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Prokofieff „am Stück“

Sergej Prokofieff
Sämtliche Ballette
The Moscow Radio Symphony Orchestra
The USSR Ministry of Culture Symphony Orchestra
The Symphony Orchestra of the Bolshoi Theatre
Gennadij Roschdestwenskij
Label: Melodiya
Art.-Nr.: MELCD1002430, EAN: 4600317124305

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Roschdestwenskijs geniale Gesamteinspielung aller Prokofieff-Ballette: Teuer, aber auch endlich mal „am Stück“.
Die russische Firma Melodiya war zwischen der Gründung des Staatsunternehmens in den 1960er-Jahren bis in die frühen 1990er-Jahre praktisch das Monopolunternehmen für Schallplattenherstellung und -verkauf in der Sowjetunion. Zu den Hochphasen des Labels soll die Firma sagenhafte 120.000 Mitarbeiter gehabt haben, und das dürfte wohl ein einsamer Weltrekord gewesen sein: Selbst mit viel Fantasie kann man sich nicht vorstellen, dass westliche, global operierende Unterhaltungskonzerne wie Universal Music, EMI, Warner Brothers, BMG, Sony oder Naxos jemals in ihrer Firmengeschichte es auch nur annähernd auf eine so hohe Mitarbeiterzahl gebracht haben.

Jedoch lag in diesem großen Mitarbeiterpool auch das größte Problem der Firma. Denn als nach der politischen Wende die Privatisierung in Russland natürlich auch im Schallplattenbereich Einzug hielt, wurde schnell klar, dass sich dieser riesige Apparat nicht wirtschaftlich weiterbetreiben lassen würde. Und so ist das, was heute noch von Melodiya übrig geblieben ist, ein kleines Büro in Moskau mit zwei Handvoll Spezialisten, die nun aus einem unglaublichen Fundus an Aufnahmen aus der glorreichen Vergangenheit des Labels schöpfen können.

Neuester Coup des Melodya-Labels ist eine wunderschön ausgestattete Box mit der Gesamteinspielung aller vollendeten Ballettmusiken Sergej Prokofieffs unter der Gesamtleitung Gennadij Roschdestwenskijs. Dieser dirigierte die Kollektion in einem langen Zeitraum, nämlich zwischen 1959 bis 1990. Vielleicht ist das der Grund, warum diese herrliche Gesamteinspielung bislang noch nie “am Stück“ (also in einer Gesamtausgabe) erschienen ist, sondern bislang nur in LP-oder CD-Einzelausgaben. Zum einen lagen bislang noch nicht alle Einspielungen aus diesem Zyklus digitalisiert vor und waren damit für CD verfügbar, und zum anderen waren sie, wenn sie in den 1990er-Jahren vereinzelt doch auf CD erschienen, zumeist in Windeseile wieder vergriffen.

Diese neu editierte Box dürfte demnach ein wertvolles Objekt für Sammler sein, die schon lange nach diesen hervorragenden Aufnahmen suchen, denn, dass diese Aufnahmen hervorragend sind, darüber brauchen wir nicht erst große Reden halten. Roschdestwenskij war damals einer der allerbesten Dirigenten (nicht nur im Hinblick auf Russland) und hat mit den von ihm geleiteten Orchestern immer wieder hervorragende Arbeit geleistet. Erst im letzten Jahr ist sein ungewöhnlicher Vaughan Williams-Sinfonienzyklus, den er in den 1980er-Jahren für den russischen Rundfunk eingespielt hatte mit dem renommierten International Classical Music Award (ICMA) ausgezeichnet worden. Ebenfalls in den 1980er-Jahren trumpfte Roschdestwenskij mit einem großartigen Schostakowitsch-Zyklus bei Melodiya auf, der es auch „im Westen“ in viele Referenzlisten schaffte. Nun ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass endlich auch diese hervorragende Prokofieff-Gesamtaufnahme in ähnlicher Weise gewürdigt wird.

Denn mal ehrlich: wer kennt hierzulande die Ballette Prokofieffs wirklich? Wer kennt etwa das Ballett „Auf dem Dnjepr“, wer kennt „Das Märchen von der steinernen Blume“, wer kennt “Der Narr“, wer kennt „der stählerne Schritt“? Sicher, von „L’enfant prodigue“ („Der verlorene Sohn“) hat man wenigstens schon mal etwas gehört, wenn auch die Konzertsuite daraus deutlich vertrauter ist als das komplette Ballett, das es hier zu hören gibt. Und dann blieben da noch die beiden „Kassenschlager“ „Romeo und Julia“ und „Aschenbrödel“. Sie beide haben es streng genommen als einzige Ballette Prokofieffs auch im Westen in den Rang von Repertoireklassikern geschafft.

Das heißt aber nicht, dass die anderen Ballette Pokerface weniger wertvolle Kompositionen wären. Ganz im Gegenteil: es ist absolut frappierend, was für großartige Musik dieses Set bereithält. Selbst die Aufnahmequalität ist für Melodiya-Verhältnisse sogar bei den alten Aufnahmen aus den späten 1950er-Jahren ausgezeichnet (dies natürlich stets in Relation betrachtet zum Aufnahmezeitpunkt). Doch auch die Deutsche Grammophon hat in den 1950er-/1960er-Jahren keine besser klingenden Aufnahmen vorgelegt.

Ausstattungsmäßig kommt die Box wertig daher, in stabilem Karton mit Coverdekoration in UV-Lack, und mit überraschend modern gestalteten Digipaks für die einzelnen CDs. Außerdem mit einem stabilen Hardcover-Buch als Booklet. Die Einführungstexte, die Melodiya zu diesen Werken bietet, sind geradezu luxuriös ausführlich (wenn auch nur in englischer und russischer Sprache abgedruckt), zudem entschädigen enorm viele, zum Teil hochinteressante und in sehr guter Druckqualität wiedergegebe Fotos von den Uraufführungsausstattungen der in der Box enthaltenen Ballette für einen reichlich bemessenen Kaufpreis.

Diese Box ist nämlich nicht nur für Prokofieffsammler eine echte Schatztruhe, sondern auch für das Label selbst. Sicher wird man erst einmal schlucken, wenn man die rd. 120 Euro auf den Ladentisch legen muss, die diese teure 9 CD-Box kostet. Aber nicht nur ist dies im Endeffekt ja eine Anschaffung fürs Leben, sondern durch die limitierte Auflage dieser Box (wenn auch nicht nummeriert) ist es wahrscheinlich, dass sich auch diese Edition wieder zum Sammlerstück mausert, so, wie es schon vielen anderen Melodiya-Veröffentlichungen widerfahren ist.

[Grete Catus, März 2016]

Grenzgänger

acoustic motion concepts AMC 301-2; GTIN: 4050215095656

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Ein neu aufgestelltes Projektteam begeht den Versuch, Kammermusik von bekannten Komponisten der Moderne und des Übergangs zu dieser zu rekomponieren und mit zeitgenössischen Sampletechniken aus dem Aufnahmematerial eine neue Musik zu schaffen, die die Form einer Symphonie annehmen soll. Mitwirkende Musiker der Originalwerke sind dabei Lutz Bartberger, Felix Benkartek, Esther Bürger, Anna-Doris Capitelli, Toni Ming Geiger, Carolina Große Darrelmann, Theresa Lier, Lara Sophie Schmitt und Lena Wignjosaputro. Für die Rekomposition ist Luis Reichard zuständig, der mit Patrick Leuchter die Produktion leitet und vom Schlagzeuger Moritz Baranczyk unterstützt wird, der für einen Track noch eine später als MIDI exportierte Schlagzeugstimme liefert. Der Titel des Projekts lautet Noch:Schon, ihre erste Veröffentlichung nennt sich „Musik an der Schwelle“.

Mit klassischer Musik zu experimentieren und sie in andere Formen und Dimensionen zu bringen, bringt oft sehr interessante und im positiven Sinne bemerkenswerte Versuche hervor, denn so erhält eine oft als „verstaubt“ diffamierte Musik neues Publikum und vielleicht können auf diese Art gerade junge Leute aufmerksam gemacht werden nicht nur auf die moderne Bearbeitung, sondern auch auf die Originale dahinter, und für eine offene Hörhaltung gegenüber einer solchen Musik gewonnen werden. Noch:Schon bietet exakt diese Möglichkeit: Auf der ersten CD von „Musik an der Schwelle“ befinden sich die Originalwerke, bestehend aus Gustav Mahlers einsätzigem Klavierquartett, Alban Bergs sieben frühen Liedern, Sergei Prokofjews Sonate für zwei Violinen, Samuel Barbers Nuvoletta und Bernd Alois Zimmermanns Sonate für Viola Solo; die zweite CD hingegen enthält Bearbeitungen dieser Stücke, gegliedert in vier Sätze, die zusammen eine Symphonie bilden sollen mit einem Sonatenhauptsatz (Mahler) zu Beginn, einer Kantate (Berg) in vier Teilen als zweitem Satz, einem Scherzo (Barber) und einem Finale (Zimmermann). Bedauerlicherweise wird der grandiosen Prokofjew-Sonate kein eigener Titel zugesprochen.

Die Musiker spielen allesamt auf einem hohen Niveau. Sehr stimmungsvoll ist das einsätzige Klavierquartett von Gustav Mahler dargeboten, jenes einzige vollständig uns erhaltene Kammermusikwerk des großen Symphonikers, das zwar in klassischer Sonatenhauptsatzstruktur komponiert ist, aber sich dennoch hauptsächlich monistisch aus dem Hauptgedanken a-f-e entwickelt, wodurch es im Spiel schnell zu ungewünschten Längen kommen kann. Bei den hier mitwirkenden Musikern werden die Längen erstaunlich gut kaschiert, das Zusammenspiel wirkt im Großen und Ganzen gut abgestimmt, lediglich donnert es manchmal ein wenig zu grob – wobei dies auch an der Tontechnik liegen kann. Carolina Große Darrelmann verleiht den sieben frühen Liedern Alban Bergs einen recht matten und innigen Klang mit einem leicht reibenden Timbre – leider ist der Text dabei manchmal nur schwerlich zu verstehen, was gerade bei so textlich ausdrucksstarken Liedern wünschenswert wäre. Sehr opernhaft erscheint Ester Bürger in Barbers Nuvoletta mit ausschweifenden und brillanten Koloraturen und einer strahlend hellen Stimme, die einen deutlichen Gegenpol zu der kammermusikalisch erscheinenden Sängerin der Berg-Lieder bildet, wenn auch mit der unfreiwilligen Gemeinsamkeit der oft unzureichenden Textdeklamation. Felix Benkartek accompagniert in beiden divergierenden Stilen in trefflichem Gestus am Klavier, ohne dabei sonderlich stark an der Oberfläche neben den Sängerinnen hervorzutreten. Entsprechend ist seine „Stimme“ teils nicht sonderlich sanglich ausgestaltet und wirkt zwar als solider und stimmiger Untergrund, allerdings nicht als vollwertiger Widerpart zu den Partnerinnen, vor allem bei Barber. Dabei könnte er durchaus weiter aus dem Schatten hervortreten, sein Spiel ist angenehm feingliedrig und perlig. Vermutlich ist aber auch hier wieder eher die Abmischung Ursache für die ungleiche Abstimmung als das Spiel des Pianisten, denn das Klavier wirkt im Vergleich zu der Kraft hinter manchen Tönen doch recht gedämpft und als reine Hintergrundsfarbe degradiert. Die überzeugendste Darbietung der ersten CD ist meines Erachtens die von Lara Sophie Schmitt in der Sonate für Viola solo von Bernd Alois Zimmermann, von dessen breitem Œvre die meisten nur die Oper „Die Soldaten“ kennen, die letztes Jahr in der Bayerischen Staatsoper unter Kirill Petrenko einen für ein avantgardistisches Werk unvorstellbaren Erfolg erzielen konnte. Die Violasonate erfordert unzählige minimale Farbnuancen, die ganz exakt dosiert werden müssen – was Schmitt auch zustande bringen und so die düster-depressive und für Zimmermann so typische Stimmung ohne jede aufgesetzte Verstellung vermitteln kann. Zudem findet sich noch die Sonate für zwei Violinen Op. 56 von Sergei Prokofjew auf der ersten CD, welche übrigens den Titel „Noch“ trägt, während die Bearbeitungen als „Schon“ überschrieben werden. Die Sonate, wie wohl fast alle Werke von Prokofjew, verlangt alles an Mechanik von den Musikern ab, was physikalisch irgendwie erreichbar ist. Umso schwieriger gestaltet es sich, auch die Lyrik in diesen vertrackten Sätzen herauszuarbeiten und in all den Dissonanzen und teils derben Klängen zu „singen“. In den langsamen Passagen mag das noch zu einem guten Teil gelingen, aber in den virtuosen und rhythmisch markanten Verläufen sind Lutz Bartberger und Theresa Lier zu sehr mit der rein technischen Bewältigung der komplexen Organisation beschäftigt, um für ein ausgewogenes und abgestimmtes Spiel sorgen zu können. So geht häufig auch die erforderlich akzentuierte Scharfkantigkeit verloren, besonders im zweiten Satz, dem phänomenalen dynamischen Höhepunkt, wo statt dessen entweder die entsprechenden Momente zu „harmlos“ wirken oder aber allzu kratzig rüberkommen. Nichts desto Trotz ist alleine schon die technisch so saubere Bewältigung eine hohe Aufgabe, die es zu würdigen gilt.

Insgesamt ist allerdings zu sagen, dass die Aufnahmetechnik der Stücke nicht gerade ideal getroffen ist, die Werke wirken ein wenig verloren im Raum und büßen somit an Tiefe und Präsenz ein, so dass manch einer der hier genannten Rezensionsaspekte nur nach mehrfachem Hören überhaupt eruierbar war. Zwar erklingen die Stücke besonders stimmungsvoll in dem leicht vernebelten Hall, doch ist dies den Preis nicht wert, zentrale musikalische Aspekte einzubüßen. Das ebenso wie das gesamte Album sehr innovativ gestaltete Booklet (das besondere Anhänger der Musik sogar als Plakat ausgebreitet in ihre Lokalitäten hängen können) gibt zwar weder sonderlich nennenswerte Informationen über die Originale, noch die Texte der Berg-Lieder, bietet aber ein paar interessante Gedanken vor allem über die Bearbeitungen, wobei ich mir auch hier ein wenig ausführlichere Fakten über den Entstehungsprozess und die Gedanken dahinter (die sich beim bloßen Hören schwerlich erschließen mögen) wünschen würde.

„Schon“ folgen die Rekompositionen der Stücke auf der zweiten CD, die laut beigelegtem Text komplett aus dem Aufnahmematerial gebildet wurden (abgesehen vom Schlagzeug auf Track 3). Diese Neuzusammensetzung erfolgte mit Hilfe von etlichen elektronischen Effekten, die die Originalstimmen teilweise in unkenntlich verzerrter Weise wiedergeben, so dass sie teilweise wie rein elektronisch generiert wirken. Auf diese Weise könnte das resultierende Material direkt Teil einer futuristisch anmutenden Ausstellung oder Musik für experimentelle Lokalitäten und Clubs darstellen. Das Ergebnis lässt noch immer das Original in sich erkennen, bildet aber doch etwas vollkommen Neues, und nur kurzzeitig schimmern Passagen vollkommen unverstellt durch die Elektronik durch. Alles in allem sind die Rekompositionen äußerst stimmungsvolle und kurzweilige Stücke, die eine eigene Atmosphäre verströmen und immer wieder für Überraschungen sorgen. Kontinuierlich stellt sich die Frage, was als nächstes folgt und welche Klangkombinationen und vor allem -variationen erscheinen werden. Besonders spannend sind die reinen Instrumentalstücke, so wird beispielsweise die Zimmermann-Sonate von ihrer spröden und fragmenthaften Originalgestalt aus immer weiter verdichtet, bis scheinbar ein ganzes Streichorchester spielt, was schließlich in eine melancholische Klangfläche mit sanfter Kantilene überkippt. Bei Mahler wurde versucht, auch eine Sonatenhauptsatzform zu erschaffen, allerdings mit Atmosphären statt mit Motiven – was allerdings mehr intellektuell zu verstehen als tatsächlich beim spontanen Hören offenkundig ist. So gelungen das Ergebnis auch sein mag, stellt sich nun dennoch die Frage nach dem innermusikalischen Sinn dahinter, denn keine dieser Kompositionen hat das Bedürfnis, auf irgendeine Art rekonstruiert zu werden. So handelt es sich mehr um schön zu hörende experimentelle Spiele denn um einen wahren Dienst im Sinne der Komponisten oder ihrer Werke. Ungeachtet dessen bleibt die Hoffnung, durch so eingängige und kosmische Umformungen kammermusikalischer Werke einmal mehr Besucher auch in den klassischen Konzertsaal zu locken.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2015]