zwei im Druck erschienen (Trope und Constellation/Miroir). Die übrigen Sätze wurden nie fertig. Die vorliegende Aufnahme ist ein ganz besonderes Tondokument, da sie nicht nur die stupenden Fähigkeiten von Boulez auch als Pianist zeigt. Er spielt hier eine vorläufige (bei den unveröffentlichen Formanten noch sehr rudimentäre) fünfsätzige Fassung. Immerhin erscheint es bei der ganzen Gehirnakrobatik hinter dieser Komposition als menschlich, dass selbst der Komponist es nicht schafft, sauber einen Weg durch das von ihm erschaffene Labyrinth zu finden: Boulez lässt – offensichtlich aus Versehen – etliche Wege in Miroir (das später gedruckte eine Notenblatt misst 3,47m x 59,6 cm!) aus, die er eigentlich obligatorisch spielen müsste. Dem oben erwähnten John Cage ist zwar eine eigene CD in der Reihe der Darmstadt Aural Documents gewidmet; in der Klavierbox fehlen aber leider auch die anderen wichtigen Vertreter der New York School (so Morton Feldman oder Earle Brown), die wichtige Bezugspunkte für Darmstadt geliefert haben.

Bei CD2 empfehle ich dringend, den CD-Player auf jeweils ein Werk zu programmieren und dies eventuell mehrfach anzuhören. Beim ersten Hören ist sonst die Gefahr in der Tat groß, sich schon im nächsten Stück – eines anderen Komponisten! – zu befinden, ohne etwas davon gemerkt zu haben. Ob so Werken wie der 3. Boulez-Sonate (über die es ein halbes Dutzend umfängliche Dissertationen gibt) etwas abzugewinnen ist, sei jedem Hörer selbst überlassen.

Es ist interessant, dass gerade das Klavier mit seinem monochromen Klang über die Jahre so wichtig für die Vertreter der seriellen Schiene geblieben ist, obwohl es auch die Schwächen dieses Komponierens mehr als deutlich zu Tage treten lässt. Vielleicht ist das Klavier aber auch – schon als Möbelstück geradezu das Repräsentationsobjekt des Bürgertums – einfach historische Reibungsfläche par excellence; man denke nur an die geradezu genüsslichen Klavierdestruktionen nicht erst der Fluxus-Bewegung.

In Darmstadt hielt man länger als irgendwo sonst an seriellen Konzepten fest. Wer damit nicht konform ging, wurde oft schlicht hinausgeekelt (etwa Hans Werner Henze). So entstand eben nicht nur ein Ort gegenseitiger künstlerischer Befruchtung, sondern auch zerbrochener Freundschaften und unerledigter Diskurse – später etwa um den Begriff einer musikalischen Postmoderne, die manchem von vornherein als regressiv galt. Als selbst Adorno die aktuelle Entwicklung kritisch hinterfragte (in seiner Schrift Vers une musique informelle, 1961), erntete er überwiegend „zementierte“ Reaktionen.

Trotzdem hinterließen auch die „Abweichler“ in Darmstadt unweigerlich ihre Spuren: Als vielleicht typische Beispiele für die musikalische Postmoderne der 70er- bzw. 80er-Jahre höre man z.B. Wolfgang Rihms Klavierstück Nr. 5 „Tombeau“ (Neo-Expressionismus?) und Wilhelm Killmayers Klavierstück Nr. 7 (unverschämter Weise mit tonalen Zitaten, die einzigen in der Box). Nachdem die Postmoderne-Diskussion Anfang der 1990er urplötzlich abbrach, komponierten etliche Jüngere anscheinend ein wenig unbeeinflusster von „Trends“, gerade bei der Klaviermusik allerdings oft in quasi ironisch gebrochener Weise – und auch der „Komplexismus“ ist bis heute keineswegs aus Darmstadt verschwunden.

Ob manche der in der Box vorgestellten Werke nach 1970 irgendwann – und wenn auch nur aus historischen Gründen – Repertoirestücke werden, wird erst die Zeit entscheiden. Lob verdienen auf jeden Fall die Ausführenden: Sowohl die Beispiele virtuoser Entgrenzungen (Xenakis, Boucourechliev, Ferneyhough, Sciarrino, Rothman…) als auch sich solchem verweigernde Gegenpole (Febel, Tanaka, Lang…) werden hier absolut überzeugend dargeboten – nicht von ungefähr darf ein Großteil der hier tätigen Pianisten als creme de la creme bei der Bewältigung Neuer Musik gelten. Wirklich überragend – auch gerade im Vergleich mit späteren Einspielungen – seien stellvertretend Alois Kontarsky mit Xenakis‘ Evryali und Claude Helffer mit Boucourechlievs Six études d’après Piranèse genannt.

Besonderes Augenmerk wurde bei der Auswahl für die Box auch auf solche Werke gelegt, bei denen das übliche Gespann – Pianist(in) plus wohltemperiert gestimmter Konzertflügel – verworfen wird. Hier finden sich einerseits Stücke, die den normalen Tonvorrat in Richtung Mikrotonalität verändern oder erweitern (Roland Kayns Quanten, Jean-Etienne Maries Trois pièces brêves, Pascal Critons Thymes) – andererseits solche, die den Pianisten völlig ignorieren (Player Piano bzw. Computerrealisationen mit und ohne Live-Elektronik bei Barlow und Zuraj) oder aber zusätzliche Aktionen wie Singen oder Sprechen von ihm abfordern (Aperghis, Baltakas). Stockhausens Luzifers Traum oder Klavierstück XIII (1981) ist ja eigentlich auch eine Opernszene: aus Samstag aus »Licht«.

Man sollte hoffen, dass die Quintessenz des Ganzen nicht so schlimm ist, wie sie Steffen Krebber (*1976) in seinem witzigen faire signe (für Automatenklavier und einen Lautsprecher) von 2014 ironisch zu ziehen scheint. Das Stück beginnt – vom Tonband – mit dem Text: „Es lohnt sich nicht zuzuhören, weil spätere Kunst sicher besser sein wird. Bitte verlassen Sie den Saal!“

Aufnahmetechnisch ist die Box nicht zu beanstanden. Der Digital-Transfer gerade auch vieler älterer, monauraler Aufnahmen (beginnend 1948) ist gut gelungen, die zeitüblichen Störungen wurden weitgehend herausgefiltert – bei ein, zwei Aufnahmen war wohl etwas Jitter nicht zu beheben. Einige der Einspielungen zeigen neben ihrem historischen Wert die jeweiligen Interpreten auf dem absoluten Höhepunkt ihrer Möglichkeiten – zudem hört man gleich drei Komponisten (Boulez, Castiglioni und Lachenmann) in der eher seltenen Rolle als Pianisten mit ihren eigenen Werken. Dass viele der dargebotenen Werke bisher gar nicht in anderer Form auf CD zugänglich waren, spricht alleine schon für eine Kaufempfehlung – allerdings eher nur für hartgesottene Fans moderner Musik. Dies ist alles andere als leichte Kost!

[Martin Blaumeiser, August 2016]

Grenzgänger

acoustic motion concepts AMC 301-2; GTIN: 4050215095656

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Ein neu aufgestelltes Projektteam begeht den Versuch, Kammermusik von bekannten Komponisten der Moderne und des Übergangs zu dieser zu rekomponieren und mit zeitgenössischen Sampletechniken aus dem Aufnahmematerial eine neue Musik zu schaffen, die die Form einer Symphonie annehmen soll. Mitwirkende Musiker der Originalwerke sind dabei Lutz Bartberger, Felix Benkartek, Esther Bürger, Anna-Doris Capitelli, Toni Ming Geiger, Carolina Große Darrelmann, Theresa Lier, Lara Sophie Schmitt und Lena Wignjosaputro. Für die Rekomposition ist Luis Reichard zuständig, der mit Patrick Leuchter die Produktion leitet und vom Schlagzeuger Moritz Baranczyk unterstützt wird, der für einen Track noch eine später als MIDI exportierte Schlagzeugstimme liefert. Der Titel des Projekts lautet Noch:Schon, ihre erste Veröffentlichung nennt sich „Musik an der Schwelle“.

Mit klassischer Musik zu experimentieren und sie in andere Formen und Dimensionen zu bringen, bringt oft sehr interessante und im positiven Sinne bemerkenswerte Versuche hervor, denn so erhält eine oft als „verstaubt“ diffamierte Musik neues Publikum und vielleicht können auf diese Art gerade junge Leute aufmerksam gemacht werden nicht nur auf die moderne Bearbeitung, sondern auch auf die Originale dahinter, und für eine offene Hörhaltung gegenüber einer solchen Musik gewonnen werden. Noch:Schon bietet exakt diese Möglichkeit: Auf der ersten CD von „Musik an der Schwelle“ befinden sich die Originalwerke, bestehend aus Gustav Mahlers einsätzigem Klavierquartett, Alban Bergs sieben frühen Liedern, Sergei Prokofjews Sonate für zwei Violinen, Samuel Barbers Nuvoletta und Bernd Alois Zimmermanns Sonate für Viola Solo; die zweite CD hingegen enthält Bearbeitungen dieser Stücke, gegliedert in vier Sätze, die zusammen eine Symphonie bilden sollen mit einem Sonatenhauptsatz (Mahler) zu Beginn, einer Kantate (Berg) in vier Teilen als zweitem Satz, einem Scherzo (Barber) und einem Finale (Zimmermann). Bedauerlicherweise wird der grandiosen Prokofjew-Sonate kein eigener Titel zugesprochen.

Die Musiker spielen allesamt auf einem hohen Niveau. Sehr stimmungsvoll ist das einsätzige Klavierquartett von Gustav Mahler dargeboten, jenes einzige vollständig uns erhaltene Kammermusikwerk des großen Symphonikers, das zwar in klassischer Sonatenhauptsatzstruktur komponiert ist, aber sich dennoch hauptsächlich monistisch aus dem Hauptgedanken a-f-e entwickelt, wodurch es im Spiel schnell zu ungewünschten Längen kommen kann. Bei den hier mitwirkenden Musikern werden die Längen erstaunlich gut kaschiert, das Zusammenspiel wirkt im Großen und Ganzen gut abgestimmt, lediglich donnert es manchmal ein wenig zu grob – wobei dies auch an der Tontechnik liegen kann. Carolina Große Darrelmann verleiht den sieben frühen Liedern Alban Bergs einen recht matten und innigen Klang mit einem leicht reibenden Timbre – leider ist der Text dabei manchmal nur schwerlich zu verstehen, was gerade bei so textlich ausdrucksstarken Liedern wünschenswert wäre. Sehr opernhaft erscheint Ester Bürger in Barbers Nuvoletta mit ausschweifenden und brillanten Koloraturen und einer strahlend hellen Stimme, die einen deutlichen Gegenpol zu der kammermusikalisch erscheinenden Sängerin der Berg-Lieder bildet, wenn auch mit der unfreiwilligen Gemeinsamkeit der oft unzureichenden Textdeklamation. Felix Benkartek accompagniert in beiden divergierenden Stilen in trefflichem Gestus am Klavier, ohne dabei sonderlich stark an der Oberfläche neben den Sängerinnen hervorzutreten. Entsprechend ist seine „Stimme“ teils nicht sonderlich sanglich ausgestaltet und wirkt zwar als solider und stimmiger Untergrund, allerdings nicht als vollwertiger Widerpart zu den Partnerinnen, vor allem bei Barber. Dabei könnte er durchaus weiter aus dem Schatten hervortreten, sein Spiel ist angenehm feingliedrig und perlig. Vermutlich ist aber auch hier wieder eher die Abmischung Ursache für die ungleiche Abstimmung als das Spiel des Pianisten, denn das Klavier wirkt im Vergleich zu der Kraft hinter manchen Tönen doch recht gedämpft und als reine Hintergrundsfarbe degradiert. Die überzeugendste Darbietung der ersten CD ist meines Erachtens die von Lara Sophie Schmitt in der Sonate für Viola solo von Bernd Alois Zimmermann, von dessen breitem Œvre die meisten nur die Oper „Die Soldaten“ kennen, die letztes Jahr in der Bayerischen Staatsoper unter Kirill Petrenko einen für ein avantgardistisches Werk unvorstellbaren Erfolg erzielen konnte. Die Violasonate erfordert unzählige minimale Farbnuancen, die ganz exakt dosiert werden müssen – was Schmitt auch zustande bringen und so die düster-depressive und für Zimmermann so typische Stimmung ohne jede aufgesetzte Verstellung vermitteln kann. Zudem findet sich noch die Sonate für zwei Violinen Op. 56 von Sergei Prokofjew auf der ersten CD, welche übrigens den Titel „Noch“ trägt, während die Bearbeitungen als „Schon“ überschrieben werden. Die Sonate, wie wohl fast alle Werke von Prokofjew, verlangt alles an Mechanik von den Musikern ab, was physikalisch irgendwie erreichbar ist. Umso schwieriger gestaltet es sich, auch die Lyrik in diesen vertrackten Sätzen herauszuarbeiten und in all den Dissonanzen und teils derben Klängen zu „singen“. In den langsamen Passagen mag das noch zu einem guten Teil gelingen, aber in den virtuosen und rhythmisch markanten Verläufen sind Lutz Bartberger und Theresa Lier zu sehr mit der rein technischen Bewältigung der komplexen Organisation beschäftigt, um für ein ausgewogenes und abgestimmtes Spiel sorgen zu können. So geht häufig auch die erforderlich akzentuierte Scharfkantigkeit verloren, besonders im zweiten Satz, dem phänomenalen dynamischen Höhepunkt, wo statt dessen entweder die entsprechenden Momente zu „harmlos“ wirken oder aber allzu kratzig rüberkommen. Nichts desto Trotz ist alleine schon die technisch so saubere Bewältigung eine hohe Aufgabe, die es zu würdigen gilt.

Insgesamt ist allerdings zu sagen, dass die Aufnahmetechnik der Stücke nicht gerade ideal getroffen ist, die Werke wirken ein wenig verloren im Raum und büßen somit an Tiefe und Präsenz ein, so dass manch einer der hier genannten Rezensionsaspekte nur nach mehrfachem Hören überhaupt eruierbar war. Zwar erklingen die Stücke besonders stimmungsvoll in dem leicht vernebelten Hall, doch ist dies den Preis nicht wert, zentrale musikalische Aspekte einzubüßen. Das ebenso wie das gesamte Album sehr innovativ gestaltete Booklet (das besondere Anhänger der Musik sogar als Plakat ausgebreitet in ihre Lokalitäten hängen können) gibt zwar weder sonderlich nennenswerte Informationen über die Originale, noch die Texte der Berg-Lieder, bietet aber ein paar interessante Gedanken vor allem über die Bearbeitungen, wobei ich mir auch hier ein wenig ausführlichere Fakten über den Entstehungsprozess und die Gedanken dahinter (die sich beim bloßen Hören schwerlich erschließen mögen) wünschen würde.

„Schon“ folgen die Rekompositionen der Stücke auf der zweiten CD, die laut beigelegtem Text komplett aus dem Aufnahmematerial gebildet wurden (abgesehen vom Schlagzeug auf Track 3). Diese Neuzusammensetzung erfolgte mit Hilfe von etlichen elektronischen Effekten, die die Originalstimmen teilweise in unkenntlich verzerrter Weise wiedergeben, so dass sie teilweise wie rein elektronisch generiert wirken. Auf diese Weise könnte das resultierende Material direkt Teil einer futuristisch anmutenden Ausstellung oder Musik für experimentelle Lokalitäten und Clubs darstellen. Das Ergebnis lässt noch immer das Original in sich erkennen, bildet aber doch etwas vollkommen Neues, und nur kurzzeitig schimmern Passagen vollkommen unverstellt durch die Elektronik durch. Alles in allem sind die Rekompositionen äußerst stimmungsvolle und kurzweilige Stücke, die eine eigene Atmosphäre verströmen und immer wieder für Überraschungen sorgen. Kontinuierlich stellt sich die Frage, was als nächstes folgt und welche Klangkombinationen und vor allem -variationen erscheinen werden. Besonders spannend sind die reinen Instrumentalstücke, so wird beispielsweise die Zimmermann-Sonate von ihrer spröden und fragmenthaften Originalgestalt aus immer weiter verdichtet, bis scheinbar ein ganzes Streichorchester spielt, was schließlich in eine melancholische Klangfläche mit sanfter Kantilene überkippt. Bei Mahler wurde versucht, auch eine Sonatenhauptsatzform zu erschaffen, allerdings mit Atmosphären statt mit Motiven – was allerdings mehr intellektuell zu verstehen als tatsächlich beim spontanen Hören offenkundig ist. So gelungen das Ergebnis auch sein mag, stellt sich nun dennoch die Frage nach dem innermusikalischen Sinn dahinter, denn keine dieser Kompositionen hat das Bedürfnis, auf irgendeine Art rekonstruiert zu werden. So handelt es sich mehr um schön zu hörende experimentelle Spiele denn um einen wahren Dienst im Sinne der Komponisten oder ihrer Werke. Ungeachtet dessen bleibt die Hoffnung, durch so eingängige und kosmische Umformungen kammermusikalischer Werke einmal mehr Besucher auch in den klassischen Konzertsaal zu locken.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2015]