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Quintessence, Resurrection, Zodiac – Ein Interview mit Christoph Schlüren

Ein reichhaltiges Programm aus bekannten wie unbekannten Werken und eine die kompositorischen Feinheiten der Musik tief ausleuchtende, hingebungsvolle Umsetzung zeichnen die beiden Alben aus, mit denen der Dirigent Christoph Schlüren bislang in Erscheinung getreten ist. Nach Symphonia Momentum/Declamatory Counterpoint (2010) und Die Kunst der Fuge (2020) veröffentlicht Aldilà Records nun drei weitere Alben Schlürens, die zwischen 2019 und 2022 aufgenommen wurden: Resurrection (Johann Sebastian Bach, Reinhard Schwarz-Schilling, Wolfgang Amadeus Mozart, Giorgio Federico Ghedini, Douglas Lilburn, Paul Büttner), Quintessence (Felix Mendelssohn Bartholdy, Reinhard Schwarz-Schilling, Anton Bruckner) und Zodiac (Arvo Pärt, Alessandro Marcello, Martin Scherber). Im Zuge dieser Projekte wurde am 1. Dezember 2019 in Barcelona die 1955 vollendete Dritte Symphonie von Martin Scherber erstmals öffentlich gespielt. The New Listener sprach mit Christoph Schlüren über seine neuen CDs und ihre Hintergründe. Das Interview führte Norbert Florian Schuck.

TNL: An Ihren drei neuen CDs fällt auf, dass sie alle ein Motto haben: Quintessence, Resurrection, Zodiac. Die jeweiligen Programme sind alle musikgeschichtlich und zum Teil auch geographisch weit gespannt. Welche Gedanken leiten Sie bei der Zusammenstellung Ihrer Programme?

CS: Solches Vorgehen liegt natürlich fernab der klassischen Tonträgertradition. Normalerweise wünschen die Händler, dass sie die Tonträger gut in ihren Regalen einsortieren können, und deswegen ist es ihnen recht, wenn die CD nur einem einzelnen Komponisten gewidmet ist, oder wenn sie sich auf ein bestimmtes Genre konzentriert. So kenne ich es natürlich auch von früher. Als Jugendlicher hatte ich Platten mit Tartini oder Vivaldi oder Bach oder Mussorgskij, und es gab Mischungen: italienische Violinkonzerte oder Klaviermusik der Romantik, und so weiter. Ich habe mich dann auch in einem bestimmten Alter sehr für Musik interessiert, die außerhalb des klassischen Bereichs liegt, für Fusion und Progressive Rock, wie man das heute nennt, und da fand ich diese Idee des Konzeptalbums großartig. Das heißt, dass man im ursprünglichen Sinn des Worts „komponieren“ etwas schafft, in dem Sinne, dass es als eine zusammenhängende Sache zusammengestellt ist. Und diese Idee, dass man ein Album vielleicht wie eine Reise konzipiert, mit der Grundidee, dass man von Anfang bis Ende zuhört und eine Gesamtdramaturgie verfolgt, die dann auch das Wiederhören zu einem sinnvollen Akt macht, diese Idee hat mich von Anfang an, schon beim allerersten Album, geleitet, und ebenso bei der Zusammenstellung der Konzertprogramme. Es sollen Bezüge entstehen, es soll Kontraste geben, die die unterschiedlichen Charaktere umso deutlicher hervortreten lassen, und das Ganze soll einen Weg zurücklegen, der auch als Weg interessant ist und nicht nur eine Folge von nacheinander gespielten Stücken darstellt. Es ist ja nie so gedacht gewesen, dass man etwa alle späten Klavierstücke von Brahms hintereinander spielt, oder alle vier Symphonien von Schumann. Natürlich kann man das tun, mich hat es aber mehr interessiert, aus dem Wechselspiel der unterschiedlichen Welten etwas Neues zu schaffen.

Es handelt sich übrigens eigentlich nicht um ein ‚Motto‘, sondern um eine nachträgliche Verbalisierung dessen, was auf der Suche nach den passenden musikalischen Elementen letzten Endes das Ganze am treffendsten umschreibt – so wie Debussy seine Préludes benannte, nachdem er sie komponiert hatte. Da sind dann plötzlich die „Hügel von Anacapri“ daraus geworden, aber sie sind das ja nicht von vornherein gewesen. Genauso bei Schumann, ähnlich bei vielen weiteren großen Komponisten.

Die Titel sind nicht als Programm gedacht. Ich habe einen Namen gesucht, nachdem wir die Stücke in dieses Wechselverhältnis zueinander gebracht hatten. Und der Name ist auf verschiedene Weise entstanden. Am Ende beschreibt er gar nicht das Programm. „Resurrection“ bezieht sich ganz primär auf Paul Büttner, dessen „Auferstehung“ – und so kann man es nur sagen – im deutschsprachigen Raum überfällig ist. In anderen Ländern handelt es sich gar nicht um eine „Resurrection“, sondern überhaupt um die Erweckung dieser Musik, die dort erst entdeckt werden muss. Büttner ist ja ein absoluter Spezialfall. Die beiden Hochs seiner Bekanntheit fielen jeweils in eine Zeit, in der Deutschland isoliert war: Zuerst die große Karriere während des Ersten Weltkriegs, die mit dem Ende des Krieges abbrach, da dann die ganze neue Strömung hoch kam – für viele Komponisten war damals ihre erfolgreiche Zeit zu Ende –; und zum anderen eine Karriere postum in der DDR, vor allen Dingen angeregt durch die intensive Tätigkeit seiner Witwe, aber auch weil die DDR den Komponisten als Repräsentanten haben wollte, obwohl er gar nichts mit der DDR zu tun hatte. In Deutschland ist also „Resurrection“ zutreffend, ansonsten ist Büttner überhaupt erst eine „Discovery“.

Der Titel des Albums Quintessence bezieht sich ganz einfach auf die real vorhandene Fünfstimmigkeit der Stücke, wie sie bei Mendelssohn und bei Bruckner auch maximal ausgenutzt wird. Bei Schwarz-Schilling ist es eher eine Verschmelzung der Stimmen, nicht so viel Kontrapunkt, obwohl er ja ein großer Kontrapunktiker ist. Dafür ist er in der Resurrection mit Da Jesus an dem Kreuze stund dabei. Natürlich hat dieses Stück auch eine Konnotation zur Auferstehung, was auch zur Wahl des Titels dieser CD beigetragen hat. Aber man darf das nicht intellektuell zu ernst nehmen, dann gerät man in die Irre.

Der Titel des dritten Albums Zodiac bezieht sich auf das Hauptwerk, die Dritte Symphonie von Martin Scherber. Wir haben dieses Werk uraufgeführt, aber zweiteingespielt. Bei der ersten Einspielung ist das Programm hinter dieser Musik gar nicht gesehen worden und am Produzenten, am Dirigenten, an allen Mitwirkenden vorbeigegangen. So bezieht sich der Titel auch darauf, dass wir es überhaupt erst als „Zodiak“, als Tierkreis, herausgebracht haben – vorher war es scheinbar nichts weiter als eine einsätzige Symphonie ohne bewusste Untergliederung.

Ja, so erklären sich die die Titel. Als „Mottos“ würde ich sie nicht bezeichnen. Meine Vorliebe zu solchen Titeln hat mit meiner Vergangenheit zu tun, mit einer sehr starken Neigung zu King Crimson, Univers Zero und ähnlichen Gruppen. Es ist ein ganz toller Zug dieser nichtklassischen Musik, die natürlich fürs Album konzipiert ist und nicht fürs Notenheft, dass die Musiker zusehen müssen, den Hörer mitzunehmen und ihn durch ein Programm hindurchzuführen. Sie müssen eine Idee von Anfang bis Ende entwickeln. Den Hörer bloß mit Repertoire zu versorgen, reicht nicht. Das Programm wird als eine schöpferische Aufgabe angesehen, gewissermaßen als lebendiger Zusammenhang, der als solcher von Anfang bis Ende gehört wird.

Nahezu alle Ihre Aufnahmen sind Konzertmitschnitte: Was unterscheidet einen Konzertmitschnitt von einer Studioaufnahme?

„Nahezu alle“ ist eigentlich übertrieben. Beim Scherber haben wir die Studioaufnahme zusammen mit dem Konzertmitschnitt auf zwei CDs herausgebracht. Der Unterschied besteht darin, dass die Studioaufnahme am Tag nach dem Konzert gemacht wurde. Die einzelnen 12 Teile dieser Zodiak-Symphonie wurden alle zweimal durchgespielt und dann an einigen Stellen eine minimale Nachkorrektur vorgenommen. Das ist, was andere „Studio Live“ nennen, was aber meines Erachtens eine gute Art ist, Studioaufnahmen zu machen: eben nicht Stückchen für Stückchen durch das Stück zu pflügen sondern, nachdem man das Stück durchgespielt und eine klare Vorstellung davon entwickelt hat, die Studioaufnahme in möglichst langen Zusammenhängen zu erstellen. Ich will nicht, dass wir Aufnahmen machen, wie das normalerweise üblich ist: Bei Produktionen von unbekanntem Repertoire kommt man meist ins Studio, hat vielleicht eine Probe hinter sich und nimmt dann einfach auf, Stück für Stück, bis man durch ist. Wir wollen, dass jeder versteht, was er da spielt. Wir proben wie für ein Konzert, dann spielen wir ein Konzert, wo alles im Zusammenhang erlebt werden kann, und danach gehen wir ins Studio und machen aufgrund der Erfahrung dieses Konzerts die Aufnahme als musikalisch zusammenhängende Sache, und eben nicht als etwas Stück für Stück aneinander Gereihtes. Wir haben einmal erfahren, wie sich das Ende auf den Anfang bezieht – oder wie auch immer man das ausdrücken kann – und dabei die gesamte Dynamik dieser Form erfahren. Danach nehmen wir auf. So sollten alle diese Aufnahmen sein.

Eine solche Aufnahme kostet viel mehr Geld als eine Studioaufnahme, bei der man sich einfach für zwei oder drei, maximal vier Tage hinsetzt und von Anfang bis Ende in kleinen Abschnitten aufnimmt, bis es eben notenmäßig stimmt. Hier aber ist ein ganz anderer Prozess angestoßen – und natürlich führt er auch zu einem ganz anderen Resultat, das viel mehr in die Tiefe gehen kann, das viel mehr aus dem verstehenden Musizieren heraus entstanden ist. „Verstehend“ meine ich nicht im Sinne von „intellektuellem“ Verstehen, sondern als ein begreifendes, erkennendes Musizieren, aus dem heraus etwas Organisches entsteht. Das ist natürlich etwas ganz anderes als wenn wir beim Aufnehmen Stückchen für Stückchen aneinander reihen würden. Das eine ist rein materialistisch gesprochen in Ordnung, das andere ist eine Sache, angesichts derer man sagen muss: Ja, Kunst ist nicht nur ein Materialanhäufungsprozess, sondern auch ein Prozess der geistigen Durchdringung eines erlebten Ganzen. Das dann in idealstmöglicher Weise zu dokumentieren, ist die Idee. Und das kostet uns dann eben eine Woche an Proben, zumal, wenn es sich um ein komplexes Programm handelt. Dazu suchen wir natürlich auch Menschen – und haben sie auch zum Teil gefunden –, die sagen: Ich möchte das mittragen, ich möchte das unterstützen, das ist mir ein Anliegen, dass Aufnahmen in dieser nicht nur materialmäßigen sondern tatsächlich im tiefen Sinne musikalischen Qualität erscheinen können. Ein Livemitschnitt ist freilich ideal, weil er tatsächlich eine Konzertsituation dokumentiert, aber wenn wir wirklich verstanden haben, was wir musizieren, dann ist für den Hörer der Unterschied zwischen einer Studio-Live-Aufnahme und einem Livemitschnitt gar nicht mehr wahrzunehmen.

Geht man die Liste der von Ihnen bislang aufgenommenen Kompositionen durch, so stößt man öfter auf die Namen bestimmter Komponisten. Sie scheinen sich wie ein roter Faden durch Ihre Alben zu ziehen. Da ist zum Beispiel Johann Sebastian Bach, vor allem aber Reinhard Schwarz-Schilling. Was verbindet Sie mit diesem Komponisten?

Reinhard Schwarz-Schilling

Zunächst verbindet Schwarz-Schilling viel mit Bach und der Bezug stellt sich sehr leicht her. Das allererste Werk, das wir damals aufgenommen haben, das Streichquartett als Symphonie für Streicher, bezieht sich mit seiner Fugentechnik, mit seiner im Sinne des 20. Jahrhunderts sehr archaischen Polyphoniebehandlung sehr stark auf Bach. Auch Schwarz-Schillings Da Jesus an dem Kreuze stund ist ein Bach-nahes Stück, auch wenn es viel modaler ist. Reinhard Schwarz-Schilling hat Bach geliebt. Ich selber bin durch eine frühe Aufnahme Sergiu Celibidaches auf Schwarz-Schilling gestoßen. Ich habe 16 Jahre bei Celibidache studiert, und es hat mich nicht nur wahnsinnig interessiert, wer seine Lehrer waren – dadurch stieß ich auf die Musik von Heinz Tiessen, was dann die Begegnung mit den Werken des anderen großen Tiessen-Schülers Eduard Erdmann, wie auch dieser ganzen Expressionistengeneration der 1920er Jahre nach sich zog –, sondern auch das Repertoire, das er dirigiert hat. Und da kam mir irgendwann eine Aufnahme aus der Zeit der sowjetischen Blockade von West-Berlin in die Hände, auf der er die Berliner Philharmoniker in der Uraufführung von Reinhard Schwarz-Schillings Introduktion und Fuge für Streichorchester leitet. Dieses Werk ist nichts anderes als ein Streichorchester-Arrangement des ersten Satzes des Streichquartetts von 1932, und Celibidaches Aufführung ist unglaublich spannungsgeladen und intensiv. Man hört in diesem Mitschnitt aus dem Titania Palast im Hintergrund merkwürdige tiefe Abwärtsglissandi: die landenden Rosinenbomber, die die Stadt Berlin versorgen. Dieses großartige Dokument hat mich fasziniert, sodass ich mir die Partitur des Werkes besorgte – das heißt nicht das Streichquartett, sondern tatsächlich die Introduktion und Fuge, die es als gesonderte Partitur gibt. Als ich aber das Streichquartett kennenlernte, sah ich, dass es drei Sätze hat: zwei ganze Sätze mehr! Dann habe ich Christian Schwarz-Schilling, den Sohn des Komponisten, kennengelernt, und wir haben uns gemeinsam ein Konzertprogramm zum 100. Geburtstag seines Vaters überlegt. Damals dirigierte Konrad von Abel. Christian Schwarz-Schilling hat das Ganze auf großzügigste Weise gefördert und bezahlt. Meinen Vorschlag, nicht allein Werke Schwarz-Schillings aufzuführen – Introduktion und Fuge sowie der Mittelsatz aus der Sinfonia Diatonica – , sondern den Kreis zu erweitern und den Komponisten in einen Kontext zu stellen, befürwortete Christian Schwarz-Schilling sofort. Wir nahmen deshalb noch Heinrich Kaminski, Reinhard Schwarz-Schillings Lehrer, ins Programm, sowie den anderen großen Kaminski-Schüler Heinz Schubert. Dessen Werk Vom Unendlichen, eine Zarathustra-Vertonung für Sopran und drei Streichquintette (mit der ausgezeichneten Solistin Susanne Winter), gab uns den Titel für das Konzertprogramm. Das Hauptwerk war Kaminskis Werk für Streichorchester, eine Bearbeitung von Kaminskis Streichquintett, die Reinhard Schwarz-Schilling während seiner Studienzeit 1928 als Gesellenstück unter Aufsicht des Lehrers gesetzt hatte.

Damit gingen die Musiker dann auf Tournee. Es hat einige sehr enthusiastische Besprechungen gegeben. Ich erinnere mich an Volker Tarnow in der Welt, der vor allem die Wiederentdeckung von Kaminski gepriesen hat. Auf mich hat dieses Erlebnis auf mancherlei Weise anregend gewirkt. Als ich dann zu Christian Schwarz-Schillings 80. Geburtstag im Jahr 2010 ein eigenes Konzert plante, dachte ich mir: jetzt mache ich das, was Reinhard Schwarz-Schilling mit dem Werk Kaminskis getan hat, und arrangierte den zweiten und dritten Satz von Schwarz-Schillings Streichquartett für Streichorchester, sodass sie, zusammen mit Introduktion und Fuge als erstem Satz, als Symphonie für Streichorchester gespielt werden konnten. Auch bei diesem Konzertprogramm hat Christian Schwarz-Schilling wieder alles finanziell getragen. Das Programm enthielt neben Bachs kleiner Fuge in g-Moll (eigentlich für Orgel) auch die Cavatina aus Beethovens Quartett op. 130 und den Kopfsatz aus Mozarts Dissonanzen-Quartett – es wundert mich, dass bislang keiner auf die Idee gekommen war, diese Werke mit Streichorchester aufzuführen –, außerdem das Bach’sche E-Dur-Violinkonzert mit Rebekka Hartmann, Arvo Pärts Orient und Okzident und eine Uraufführung von Peter Michael Hamel: Ulisono, eine Gedenkmusik für den verstorbenen Komponisten Ulrich Stranz. Quasi als „einkomponierte“ Zugabe gab es Anders Eliassons Violinsolo In medias. Dieses Programm hatte keinen Namen, so wählten wir einfach den Namen den Orchesters, das sich eigens dazu zusammengefunden hatte: Symphonia Momentum. Wir haben das Programm dann 2010 in einigen Konzerten gespielt, angefangen in München und Reutlingen, und in der wunderbaren Akustik der Berliner Nalepastraße auf CD aufgenommen. Die CD haben wir dann Declamatory Counterpoint genannt, nach einer spontanen Reaktion von Ivo Csampai, dem Bruder von Attila Csampai, der, als ich den Mitschnitt mit ihm angehört habe, sagte: „Das ist deklamatorisch flammender Kontrapunkt“, und damit war der Titel geboren. Dieses Album steht am Beginn einer Reihe „komponierter“ Alben. Bei Aldilà Records erschienen dann zunächst zwei Klavieralben mit Ottavia Maria Maceratini, die den gleichen Ideen folgten. Der Titel hat sich dabei immer erst im Nachhinein ergeben.

Hat Christian Schwarz-Schilling auch die Alben „Quintessence“ und „Resurrection“ unterstützt, auf denen sich Werke seines Vaters finden?

Ja, Christian Schwarz-Schilling hat auch diese beiden Alben ermöglicht. Natürlich ist wieder Musik seines Vaters dabei. Wie zuvor schon bei der Kunst der Fuge, die ich mit den Salzburg Chamber Soloists aufgenommen habe, finden sich auf Resurrection und Quintessence mehr oder weniger kurze Stücke Reinhard Schwarz-Schillings. Man muss dazu sagen, dass uns ein bisschen das orchestrale Repertoire von Schwarz-Schilling ausgegangen ist, denn inzwischen sind ja alle Orchesterwerke eingespielt worden, durch José Serebrier mit der Staatskapelle Weimar für Naxos. Christian Schwarz-Schilling war diesmal noch konkreter in die künstlerische Planung involviert als bei den vorangegangenen Projekten. Ich bin also immer mehrmals zu ihm hingefahren und habe ihm Vorschläge gemacht. Er hat Wünsche geäußert, und so sind auch seine Vorlieben sehr stark zum Tragen gekommen. Natürlich liebt er die Musik seines Vaters sehr, und die Musik von Bach ist für ihn Alpha und Omega aller Musik. Diese deutliche Betonung auf Bach hat also ganz stark damit zu tun, dass dies Christian Schwarz-Schillings Herzenswunsch war.

Bei anderen Vorhaben stünde von meiner Seite aus ein weit vielfältigeres Spektrum zur Verfügung. Zu vielen Komponisten hege ich eine ganz große Liebe: nordische, italienische, italoamerikanische, englische, slawische… Es gibt sehr viele Dinge, die ich ebenso gerne machen würde. Natürlich gehe ich mit der Person mit, die das Projekt finanziert. Dabei entsteht dann eine Symbiose unserer musikalischen Vorlieben, wie z. B. bei dem Quintessence-Programm: Christian Schwarz-Schilling wollte eine Streichersymphonie von Mendelssohn, mein großer Wunsch war Bruckner, und Reinhard Schwarz-Schilling sollte ebenfalls dabei sein. Bemerkenswert ist, wie sich am Ende alles so unglaublich organisch zusammengefunden hat: Mendelssohn ist praktisch der einzige Komponist, der im Original Streichersymphonien in Quintettbesetzung mit doppelten Bratschen geschrieben hat. Das Streichquintett im Orchester ergibt sich sonst ja immer aufgrund einer individuell geführten Kontrabassstimme, aber diese Besetzung mit zwei Geigen, zwei Bratschen und Violoncello (wo man letzterer dann den Kontrabass colla parte hinzufügt) existiert in der Streicherorchestermusik gar nicht. Mendelssohn ist mit einigen seiner frühen Streichersymphonien die absolute Ausnahme. Dass dann ausgerechnet die letzte dieser Symphonien – die eigentlich keine ist, sondern einfach ein aus Introduktion und Fuge bestehender symphonischer Satz – auch fünfstimmig ist, und von der Länge her genau zum Bruckner passt, ist wirklich ein tiefgründiger Zufall im schönsten Sinne. Es ist uns zugefallen.

Interessanterweise passen die Stücke ja auch harmonisch gut zueinander…

In der Tat! Ich habe nach dem richtigen Schwarz-Schilling-Stück gesucht, das sich gut zwischen Mendelssohn und Bruckner einfügt. Und da stieß ich auf dieses Chorwerk, das nicht nur von der Länge her wunderbar dazwischen passt, sondern auch als spirituelles Zentrum der CD erlebt werden kann. Weil es zu alledem noch die Modulation vom Mendelssohn zum Bruckner beschreibt, ist das Programm damit wirklich durchkomponiert! Das Wunderbare ist ja, dass dadurch die ganze Zusammenarbeit eine Krönung erfahren und uns eine Quintessenz an Erfahrung beschert hat: Christian Schwarz-Schillings Wunsch ist durch das Stück seines Vaters am Ende mit meinem verschmolzen, alles hat gestimmt. Natürlich könnte man jetzt sagen: Der Komponist Schwarz-Schilling kommt dabei zu kurz, der Bruckner ist so lang und der Schwarz-Schilling dauert lediglich 4 Minuten. Gewiss, aber er steht im Zentrum als das Herz dieser ganzen Angelegenheit! Und auf diese Weise wird das Stück vielleicht mehr Verbreitung erfahren als wenn es auf einer Schwarz-Schilling allein gewidmeten CD aufgenommen worden wäre.

Auf „Resurrection“ findet sich mit „Da Jesus an dem Kreuze stund“ ein etwas längeres Werk Schwarz-Schillings. Es ist sehr komplex kanonisch durchgeführt, sodass es eine Herausforderung war, die Musik als wirklich durchsichtige Faktur zu gestalten. Am Ende ist es uns gelungen, aber es hat wirklich Arbeit gekostet! Die Musiker haben wunderbar mitgemacht, und so ist eine sehr schöne Aufführung herausgekommen.

Und bei Resurrection?

Mein Vorschlag, das Streichquartett von Paul Büttner einzuspielen, hat Christian Schwarz-Schilling sehr gefallen. Er hat mich gebeten, Bach hinzuzunehmen, und dann haben wir uns gemeinsam noch auf diese fantastische Fantasie in f-Moll von Mozart geeinigt. So ist auch hier wieder ein gemeinsames Programm entstanden, das dann natürlich in die richtige Abfolge gebracht werden musste. Zwischen den Mozart und den Büttner, die beide Schwergewichte sind ist, tritt dann Raquele Magelhães mit ihrem unglaublich schönen Flötenspiel. Wir hören den dritten Satz aus den drei Solostücken von Giorgio Federico Ghedini und (in einem Arrangement von Lucian Beschiu) eine Canzona aus einer Musik zu Hamlet von Douglas Lilburn, dem großen Neuseeländer, ein Stück von absoluter Einfachheit – einfach wie ein Beatles-Song, einfacher geht es nicht. Das bildet den Entspannungspol zwischen diesen großen Blöcken. Ein Programm nur aus dichtestem Kontrapunkt kann man natürlich auch machen, aber es ist doch sehr gut, wenn sich für ein paar Minuten das Ohr erholen und dann umso besser wieder in eine dicht gearbeitete Faktur einsteigen kann.

Auf zwei Ihrer neuen CDs ist das jeweils umfangreichste Werk eine Streichersymphonie, die aber ursprünglich ein Streichquartett bzw. -quintett ist: zum einen Bruckners Quintett, zum anderen Büttners Quartett. Worin liegt der Reiz der Aufführung eines Kammermusikwerkes in orchestraler Besetzung?

Der ist nicht immer gegeben! Manche Kammermusikwerke werden gerne orchestral aufgeführt, wobei ich meine, dass es sich um keine glücklichen Entscheidungen handelt. Ich finde Beethovens Quartetto serioso für Streichorchester problematisch, das Verdi-Quartett mehr als problematisch. Auch ein Brahms-Quintett ist schwierig. – Vor den Büttner- und Bruckner-Aufführungen hatten wir ja bereits das Streichquartett von Schwarz-Schilling orchestral gespielt, und Die Kunst der Fuge ist auch kein genuines Streichorchesterwerk…

Die Kunst der Fuge ist übrigens ein gutes Beispiel. Es begann damit, dass ich von einer alten Aufnahme Celibidaches aus Neapel sehr fasziniert war: einem Ricercar und einer Toccata aus den Fiori Musicali von Frescobaldi. Das wurde in der Kritik fälschlicherweise als Bearbeitung bezeichnet. Das ist keine Bearbeitung, sondern eine für vierstimmiges Ensemble ausgesetzte Komposition für Orgel! Frescobaldi hat nämlich genau dasselbe getan wie Bach – der seinen Frescobaldi im Notenschrank stehen hatte – ein Jahrhundert später: Die Fiori Musicali sind ein Orgelwerk, das in partiture a quattro, also in vierstimmig ausgesetzter Fassung, gedruckt wurde. Jetzt kann man sagen: „Das ist ja klar, damit die Organisten einfach besser die Stimmführung verfolgen können.“ Ja, aber die Organisten können die Stimmführung auch weitgehend verfolgen, wenn die Musik nicht in vier Notensystem ausgesetzt ist.

Man streitet sich, ob Die Kunst der Fuge für Cembalo oder für Orgel geschrieben ist. Ich glaube, dieser Streit ist absurd! Das Cembalo kann hier nur als Notbehelf dienen, weil die kurze Dauer, die der Cembaloton hält, für diese langen Themen völlig ungeeignet ist. Das Klavier ist schon besser geeignet, noch mehr aber die Orgel. Die Orgel kann aber nicht wirklich phrasieren, sie kann also dynamisch im Moment nichts hervorheben. Das geht nur agogisch, und das ist schwierig in solcher Musik, die so streng kontrapunktisch ist. Man muss äußerst feinsinnig agieren, und dann bleibt es immer noch schwierig. Also ist die Alternative, wie schon bei Frescobaldi, im Grunde vorgesehen: Natürlich konnte man das damals schon mit einem Ensemble zu vier Stimmen spielen. Und man hat die Musik auch sicherlich so gespielt. Selbstverständlich kann man das auch mit Bach machen, und deswegen ist das keine Bearbeitung, sondern nur der umgekehrte Vorgang zu einer Tabulatur. Man hat damals große Werke für Chor in Lautentabulatur gesetzt, damit man sie auch alleine für sich spielen konnte. Genauso kann man ein Werk, das für die Orgel geschrieben ist, individuell verteilt in vierstimmigem Satz spielen. Da gibt es keine Tabus! Nicht umsonst sagt man, Die Kunst der Fuge ist Musik für ein unbestimmtes Instrumentarium. Ich würde sagen: Sie ist ein Orgelwerk, das aber von einem vierstimmigen Ensemble jeglicher Art gespielt werden kann. Auch dazu gibt es Auseinandersetzungen. Man sagt, der Klang sollte möglichst trennscharf sein, man sollte auf möglichst verschiedenen Instrumenten spielen, damit die Polyphonie herauskommt. Das ist ein Irrtum! Die Vokalpolyphonie braucht auch nicht völlig verschieden gebaute Typen von Sängern. Es reichen vier Stimmen gleicher Art. Das funktioniert wunderbar, und deswegen ist es natürlich auch im Instrumentalsatz so, dass die Polyphonie am besten herauskommt, wenn der Klang von möglichst gleichartigen oder ähnlichen Instrumenten erzeugt wird. Die Polyphonie wird durch die Phrasierung hervorgehoben und nicht durch die Klangfarbe. Wenn zu viele verschiedenartig klingende Stimmen spielen, bewirkt das eine Dissoziierung des Eindrucks, wobei man natürlich das Einzelne heraushören kann – aber es geht ja darum, dass das Einzelne im Dienst eines Gesamten steht. Das heißt, dass es sowohl Transparenz als auch Verschmelzung gibt.

Und jetzt kommen wir zurück zu den Streichorchester-Fassungen. Vom Streichorchester gespielt kann das Symphonische in der Anlage, das heißt die großen Kontraste, die machtvollen Entfaltungen, aber auch das Lyrische, in seinen Extremen eine Verstärkung erfahren. Es gibt bestimmte Werke, die für Streichquartett oder -quintett geschrieben sind und im Streichorchester besser wirken. Zwei extreme Beispiele haben wir bei Beethoven, nämlich die Cavatina aus dem Quartett op. 130 und die Große Fuge op. 133 – ursprünglich Sätze desselben Werkes. Die Cavatina kann im Streichorchester noch viel elegischer werden als im Quartett, da man in der Gruppe viel leiser spielen kann und der Ton trotzdem nicht abreißt. Man kann sozusagen alles noch mehr nach innen gewandt musizieren. Die Große Fuge lässt sich in ihren machtvollen Entfaltungen, in ihrem über das Quartett-Potenzial eigentlich hinausgehenden Anspruch natürlich im Streichorchester besser verwirklichen. Ein typisches Beispiel, in dem das Streichorchester besser funktioniert, ist das Adagio von Barber. Das kann man in einem Streichquartett wunderschön machen, aber im Streichorchester trägt der Klang noch ganz anders, bekommt das Werk eine ganz andere Dimension. Es gibt noch manche anregenden Fälle, in denen das auffällt: Kaminski hat sein Streichquintett von Schwarz-Schilling als Werk für Streichorchester setzen lassen. Wenn das wirklich gut aufgeführt wird, besitzt es noch eine ganz andere Spannweite als das ursprüngliche Quintett!

So ging es mir dann mit Schwarz-Schillings Quartett. Der Komponist hat selbst den ersten Satz für Streichorchester gesetzt. Warum hat er das gemacht? Weil die Kontraste viel größer werden, das Symphonische mehr zum Tragen kommt. Also haben wir das auf alle drei Sätze des Quartetts erweitert. Das hat wunderbar funktioniert, das Werk ist symphonischer geworden. Die gleiche Idee liegt dem Bruckner-Arrangement zugrunde. Bei Büttner ist es ein bisschen schwieriger. Auch dieses Werk ist sehr symphonisch konzipiert. Jetzt gibt es Komponisten, die etwas liefern, das sich leicht übertragen lässt – das ist bei Beethoven zum Teil der Fall, das ist bei Bruckner der Fall, das ist auch bei Schwarz-Schilling der Fall. Bei ihnen ist es sehr klar, wo man, als einzigen Unterschied in der Instrumentation, den Kontrabass mit dem Cello mitspielen lässt und wo er schweigt. Ihn durchweg mitspielen zu lassen, wirkt nivellierend, das wäre eine willkürliche Monochromisierung.

Bei Bruckner sind die Stellen, an denen man den Kontrabass hinzunehmen kann, von den übrigen wunderbar klar zu unterscheiden. Auch bei Kaminski, bei Schwarz-Schilling geht das sehr gut, bei Brahms hingegen ist es ein großes Problem, weil sich dort das Cello immer wieder zwischen Stellen, an denen eine Kontrabassverstärkung passend wäre, und solchen, die das nicht vertragen, hin und her bewegt. Es gibt keine klaren Trennlinien, also muss man wahnsinnig vorsichtig verfahren, wo man den Kontrabass einsteigen und wo man ihn aussteigen lässt, ohne dass sich der Moment bemerken lässt, in dem das passiert. Diese Trennung soll hier, der Musik angemessen, nicht unterstrichen werden, sondern undeutlich verlaufen. Der Hörer soll nicht merken, wo der Kontrabass dazu kommt und wo er wieder aussteigt, weil die Linie beständig fortgeführt wird. Und das ist auch bei Büttner oft der Fall. Es ist schon eine delikate Aufgabe, an den richtigen Stellen den Kontrabass hinzuzunehmen und wieder wegzulassen. Natürlich gibt es auch Stellen, die eindeutig sind, doch es gibt eben viele Stellen, an denen er sich einschleicht und wieder hinausschleicht. Dieses Werk gewinnt dadurch, vor allem im Kopfsatz und im Finale, aber auch im Scherzo, eine sehr symphonische Dimension, die es als Quartett nicht hat. In dem langsamen Intermezzo-Satz vor dem Finale und in dem ins Finale eingeschobenen Doppelkanon-Fugato ist die chorische Besetzung gleichfalls ein großer Gewinn. Der einzige Satz, der sie nicht bräuchte, ist der zweite Satz, der eine Art romantische Palestrina-Polyphonie darstellt. Folgerichtig haben wir diesen Satz ohne Kontrabass aufgeführt, was auch im Ganzen einen sehr feinen Kontrast erzeugt hat.

Was sind allgemein Ihre Aufgaben als Dirigent?

Zu meinen Aufgaben als Dirigent verweise ich auf das französische Orchester Les Dissonances. Seit es dieses Orchester gibt, das so unglaubliche Aufnahmen ins Netz gestellt hat wie die zweite Daphnis-und-Cloé-Suite von Ravel und die Suite aus dem Wunderbaren Mandarin von Bartók, kann man sehen, dass es in einem Orchester, wenn wirklich alle wollen und alle immer dabei sind, keinen Dirigenten braucht. Er ist eigentlich nicht nötig, wenn es im Orchester jemanden gibt, der das Ganze zusammenhält – in diesem Fall David Grimal vom ersten Konzertmeisterpult aus.

Für die Koordination in dem Sinne, wie es traditionell notwendig war, braucht es den Dirigenten nicht mehr, wenn das Orchester bereit ist, das von selbst zu leisten. Die Orchester sind heute gut genug individuell besetzt. Für diese Polizistenrolle – Einsätze geben, koordinieren und so weiter – braucht es den Dirigenten heute nur noch in beschränkter Weise. Früher war das anders, damals hat man ihn in der Regel gebraucht, als die Orchester von der individuellen Qualität der Spieler her nicht auf diesem Niveau waren, wie das heute allgemein gegeben ist. Jeder Dirigent sollte sich heute Les Dissonances anschauen, um zu wissen, wozu man ihn nicht braucht.

Die Rolle eines Dirigenten hat sich verändert: Von einem dominierenden Mitspieler hin zu einem Trainer, der, wie im Fußball, das Spiel von der Seite noch befeuern kann, im Übrigen aber bereits dafür gesorgt hat, dass die Mannschaft von selbst spielen kann. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass sich auch sonst vieles verändert hat. Hand in Hand mit diesen Veränderungen geht, dass das Dirigieren nicht mehr so autoritär in dem Sinne funktioniert, wie es bisher war. Jedenfalls glaube ich nicht, dass wirklich gute Resultate auf Dauer zu erzielen sind, indem man als Dirigent diktatorisch durchgreift. Stattdessen sollte es so sein, dass die Musiker selbst als tatsächlich im besten Sinne aktiv Mitwirkende dabei sind. Insofern stelle ich mir vor, mit dem Orchester so zu arbeiten, dass das Orchester die Musik von selbst realisiert und man als Dirigent am Ende so überflüssig wie möglich ist, eigentlich nur noch eingreift, wenn es unbedingt sein muss. Dadurch, dass man selbst nicht mit dem Spiel eines Instruments okkupiert ist und man dort steht, wo man alle gut hören kann, hat man natürlich genau diese Freiheit und diesen Überblick, den der einzelne Musiker, der mitwirkt, durch Position und Tätigkeit bedingt gar nicht in dem ausgeglichenen Maße haben kann.

Sie haben jetzt mit dem Album Zodiac Ihr erstes Orchesteralbum vorgelegt, nachdem Sie bislang nur Aufnahmen mit Streichorchester gemacht hatten. Wie unterscheiden sich, aus Sicht des Dirigenten, Streichorchester und großes Orchester in ihren Anforderungen als Klangkörper?

Ja, ich habe zum ersten Mal überhaupt ein großes Orchester dirigiert, als wir Scherbers Dritte Symphonie uraufgeführt haben. Das war natürlich eine riskante Entscheidung, gleich an die Aufnahme eines so komplexen Werkes zu gehen. Aber das Orchestra Simfònica Camera Musicae war phänomenal, ein bisschen wie Les Dissonances: Jeder wollte; es gab den Tropfen Zitrone nicht, der die Milch zum Kippen gebracht hätte. Niemand hat das Kollektiv gestört, und das Orchester war unglaublich selbstsicher, wach und empfänglich zugleich. Das Stück stellt ganz spezifische Anforderungen. Scherber verlangt vor allen Dingen ein ganz weit disponiertes Gestalten, extrem weittragende Steigerungen, ohne zu frühes Verausgaben. Alles ist in großen Strecken gedacht. Das Orchester hat wunderbar mitgewirkt.

Ein gutes Streichorchester ist schwieriger zu bekommen als ein gutes Orchester. Das hat auch damit zu tun, dass das Orchester bereits die konkreten Klangfarben bereitstellt, die vom Komponisten durch die Instrumentation vorgeschrieben sind. Im Streichorchester, wenn es nicht eine langweilige und monochrome Angelegenheit sein soll – womöglich noch ganz massiv von der Oberstimme dominiert und vielleicht noch vom Bass, mit Mittelstimmen, die irgendwo dazwischen herumschwimmen –, da muss man beim Arbeiten die Farben überhaupt erst herstellen. Die Instrumentation erfolgt also erst durch die Arbeit mit dem Streichorchester: Dass etwas klingt wie Trompeten, etwas anderes wie Posaunen, wie eine Flöte und so weiter, alles das kann erst im Probenprozess geschaffen werden, und dann kann ein wunderbarer, vielfältiger Streichorchesterklang herauskommen.

Die Arbeit mit dem Streichorchester wird auch dadurch erschwert, dass, weil die Farben der anderen Instrumente wegfallen, die Intonation für die ersten Geigen viel heikler wird. Bei einer so homogenen Besetzung ist insgesamt viel mehr klangliche Verschmelzung gefragt. Das große Orchester ist nicht so homogen besetzt, so fällt es auch nicht so auf, wenn das Verhältnis zwischen den Instrumenten im Einzelnen nicht so homogen ist. Es ist überhaupt nicht selbstverständlich, dass ein gutes Orchester, wenn man die Bläser weglässt, auch ein gutes Streichorchester ist – es sei denn der Dirigent hat mit diesem Orchester schon daran gearbeitet, dass die Streicher sich allein als homogener Klangkörper erfahren können.

Ein Laie mag übrigens den Eindruck haben, dass in einem guten Streichorchester fast ausschließlich die ersten Geigen gelegentlich dazu neigen, unsauber zu spielen. Das ist natürlich nicht richtig.  Tatsächlich verhält es sich so, dass, wenn die Bassregion total sauber intoniert, jede kleine Unsauberkeit in den darüber liegenden Registern sofort auffällt. Die Lage ist sofort ganz anders, wenn der Bass nicht wirklich sauber ist, z. B. wenn man mit zwei Kontrabässen besetzt, was die Sache immer intonationsmäßig besonders anfällig macht — es ist ja nichts so schwer zu intonieren wie zwei Sänger oder zwei Instrumente, die unisono zusammen singen, dann sind die Schwebungen durch die minimalen Tondifferenzen, die auf jeden Fall immer da sind, am meisten verstärkt. Sobald ein dritter dazu kommt, gleicht sich das schon wieder ein bisschen aus, und wenn es eine größere Gruppe ist, dann fällt es nicht mehr so auf, wenn etwas darin ein bisschen abweicht. Außerdem: nirgends ist so schwer sauber zu spielen wie im Bassregister, und wenn wir jetzt zwei Kontrabässe haben, die nicht für sich alleine spielen, sondern in einem Orchester, dann ist es gar nicht immer so einfach, dass die beiden hören, ob sie wirklich miteinander komplett im Einklang sind. Tatsächlich kann man dann unsaubere höhere Register dank eines unsauberen Basses einigermaßen kaschieren – dann ist alles relativ unrein, und innerhalb dessen ist es tendenziell unklar, wer mehr oder weniger dazu beiträgt. Auf wackligem Fundament lässt sich kein solides Gebäude errichten. Folglich brauche ich einen einzigen Kontrabass, oder drei oder mehr, dann kann ich erreichen – wenn Kontrabass und Cello sehr sauber zusammen spielen – dass sich ein richtig sauberer Grund bildet, wodurch dann das, was drüber liegt, total deutlich durchhörbar wird. Sobald hingegen die Intonation in der Tiefe nicht mehr ganz sauber ist, ist das, wie wenn wir einen See haben, wo das Wasser in Bewegung gesetzt wird: man kann nicht mehr klar auf den Grund blicken, es ist nicht mehr deutlich.

Um zu den ersten Geigen zurück zu kommen: Wenn es aber ganz sauber ist, ist es wie ein stilles Wasser, wo man bis zum Grund schauen kann, und entsprechend hört man jede kleine Abweichung nach oben, und am meisten fällt eben auf, was ganz oben ist: Das hört jeder sofort! Was dazwischen liegt, ist viel schwerer zu unterscheiden und präsentiert sich dem Ohr undeutlicher. Im Vergleich mit Bratschen oder zweiten Geigen werden die ersten Geigen daher meist unverhältnismäßig höher geschätzt oder unnachsichtiger getadelt.

Von Ihrer praktischen Tätigkeit als Musiker zeugen nicht nur die CDs, auf denen Sie dirigieren, sondern auch Kammermusikalben, die Sie als Produzent betreut haben. Auf dem YouTube-Kanal von Aldilà Records sieht man Sie mit einem Kammerensemble, in dem Fall dem Trio Monsterrat, proben. Verdeutlicht das diesen fließenden Übergang vom Dirigenten zum musikalischen Trainer?

Ja, und man kann natürlich mit einem Streichtrio, das selbstständig spielt, noch ganz anders arbeiten – auch gestisch – als mit einem Orchester. Im Kammerensemble sind die Musiker bereits mit ihrer Stimme innerlich verbunden, und sie sind als Trio schon da. Da kann man sozusagen sehr frei gestikulierend Dinge einbringen, die bei der Arbeit mit einem Orchester nicht funktionieren würden. Im Orchester herrscht immer noch eine Mentalität, dass der Dirigent mir als Musiker beständig zeigen soll, wie es geht. Ich wünsche mir weniger von dieser Mentalität – ein waches Aufnehmen der Impulse, die vom Dirigenten kommen, ist natürlich gut, aber die Musiker sollten selbstständiger sein!

Die Streichtrio-CD German Counterpoint ist die einzige, an der ich in der Weise mitgewirkt habe, wie es in den Videos zu sehen ist. Eigentlich wollten wir damals auch wieder ein Streichorchester-Projekt realisieren, aber dann kamen die Corona-Maßnahmen dazwischen. In dieser Situation konnten wir, auch gegenüber Christian Schwarz-Schilling, der auch hier wieder unser Sponsor war, das Risiko nicht eingehen, ein Streichorchester zu organisieren – was wäre gewesen, wenn das Ganze hätte abgesagt werden müssen, aber die zugesicherten Honorare trotzdem fällig gewesen wären! So haben wir uns dann entschlossen, mit drei hervorragenden katalanischen Musikern ein Kammermusikalbum einzuspielen.

Das Programm war horrend schwer, vor allem wegen der Kammersonate Heinz Schuberts, die überhaupt alle Grenzen dessen überschreitet, was man vom Streichtrio an Komplexität gewohnt ist – ein unglaubliches Stück, in seiner kontrapunktischen Kunst ein absoluter Gipfel der Streichtrioliteratur! Ich hoffe sehr, dass wir auf Dauer mit dieser Aufnahme dazu beitragen, dass dieser Komponist, der ein absolutes Genie war und in diesem Werk auch wirklich ein überragendes Meisterwerk hinterlassen hat, angemessen geschätzt wird. Das späte Schwarz-Schilling-Trio ist von einer unglaublich feinen, verinnerlichten Haltung. Interessanterweise haben die Musiker über den zweiten Satz dieses Werkes gesagt: „Das ähnelt sehr unserer katalanischen Musik!“ Sie haben das Stück wie ein Heimspiel empfunden. Paul Büttners Trio besteht aus sieben kurzen Sätzen. Eigentlich sollte dieses Werk ein absolutes Repertoirestück sein. Es ist nämlich nicht so schwer wie der Heinz Schubert, den ja die allerwenigsten überhaupt so gut spielen könnten, dass die Polyphonie richtig herauskommt. In dem Stück geht es wirklich über Stock und Stein, „halsbrecherisch“ ist das richtige Wort. Das kann man von Büttners Werk nicht sagen. Es ist aber durchaus virtuos und effektvoll und, wie gesagt, als Repertoirestück für jedes Streichtrioensemble geeignet.

Im Grunde ist German Counterpoint eine „Schrittmacherplatte“ fürs ganze Repertoire. Alle drei Werke sind wunderbar gespielt. Ich war dabei für das Strukturelle zuständig. Das ist ja keine Sache, die in sich existiert, sondern die verwirklicht werden muss. Auch habe ich dem Ganzen den Rahmen gegeben, aber die wirkliche Leistung kommt von den drei Musikern, die allesamt ganz wunderbar gespielt haben – auch die Position, die manchmal ein bisschen schwächer belichtet ist, die Bratsche, ist hier ganz wunderbar besetzt. Alles ist hier außergewöhnlich schön realisiert, sodass ich sagen muss: dieses Album ist mindestens so stark und wesentlich wie die Orchesteralben.

Kommen wir zum Hauptwerk der Zodiac-CD, zu Martin Scherbers Dritter Symphonie! Scherber ist zum einen ein sehr an der Tradition, vor allem an Bruckner, orientierter Komponist, zum anderen aber schreibt er Musik in Formen, die historisch keinerlei Vorbilder haben. Sie haben die Symphonie 2019 in Barcelona uraufgeführt, doch wurde sie vor vielen Jahren schon einmal eingespielt, sodass Ihre Aufnahme bereits die zweite ist. Was ist das Besondere an Scherbers Musik und wie kam es zu dieser Zweit-Aufnahme?

Der Fall Martin Scherber ist sehr speziell – er stand zum einen unter sehr unglücklichen, zum andern aber auch unter sehr glücklichen Vorzeichen. Scherber wurde 1907 in Nürnberg geboren, hat dann in München an der Akademie für Tonkunst bei Gustav Geierhaas studiert, einem Vertreter der deutschen kontrapunktischen Tradition, bei dem auch einige andere wichtige Leute studiert haben. Es spricht sehr für Geierhaas – auch er ein Komponist, um den wir uns gerne kümmern würden –, dass diese Komponisten sich sehr individuell entwickelt haben. Heinrich Sutermeister beispielsweise ist ein komplett anderer Komponist als Scherber. Man kann daran sehen, dass der Lehrer diesen Schülern das exzellente Handwerk, das er selbst hatte, mitgegeben, sie aber stilistisch nicht auf seine Bahn gezwungen hat. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, den man nicht unterschätzen sollte, und das macht einen guten Lehrer aus. Auch Heinz Tiessen und Boris Blacher sind solche ausgezeichneten Lehrer gewesen, die ihren Schülern ebendiese Freiheit gelassen haben. Als ich einmal mit Günter Bialas, der genau derselbe Jahrgang ist wie Scherber, ein Interview gemacht habe, sagte auch er mir, dass es ihm ein zentrales Anliegen ist, dass jeder Student sich auf seiner ganz eigenen intuitiven Fährte entwickeln kann. Nach seinem Studium hat Scherber ein Engagement in Aussig angenommen, dem heutigen Ústí nad Labem in Tschechien, und dort als Kapellmeister das Provinzleben kennengelernt: mit ganz viel Operette. Es hat ihm dann sehr schnell gegraust davor. Er hatte aber zu dieser Zeit auch schon Goethes Metamorphosenlehre und Rudolf Steiners Anthroposophie kennengelernt, die ihn immens in seiner allgemeinen Kunstanschauung, in der Weltanschauung und natürlich auch in Bezug auf sein Komponieren beeinflusst haben. Er hat dann in Aussig gekündigt. Man wollte ihn dort behalten, aber er hatte genug von diesem trivialen und, wie er es empfand, auch frivolen Musikleben. Er ging wieder zurück nach Nürnberg und hat sich mit sich selbst darauf geeinigt, jetzt von einem Privatlehrereinkommen zu leben. Durch Steiners Schriften angeregt, suchte er die Nähe zur Anthroposophischen Gesellschaft und zur Waldorfschule. Damit ging aber auch ein Problem los, das ich gleich beschreiben will. Er hat dann vor allem Lieder komponiert, aber irgendwann sein gesamtes Frühwerk vernichtet. Erst die danach entstandenen Werke betrachtete er als gültig. 1938 schrieb er seine erste Symphonie, ein einsätziges Werk zu einer Zeit, als einsätzige Symphonien noch recht neu waren. Natürlich fällt mir Heinz Tiessens Symphonie Stirb und werde! ein, und die Erste Kammersymphonie von Schönberg, die ihrerseits eine Tradition begründet hat, und Sibelius‘ Siebte! Es gibt also durchaus einige Vorläufer. Man muss freilich auch berücksichtigen, dass daneben einsätzige Werke existieren, die vielleicht nicht „Symphonie“ heißen, aber symphonisch komponiert sind, und dass es viele sogenannten Symphonien gibt, die keine Symphonien im eigentlichen Sinne sind.

Martin Scherber, 1952

Ich meine, wenn wir „das Symphonische“ als etwas wirklich Zusammenhängendes, Organisches begreifen, dann ist die Symphonie Fantastique von Berlioz zwar dem Namen nach eine Symphonie, wie auch z. B. die Strawinsky-Symphonien, diese Werke sind aber nicht sehr symphonisch konzipiert, sondern entweder Programmmusik oder eine Art Ballettmusik. Andererseits findet sich symphonische Entwicklung in vielen Konzertouvertüren und anderen Orchesterstücken. Insofern könnte man nach dem heutigen Stand auch Mendelssohns Sommernachtstraum-Ouvertüre eine Symphonie nennen. Und definitiv hätte Debussy La Mer und Bartók sein Konzert für Orchester als Symphonie bezeichnen können. Wir müssen schon verstehen, wie idiotisch es eigentlich ist, sich am bloßen Wort orientieren zu wollen! Viele große symphonische Dichtungen sind eher Symphonien, andere eben nicht. Auf jeden Fall hat Scherber zu dieser Form der einsätzigen Symphonie ganz bewusst gegriffen. Die Erste dauert eine gute halbe Stunde und ist aus einem Themenkern entwickelt. Ziemlich deutlich lassen die Abschnitte noch die traditionellen vier Sätze durchscheinen, also auch einen langsamen Mittelsatz und ein Scherzo. Diese Symphonie wurde erst nach dem Kriege in den 1950er Jahren aufgeführt. Scherber hat den Krieg als Soldat mitmachen müssen, kam dann aus der Gefangenschaft zurück, und dann hat er sich eingeschwungen auf die großen Metamorphosen-Symphonien, die er schreiben wollte. Als Vorübung erstellte er Klavierauszüge der Symphonien Nr.  3–9 von Bruckner. Er schickte sie Furtwängler zur Begutachtung, der sie ausgezeichnet fand. In der ersten Hälfte der 1950er Jahre entstand zuerst Scherbers Zweite, dann seine Dritte Symphonie, auch diese beiden einsätzige Werke. Der Komponist gab an, dass die Zweite eine Stunde dauert, die Dritte etwas länger. Er hat alle drei Symphonien für zwei Klaviere transkribiert und sie zusammen mit seinem Schüler Willi Held im Wohnzimmer aufgenommen. Die Aufnahmen sind erhalten. Die Stücke dauern hier wesentlich kürzer als angegeben: die zweite eine Dreiviertelstunde, die Dritte 53 Minuten. Das liegt daran, dass sie auf Klavieren gespielt werden. Scherbers eigene Angaben beziehen sich aber auf orchestrale Aufführungen, von denen er deutlich längere Spieldauern erwartet hat. Sein Freund Fred Thürmer hat die Erste Symphonie uraufgeführt und auch mehrere Male wiederaufgeführt. Auch die Zweite Symphonie hat er als Erster dirigiert. Als die Dritte vollendet war, hatte Türmer aber nicht mehr eine solche Position inne, in der er über ein so gutes großes Orchester verfügte, das für dieses Werk notwendig gewesen wäre. So kam keine Aufführung mehr zustande, auch keine weitere der Zweiten. Scherber hat in den eineinhalb Jahrzehnten danach beinahe nichts mehr komponiert. Dann wurde er 1970 von einem betrunkenen Autofahrer über den Haufen gefahren und hat schwer verkrüppelt noch drei Jahre gelebt. Mit dem Komponieren war es endgültig vorbei. Seine Dritte Symphonie hat er nie gehört.

Aber noch zu seinen Lebzeiten wurde in Krefeld um Fred Thürmer ein Bruckner-Kreis gegründet, der sich auch der Werke Scherbers annahm. Und als er bereits durch den Unfall unheilbar gezeichnet darniederlag, überredeten ihn die Schüler, seine Symphonien, deren Veröffentlichung zu seinen Lebzeiten er nicht beabsichtigt hatte, als Manuskriptpartituren zu publizieren. So sind sie alle drei zum Dürer-Jahr 1971 in schwarzen Kunstledereinbänden gedruckt und an alle möglichen Bibliotheken verschickt worden. Auf diese Weise hoffte man, auf Resonanz für die Werke zu stoßen. Es kam aber keine einzige Aufführung zustande. Immerhin waren nun die Partituren da und hatten sich einigermaßen verbreitet. Vor allem wurde die Erste Symphonie überall hingeschickt, sodass von diesem Bestand heute kein Exemplar mehr beim Bruckner-Kreis vorhanden ist.

Dann verging eine lange Zeit. Mittlerweile hatte sich eine anthroposophische Exegesetradition um Scherber entsponnen. Man muss dazu sagen, dass aus dem anthroposophischen Kreis sowohl für, als auch gegen ihn starke Impulse kamen. Allerdings haben sich führende anthroposophische Musiker ganz aggressiv gegen Scherber ausgesprochen. Das ging soweit, dass Hans Börnsen forderte, man müsse diese Musik verbieten. Scherber war zwar enttäuscht von der Haltung der Anthroposophen zu seiner Symphonik, hat aber trotzdem testamentarisch die Originalhandschriften seiner Partituren dem Goetheanum in Dornach vermacht, wo sie heute im Archiv vor sich hin schlummern. Für mich ist es ganz klar, dass die Ablehnung, auf die Scherber hier stieß, ihre Gründe auch darin hat, dass mit Scherber ein so großer Fisch in einem doch relativ kleinen Teich herumschwamm. Das wäre für die anderen Komponisten schwierig geworden, auch wollten sie moderner sein. Jürgen Schriefer und so weiter wollten lieber wie Stockhausen klingen als wie Bruckner. Das muss man einfach verstehen.

Ganz klar hört man Brucknersche Stilelemente in Scherbers Musik. Man hört auch, zum Teil ganz deutlich, etwa auf dem Höhepunkt des „Wassermann“-Satzes der Zodiak-Symphonie, Wagner heraus. Die Musik kommt eindeutig aus dieser Tradition, aber die Physiognomie, die Psychologie ist eine komplett andere. Scherber schafft wirklich alles aus einem Thema! Es ist eine sehr deutsche, radikale Idee, alles aus einem Themenkern abzuleiten wie in der Kunst der Fuge. Dem Werk Bachs liegt bekanntermaßen ein handwerklich-kontrapunktischer Gedanke zugrunde. Scherber ist aber kein kontrapunktischer Handwerker in diesem Sinne. Er ist überhaupt kein konservativer Kontrapunktiker: Es gibt, wie bei Sibelius, keine Fugen in seinem Schaffen und nur wenige Kanons. Ausgerechnet der erwähnte Satz allerdings, in dem sich dieser wagnerische Höhepunkt findet, der sehr an den Höhepunkt des Tristan-Vorspiels erinnert, beginnt mit kanonischer Führung. Dieser „Wassermann“-Satz ist übrigens der einzige Abschnitt des Werkes, vor dem sich eine deutliche Atempause findet.

Konventionelle Kontrapunktik gibt es bei Scherber ebenso wenig wie bei Sibelius, wie ja auch Bruckner sehr freie Fugen schreibt, wenn sie denn einmal bei ihm vorkommen. Ansonsten hat sich Bruckners Musik von den hergebrachten kontrapunktischen Formen komplett abgelöst, bezieht aber alle Stimmen als kontrapunktische Elemente ein – das Streichquintett ist ein gutes Beispiel. Sibelius hat sich von den traditionellen kontrapunktischen Formen komplett verabschiedet – er ist ein kontrapunktischer Komponist, aber ein ganz freier! Deshalb gibt es bei ihm auch keine starke Betonung des Kontrapunktischen. Scherbers Musik ist schon deutlicher kontrapunktisch. Es finden sich Techniken, die aus dem Proportionskanon übernommen sind, also verschiedenene Tempi, die gleichzeitig ablaufen. Aber sie werden frei angewendet. Als Kontrapunktiker erweist sich Scherber außerdem durch eine ganz andere Eigenschaft: Er will keine Begleitstimmen. In der Symphonie sind alle Stimmen für die Musiker dankbar geschrieben, da sie alle für sich selbst einen Sinn ergeben. Das ist eine ganz wichtige Sache! Er wollte, dass das Orchester aus gleichberechtigten Individuen besteht, die in einem großen Organismus zusammenwirken. Überhaupt ist das Ganze eigentlich eine einzige Verwebung, auch formal. Die einzelnen Abschnitte der dritten Symphonie sind oft nicht eindeutig voneinander abgegrenzt. Es könnten auch andere Einschnitte vermutet werden, wenn nicht alles so klar hingeschrieben wäre. Die Glieder des Werkes, wie Scherber selbst sie nennt, verdeutlicht er durch die Tierkreis-Symbole in der Partitur. Und es ist auch hinten in der gedruckten Partitur vermerkt, wo die 12 Glieder der Symphonie beginnen. Das ist in der Zweiten Symphonie nicht so. Zwar hat Scherber die Bemerkung hinterlassen, dass sie siebenteilig sei, auch gibt es drei Abschnitte, die ganz klar abgegrenzt sind, aber wo genau die anderen vier beginnen und enden, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Wenn ich jetzt nur anhand der Noten schauen müsste, wo die Abschnitte in der Dritten beginnen, dann würde mir das teilweise ebenfalls unklar bleiben müssen und ich würde vielleicht andere Stellen ausmachen als der Komponist selbst. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass es bei Scherber nie schematisch zugeht. Es gibt keinen mechanischen, von außen her regulierenden Zugriff auf die Form. Das ist ganz wichtig: Das Werk ist organisch gewachsen!

Als Scherber gestorben war, hat sich erst einmal nicht viel getan für seine Musik. Es gab aber Menschen, die daran gearbeitet haben, dass sich etwas tut. Und es ist ihnen schließlich gelungen, lange nach dem tragischen Tod des großen Scherber-Dirigenten und Bruckner-Kreis-Initiators Fred Thürmer, genügend Geld zu akkumulieren, um 1999 in Ludwigshafen die Dritte Symphonie aufnehmen zu lassen. Dirigent war der Komponist Elmar Lampson, selbst ein Anthroposoph. Allerdings hat man damals einfach übersehen, dass Scherber durch die Tierkreis-Symbole die Symphonie in 12 Abschnitte gegliedert hat, und deshalb gar nicht gemerkt, wie sich diese Einsätzigkeit unterteilt. Man kommt sich, hört man die Aufnahme aus Ludwigshafen, ein bisschen so vor wie bei manchen Allan-Pettersson-Aufnahmen: Das ist sozusagen, als würde die Musik durch einen Tunnel fahren, um am Ende dann wieder herauszukommen. Ja, es hat in gewisser Weise etwas Überwältigendes, aber nach meinem Empfinden erscheinen dadurch auch ziemlich monotone Längen. Die Musik wurde damals recht heftig von der Kritik abgelehnt. Reinhard Schulz hat ganz böse von einer „Schimäre der Zeitlosigkeit“ geschrieben, die allenfalls lästig sei; die Metamorphose würde auf der Stelle treten. Mein Freund Til Köster, der ein sehr guter Musiker und sehr gelehrter Musikwissenschaftler war, hat das Werk auch abgelehnt, als völlig formlos und so weiter.

Dann wurde die Zweite Symphonie eingespielt. Diese Aufführung in Moskau unter Samuel Friedmann ist insgesamt auf jeden Fall besser! Beide Aufführungen, die der Dritten und die der Zweiten, haben sich aber an den Tempi der privat von Scherber aufgenommenen Fassungen für zwei Klaviere orientiert, die ja nicht mit dem übereinstimmen, was Scherber von Aufführungen der originalen Orchesterfassungen erwartet hat. Sie sind einfach viel schneller, und dadurch, wenn man das einfach ins Orchester übernimmt wie in beiden Fällen, leidet die Aufführung deutlich unter sehr stressigen Tempi. Ein Freund von mir sagte, als er die Aufnahme der Zweiten hörte, das klinge wie russische Ballettmusik. Sehr lustig! Die Zweite Symphonie enthält ganz lange Temposteigerungen, wie wir sie eigentlich nur aus einem Werk wie dem Kopfsatz der Fünften Symphonie von Sibelius kennen. Es braucht also eine besonders behutsame Art, das Tempo psychologisch zu steigern, damit der Eindruck des ständigen Tempozuwachses über 30, 40 Partiturseiten erhalten bleibt. Das ist noch eine ganz andere Herausforderung in Bezug auf den Anspruch, Steigerungen zu bauen, als eine bloße dynamische Steigerung. Es gibt aber dafür durchaus Hebel und Mittel! In Bezug auf die kontinuierliche Temposteigerung ist es natürlich hilfreich, auf gar keinen Fall das Tempo dort zu entspannen, wo die Struktur gleich bleibt. Jede Form von Strukturänderung, überhaupt der Eintritt von etwas Neuem als Primärerscheinung, lässt eine unauffällige Entspannung des Tempos zu, weil die Aufmerksamkeit der Hörer anderswohin gelenkt wird. In diesem Moment kann das Tempo nachlassen, ohne dass wir spüren, dass das Tempo wirklich langsamer würde. Dadurch kann der Eindruck einer ständigen Auffrischung des Tempos erhalten bleiben. Aber das ist eine Arbeit, die für uns noch zu tun ist! So Gott will, werden wir das Werk im Juli 2024 mit dem gleichen Orchester wie in der Dritten in Barcelona aufführen können.

Die Erste Symphonie ist von Adriano in Bratislava aufgenommen worden. Adriano hat dabei, wie immer, alles an Identifikation gegeben, was möglich war. Für diese CD bat man mich, den Booklettext zu schreiben. Über diese Arbeit kam ich mit den Scherberianern in Berührung. Der Mann, der mir damals den Auftrag für den Einführungstext erteilt hat, Friedwart Kurras, ist bald darauf gestorben, und der gesamte Scherber-Nachlass, der noch da war, ging an Friedemann Grau, einen pensionierten Lehrer, über. Ihn habe ich dann getroffen. Er ist ein absolut liebenswürdiger und bescheidener Mensch und ein sehr feiner Musikkenner, auch selbst praktizierender Musiker. Wir haben uns sehr gut verstanden, und er hat mir viele Materialien über Scherber zukommen lassen. Auch war er froh, dass mein Text nicht aus der so stark anthroposophisch gefärbten Richtung kam, sondern die Sache von einer anderen Warte aus betrachtete. Es geht mir nicht darum, negativ über diese anthroposophischen Texte zu sprechen, aber das war sicher eine neue Perspektive. Und es ist schon so, dass eine gewisse Form der Allgemeinverständlichkeit mit der anthroposophischen Sprachstilistik schon eher schwierig war. Es sind nicht alle Menschen gewohnt, Steiner zu lesen. Auch Schriften wie die von Schwers über Bruckner sind einfach für viele Menschen schwer lesbar. Es wird eine Terminologie vorausgesetzt, die nicht zum allgemeinen Repertoire der Menschheit gehört, die man darum nicht als selbstverständlich erachten kann, auch nicht bei fachspezifisch gebildeten Menschen. Irgendwann haben Herr Grau und ich über die Erstaufnahme der Dritten Symphonie gesprochen, und ich habe gesagt: Das ist noch nicht wirklich das, was es sein könnte! Er fragte mich daraufhin: „Wollen Sie es noch einmal machen?“ Da habe ich „Ja“ gesagt! Friedemann Grau hat dann alles ermöglicht und bezahlt. Es ist unglaublich, was er getan hat. Als ehemaliger Lehrer an einer staatlichen Schule ist er sicherlich mit einer ausreichenden Pension ausgestattet, aber dass hier ein Mensch tatsächlich aus eigener Tasche die Mittel bereitgestellt hat, diesen unglaublichen Aufwand zu bezahlen, ohne dass irgendwelche sonstigen Förderungen hinzugekommen sind, das ist ein Zeichen von absoluter Widmung und Liebe für diese Sache, in seinem Fall auch von tiefstem Verständnis! Dass er jetzt auch die Aufnahme der Zweiten Symphonie und weitere Scherber-Projekte finanziert, ist wunderbar! Ottavia Maria Maceratini wird die Erstaufnahme des ABC-Zyklus für Klavier vorlegen. Sie hat ihn vor wenigen Tagen ganz großartig eingespielt! Dann werden die zwei kleinen Trios für zwei Geigen und Klavier von Rémy Ballot, Iris Ballot und Masha Dimitrieva aufgenommen, zusammen mit Heinrich Kaminskis hochkomplexer Musik für zwei Geigen und Cembalo (auf dem Klavier gespielt), Hugo Distlers Trio für zwei Geigen und Klavier – ein wunderbares Werk, auch von einem Nürnberger, der nur ein Jahr jünger war als Scherber –, dem symphonisch angelegten Violinduo op. 86 von Felix Draeseke und sechs Duo-Miniaturen für zwei Violinen von Heinz Tiessen. Auf jeden Fall hat Herr Grau seinen Dienst für die Ewigkeit schon getan! Und ich hoffe, dass wir es ihm in unserer Funktion gleichtun können, indem wir seinen Wunsch auch umsetzen und angemessen Realität werden lassen.

Besonders bemerkenswert erscheint mir, dass der Komponist dieses Werk, diese mehr als einstündige Dritte Symphonie, in Partitur und Stimmen ohne einen einzigen Fehler niedergeschrieben hat. Wir haben aus Stimmen gespielt, die noch nie benutzt wurden, handschriftlichen Stimmen vom Komponisten, der das Werk nie gehört hat – und wir mussten nicht eine einzige Korrektur vornehmen. Das spricht eben auch für ihn! Dieser verkannte Künstler war zugleich ein unglaublich präziser Handwerker. Unglücklicherweise hat er damals die Partitur der Dritten Symphonie an Bruno Walter geschickt, der dann schrieb, er könne in dem Werk keinen Funken von Schöpferkraft erkennen. Walter mochte natürlich Bruckner, wobei man damals Bruckner immer noch generell als mit Formschwächen behaftet ansah. Aber Walter war vor allem Mahlerianer, und Gustav Mahler ist der äußerste Gegensatz, den man sich zu Scherber vorstellen kann. Wenn Mahler sagte, die Musik solle wie die Welt sein und alles umfassen, so kann man seine Musik als zentrifugal bezeichnen. Es ist wirklich wie in einer Achterbahn! Die Musik ist episodisch, voller unglaublicher Einfälle. Sie lebt auch ganz stark eine Diskontinuität, eine Zerrissenheit aus. Aber das ist das Gegenteil von Bruckner! Mahler mag auf Schubert und Bruckner fußen, auch vielleicht auf Bach, aber Bruckner, Schubert und Bach schrieben zentripetale Musik: eine Musik, die sich total in die Innenwelt hinein bewegt, die primär den inneren Kosmos erforscht, nicht die Außenwelt. Scherbers Musik musste Walter fremd bleiben. Anderen ist sie nicht fremd geblieben, namentlich Fred Thürmer. Thürmer war wirklich ein großartiger Dirigent, was man aus seiner erhaltenen Aufführung der Ersten Symphonie mit einem sehr unzureichenden Orchester hören kann. So großartig wie die Erste hätte er auch die Dritte gemacht! Leider bekam er dazu nicht die Gelegenheit. Auch von der Zweiten gab es einen Aufführungsmitschnitt, doch hat er sich leider nicht erhalten. Da hätte man hören können, wie der Dirigent das Werk in enger Zusammenarbeit mit dem Komponisten realisiert hat.

Interessanterweise sind Sie wie Fred Thürmer Schüler von Sergiu Celibidache. Inwiefern kann Celibidache für heutige Musiker ein Vorbild sein?

Thürmer war drei Jahrzehnte vor mir am Berliner Musikinstitut Student von Celibidache. 1949 hat er dort seinen Abschluss gemacht, mit Auszeichnung und einem ganz superben Zeugnis Celibidaches, wie das fast niemand sonst je vorweisen konnte. Celibidache schrieb darin, dass er Thürmer eigentlich nur eines wünsche: ein Orchester, das adäquat umsetzen kann, was er an Potenzial bereitzustellen vermag.

Die Frage, inwiefern Celibidache für heutige Musiker ein Vorbild sein kann, ist gar nicht so einfach zu beantworten, da er sich sehr kontrovers zum Musikleben verhalten hat. Die Strukturen des Musiklebens, die für ihn offensichtlich fehlgeleitet waren, hat er offen bekämpft. Er hat sich offen gegen die Kommerzialisierung gewandt, er hat sich offen gegen die ästhetische Dogmatisierung gewandt. Seine Haltung lässt sich gut mit einem Zitat von Artur Schnabel beschreiben. Bei der Londoner Erstaufführung von Artur Schnabels Erster Symphonie hat Norman Del Mar den Einführungstext geschrieben, worin stand, das Werk sei in Zwölftontechnik komponiert – was nicht der Fall ist, es ist dissonant-freitonal. Del Mar ließ dabei seine Ansicht durchscheinen, dass bei der Zwölftontechnik keine wirkliche Musik herauskomme. Gegen beides hat sich Schnabel gewehrt und erklärt: „Ich brauche keine Angeschirrung, kein Gefängnis, keinen Führer, keine Kirche.“ Das würde Celibidache auch sagen! Seine sehr kritische Haltung zur Dodekaphonie erklärt sich daraus, dass sie nicht hergibt, was sie sich vorgenommen hat. Das heißt nicht, dass die Dodekaphonie abzulehnen ist, sondern dass sie phänomenologisch ganz natürliche Konsequenzen hat. Da kommen wir jetzt zur Phänomenologie.

Phänomenologie ist keine Philosophie – das ist ein ganz großer Irrtum! –, Phänomenologie hat keinen Inhalt, Phänomenologie ist eine Methode: eine Methode, die, soweit es geht, unsere Willkür der Interpretation ausschließen soll. Natürlich interpretieren wir, was wir sehen und hören, wenn wir darüber sprechen, was wir erleben. Wenn wir etwas sehen, ist das keine Interpretation, es sei denn wir laden es mit persönlichen Gefühlen auf. Wenn wir also in den Sonnenuntergang schauen und dieses wunderbare Rot erblicken, und wir dann daran denken, wie schön es doch war damals, als man mit seiner Liebsten im Federbett lag und Tee getrunken hat, dann sind wir natürlich Interpreten dieser Situation. Denn der Sonnenuntergang hat nichts mit dem leckeren Tee zu tun, und nichts mit dem schönen Sex, der dem Tee vorangegangen ist. Wir tragen unsere Gedanken und Sehnsüchte in diesen Sonnenuntergang. Die Phänomenologie geht zurück zu den Phänomenen, den Dingen selbst. Dieses „zurück“ wurde von Husserl geprägt. Man kann auch einfach sagen: Beziehe dich auf das, was da ist und nicht auf das, was du hinzufügst! Dadurch, dass du selbst etwas dazu bringst, nämlich deine Interpretation, interpretierst du zwangsläufig. Aber der Sinn der Sache besteht darin, so wenig wie möglich zu interpretieren. Tun wir das, wird uns ganz viel bereitgestellt, vor allen Dingen die grundsätzliche Erkenntnis, worauf die Wirkung der Harmonik auf den menschlichen Affekt beruht, nämlich auf der Quintgebundenheit, und zwar der Quintgebundenheit in beiden Richtungen: Die Abwärtsquint führt in die introvertierte Region, die Aufwärtsquint in die extravertierte Region; und alle Intervalle lassen sich auf Quinten zurückführen, die entweder in die eine oder die andere Richtung weisen – bis hin zum Tritonus, wo die Entfernung in beiden Richtungen die gleiche und damit diese Eindeutigkeit nicht mehr gegeben ist. Das alles hat Celibidache systematisch begriffen und weitergegeben, was bis heute von der Musikwissenschaft nicht erkannt ist, und auch nicht anerkannt. Im Gegenteil denken sehr viele Menschen aufgrund der etwas dümmlichen Behauptung einiger Musikkritiker, die, da ihnen die musikalische Ausbildung fehlt, gar nicht verstehen würden, von was da die Rede ist, es handele sich um eine sogenannte ‚Privatphilosophie‘ – ungefähr wie man von Philosophen spricht, die von der akademischen Philosophie nicht anerkannt werden. Dabei gibt die Phänomenologie eine Grundlage, wie sie von nichts anderem in Bezug auf Musik bereitgestellt werden kann. Das war für mich entscheidend, als ich damals mit dem Studium begonnen habe. Ich merkte: Das gilt für alle Musik, nicht nur für bestimmte Stilrichtungen, nicht nur für bestimmte ethnische Varianten, nicht nur für Klassik alleine! Was da verstanden wird, das versteht man für jede Art von musikalischer Betätigung. Heinz Tiessen, Celibidaches großer Lehrer, hatte in den 1920er Jahren noch die Hoffnung geäußert, dass vielleicht eines Tages jemand komme und all diese damals als so divergierend erscheinenden Dinge – traditionelle Harmonik, freie Tonalität, „Atonalität“ – in einer Synthese zusammenführen würde, der etwas herausfinden könne, was für all das als Grundlage gilt. Und genau dazu steht die Phänomenologie bereit!

Ich kam 1981 durch glückliche Umstände zu Celibidache. Damals habe ich dilettantisch komponiert, vor allem spielte ich in einer Art Prog-Rock-Band, die aus Geige, Bass und Schlagzeug bestand. Wir waren eine rein instrumentale Gruppe und ließen uns von Univers Zero inspirieren, von diesen absolut diabolischen Ganoven der feinsten Art aus Belgien und ihren abgründigen Sachen. Ich war aber zugleich ein ganz großer Bewunderer von King Crimson und von Oregon, dieser amerikanischen Gruppe, die sich ganz stark mit indischer Musik und mit Weltmusik im Allgemeinen auseinandergesetzt hat. Damals kam ich auf die Idee, dass man eine Fusion aus allen Stilen der Welt versuchen sollte! Ich hatte das Glück, ein Jahr bevor ich Celibidache kennenlernte, auf dem Flughafen in Karachi, wohin unsere Maschine, die eigentlich nach Delhi gehen sollte, wegen eines Sandsturms abdrehen musste, Ravi Shankar kennenzulernen. Shankar hat mir damals gesagt, ich sollte meine Erkundungen in der Musik dieser Welt weiter verfolgen, aber ich solle auch beginnen zu verstehen, dass man nicht alles mit allem fusionieren kann. Wo Gewinn ist, ist auch Verlust, sagte er. Das war ein ganz wichtiger Schlüsselsatz! Und er gilt für die ganze Musikgeschichte. Beispielsweise führt die chromatische Ausdeutung eines Monteverdi, Marenzio oder Gesualdo dazu, dass der Kontrapunkt auf ein Minimum reduziert wird. Egal was man tut, es kostet etwas! In dem Moment, in dem die Polyphonie auftauchte, verloren die Modi ihre tatsächliche Bedeutung und verschwand die Mikrotonalität. Mit dem Aufkommen der Modulation gingen die Modi endgültig verloren, da man nun die eindeutige dominantische Kraft benötigte, um neue Tonarten zu bekräftigen. Wir verstehen heute die indische Musik nicht. Für uns klassische Musiker ist es unmöglich, die Mikrotonalität bewusst zu hören, da wir uns daran gewöhnt haben, mit einem Klavier oder mit einer Orgel einverstanden zu sein. Aber auch in Indien hat man mit solchen Instrumenten die Mikrotonalität weitgehend ruiniert. John Foulds hat in den 1930er Jahren gegen die Verwendung des Harmoniums in der Volksmusik Partei ergriffen. Interessanterweise hat Ravi Shankar damals die Radiosendungen von Foulds West Meets East gehört, und wurde dann selbst der Pionier eines wirklich die Welt umspannenden und sich durchsetzenden „West Meets East“.

Bei Celibidache habe ich dann studiert, bis er 1996 gestorben ist. Mein musikalischer Anspruch war damals immens, aber meine Praxis war gleich null. Da ich Kinder hatte und dringend irgendwie Geld verdienen musste, gab mir ein Freund den Rat, mich als Journalist zu betätigen. So habe ich mein Geld mit Musikjournalismus verdient. Ich fing dann an, mit einzelnen Musikern zu arbeiten, wobei wir wunderbare Resultate erzielten, weil das eben auch wunderbare Musiker waren. Auf diesem Umweg kam ich zum Dirigieren und habe 2010, mit 49 Jahren, zum ersten Mal ein Programm dirigiert, das wir damals auch gleich aufgenommen haben – das neugegründete Streichorchester Symphonia Momentum mit dem Debüt-Album Declamatory Counterpoint. Im Grunde ist es für mich immer ein fließender Übergang von allem zu allem: vom Arbeiten mit Solisten über Kammermusik zum Dirigieren und Schreiben. Die Forschertätigkeit, die mich leitet, begleitet mich dabei stets. Ich liebe es nach wie vor, neue Dinge zu entdecken und glaube überhaupt nicht auch nur im Mindesten an das, was mir über den „Kanon der großen Kultur“ erzählt wird. Das ist total uninteressant! Natürlich gibt es ganz große anerkannte Komponisten, die nicht zu übertreffen sind – Bach, Mozart, Beethoven, Schubert, Bruckner, Tschaikowsky, Bartók etc. Aber dann komme ich etwa zu einem Martin Scherber. Am Anfang war ich auch skeptisch, da ich nur die alte Aufnahme der Dritten Symphonie kannte. Ich habe gedacht: Ob das funktioniert, ist eine andere Sache, aber dass dieser Komponist tolle Sachen machen kann, ist klar. Ich musste mich ihm wirklich annähern. Aber wie hat das Orchester diese Musik geliebt, als wir sie dann gemeinsam erkundeten: jeder Musiker im Orchester! Natürlich gab es auch psychologische Hilfsmittel in der Probe: „Wer von euch ist ein Fisch? Wer von euch ist eine Jungfrau?“, und so weiter. Für jeden war ein Satz dabei, das stimmt, aber es lag nicht daran. Tatsächlich sind die Stimmen für alle Musiker so wunderbar geschrieben, dass wir innerhalb dieser kurzen Zeit von vier Proben ein so unglaublich gutes Resultat erzielen konnten. Wie großartig ist es, ein Orchester mit einer so unglaublichen Agilität, Aufmerksamkeit und Demut gegenüber der Musik zu erleben! Freunde haben mir zwar gesagt, das sei zum Glück das beste Orchester in Spanien, es würde mir aus der Hand fressen, aber so gesagt trifft das nicht den Kern der Sache: Das Orchester war von selbst schon so aktiv, alle haben aufeinander gehört.

Wie man lange Steigerungen aufbaut, habe ich natürlich bei Celibidache „inhaliert“, und das hat mir, wie auch das intuitive Erfassen der Balance, sehr geholfen. Mir ist weitgehend klar, was ich ihm verdanke. Die Phänomenologie übrigens entwickelt sich unvorhersehbar weiter. Viele Dinge habe ich im Detail näher ausgekundschaftet, gerade was die Frage nach der Herkunft der Molltonleiter, aber auch viele andere Dinge betrifft. Keineswegs hat die Phänomenologie der Musik mit Celibidache ihr Ende gefunden, er war ihr grandioser Anfang! Woran also sollen sich Musiker heute orientieren? Das lässt sich schwer in wenigen Worten sagen. Jeder kann sich bei mir oder den anderen, die bei ihm gelernt haben, melden. Es kann sehr viel weitergegeben werden. Zur Zeit bin ich dabei, ein Buch über diese Grundlagen zu schreiben. Aber allein aus einem Buch werden diese sich nicht vermitteln lassen. Wir Musiker brauchen ein direktes Feedback zu dem, was wir gerade erleben, tun und denken und sagen. Das ist wichtig, denn Musik soll ja aus dem Lebendigen heraus entstehen. Das Buch wird viel zur Klärung der Fragen beitragen können, aber man muss bedenken, dass es nur einen Teil der Arbeit leisten kann. Es werden Menschen ja auch nicht zwangsläufig spirituell, nur weil sie spirituelle Bücher lesen, und seien diese noch so großartig. Wichtig ist auf jeden Fall, dass man nichts glauben soll, was man nicht selbst nachvollziehen kann, und absolut nichts einfach so zu übernehmen! Ich habe in meinem Leben als junger Mensch mehrfach den Fehler gemacht, dass ich mich nach irgendetwas gerichtet und dann auch arrogant dumme Dinge nachgeredet habe, weil ich dachte, damit auf der richtigen Seite zu sein und klug zu erscheinen. Und dann hat mir irgendwann gedämmert, dass das grundsätzlich dumm und oft genug auch falsch ist. Glaube nichts, was Du nicht erkannt hast! Es geht nicht um Skeptizismus, es geht nicht um ein intellektuelles Misstrauen, um eine scheinbare innere Unabhängigkeit damit zu gewinnen. Es geht darum, nur das, was man wirklich komplett verdauen kann, anzunehmen.

Welche Projekte würden Sie gerne in der Zukunft realisieren?

Da gibt es sehr, sehr viel, was ich unbedingt machen möchte. Müsste ich einzelne Komponisten nennen, so fällt mir etwa sofort Giorgio Federico Ghedini ein, der große Norditaliener, für mich der bedeutendste italienische Komponist des 20. Jahrhunderts. Oder diese beiden phänomenalen Italoamerikaner Vittorio Giannini und Nicolas Flagello, die großen Belcanto-Komponisten des 20. Jahrhunderts. Flagello ist für mich der Tschaikowskij seiner Zeit. Natürlich ist das eine andere Musik, aber diese unglaubliche Direktheit seiner emotionalen Welt, die er dem Hörer schenkt, hat Flagello mit Tschaikowskij gemeinsam. Sie trägt ebenfalls ein großes Leidenspotential. Ein anderer Amerikaner, zufälligerweise auch italienischer Abstammung, ist Peter Mennin, der ganz große amerikanische Symphoniker. Und dann natürlich der Russe Gabriel Popov, aber auch sein jüngerer Landsmann Revol Bunin.

Paul Büttner

Und dann haben wir die ganzen vergessenen Meister des deutschen Expressionismus: Heinz Tiessen, sein Schüler Eduard Erdmann, Philipp Jarnach, Max Butting, Heinz Schubert, Edmund von Borck. Da gibt es große Leute in Deutschland! Natürlich auch in den vorangegangenen Generationen! Da sind die phänomenalen Dresdner Komponisten wie Jean Louis Nicodé, der ganz große Programmsymphoniker auf einer Stufe mit Strauss und Hausegger, auch ein großer Meister der Anverwandlung, dem, wenn er wie Beethoven oder Schumann schreiben will, das auf dieser Qualitätsstufe auch gelingt. Das schaffen die meisten anderen nicht, die so etwas versuchen! In Dresden finden wir auch Felix Draeseke und seine Schüler Paul Büttner und Paul Scheinpflug. Aus England muss natürlich John Foulds genannt werden, aber auch Bernard Stevens, Peter Racine Fricker, Arnold Cooke, Christian Darnton. Es gibt so verschiedene Komponisten, die einen sind mehr konservativ, die anderen öffnen völlig neue Fenster. Der Franzose Jean-Louis Florentz ist für mich einer der ganz großen Komponisten der abendländischen Musik überhaupt, die Krönung der französischen Orchestermusik auf der Grundlage von Debussy, Ravel und Florent Schmitt; ein moderner Meister, Schüler von Messiaen, aber weit über den Lehrer hinausgegangen, mit einer Lebendigkeit, einem Sinn für Geschlossenheit der Form und einer ganz anderen Neuerungskraft als wie die akademische Moderne sie sich vorstellt. Auch Anders Eliasson aus Schweden ist solch ein ganz großer moderner Meister abseits dessen, was man als modern versteht. Oder der große Improvisator Pehr Henrik Nordgren, ein Komponist von einer unglaublichen Authentizität. Ja, da gibt es ganz viel phänomenale Musik!

Celibidache verdanke ich auch hier wichtige Anregungen. Erst einmal bin ich durchgegangen, was er alles an neuer Musik dirigiert hat. Natürlich sind das nicht alles große Werke gewesen. Es finden sich auch Stücke darunter, die wurden aufgeführt, weil ein Auftrag vergeben worden war und Celibidache eben zu der Zeit dort dirigiert hat. Die Partita für Streichorchester von Franco Margola beispielsweise ist kein bedeutendes Werk. Aber was er von Ghedini dirigiert hat, etwa die Contrappunti per tre archi ed orchestra, von denen es eine fantastische Aufnahme Celibidaches gibt, hat mir, wie man so schön sagt, den Boden unter den Füßen weggezogen. Oder die Erste Symphonie von Egon Wellesz, oder Paul Höffer – er hat Werke als erster aufgeführt, die ganz großartig sind! Und das hat mich angeregt. Dann habe ich das Feld noch viel weiter erforscht – ich war ja bis 2010 nicht als Dirigent tätig. Meine Tätigkeit als Journalist habe ich genutzt, um jeden mir erreichbaren Winkel auszuforschen, mir die Partituren zu besorgen, mich mit der Musik zu beschäftigen und im Unbekannten nach dem zu suchen, was wirklich Substanz hat. Und da ist viel!

In Spanien ist gerade Conrado del Campo, ein ganz großer Streichquartettkomponist, im Kommen, weil die Spanier selbst gemerkt haben, wie wertvoll seine Musik ist. Ja, so geht das Stück für Stück, man findet immer wieder die unglaublichste Musik: jetzt eben erst ein Violinkonzert von Mario Guarino, ein Meisterwerk der Post-Puccini-Musik, instrumentaler Verismo vom Allerbesten – und von Aldo Ferraresi auch so aufgeführt, dass man verstehen kann, dass das ganz große Musik ist. Es gibt meiner Meinung nach noch unglaublich viele große Komponisten, die noch nicht entdeckt sind, und natürlich unglaublich viele unbedeutende. Selbstverständlich muss man seine Nase schulen! Bei der Suche kommen mitunter glückliche Fügungen zu Hilfe. Ich bin natürlich in sehr vielen Antiquariaten unterwegs gewesen. Als es das Knobloch-Antiquariat in München noch gab, lag da einmal eine Partitur von Heinz Schubert, Präludium und Toccata für doppeltes Streichorchester. Und darin lag als Schreibmaschinendurchschlag ein Brief von Heinz Schubert mit Aufführungsanweisungen an den Dirigenten Wilhelm Sieben, der das Werk damals mit den Berliner Philharmonikern aufführte. In Barcelona stieß ich auf Conrado del Campos Caprichos Románticos für Streichquartett: Plötzlich liegt so eine Musik vor dir und du siehst, dass das wirklich Substanz, wirklich etwas zu sagen hat! So habe ich auch eines Tages die drei Scherber-Symphonien in dem erwähnten Münchner Antiquariat gefunden: jede für 10 €!

Ja, so geht das, und plötzlich stößt man auf ein Wunder wie John Foulds, der eine solch lichte Welt in diese Moderne hineingebracht hat, ganz gegen den herrschenden Zeitgeist der Destruktion. Natürlich ist sein Werk mittlerweile erschlossen, aber noch nicht eigentlich entdeckt. In jedem Land finden sich große Komponisten, man kannst durch alle Gegenden gehen. In Tschechien habe ich jetzt Viktor Kalabis für mich entdeckt, aus dem Kosovo Rexho Mulliqi. Und kaum habe ich da wieder etwas gefunden, tauchen auch schon wieder am Horizont die nächsten ein, zwei, drei Leute auf. Der eine oder andere darunter stellt sich dann als sich relativ schnell abnutzend heraus: Man merkt sehr bald, dass eine Masche vorliegt. Der andere wird umso größer, je besser man ihn kennenlernt. Ghedini, der so unglaublich vielseitig war und doch immer seine eigene Stimme hat, ist es in einmaliger Weise gelungen, das alte Italien heraufzubeschwören und mit einer neuen Sprache zu verschmelzen. Daraus entstand eine wirklich italienische Musik im schönsten Sinne für das 20 Jahrhundert. Vittorio Giannini, der einer Opera Company entstammt, sozusagen in der Oper aufgewachsen ist, hat dann einfach in dieses Italienische in die Neue Welt hineingeschrieben. Amerikanische Elemente haben dabei auch Einzug in seinen Stil gehalten, wobei aber eine tiefe Musik entstanden ist, ganz im Widerspruch zu allem, was man vielleicht von einer solchen Verschmelzung erwartet hätte. Sein Schüler Nicolas Flagello mit seinem verzweifelten inneren Wesen hat diesem Idiom dann zu einer existenziellen Dimension verholfen und letztlich damit Giannini wieder rückbeeinflusst.

Es geschehen in der Musikwelt Dinge, von denen die Allgemeinheit keine Ahnung hat, abgesehen von ein paar Leuten, die damit speziell vertraut sind, die dann aber wieder Anderes nicht kennen. Es ist unglaublich, was alles da ist, und was davon wirklich in eine breite Öffentlichkeit gehört! Deswegen ist es für uns so wichtig, dass wir nicht einfach drei Tage ins Studio gehen und dann Flagello aufnehmen. Wir wollen die Musik nicht konservatorisch behandeln. Wir wollen keine museale Repertoireerschließung, wie sie heutzutage zu oft betrieben wird. Etwas einzuspielen, nur damit es auf Tonträger vorliegt und ins Archiv gestellt werden kann, ist nicht Sinn der Sache! Wir wollen so nahe wie möglich zum Kern vorstoßen und im Prozess gemeinsamer Arbeit die Musik so einstudieren, dass sie jedermanns innerer Besitz werden kann, dass wir sie in einem oder mehreren Konzerten, am besten auf einer Tournee, in der Öffentlichkeit spielen, sie auf diese Weise mit den Konzertbesuchern und schließlich durch eine Aufnahme mit der Welt teilen können. Dazu suchen wir Geldgeber, Menschen, die diese Idee genauso mittragen wollen und sagen: „Das ist es wert, damit die Kultur wirklich lebendig wird!“

Vielen Dank für das Gespräch!

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2023]

Joachim Raffs „Samson“ in Bern – ein Interview mit Graziella Contratto und Philippe Bach

Stadttheater Bern

Am 8. September 2023 kam Joachim Raffs Oper Samson, die ein Jahr zuvor mit großer Verspätung im Deutschen Nationaltheater Weimar uraufgeführt worden war, zum ersten Mal in der Schweiz zur Aufführung. Das Werk erklang konzertant unter der Leitung von Philippe Bach im Stadttheater Bern, die Berner Symphoniker begleiteten ein hochkarätiges internationales Gesangsensemble (zur Besprechung siehe hier). Die Aufführung bildete den Endpunkt eines neuntägigen Aufnahmeprojekts für das Label Schweizer Fonogramm, produziert von Graziella Contratto. Im Anschluss an die Aufführung führte The New Listener mit Graziella Contratto und Philippe Bach das folgende Gespräch.

Wie sind Sie beide auf Joachim Raff gekommen?

Graziella Contratto: Ich stamme aus der gleichen Gegend wie Joachim Raff. Ich bin im Kanton Schwyz aufgewachsen und kenne den Ehrenpräsidenten der Joachim Gesellschaft, Res Marty, schon seit vielen Jahren. Meine erste Begegnung mit Raff hatte ich, als ich erfuhr, dass in Lachen in dem Haus, das heute am Ort seines Geburtshauses steht, ein Museum für ihn eingerichtet wurde. Ich habe später auch zwei, drei Werke von ihm dirigiert. Aber erst vor zwei oder drei Jahren ist mir zu Ohren gekommen, dass es die Oper Samson gibt – eine tragische Oper unter Raffs starkem Eindruck von Wagners Lohengrin und dessen Zürcher Schriften, die seit ihrer Entstehung über 170 Jahre in einer Schublade warten musste, bis sie letztes Jahr in Weimar in der Regie von Calixto Bieito uraufgeführt worden war. Und da dachte ich: Das müssen wir als Weltersteinspielung machen! 2017 hatte ich gemeinsam mit meinem Mann Frédéric Angleraux ein Label gegründet, Schweizer Fonogramm, das schon in den ersten Jahren vergessen gegangene Schweizer Kompositionen mit hochkarätigen Studioaufnahmen releasen durfte. Als unbekannte Schweizer romantische Oper war der Samson für uns daher ideal. Dazu brauchten wir natürlich auch ein Orchester, einen Chor, gute Solisten und Solistinnen, einen hervorragenden Kapellmeister und vor allem einen Ort, wo das Ganze als Schweizer Erstaufführung aufgeführt und als Studioproduktion aufgenommen werden konnte. Von den Finanzen spreche ich dann weiter unten….

Philippe Bach: Es ist eigentlich traurig, aber ich als Schweizer habe Raff erst in Thüringen kennengelernt, als GMD in Meiningen. In einem Gespräch mit Professor Wolfram Huschke von der Musikhochschule Weimar kamen wir darauf, dass man für Raff etwas machen müsste: Er sei doch Schweizer und wirkte in Thüringen. So habe ich ihn kennengelernt. Ja, es ist traurig, dass Raff bei uns so unbekannt ist, aber mit dem Jubiläumsjahr 2022 gab es für ihn zum Glück einen wichtigen „Push“, der ihn in der Schweiz auf die musikalische Landkarte gebracht hat.

Das heißt, die Schweizer wurden durch das Jubiläum erst richtig wachgerüttelt, was die Bedeutung von Raff betrifft?

Philippe Bach: Ein bisschen…

Graziella Contratto: …nicht genug! Wir haben in der Schweiz ein wenig das Problem mit dem eigenen musikalischen Kulturerbe, weil es eben nicht so wahnsinnig viel gibt vor dem 20. Jahrhundert. Man darf nicht vergessen, dass die Schweiz damals kulturell betrachtet eigentlich ein unterentwickeltes Land war, abgesehen von gewissen Industriezentren wie Zürich und Genf oder Basel. Die Schweizer galten während vielen Jahrhunderten als ein Bauernvolk, naturaffin, aber eben nicht als Ausgeburt der Raffinesse….. Viele ausländische Komponisten waren hier im Exil ( wie z. B. Richard Wagner), machten Bergtouren (wie Mendelssohn) oder befanden sich auf der Durchreise mit einem Besuch eines reichen Bekannten, und haben dann hier etwas komponiert, wie Brahms, der am Thunersee sein Doppelkonzert geschrieben hat. Wir hatten einfach weniger eigene Komponisten. In Genf, in der französischen Schweiz gab es schon einige, aber sie sind nicht sehr bekannt geworden, Josef Lauber etwa, geboren 1864. Er hat dasselbe Problem, obwohl er eine wichtige Persönlichkeit war, z. B. bei der Gründung des Schweizerischen Tonkünstler-Vereins. Ich glaube, deswegen sind die Schweizer nicht gewohnt, dass aus dem 19 Jahrhundert tatsächlich Trouvaillen da sind: Musik von Schweizern komponiert, zwei, drei Komponistinnen sind auch darunter.

Philippe Bach: Ich glaube, bei Raff kommt auch noch die Sache hinzu, dass er sehr jung ausgewandert ist: die ersten rund 20 Jahre in der Schweiz – danach in Deutschland. Er musste ja fast fliehen, hatte finanzielle Probleme. Und dann war er weg. Das ist vielleicht auch ein Grund, warum viele gar nicht wissen, dass Raff ein Schweizer Komponist ist.

Graziella Contratto: Dann war er ja auch Direktor des Frankfurter Hochschen Konservatoriums, seine Hauptwirkungsorte liegen in Deutschland.

Sie hatten schon das tragische Sujet erwähnt. Was, meinen Sie, gab für Raff den Ausschlag, sich für den Samson-Stoff zu entscheiden?

Graziella Contratto: Das habe ich mir auch überlegt. Er hat ja den Lohengrin als Assistent in Weimar bei der Uraufführung miterlebt, und ich habe ein bisschen den Eindruck – das ist natürlich eine küchenpsychologische Analyse –, Raff war auf der einen Seite fasziniert von Wagner, auf der anderen Seite wollte er sagen: „Ich kann das auch!“ Er hat gesehen, wie Wagner sich gerade jetzt auf diese mittelalterliche oder später deutsch-nordische Sagenwelt eingeschossen hat, und daher kann ich nachvollziehen, dass er – als Urschwyzer – auf einen alttestamentarischen Text zurückgriff. Er ist nicht nach Norden gegangen, sondern in die Vergangenheit zurück, ins alttestamentarische Kriegsgeschehen, mitten hinein in die Kämpfe zwischen Israeliten und Philistern. Er hat sich dieses Thema vorgenommen, hat sich in vielen Studien damit befasst, wollte darüber sogar doktorieren. Man sieht das auch in der Partitur: Die Regieanweisungen sind extrem detailliert. Auch der gesungene Text des von ihm selbst verfassten Librettos versucht, Biblisches mit Individuellem und Politischem zu vermengen, das ist alles sehr akribisch ausgearbeitet, z. B. in den Namenswörtern oder in den geographischen Angaben. Er hat viel recherchiert. Das war kein oberflächliches Zusammenbasteln. Es ist eine Mischung zwischen Drama, alttestamentarischen Sagen, Geschichte.

Philippe Bach: Ich glaube schon, dass das ein Glück für ihn war, dass er dabei sein konnte, als Liszt den Lohengrin uraufgeführt hat. Er hat Wagner nicht kopiert – dazu ist Raff in seiner Tonsprache zu eigen – aber er wurde ganz klar von Wagner inspiriert. Sehen Sie sich das Orchester an: Es hat genau die gleiche Größe wie beim Lohengrin, die Instrumente sind identisch. Was mir auch auffällt, ist der sehr solistische Einsatz der Blechbläser, gerade in der Begleitung von Rezitativen – Wagner war im Lohengrin der Erste, der das gemacht hat, das gab es vorher in der Opernliteratur kaum. Und das hat Raff beim Samson dann auch gemacht. Beethoven wurde auch inspiriert durch Mozart, Schubert durch Beethoven und so weiter. Junge Künstler suchen sich immer Vorbilder und wollen dem nachstreben. Raff hat das wirklich großartig gemacht, in seiner eigenen Sprache und seinen eigenen Ideen, aber er wurde zu dieser Oper ganz klar von Wagner inspiriert. Auch übernimmt er von Wagner die Motivtechnik…

Graziella Contratto: …wenn auch weniger konsequent.

Philippe Bach: Aber es leuchtet doch immer auf, etwa in dem Dialog zwischen Vater und Tochter. Da gibt es ein kurzes Motiv, nur einen Takt lang, aber es kommt immer wieder. Und dabei ändert sich so schnell die Farbe der Musik!

Bemerkenswert ist ja auch, wie Raff seine Szenen aufbaut, im ersten Akt etwa die Anrufungen der Göttin durch den Chor mit den sich steigernden Solo-Partien dazwischen, bis dann die Kriegsszenerie hereinbricht!

Graziella Contratto: Darin hat er sich von der Grand Opéra Meyerbeers anregen lassen. Diese Dramaturgie ist offenbar französisch inspiriert.

Philippe Bach: Ich glaube, das war wirklich eine goldene Zeit, als er in Weimar war! Er hat sehr viel miterlebt – Liszt war ja so offen – und es war sicher phänomenal für ihn, als junger Mensch dort zu sein.

Graziella Contratto: Aber es war schon hart, dass dann Samson et Dalila von Saint-Saëns ausgerechnet in Weimar zur Uraufführung kam, nachdem sein eigener Samson aufgrund von Theaterintrigen gegen Liszt, später wegen des überraschenden Todes des eigentlich von Samson begeisterten Ludwig Schnorr von Carolsfeld definitiv nicht zur Uraufführung kommen konnte.

In welchem Verhältnis sehen Sie die beiden Samson-Opern von Raff und Saint-Saëns?

Graziella Contratto: Saint-Saëns hat das Orientalische gekannt: Er war mit dem musikalischen Flair, dem Eros und dem damals florierenden Exotismus vertraut, konnte dies aus eigener Reiseerfahrung einbringen. Deswegen ist sein Werk insgesamt etwas parfümierter als bei Raff. Abgesehen von ein paar modalen Ansätzen ist Raffs Musik relativ europäisch. Bei Raff steht ein politisches, psychologisches Thema im Vordergrund, was sich auch in der Musik niederschlägt. In Samson et Dalila spürt man viel pariserisches Idiom, aber auch ein bisschen kulturellen Tourismus. Auch bei Saint-Saëns gibt es unglaublich tolle Musik, großartige Arien, aber diese Musik ist in einem anderen Fluss, bewegt sich in einem anderen kulturellen Setting.

Wie sehen sie den Samson im Gesamtkontext des Raffschen Schaffens?

Philippe Bach: Ich glaube, das ist ein unglaublich zentrales Werk. Wir wissen nicht – er hat ja nicht sehr viele Opern danach komponiert –, was passiert wäre, wäre die Uraufführung in Weimar damals zustande gekommen und ein riesiger Erfolg geworden, und er darauf vielleicht noch sehr viele Opernaufträge erhalten hätte… In der Karriere eines Musikers gibt es unglaublich viele Zufälle, und die entscheiden dann, ob es in diese Richtung oder in eine andere Richtung geht. Was wäre mit Wagner passiert, wenn nicht König Ludwig gewesen wäre? Das weiß man nicht. Vielleicht hätten wir keinen Ring! Und bei Raff ist es eigentlich eine Tragödie, dass diese Oper nicht viel früher schon gespielt wurde. Vielleicht hätte sie ihm viele Türen geöffnet. Es kam dann anders, und er hat dann später mehr im symphonischen Bereich gearbeitet. Ich muss sagen: Für mich war das Werk auch ein Türöffner, mich noch viel mehr mit ihm zu beschäftigen.

Könnten Sie sich vorstellen, ein weiteres Opernprojekt zu realisieren? Es ist ja noch genau eine Oper von Raff nicht aufgeführt: Die Parole. Wäre das eine Option für Sie, mit diesem Stück weiter zu machen, das offenbar einen ganz anderen Raff zeigen soll?

Graziella Contratto: Was man einfach wissen muss: Das ganze Samson-Projekt, also Aufnahme und Erstaufführung, steht am Ende eines zweijährigen Vorbereitungsprozesses. Es brauchte dazu sehr viel Ressourcen, Zeit und Geld. Es war nicht Teil eines normalen Saisonprogramms – dann wäre es viel einfacher gewesen. Weimar konnte letztes Jahr seine Aufführung als Eröffnungsprogramm der Saison ansetzen. Wir haben das hier außerhalb der Saison mit dem Berner Symphonieorchester zusammen gestemmt. So etwas ist sehr aufwendig, in jeder Hinsicht. Es musste eine Förderstruktur gefunden werden, die das Ganze finanziell unterstützt. Wir fanden zum Glück Unterstützung und Partnerschaften: von der Raff-Gesellschaft Lachen, von verschiedenen öffentlichen Instanzen, zum Beispiel dem Kanton Schwyz, der Herkunftsgegend. Hinzu kamen private Förderstiftungen, ein Crowdfunding und Mäzene und Mäzeninnen, die sich anstecken ließen vom Samson-Fieber. Uns ist aber auch aufgefallen, dass es in der Schweiz auf Bundesebene selber ein gewisses Umdenken braucht, um Tonträgeraufnahmen unter Studiobedingungen als eigene Kulturleistung anzuerkennen. Das ist nämlich noch nicht so sehr der Fall, mindestens nicht, was die historische Schweizer Musik betrifft. Die zeitgenössische Musik wird schon sehr unterstützt. Das ist auch richtig und wichtig! Aber die historische Musik, die eigentlich fast noch sensationeller ist, weil man sie noch gar nicht kennt und gar nicht weiß, was es alles gibt… Das steckt noch ein bisschen in den Kinderschuhen, glaube ich.

Philippe Bach: Man muss einfach auch sagen: Solche Studio-Aufnahmen von Opern gibt es eigentlich heute gar nicht mehr, das kann niemand mehr bezahlen. Aber das ist sehr schade, denn es sind doch wichtige Zeitdokumente, auf die man eben auch noch in 100 Jahren, so hoffe ich, zurückgreift. Es gibt doch Referenzaufnahmen, sagen wir: den Rosenkavalier unter Carlos Kleiber. Solche Sachen gibt es leider heute kaum mehr, da man heute immer Live-Mitschnitte auf CD oder DVD bringt. Aber ich finde es unglaublich wichtig für die Geschichte, dass man solche Studioaufnahmen mit der wirklich besten Qualität eben für die Ewigkeit aufnimmt. Aber wie Graziella gesagt hat: Es ist ein Kraftakt, so etwas zu stemmen! Wir hatten auch das Glück, dass uns das Stadttheater von Bühnen Bern neun Tage zur Verfügung stand. Welcher Opernintendant würde ein Opernhaus für neun Tage schließen! Sie konnten in der Zeit keine Aufführungen spielen. Dass wir an diesem Ort die Aufnahmen machen konnten, ist ein Glücksfall. Das muss man wirklich sagen!

Welche Möglichkeiten bietet ein solches Vorgehen verglichen mit einer szenischen Aufführung, die mitgeschnitten wird?

Philippe Bach: Man hat natürlich eine viel höhere musikalische Qualität. Jeder Musiker bringt Spitzenleistungen und gibt sein Bestes. Jeder weiss: Das ist für die Ewigkeit. Das Niveau ist unglaublich, das erreicht man selten, fast nie in einer Opernaufführung! Und eine konzertante Aufführung für mich etwas unglaublich Schönes. Alle konnten sich wirklich auf die Musik konzentrieren und hatten das Stück im Blut, da wir zehn Tage so intensiv gearbeitet haben. Das hat man selten. Natürlich gehört dieses Stück auf die Bühne, das ist klar: Es braucht Inszenierungen, verschiedene Inszenierungen! Ich glaube, das Stück lässt auch viel zu, man kann viel damit machen. Es wäre schön, wenn das Stück jetzt gespielt würde in verschiedenen Inszenierungen. Aber rein für die musikalische Qualität ist eine Unternehmung, wie wir sie hier durchführen konnten, etwas vom Besten was es gibt.

Das heißt, die Bühnen Bern haben durch die vorübergehende Schließung des Theaters einen ganz wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass man überhaupt diese Aufnahme ins Werk sitzen konnte?

Graziella Contratto: Natürlich! Und wir haben noch ein sogenanntes Konzertzimmer einbauen lassen. Sie haben diese Konzertmuschel auf der Bühne gesehen. Sie musste extra eingerichtet werden, was einen Tag lang gedauert hat. 20 Arbeiter sind mit drei Sattelschleppern hergekommen und haben sie aufgestellt: oben die Segel, auf der Seite Stellwände und so weiter. Es war ein unglaubliches Abenteuer, aber auch toll, denn jetzt haben wir wirklich etwas Wichtiges zusammen geleistet, damit Raff auch als Opernkomponist wahrgenommen werden kann, und zwar weltweit. Man sagt immer, Live-Aufnahmen haben einen „Spirit“ aus dem Moment, es ist so emotional. Aber Emotion bedeutet auch manchmal Ungenauigkeit, Spontaneität statt Reflexion. Es können natürlich auch ungewollt Dinge passieren. Mich persönlich ärgert es dann, wenn so etwas für immer und ewig einfach aufgenommen ist und dann immer wieder gehört werden kann, und jeder merkt: Da gab es ein Problem, dort eine Unschärfe, intonatorisch gibt es etwas zu bekritteln usw. Dann verzichte ich lieber auf den Live-Moment und setze lieber auf eine ausgeklügelte, gut geführte Studioaufnahme.

Ein Herr aus dem Publikum hat zu mir gestern den Satz gesagt, Raff sei eigentlich das bedeutendste „Missing-Link“ des 19. Jahrhunderts, weil er gewissermaßen wie in einem Kreis zwischen seinen ganzen berühmter gewordenen Kollegen steht und jedem von ihnen die Hand reicht. Sehen Sie das ähnlich?

Graziella Contratto: Das ist sehr schön gesagt!

Philippe Bach: Ja, Raff war gewissermaßen bei beiden, bei den Neudeutschen um Liszt wie bei der anderen Linie von Mendelssohn, und hat versucht, auf seine Weise zu verbinden. Er hat eben nicht gesagt: „Nur das ist gut, und das ist schlecht!“

Herzlichen Dank für dieses Gespräch!

[Das Interview führte Norbert Florian Schuck, 9. September 2023]

Zur weiteren Information:

Die Weltersteinspielung der Oper Samson von Joachim Raff erscheint voraussichtlich im kommenden Dezember als 3-CD-Box bei www.schweizerfonogramm.com

Philippe Bach leitet das Berner Symphonieorchester und den Chor der Bühnen Bern, als Solisten wirken mit:

SAMSON – Magnus Vigilius

DELILAH – Olena Tokar

ABIMELECH – Robin Adams

OBERPRIESTER – Christian Immler

MICHA – Michael Weinius

Die künstlerische Aufnahmeleitung wurde ebenso wie das Editing und das Mastering übernommen von Frédéric Angleraux, Studio www.adcsound.ch

Künstlerische Faszination für ein Instrument

Interview mit dem Pianisten Mathias Weber, dem künstlerischen Leiter des Hamburger Érard Festivals

Von 23. 10. bis 30. 10 findet in Hamburgs Laeiszhalle das 6. Érard-Festival statt. Die aktuelle Festivalausgabe ehrt den frankobelgischen Komponisten César Franck anlässlich seines 200. Geburtstags. Dafür konnte die Érard-Gesellschaft jenen orginalen Érard-Flügel nach Hamburg holen, auf dem Franck viele seiner Werke komponiert hat – unter anderem auch sein f-Moll Klavierquintett, das in Hamburg in gleich zwei Fassungen zur Aufführung kommt. Das in Hamburg stattfindende deutsch-französische Érard-Festival, veranstaltet von der durch Stephanie Weber ins Leben gerufene Érard-Gesellschaft, ist die wohl bedeutendste Institution im deutschsprachigen Raum, die das Kulturgut dieser legendären französischen Flügel lebendig hält. Mathias Weber, Pianist und künstlerischer Leiter des Festivals schöpft aus dem linearen und feinen Klangcharakter dieser Instrumente immer wieder neues künstlerisches Potenzial für kammermusikalische Begegnungen.

The New Listener: Warum haben Sie César Franck ins Zentrum des Érard Festivals gesetzt?

Mathias Weber: Das ist vor allem dem glücklichen Umstand geschuldet, dass wir den Original-Flügel von César Franck zur Verfügung gestellt bekamen. Mehr noch: Auf diesem Érard-Flügel hat César Franck sein f-Moll Klavierquintett, welches in der Laeiszhalle zur Aufführung kommen wird, komponiert. Und auch Franz Liszt, dessen Klavierkonzert Nr. 2 unter anderem auf dem Programm steht, ist ja „der“ Érard-Künstler schlechthin. Beide Komponisten sind durch den Klang dieses Instruments originär beeinflusst worden.

Bei den ersten beiden Konzerten steht César Francks Klavierquintett f-Moll gleich zweimal auf dem Programm – einmal im Original zusammen mit dem Schumann Quartett und danach im viel größer besetztem Format mit dem Oldenburgischen Staatsorchester.

Genau. Dem Original steht eine von mir kreierte Orchesterversion gegenüber. Mich interessierte hier das Spiel mit den Rollenverteilungen. Durchaus wird in der Orchesterversion dem Klavier einiges „weggenommen“ und an ein ganzes Orchester weitergegeben. Deswegen ist diese neue Fassung von mir kein Klavierkonzert im üblichen Sinne. Das Klavier agiert eher wie ein obligates Soloinstrument. Ich habe das Stück so bearbeitet, dass es eben nicht genuin klaviermäßig ist, sondern stattdessen mehr Gleichberechtigung entsteht. Das kommt auch äußerlich dadurch zum Ausdruck, dass der Dirigent bei dieser Aufführung vor dem Klavier steht.

Wie sind Sie vorgegangen bei dieser Neufassung?

Nach einer meiner Aufführungen des Franck-Quintetts kommentierte ein Musikerkollege: Das klingt ja wie ein Orchester, was mich dazu brachte, das Quintett zunächst für ein solches zu bearbeiten. Aber dadurch fehlte wieder etwas. Vor allem wurde mir klar, dass das rein figurative Element des Klaviersatzes nur im Orchester allein nicht darstellbar ist. Also habe ich das Quintett von Franck zu einer „Sinfonie für Orchester und Klavier“ weiterentwickelt.

Welche Rolle spielt Franz Liszt im Programm?

Mit Franz Liszts Klavierkonzert A-Dur und der sinfonischen Dichtung Les Préludes wollen wir auf die Verwandtschaft César Francks mit Franz Liszt anspielen.

Welche Aspekte standen für César Franck im Vordergrund, wenn er sich an Franz Liszt orientierte?

Der Klavierpart bei César Franck ist ja auffallend beweglich, so dass hier eine Inspiration durch Franz Liszt nahe liegt. Aber trotz solcher Einflüsse hat César Franck etwas ganz eigenständiges daraus gemacht. Durch die fantasievolle Verwendung eines Grundgedankens konnte sowohl bei Liszt als auch bei Franck eine monumentale Großform entstehen.

Am 30. Oktober spielen Sie zusammen mit dem Ensemble Acht – auf dem Programm stehen zwei Septette von Ludwig van Beethoven und Nepomuk Hummel. Worauf können wir uns hier freuen?

Hummels Septett d-Moll op. 74 ist von Franz Liszt herausgegeben worden und man kann es zu den bedeutendsten Stücken der Kammermusik nach Beethoven rechnen. Es ist ein sehr dramatisches, viersätziges Stück. Man könnte den Charakter dieser Musik als „janusköpfig“ oder doppelbödig bezeichnen. Formal ist es eigentlich ein Klavierkonzert und trotzdem zugleich ein Kammermusik-Stück. Die Besetzung „sechs Instrumente plus Klavier“ geht ja schon ins Orchestrale. Daher ist der Klaviersatz auch sehr konzertmäßig. Aber trotzdem ist es kein Klavierkonzert, da die anderen Instrumente thematisch viel zu sagen haben. Vom Ausdruckscharakter her steht diese Musik auf einer Schwelle zwischen den Zeiten. Ich sehe hier eine Symbiose von Mozart´scher Leichtigkeit und dämonischer Romantik. Durchaus stand hier auch E. T. A. Hoffmann Pate. Zugleich bezieht sich die Komposition in ihrem dritten Satz auf Beethovens vierten Satz seines Es-Dur Septetts. Hier einen Vergleich zu ziehen, ist doppelt lehrreich: Beethoven bleibt in seiner Komposition in der Form drin, wo Hummel sie stärker aufbricht – allein das macht die Gegenüberstellung dieser beiden Werke in einem Konzert zu einem spannenden Stück musikalischer Zeitgeschichte.

Welchen Austausch gab es zwischen Beethoven und Hummel?

Hummel war ein Freund von Beethoven und die beiden haben sich sehr geschätzt. Angeblich hat sich Beethoven auch für Hummels Frau interessiert. Das fand Hummel aber nicht so nett und wollte deswegen nicht auf Beethovens Beerdigung spielen. Aber Hummels Frau hat trotzdem darauf bestanden, dass er es tue.

Was macht Ihre persönliche Faszination für die Flügel aus dem Hause Érard aus?

Meine Leidenschaft für den Érard-Flügel resultiert aus einer gewissen Verrücktheit. Aber ich habe hier den perfekten Klang für mich gefunden.

Gab es dafür ein Erweckungserlebnis?

Ja, es war wie eine Offenbarung, als ich zum ersten Mal diesen Klang gehört habe. Ich bin in einem Klaviergeschäft eher zufällig darauf gestoßen. Ich wusste schon, dass die Érard-Flügel interessant sind. Auch Richard Wagner hatte so einen und deswegen dürften sie wohl nicht ganz so schlecht sein. Als ich nun in diesem Klaviergeschäft war, habe ich einen Érard aus dem Jahr 1858 zum ersten Mal bewusst gehört. Der war noch nicht mal richtig restauriert. Aber ich habe ihn gespielt und gedacht, das ist es! Ich habe noch diverse andere Instrumente demonstriert bekommen, aber bin immer wieder zum Érard zurück gegangen.

Man sagt, dass Érard-Flügel durch die Technik der „doppelten Repetition“ die ersten modernen Flügel sind. Was macht dieses Prinzip aus?

Man konnte dadurch einfach viel schneller spielen. Der entscheidende Unterschied ist, dass der Hammer nicht mehr komplett zurückfällt, sondern auf halber Strecke gehalten wird. Die ganze moderne Spielweise, die sich seit Liszt und Mendelssohn etabliert hat, wäre ohne die doppelte Repetition nicht denkbar. Auch jeder moderne Flügel hat sie heute noch.

Wo hingegen zeigt sich die Überlegenheit des Érard-Flügels?

Steinway hat als erster Klavierbauer die tiefen Saiten überkreuz gespannt, womit er eine Revolution vollzogen hat. Das führte zu deutlich mehr Wucht in den Bässen. Der Reiz des Érard besteht darin, dass hier die Saiten weiterhin linear, also überall nebeneinander gespannt sind. Dadurch klingt der Érard viel klarer und genau diese Klarheit und Linearität macht meine künstlerische Faszination für dieses Instrument aus. Mit einem „Kreuzsaiter“ kann man polyphone Bass-Führungen längst nicht so differenziert abbilden. Alles ist immer eine Frage des Standpunktes. Rachmaninoff wird auf einem modernen Konzertflügel immer eine viel mächtigere Wirkung entfalten als auf einem Érard. Aber Ravel klingt wiederum auf einem Érard umso faszinierender.

[Das Interview führte Stefan Pieper]

Die Neugier, Besonderheiten zu entdecken

CD: Dreamlover, Music for Saxophone by Albena Petrovic. Joan Martí-Fresquier, Kebyart Ensemble, Cynthia Knoch, Romain Nosbaum.

Solo Musica, SM 394; EAN: 4 260123 643942.

Albena Petrovic gehört zu den produktivsten Komponistinnen unterer Zeit. Die in Bulgarien geborene, in Luxemburg lebende und wirkende Musikerin schrieb über 600 Werke in unterschiedlichsten Gattungen und für diverse Besetzungen. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen wie 2013 den Ordre de Mérite du Grand-Duché de Luxembourg (Rangstufe: Chevalier). Soeben erschien nach Crystal Dream, The Voyager und Bridges of Love ihre nunmehr vierte monographische CD beim Münchner Label Solo Musica: Es trägt den Titel Dreamlover und umfasst Werke für Saxophon, die in Bezug stehen zum ausübenden Künstler Joan Martí-Frasquier. Albena Petrovic bezeichnet Dreamlover als „Konzeptalbum“, das exemplarisch ihr Schaffen für das Saxophon in seinen verschiedenartigen Facetten umreißt. In diesem Interview spricht die Komponistin Albena Petrovic über ihren Zugang zur Musik, über das Saxophon und die Werke, die auf ihrem neuen Album Dreamlover zu hören sein werden.

Oliver Fraenzke (OF): Albena Petrovic, Ihre neueste CD widmet sich dem Saxophon. Dieses ist zumindest in der klassischen Musik ein vergleichsweise neues Instrument, das abgesehen von wenigen Ausnahmen (wie bei Bizet) erst im 20. Jahrhundert aufblühte: man denke an Debussy und Ravel, an Glasunow und an Alban Berg. Am meisten verbinden wir es aber nach wie vor mit dem Jazz, wo es zwar ebenso spät einzog, sich aber nachhaltig durchsetzte. Wie kamen Sie dazu, für dieses Instrument zu komponieren und was spricht Sie an ihm so an?

Albena Petrovic (AP): Tatsächlich war es der Zufall, der viele Dinge bewirkt, der mich dazu gebracht hat, Saxophonisten kennenzulernen. Ich hatte vorher nie die Gelegenheit, für Saxophon zu komponieren, weil ich keine Konzert-Interpreten kannte – ganz logischerweise lag dieses Instrument nicht in meinem Blickfeld. 2006 komponierte ich das Quartett Gebet zum Nichterscheinen, das von der Musikwissenschaftlerin Danielle Roster und ihrem Projekt mit CID Femmes-Luxembourg bei mir in Auftrag gegeben wurde. Ich war sehr dankbar für dieses Projekt, das die meisten Blasinstrumente umfasste. Nach der Uraufführung wurde das Quartett mehrfach aufgeführt – unter anderem in Österreich. Dann schrieb ich mehrere andere Kammermusikstücke, darunter mit Saxophon, aber nichts für dieses Instrument allein. Entscheidend war mein Treffen mit Joan Martí-Frasquier bei Classical Next im Jahr 2016. Er ist eine Art Fürsprecher für sein Instrument – das Bariton-Saxophon: Er bittet Komponisten oft um neue Stücke für sein Instrument. Er hat mehr als 30 Werke uraufgeführt und mit seiner Hingabe an das Schaffen und Entdecken hat er es geschafft, dass ich Lust bekommen habe, für ihn zu komponieren. Außerdem engagiert er sich enorm für zeitgenössische Musik, ganz „puristisch“: Kommerzielle Musik passt keine Spur in sein Repertoire. Mit kommerzieller Musik meine ich Stücke, die mit dem Publikum „flirten“ und in Richtung Populismus abgleiten. Nach dem ersten Stück – DREAMLOVER – komponierte ich 2018 das Konzert mit Streichorchester und die Ouvertüren zum Operndyptich Liebe und Eifersucht. Dies war schon genug Musik, um an eine CD zu denken!

OF: Bei den Werken dieser CD erkunden Sie explizit die Spieltechniken jenseits der „traditionellen“ Musizierweise. Welche klangtechnischen Besonderheiten entdeckten Sie beim Saxophon?

AP: Die Saxophonfamilie ist sehr reich an Klangmöglichkeiten – so virtuos wie eine Klarinette, aber mit Vorteilen in der Klangpalette – sehr unterschiedliche Klangfarben, mehrere Register von Geräuschen und Effekten und natürlich mehr Kraft und Lautstärke. Im Bereich des Ausdrucks und der Suche nach dunklen, auch unschönen Paletten ist das Bariton-Saxophon also in seiner Stärke. Gleichzeitig kann es auf Anfrage wie die menschliche Stimme singen und zart und warm sein – es fällt mir schwer zu sagen, was mit diesem Instrument nicht möglich ist, besonders wenn der Instrumentalist so virtuos ist wie Joan Martí.

OF: Wenn mir gestattet ist, die vorausgegangene Frage weiterzuverfolgen: Allgemein fällt auf, dass Sie in fast jeder Phrase erweiterte Spielweisen benutzen und die klanglichen Möglichkeiten für jedes Instrument durch neue Techniken ausreizen. Sind Sie der Ansicht, die traditionelle Tongebung habe für die neue Musik ausgedient, sei abgenutzt? Oder geht es Ihnen hierbei mehr um eine Umsetzung Ihrer Vorstellungen, die nur eben durch solche Klangsphären erreichbar gemacht werden?

AP: Ich denke, tonale Musik ist unbegrenzt, man kann mit Tonalität viel machen, aber ich habe eine sehr große Neugier, Besonderheiten zu entdecken und zu suchen. Außerdem geht es mir darum, meine Ideen gemäß meiner persönlichen Ästhetik auszudrücken, und ich brauche meine persönliche Sprache.

Des Weiteren sind die Themen, die mich beschäftigen, eher düster, und ich orientiere mich an der philosophischen oder tragischen Seite der Dinge. Ich kann nicht wirklich (nach eigener Entscheidung) Musik zur Unterhaltung komponieren – dafür gibt es sehr spezifische Genres. Gelehrte Musik, wie wir sagen, Kunstmusik, muss sich von Themen und tiefen Gefühlen nähren, und das inspiriert mich auch. Es fällt mir schwer, meine Enttäuschung oder die Einsamkeit von heute mit einer Melodie auszudrücken, die vor 200 Jahren hätte komponiert werden können. Und jeder Schöpfer ist in seiner eigenen Welt – das „Gepäck“, das er mit sich trägt und seine menschlichen Erfahrungen sind absolut untrennbar mit seiner Schöpfung verbunden. Meine persönliche Reise war sehr schwierig und voller Hindernisse – die Zeit meiner Jugend war sehr dramatisch und das ist der Grund, dass mein Aussehen und meine Ästhetik nicht die gleichen sind wie die Schöpfer, die in einem einfachen und unbeschwerten Kontext sich entwickelt haben. Auf heute projiziert: Könnten diese Menschen, die unter den Bombardements in der Ukraine aufwachsen, die gleichen Visionen haben wie die anderen, die auf Mallorca Urlaub machen?

OF: Ihr musikalisches Material setzt sich bei den Werken dieser CD hauptsächlich zusammen aus kurzen Motiven, die vor allem rhythmisch-dynamischer Natur sind oder sich durch individuelle Klanglichkeit auszeichnen. Wie kreieren Sie damit Zusammenhang in den großen Formen? Auf welche Weise gelingt es Ihnen, die einzelnen Sätze oder Werke zusammenzuhalten?

AP: Große Formbauten – hier zum Beispiel das Concerto – werden wie große Gebäude gebaut – proportional und der Form und Dramaturgie eines zuvor erstellten Plans folgend, sonst stürzt das Gebäude ein. Kleine Formen sind Detailarbeit, die oft schwieriger zu erreichen ist. Bei kleinen Formen ist jede kleine Geste sehr wichtig und sichtbarer. In Topform arbeite ich als Architekt – ich plane, bevor ich anfange, und folge dem Plan. Dann hat jede Stufe ihre Rolle in der Dramaturgie des Ganzen.

OF: Allgemein fällt auf, dass Ihre Musik ausgesprochen sanft und weich erscheint, bewusst extreme Kontraste in Sinne von Härte umgeht. Dazu verleihen Sie Ihren Werken vornehmlich poetische Titel, die ebenfalls träumerischen bis melancholischen Charakters sind. Was wollen Sie mit Ihrer Musik vermitteln? Welchen Eindruck erhoffen Sie, bei Ihren Hörerinnen und Hörern beim ersten Höreindruck zu erzielen? Und durch welche Haupt-Charakteristika wollen Sie diesen Eindruck in erster Linie erreichen?

AP: Meine persönliche Ästhetik ist stark von den Impressionisten und Expressionisten beeinflusst. Für mich muss jede Musik eine Inspiration in sich tragen, die vom Herzen kommt. Meine Musik ist rational komponiert und oft übermäßig durchdacht, aber der Hauptzweck ist, dass sie beim Zuhörer ein Gefühl und eine Reaktion hervorruft. Diese nachdenkliche Seite ist für mich essenziell. Also suche ich nach einem einzigartigen und wiedererkennbaren Sound-Look. Ich möchte nicht, dass wenn Sie sich mein Stück anhören, sich fragen, ob das Gershwin oder Bernstein oder Poulenc ist.

OF: Beim ersten Werk auf der vorliegenden CD handelt es sich um ein Solokonzert, ursprünglich für Bariton-Saxophon und Streichorchester als op. 204 komponiert, auf Wunsch von Joan Martí-Frasquier später in der hier zu hörenden Fassung mit Klavier umgeformt. Wie treten Sie der klassischen Form des Solokonzerts heute gegenüber? Welche formalen Teile projizierten Sie in die Gegenwart und wie schaffen Sie eine nach wie vor aktuelle Form?

AP: Das Konzert ist zweisätzig – vor und nach einer imaginären Katastrophe – ein Vorwarnteil voller Angst und Drohung und ein Teil zur Trauer über die Katastrophe. Es gibt auch Sonaten und Konzerte in einem Satz, was seit dem 20. Jahrhundert ein Trend ist, der auch sehr typisch für Opern ist, die bereits in 1–2 Akten üblich sind.

Ich halte es für sinnvoll, die Längen zu kürzen – ich entziehe mich nicht dem Trend, Formen zu schneiden und Mittel zu sparen. Heutzutage dauern Konzerte nicht länger als 60–75 Minuten ohne Pause und das war’s; Das Publikum hört nicht mehr zu, wenn die Musik komplex ist und Reflexion und nicht nur Unterhaltung erfordert. Die Zeit vergeht anders und das wirkt sich auf die Größe der Werke aus.

OF: Bemerkenswert gestaltet sich Ihr Zyklus Poèmes–Masques op. 236, der die bislang einzigartige Formation zwischen Gesang und Saxophon in den Mittelpunkt stellt. Wie harmonisieren die menschliche Stimme, die ja vor allem in der Mittellage bis Höhe Glanz und Volumen erreicht, und das Saxophon, welches ja in der Tiefe mächtig erscheint? Auf welche Weise wirken die zwei Melodieinstrumente zusammen und wie können sie gemeinsam harmonische Vielfalt erreichen?

AP: Es ist sehr natürlich – ich behandle das Bariton-Saxophon wie eine menschliche Stimme, aber ohne Worte – es steht logischerweise im Dialog mit dem Sopran. Und es ist auch sehr harmonisch und sogar melodiös. Ich habe mehrere andere Stücke, in denen ich die Stimme als Instrument behandle, aber hier habe ich die Entscheidung nach dem Inhalt getroffen – die Poèmes–Masques sind sehr theatralisch, wie kleine Skizzen – es gibt Vorschläge, mit denen man den Hörer nicht ablenken darf durch zu viel Virtuosität, die Intimität des Textes suggeriert auch eine intime Textur.

OF: Die Texte der vier Lieder stammen ebenfalls aus Ihrer Feder. Im Booklet beschrieben Sie, dass der schöpferische Prozess des Entstehens von Text und Musik zusammenfällt. Wie kann man sich das vorstellen? Könnten Sie das anhand eines Beispiels erklären, wie Sie bei Liedkompositionen vorgehen?

AP: Ich denke über die Botschaft nach, die ich vermitteln möchte, dann fange ich an, eine Textur auszuarbeiten – Instrumente, Klangfarben und die Worte, die diese Botschaft am besten ausdrücken. Rational und intuitiv sind die beiden Arbeitsweisen, die bei meiner Textarbeit Hand in Hand gehen. Arbeiten ohne Text ist viel rationaler.

OF: Es folgen drei Stücke für das Saxophon allein: DREAMLOVER op. 189 (2017) und die Zwei Stücke für Alt-Saxophon o. O., die aus Ihrer Kammeroper Love & Jealousy stammen. Ein Melodieinstrument ohne Begleitung stellt Komponistinnen und Komponisten vor besondere Herausforderungen. Vor welchen Aufgaben standen Sie hier?

AP: Es ist wirklich sehr anspruchsvoll, ein Stück für Soloinstrument zu bauen, aber ich mache es nur, wenn ich wirklich glaube, dass dies der einzige Weg ist, die Botschaft zu vermitteln – in der Dyptich-Oper Love & Jealousy, also Liebe und Eifersucht, ist das Saxophon die Verkörperung der Einsamkeit – es spielt diese Rolle auch in der Dramaturgie der Klangfarben; im DREAMLOVER ist es ähnlich – marginal, realitätsfern in Einsamkeit und Isolation.

OF: Zu DREAMLOVER vermerkten Sie, es ließe viel Raum für die Phantasie der Interpretinnen und Interpreten. Auf welche Weise?

AP: Eines der Bücher, das mich geprägt hatte, war Opéra Aperta des Schriftstellers und Philosophen Umberto Eco – die offene Form, die Raum lässt für die anderen Teilnehmer des Dreiecks – für Darsteller und sogar für die aktive Teilnahme des Publikums im Bezug auf die ‚Ausführung‘ des musikalischen Werkes – ich gehe nicht zu weit in diese Richtung, aber ich gebe dem Interpreten kontrollierte Freiheit, damit er dem Endergebnis seinen Stempel aufdrücken kann. Er muss sich wirklich in die Haut des Komponisten hineinfühlen und die Emotion seines eigenen Wesens leben. Ansonsten sind die Noten streng geschrieben, auch die Nuancen. Die Freiheit betrifft Rhythmus, Tempo und Ausdruck.

OF: Das letzte der zu hörenden Werke trägt den Titel Gebet zum Nichterscheinen op. 102, es ist das früheste der aufgenommenen Werke und für vier Saxophone komponiert. Hier näherten Sie sich das erste Mal dem Saxophon: Wie bereiteten Sie sich auf das Schreiben für dieses Instrument vor? Und was zeichnete die Arbeit an dem Werk aus?

AP: Das ist mein erstes Werk für Saxophon, es gab einen Auftrag, dieses Werk zu komponieren, aber ich kannte die Instrumente schon lange vorher, seit dem Ende meines Studiums; 2006 ergab sich die Gelegenheit. Das ist für mich etwas ganz Besonderes – ich muss immer einen Bühnentermin im Blick haben, sonst kann ich nicht komponieren. Wenn es möglich ist, die Interpreten sogar persönlich zu kennen, ist dies der beste Weg, um die Werke zu fühlen und ihnen Energie zu verleihen. Und der erste Klick ist sehr wichtig – die Idee und der Titel. Ohne Titel und Idee, die einander entsprechen, kann ich ebenfalls nicht komponieren. Und doch ist es der Ton, der die Inspiration bringt. Ich habe Blaubart von Kurt Vonnegut gelesen und fand die Reflexion von Erscheinen und Nichterscheinen sehr inspirierend. Ich habe mich auch entschieden, mit „soggeto cavato“ und „Augenmusik“ zu experimentieren und bestimmte Texte, Namen etc. in das thematische Material zu kodieren – das ist das Unsichtbare hinter den Noten. Da es sich bei Saxophonen um transponierbare Instrumente handelt, ist diese Codierung in der C-Partitur ersichtlich. Dasselbe mache ich seit Jahren mit vielen Instrumentalstücken – es ist eine Technik, die es mir erlaubt, eine gewisse Erdung und eine artifizielle Modalität / fast Tonalität zu erzeugen.

OF: Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Antworten!

[Interview geführt von: Oliver Fraenzke, April 2022]

Die Überzeugung, dass Neues kommt

Ein Interview mit Susanna Klovsky und Martina Silvester vom Ensemble Clazzic

Das Ensemble Clazzic spielt mit Genregrenzen, bahnt sich im Dickicht unterschiedlichster Stile und Einflüsse einen ganz eigenen Weg, frei und eigenständig. Nach zwölf Jahren ihres Bestehens legten die vier Musiker nun ein Debut-Album vor, das vor sprühender Lebendigkeit nur so strotzt (Solo Musica SM 371). An einem spätherbstlichen Nachmittag Ende Oktober traf ich die beiden Gründungsmitglieder Susanna Klovsky und Martina Silvester zum Interview.

Oliver Fraenzke: Bei solch einer Musik, die zwischen allen Stühlen steht, muss ich natürlich zunächst fragen: Wie würdet Ihr den Stil Eures Ensembles beschreiben, wo positioniert Ihr Euch selbst?

Martina Silvester: Unseren Stil vergleiche ich gerne mit dem Bild eines Baums: Die Wurzeln befinden sich in der Klassik, und der Stamm auch noch. Darüber hinaus besitzen wir eine ganze Menge an Blättern und Blüten, die den Duft ganz anderer Genres verströmen. Prinzipiell sind wir für alles offen und das merkt man auch, so dass wir gerne Elemente beispielsweise des Jazz oder des Tangos aufgreifen – und mal sehen, was noch alles kommen wird! Das Wichtigste für uns ist, ein klassisches Ensemble zu sein, dass dann aber weitergeht und sich öffnet.
Susanna Klovsky: Was mir an unserem Ensemble so gut gefällt, ist, dass wir alle vier eine klassische Ausbildung durchlaufen haben, aber darüber hinaus vielseitig interessiert blieben. Unser Schlagzeuger beispielsweise hat unter anderem viel im Bereich Pop gewirkt, unser Bassist spielt in Balkan-Formationen mit deren ureigenen Rhythmuselementen, fühlt sich auch im Jazz beheimatet. Martina hat sich auch neben anderem mit dem Beatboxen auseinandergesetzt und ich habe in Latin Bands gespielt. Wir beide vertreten parallel zum Ensemble Clazzic auch ganz andere Konzepte, wo man prinzipiell über stilistische Tellerränder blicken muss. So kann jeder von sich Ideen einbringen. Wir gehen üblicherweise von einem Grund-Werk aus, das bereits so vorliegt und im Idealfall für uns komponiert wurde, und sehen dann, was sich daraus ergibt, was wir alles daraus machen können.

Oliver Fraenzke: Wie lief dies denn im Falle Eures Paradestücks ab, der Clazzic Suite?

Martina Silvester: The Clazzic Suite, die man auf unserer Debut-CD Intersec#ion hören kann, wurde extra für uns komponiert. Wir fragten den israelischen Komponisten Uri Brener, ob er solch eine Suite für uns schreiben würde und waren auch selbst am Kompositionsprozess beteiligt. Uri fragte dezidiert nach unseren Wünschen an das Werk und welche Musik wir gerne hören, hat uns damit das Werk förmlich auf den Leib geschrieben. Wir legten auch Wert darauf, dass jeder von uns einen eigenen Satz bekommt, was ja dann auch so geschah: Saltarello ist mehr der Schlagzeug-Satz, Funky Bird gehört dem Bass und hat ein großes, von Strawinskys Feuervogel abgeleitetes Solo, Susanna am Klavier darf in Amadevans an Mozarts A-Dur-Klaviersonate treten und Syrinxation kommt natürlich von Syrinx, einem Flötenwerk von Debussy. Der Bachsatz, Walking Bachwards, stammt von einer Gambensonate (ursprünglich für zwei Flöten) – diese habe ich mir gewünscht, weil ich diese Sonate so sehr liebe.

Oliver Fraenzke: Jede Epoche und Musikströmung bringt ja auch ganz eigene Techniken mit sich, was sich am Klavier beispielsweise durch die Anschlagsart abzeichnet, beim Gesang sogar durch ganz unterschiedliche Mundhaltung und Stimmfärbung. Wie geht Ihr auf Euren Instrumenten mit diesem Mix an Grundtechniken um; entlehnt Ihr Euch diese nach Bedarf aus den jeweiligen Stilen oder bleibt Ihr im Ursprung den klassischen Artikulationsweisen treu?

Susanna Klovsky: Es schadet nicht, die Stilistik der jeweiligen Strömungen zu kennen. In meinem Falle ist es so, dass mein Vater Jazzmusiker ist und ich so ganz natürlich auch mit deren besonderer Phrasierung und Artikulation in Berührung gekommen bin. Und immer, wenn ich dorthin kam, etwas in diesem Stilbereich zu spielen, sagte mein Vater mir, wie ich es zu phrasieren und artikulieren habe. Aber das wirkt für das Ensemble Clazzic eher im Unterbewusstsein, denn wir wollen uns nicht den Anstrich verpassen, Jazzmusiker zu sein: Das sind wir nicht! Man möchte zwar schon einer gewissen Phrasierung gerecht werden, die dem geforderten stilistischen Idiom entspricht, aber wir bleiben uns treu.
Martina Silvester: Das ist ein Credo: Wir bleiben uns treu. Was bei Susanna der Jazz ist, ist bei mir Bach: Ich studierte auch Traverso und weiß, wie man Bach „pur“ spielt. Das versuche ich auch in unseren Arrangements zu integrieren, aber nicht wortwörtlich, sondern angepasst, dass es wieder „unseres“ wird. Beim Spielen denken wir, so habe ich das Gefühl, gar nicht zu viel nach, was alles in uns verwurzelt ist und wie genau wir etwas umsetzen, das Gedankliche geschieht oftmals erst im Nachhinein. Im Zusammenspiel mit dem Ensemble bemerken wir dann auch eigene Grenzen und wollen uns dementsprechend fortbilden. Was Susanna nun im Jazzidiom bereits kannte, musste ich erst lernen, und nahm dann Unterricht in diesem Bereich bei einem Saxophonisten. Ebenso für Milonga: Hier lernte ich noch bei einer Tango-Flötistin, der Frau des Komponisten Exequiel Mantega. Und am Ende fließen unsere Vorzüge und alles Gelernte zusammen, münden dann in einem großen Ganzen, das uns ausmacht.

Oliver Fraenzke: Also kann der Prozess beim spielerischen Erkunden bis zur finalen Wiedergebe als natürliche Genese beschrieben werden, so dass am Ende die Intuition das Gelernte überlagert?

Susanna Klovsky: Es entsteht aus unserer Zusammenarbeit, besonders aus dem gegenseitigen Zuhören. Bei der Einstudierung hören wir beispielsweise, dass der Bass von Alex [Bayer] – der sich im Bereich Jazz ja zuhause fühlt – groovt und swingt. Das setzt eine Kommunikation in Gang, auf die wir reagieren. Man tüftelt, man probiert aus, man hinterfragt: Ist das der Weg, den wir gehen wollen? Obwohl es so klingt, möchten wir es vielleicht doch ganz anders machen? Das ist das Spannende daran, dass wir vier uns austauschen. Wir schauen, wie wir am besten zusammenkommen, dass es auch danach klingt.
Martina Silvester: Unsere Formation hat sich im Laufe der Zeit auch mal verändert; unser Schlagzeuger Thomas [Sporrer] kam als letztes hinzu. Er hat dann neue Facetten hineingebracht, sogar die Suite bereichert – dem Schlagzeugsatz viel größere Dimensionen verliehen, als vorgesehen war. Das hat uns dann erst zu dem Klang verholfen, den wir heute haben.
Susanna Klovsky: Darum heißt unser Album auch Intersec#ion, Schnittpunkte. Weil wir vier uns gerade hier in dieser Formation treffen und unsere jeweiligen Wurzeln und Kenntnisse zusammenführen. Wir kommen aus verschiedenen Richtungen, treffen uns im Hier und Jetzt, schauen dann, wo wir gemeinsam hingehen.

Oliver Fraenzke: Die Idee, verschiedene Stile zu vermengen, gibt es wohl schon seit Jahrhunderten, wobei natürlich die Entwicklung und vor allem Popularisierung von Musikwiedergabemedien Anfang des 20. Jahrhunderts einen gewaltigen Sprung mit sich führte: Denn plötzlich schwappte der Jazz auch nach Europa und viele Komponisten griffen ihn auf. Die Liste derer, die das in ihren Stil integrierten, was man als Jazz bezeichnete, ist lang, von Milhaud über Antheil zu Krenek, Schnabel etc. – und umgekehrt wollten Komponisten wie Gershwin und Ellington die klassische Welt erkunden. Dieser Austausch herrscht bis heute an, man denke allein an die Klazz Brothers oder Cuba Percussion, Joachim Horsley oder Ernán López-Nussa. Habt Ihr in diesem gewaltigen Kosmos konkrete Vorbilder oder eine Idiomatik, die Ihr weiterführen wollt?

Martina Silvester: Am Anfang, bevor es unser Ensemble Clazzic gab, habe ich mit Freude Ensembles wie die Klazz Brothers gehört und fand diese Stilvermengung immer cool. Ich sage nicht, dass ich so etwas einmal machen wollte, aber ich fand es äußerst erfrischend, weil es anders war als das, was man sonst kennt. Die Idee, mal raus zu kommen aus den Konventionen, das beflügelte uns natürlich. Kopieren wollten wir aber nie – immer unser Eigenes sein.
Susanna Klovsky: Wir begannen mit Suiten von Claude Bolling, die bereits damals auf Tonträger zu hören waren – so tasteten wir uns allmählich an die Stilvermengung heran. Aber schon da dachten wir uns, dass wir das noch aufbrechen und extremer machen müssten. Meine großen Vorbilder hier sind Michel Camilo und Chick Corea. Es gibt ja auch auskomponierte Teile bei ihnen und trotzdem klingt alles frisch und lebendig, alles brodelt.
Martina Silvester: Damit begann unsere Suche. Bei der Bolling-Suite kam Susanna plötzlich auf die Idee, dass man doch einen HipHop-Rhythmus daruntersetzen könnte. Daraus wurde „Bolling Reloaded“ – ich habe dann probiert, dazu ein wenig zu beatboxen.

Oliver Fraenzke: Das sind ja alles Sachen, die man zunächst beherrschen, also lernen muss. Mit den Grundelementen des Jazz sind die meisten klassischen Musiker durch die Musik des 20. Jahrhunderts zumindest rudimentär vertraut, aber HipHop liegt in einer ganz anderen Sphäre.

Susanna Klovsky: Für den HipHop-Part haben wir mit unserem Schlagzeuger wahnsinnig viel getüftelt, bis wir vom Ergebnis überzeugt waren. Andere sonst wenig vertretene Elemente lagen uns da deutlich näher, so beispielsweise der Salsa, denn früher habe ich viel in Salsa-Bands gespielt, so war mir das zumindest in Grundzügen vertraut. Daher wohl auch die Verbindung zum Latin Jazz mit Michel Camilo.

Oliver Fraenzke: Also begegneten Euch die meisten diese Elemente schon während Eurer Laufbahn?

Martina Silvester: Zu guten Teilen ja. Anderes wie das Beatboxen habe ich erst jetzt angefangen. Auch nehme ich nun Jazzunterricht, da ich einfach keine Jazz-Flötistin bin und da Nachholbedarf verspüre. Ich will und werde nie eine Jazz-Flötistin sein, habe auch beim Improvisieren einen ganz eigenen, eher aus der Klassik kommenden Stil, aber ich will es kennenlernen, die Theorie dahinter und einige Handgriffe verstehen.
Susanna Klovsky: Wir wollen den Fachleuten auch nichts vormachen: Wir sind wer wir sind. So werden Jazz-Puristen bei uns keine Freude haben, aber das ist okay, denn in dem Bereich gibt es genug großartige Musiker und Bands, da wollen wir uns nicht einmischen. Wir finden einen Haken für verschiedene Menschen, so erreichen wir viele, die wenig vertraut sind mit einigen der Genres, die wir verarbeiten. Es gibt genug reine Klassik-Hörer, die keinen Kontakt mit Jazz hatten, und unsere Konzerte großartig fanden; auch manche, die nie Bezug zur Klassik hatten, konnten wir ansprechen.
Aber natürlich, vieles kennen wir von früh auf, so hat mein Vater immer sehr produktive Tipps gegeben, wenn ich geübt habe, und hat auch unser Ensemble am Anfang gecoacht. Er hat uns sogar ein Stück geschrieben.

Oliver Fraenzke: Das kommt dann auf Eure zweite CD?

Martina Silvester: Ja, wir sind schon am Sammeln!

Oliver Fraenzke: Da hat Euch nun wohl das CD-Fieber gepackt! Intersec#ion ist ja Euer erstes Album, dabei existiert das Ensemble Clazzic seit zwölf Jahren. Wie kamt Ihr dazu, erst jetzt und genau jetzt ins Studio zu gehen?

Martina Silvester: Wir hatten einen langen Weg und zwischenzeitlich mit unterschiedlichen Bassisten und Schlagzeugern gespielt – nur Susanna und ich blieben uns von Anfang an treu. Wie gesagt begannen wir mit Bolling, ließen uns dann aber recht bald die Clazzic Suite schreiben. Die haben wir auch aufgeführt, dachten aber lange nicht daran, sie auf Tonträger festzuhalten.
Susanna Klovsky: Wir hatten verschiedene Mitmusiker, und manche stellten einfach fest, dass dies nicht die Richtung war, in die sie gehen wollten – was vollkommen in Ordnung ist, und sie sind dem Ensemble noch sehr lieb verbunden. Diese Suite zunächst so zu lernen, wie sie dort steht, das lag manchen nicht im Naturell. Bis man dann die für unseren Weg richtigen Leute findet, und sich dann ein Stil kristallisiert, mit dem wir so zufrieden waren, dass wir ihn festhalten wollten, das hat lange Zeit gedauert. Auch Corona war natürlich noch einmal ein großer Schlag.
Martina Silvester: Wir haben bei allem immer an unser Projekt geglaubt. Unsere Konzerte kamen von Anfang an gut an und wir alle hatten großen Spaß dabei. Doch natürlich musste man zunächst Worte finden, sich zu beschreiben, überhaupt an Veranstalter und zu Publikum zu kommen – auch den richtigen Moment zu finden. Wenn man nur liest, was wir machen, sagt das vermutlich den meisten nichts, deshalb haben wir nun die CD als klingende Visitenkarte, die zeigt, wie wir tönen.

Oliver Fraenzke: Im Kern der CD steht die Clazzic Suite. Nun habe ich ja bereits einiges von Eurer Musizierpraxis gehört: Klingt die Suite noch so, wie sie in der Partitur steht?

Susanna Klovsky: Nein, die Suite hat sich mit uns gewandelt. Wir haben einige der Rhythmen geändert und auch die Klangfarben; dann gibt es improvisierte Teile.

Oliver Fraenzke: Vorgegebene oder selbst eingefügte?

Martina Silvester: Beides. Manche schrieb Uri Brener vor, andere stammen von uns. In Syrinxation gab es eine Solostelle, wo ich zunächst alles wörtlich so spielte, wie es in den Noten stand – dann fragte ich aber Uri, ob ich nicht auch etwas Eigenes hinzufügen könnte, und er antwortete: „Super, noch viel besser!“ Ich glaube sogar, es entspricht seinen Vorstellungen, dass nun jeder von uns eigene Improvisationen einfließen lässt.
Susanna Klovsky: Die Suite wurde ja schon recht früh komponiert, und da wussten wir selbst noch nicht, in welche Richtung es uns treiben würde. Und das hat Uri gemerkt, der schließlich selbst ein Ensemble hat, wo er ähnliches tut – so war ihm klar, dass man so etwas nicht einfach schwarz auf weiß in Noten fassen kann, sondern Freiräume lassen muss, die wir im Laufe der Jahre füllen; oder uns eigene Freiräume schaffen.
Martina Silvester: Ich schickte ihm eine ganz frühe Aufnahme der Suite. Seiner Antwort zu Folge fand er es schön, aber – mit anderen Worten – noch recht brav gespielt. Als ich ihn dann in die CD reinhören ließ, war er begeistert: „Ja, das ist es!“

Oliver Fraenzke: Neben der Suite gibt es noch zwei Milongas auf der Platte. Nun ist das wieder ein anderer Fall, denn solch eine Tangomusik lässt sich schwieriger in Noten fassen als eine klassische Komposition.

Susanna Klovsky: Beim Tango ist die erste Frage stets: Wie instrumentiere ich ihn? Der Rhythmus ist ja festgelegt. Wir haben nun kein Tangoorchester, sondern sind mit vier Musikern eh recht reduziert. Beim Schlagzeuger würde man fragen, welche Instrumente er einsetzt. Die Cajon, die Thomas verwendet, hat eigentlich in der Milonga traditionell nichts zu suchen, fügt aber eine sehr schöne Klangfarbe hinzu. Und je nachdem, wie ich dann phrasiere, oder der Bassist Alex, ändert sich die Klangtextur, wird möglicherweise etwas schärfer als im Original. Für eine Tanzaufführung braucht es eine gewisse Kontinuität, damit die Tänzer darauf überhaupt tanzen können; wir können uns für eine Konzertaufführung mehr Freiheiten nehmen. So können wir an einer Stelle etwas akzentuierter spielen, fetziger, an anderer Stelle eher sentimentaler werden, als man es sonst machen würde.

Oliver Fraenzke: Sind die beiden Stücke auf Eurer CD dann noch Milonga geblieben?

Martina Silvester: Ja, auf jeden Fall. Wir sind jetzt nicht ein Schrecken von Komponisten geworden, dass wir alles möglichst anders machen. Wir wollen ja den Kern der Musik erkunden, und nicht zwanghaft Anders sein. Bei vielen aufgeschriebenen Milongas steht sogar das Wort „frei“ dezidiert in der Partitur.

Oliver Fraenzke: Wo wollt Ihr Eure Musik dann im Konzert positionieren: Konzertsaal oder Jazzclub?

Beide: Im Konzertsaal.
Susanna Klovsky: Wir sehen die Musik ganz eindeutig für den Saal. Glücklicherweise konnten wir uns mittlerweile auch einen Ruf aufbauen, sodass die Zeiten vorbei sind, wo niemand wusste, was wir machen, und wir nur Stand- oder gar elektronische Klaviere zur Verfügung hatten.
Martina Silvester: Wobei wir sogar schon in Jazzclubs gespielt haben. Am Bodensee traten wir einmal in einem Club auf, wo es wahnsinnig eng war, Susanna und ich dann Rücken an Rücken spielten, nur über einen Spiegel kommuniziert haben. Dennoch war es ein wahnsinnig schönes Konzert mit ganz eigener Stimmung. Auch wenn solch ein Ambiente nicht unserem Hauptidiom entspricht, bleiben wir da natürlich möglichst offen.

Oliver Fraenzke: Also Hauptsache akustisches Klavier.

Susanna Klovsky: Ja, diese Musik kann man einfach nicht auf einem E-Piano spielen, noch weniger auf einem Synthesizer. Da müsste man die gesamte Musik neu darauf auslegen, aber das wollen wir nicht.

Oliver Fraenzke: Und wie sieht es mit dem Bass aus?

Martina Silvester: Uri Brener hat tatsächlich überlegt, ob er Funky Bird für E-Bass konzipiert, und Alex könnte das ja auch spielen, aber wir kamen dann doch weg von dieser Idee.

Oliver Fraenzke: Beim Bass macht es aber mehr Sinn, denn auch der E-Bass hat noch echte Schwingungen, ist nur durch die Bünde und den elektronischen Klang gekennzeichnet.
Aber ist es nicht schwierig, einen Veranstalter zu finden, wenn man so wie Ihr zwischen den Stühlen steht?

Susanna Klovsky: Ja, gerade am Anfang. Veranstalter brauchen immer eine Kategorie, müssen einen in eine gewisse Schublade stecken – das war schwierig für uns. Dies wurde schließlich auch zu einem der Hauptgründe für unsere CD, denn wenn man uns hört, versteht man unsere Intention und kann uns einordnen. Aber glücklicherweise sprechen sich Auftritte schnell herum, und wenn man einen großen Auftritt hatte, bekommt man auch andere Aufträge.

Oliver Fraenzke: Und wie wird es weitergehen; folgt noch eine zweite Clazzic Suite?

Susanna Klovsky: Ich glaube, wir werden in andere Richtungen weitergehen. Diese eine Suite ist so stimmig, da brauchen wir gar keinen Nachfolger. Nun haben wir neue Ideen, es wartet schon einiges neues auf uns.

Oliver Fraenzke: Also gerade nun, wo Ihr eine Schiene gefunden habt, drängt es Euch schon weiter?

Susanna Klovsky: Genau. Es wäre schön, wenn wir uns stets selbst neu erfinden könnten! Zwar sehen wir es nicht als konkrete Aufgabe, Neues zu suchen, sind aber überzeugt, dass Neues kommt. Zumindest war es bisher immer so. Wir haben so verschiedene Einflüsse und machen so viele neue Erfahrungen, dass diese unweigerlich ins Ensemble (zurück-)fließen müssen.

[Oliver Fraenzke, Februar 2022]

Musik und Mensch. Ein Gespräch mit Julius Berger

Wie funktioniert die Musik durch uns Menschen? Dieser Frage spürt der Cellist Prof. Julius Berger nach. Unser zweistündiges Gespräch über diese und damit verwandte Fragen, das wir am 18. Juni in Augsburg führten, sprengte alle Grenzen dessen, was in einer niedergeschriebenen Interviewform vermittelt werden könnte, weshalb es an dieser Stelle nur möglich ist, einen gewissen Teil davon wiederzugeben.

Wir beginnen medias in res im Sinnen über die Frage, wie wir Musik wie auch gesprochene Sprache in Zusammenhängen denken können, die durch den reinen Notentext überhaupt nicht abbildbar sind.

Julius Berger: Die Musik ist so vielschichtig, da ist das Gehörte nicht das Einzige: Es existiert auch das, was im immateriellen Raum steckt – also der Geist zwischen zwei Noten. Dort, wo am wenigsten hörbar ist, ist der Ausdruck am größten, wenn der Geist stark ist. Wenn Musiker zwei Noten ganz gleichgültig spielen, so entsteht kein Eindruck, auch wenn jeder Ton stimmt. In Wettbewerbs-Kommissionen habe ich oftmals versucht, meinen Kollegen verständlich zu machen, dass wir keinen Kriterienkatalog haben von „richtig“ und „falsch“. Jede Interpretation ist ja der Versuch einer Annäherung – und Gott sei Dank gibt es Annäherungen von verschiedenen Seiten. Aber dieses geistige Element, das Element einer inneren Vorstellung, durch das gewisse Dinge dann zum Tragen kommen … dass dann schon vor dem Beginn der Raum sich verändert. Zwei Noten können ausreichen, um vieles über den Interpreten auszusagen. Durch die Musik wird vieles in uns angestoßen, und manche Interpreten können einfach noch mehr in uns anstoßen, bewegen und somit den Menschen verändern.

Also ein rein mentaler Prozess?

Ja. Also in der Wirkung ein rein mental-geistiger Prozess.
Sagen wir es so: Wenn ich Musikfotografen sehe, möchte ich ihnen am liebsten sagen: „Fotografiert doch nicht die Interpreten, fotografiert das Publikum!“ Wie die Menschen vor dem Auftritt aussehen, und dann, wie etwas in sie ‚hineinfließt‘, wie sie sich wandeln. Glücklicherweise haben wir nun aktuell wieder Konzerte nach den unendlich langen Pausen durch den Lockdown. Konzerte mit Menschen, und für diese ist die Aufführung ja gedacht.

Und wie gelingt es nun den Musikern, diesen Geist in den eigenen Körper zu bekommen und von dort in die Instrumente, dass er auf das Publikum überfließen kann? Wie verbindet man diese scheinbaren Gegensätze?

Ein wichtiges Zitat diesbezüglich stammt von Harnoncourt: „Wir müssen auch wissende Musiker sein.“ Also wenn ich mich als Musiker hineinversetze in die Zeit, in der beispielsweise Beethoven gelebt hat, oder Bach – folglich in eine Zeit, die durch ganz andere Paradigma geprägt war als unsere – dann ist dies einerseits eine Wissensquelle, mehr aber noch eine Inspirationsquelle. Und wenn ich hier noch hinzufüge, was die Schüler dieser Meister ausgesagt haben, was beispielsweise Czerny über Beethoven berichtete und was er wahrnahm, dann lassen sich daraus wieder neue Tendenzen erkennen. Man muss dies alles nicht übernehmen, aber es liefert doch Informationen, durch die wir unsere Darbietung innerlich bereichern. Bei Meistern jüngerer Zeit kommen dann noch die Aufnahmen hinzu: Schostakowitsch beispielsweise nahm seine Cellosonate drei Mal auf mit drei unterschiedlichen Mitstreitern; und keine davon hält sich an seine eigene Tempobezeichnung. Auch dies sagt viel aus. Wissen gehört dazu, somit die stetige eigene Weiterentwicklung. Folglich unterwirft sich die eigene Sichtweise auf Stücke, die uns das gesamte Leben begleiten, einem kontinuierlichen Wandel. Leben ist Wandel. Und diesen mitzuvollziehen, das finde ich enorm wichtig. Damit komme ich auf Ihre Frage zurück, wie der Geist in den Menschen kommt: Er kommt auf die Weise, dass wir uns unaufhörlich weiter beschäftigen mit der Materie. Hinzutritt die Überzeugung, mit der wir unseren Fokus tarieren und diesen kompromisslos, also kompromisslos mit sich selbst, durchsetzen. Wir wissen nicht, ob wir mit dem die Wahrheit treffen, was wir mit unserer Überzeugung vertreten, müssen zunächst diese mit dem jahrelang antrainierten technischen Können verwirklichen und mit Hilfe dessen in uns festigen, bevor wir sie vermitteln können. Eine starke Vorstellung im Interpreten überträgt sich. Wenn eine Person den Raum betritt, so merkt man oftmals schon die Veränderung – oder es tut sich gar nichts. Dies meinte ich zuvor damit, dass sich vor dem Beginn, schon beim Auftreten, die Atmosphäre verdichtet. Daran glaube ich zutiefst; und das mache ich nicht an der Beobachtung anderer Menschen fest, sondern an den Überzeugungen, wie ich selbst weitergehe im Leben und wie es mich weiterträgt, wie es mich weiter befruchtet und mir Kraft zum Leben gibt; und sagt, was Leben ist.
Ich versuche hineinzuhören auch in den Sinn meines Seins. Der hört nicht in der Musik auf, er geht über in Fragen der Gesellschaft, der Politik und des Verhaltens. Ich will einen möglichst bewussten Umgang mit Natur, Umwelt und Mitmenschen erreichen. Ich denke sogar, dass uns die Pandemie gelehrt hat, was wir alles falsch machen. Natürlich beschert uns Corona und die dadurch entstehende Situation eine schlimme Zeit; aber es nur so zu bezeichnen, wäre zu eindimensional gedacht. Man muss auch sehen, was die Zeit von uns will, was sie uns sagt; und auch, was dadurch Positives entstehen kann. Mir hat diese schwierige Phase beispielsweise klargemacht, dass ich nicht immer nur ein Getriebener sein kann, der nur Dinge tut, die mir von außen vorgegeben werden. Ich konnte endlich Dinge tun, für die ich nie Zeit hatte: So entstand beispielsweise die Aufnahme des d-Moll-Konzerts BWV 1052 von Bach.
Ich erinnere mich an einen Ausspruch von Sofia Gubaidulina, mit der ich das Privileg hatte, oftmals zusammen wirken zu dürfen. Wir waren auf einem Festival und der Veranstalter beklagte das schlechte Wetter. Da fragte sie: „Wieso? Wir brauchen doch den Regen.“ Wenn man sagt, Sonnenschein sei ‚gutes Wetter‘, dann soll man einmal in die Wüste gehen, dort ist ‚gutes Wetter‘, wenn es regnet. Alles ist relativ, Einstein hat wieder einmal Recht.
Zu Bachs d-Moll-Konzert: Vor 30 Jahren hatte ich einmal in einer alten Eulenburg-Ausgabe, die mittlerweile durch eine Neuere ersetzt wurde, gelesen (und es gibt damit übereinstimmende Erkenntnisse aus der Musikwissenschaft), dass dieses d-Moll-Konzert eine Übertragung eines eigenen Konzerts für ein anderes Instrument sein muss, nämlich ein Streichinstrument. Die meisten gehen davon aus, dass es ursprünglich für Violine geschrieben war, da es viele E-Bariolagen gibt. Anders als die Violine hat das Cello keine E-Saite, weshalb jenes ausgeschlossen wird; aber das Cello Piccolo besitzt sehr wohl solch eine Saite. Bach hat dieses in Kantaten oft eingesetzt. Und besagte Eulenburg-Edition vermerkte dies, was sich in mir festsetzte. Diese kleine Bemerkung hat sich mir eingebrannt: Man müsse das Konzert einmal bearbeiten für das Cello Piccolo. Doch bis vor Corona dachte ich, nie die Zeit dafür aufbringen zu können. Und als die Zeit kam, erinnerte ich mich sofort und bin unmittelbar zur Tat geschritten. So ging ich die Klavierstimme am Cello durch und probierte, ob es überhaupt möglich wäre. Dass es kein einfacher Weg werden würde, dessen war ich mir gewahr, doch gerade die steinigen Pfade erweisen sich oftmals als die Besonderen und so machte ich mich daran, das Konzert umzuarbeiten. Hinzu kam ein anderes pandemiebedingtes Erlebnis, nämlich, dass ich am Karfreitag die Johannespassion aus der Thomaskirche in Leipzig in einer Kammermusikfassung hörte, die mich auf eine ganz neue Idee brachte. Ich rief Andrei Pushkarev an, mit dem ich über Gidon Kremer mehrfach zusammengetroffen war und mit dem ich unter anderem Gubaidulinas Sonnengesang aufgeführt habe. Eigentlich ist er nie erreichbar, da er nahezu immer tourt – doch wegen Corona befand auch er sich zu Hause und sagte sofort: „Julius, Du hast mich gerettet!“ An Aufführungen mit Orchester konnte man ja nicht denken, wir suchten nach einer Realisierung in dieser Zeit. Kurze Zeit später rief er mich an und zeigte mir bereits ein computergeneriertes Klangbeispiel, wie es denn wirken könnte mit Vibraphon und Marimba. Und er kenne zufälligerweise sogar jemanden, der das Marimba übernehmen könne [Pavel Beliaev]. Andrei richtete die Partitur für die beiden Instrumente ein, ich transkribierte die Cembalostimme für das Cello Piccolo. Dazu fanden wir eine Kirche mit hervorragender Akustik, so dass die oft missbräuchliche Bezeichnung Natural Sound diesmal zur Wirklichkeit avancierte: Hier haben die Tonmeister in der Tat nichts nachbearbeitet, nichts! Es klang genau so, wie es auf der CD zu hören ist. Es handelt sich um eine moderne Kirche in Dillingen, die zu einer christlichen Einrichtung für geistig behinderte Menschen gehört. Dort war auch meine Schwester zuhause, weshalb ich mit den Glaubensschwestern dort in freundschaftlicher Verbindung stehe. Die Stille und Idylle dort inspirierten uns, denn wir waren ganz für uns. Und die Schwestern haben sich rührend gekümmert.

Außerdem nahmen wir ein weiteres Konzert in d-Moll auf, ursprünglich von Alessandro Marcello geschrieben. Hier blieben wir ganz in der Tradition. Marcello schrieb es für Oboe, Bach arbeitete es für ein Tasteninstrument um, und wir griffen es wieder auf, um es für das Cello Piccolo zu setzen.
Hinzu nahmen wir noch die für uns wichtigsten, möglicherweise weil persönlichsten, und unseres Erachtens schönsten Choräle, die wir ebenfalls arrangierten.
Und wo wir gerade von Bearbeitungen sprechen: Bach verwendete das thematische Material des d-Moll-Konzerts BWV 1052 weiter, übernahm es in Kantaten. Beispielsweise im ersten und teils zweiten Satz von Wir müssen durch viel Trübsal BWV 146 und in Ich habe meine Zuversicht BWV 188. Das Symbol gefiel mir, einerseits des Wandels dieses Materials in der Zeit von Bach, andererseits als Botschaft für unsere Zeit.

Sie sprechen verschiedene Zeitebenen an und auch deren Metamorphose. Zuvor zitierten Sie Harnoncourt, der einen ganz besonderen Wandel der Betrachtung von historischer Zeit in der musikalischen Aufführung miterlebt oder besser mitgestaltet hat. Er wirkte ja bereits vierundzwanzigjährig unter Hindemith mit bei der ersten Aufführung von Monteverdis L‘Orfeo auf originalen Instrumenten, wurde später zu einer Ikone der heute sogenannten historischen Aufführungspraxis. Wie steht es nun um das Thema Bearbeitungen jeglicher Art, wenn man die Zeiten getrennt betrachtet, wie es in der historischen Aufführungspraxis meist der Fall ist, oder als Einheit, wie Sie es laut Ihrer Aussage tun?

Wir sprechen nun über historische Aufführungspraxis, besser gesagt über ihre Wirkung und die Erkenntnisse ihrer Wirkung zu verschiedenen Zeiten. Sie erwähnen zurecht, dass Bearbeitungen und deren Vortrag zu bestimmten Zeiten ein Unding waren. Die historische Aufführungspraxis hat uns auf viele richtige Wege geführt, aber ebenso auf manche falsche. Solche Aufnahmen wie die meinige mit eigenen Bearbeitungen, das wäre in der aus öffentlicher Sicht Blütezeit des Historizismus noch vor etwa 20 oder 30 Jahren vollständig durchgefallen. Heute hat sich das Bild wieder etwas gewandelt. Durch diese extreme Sichtweise, die Propheten des historisierenden Spiels verbreitet haben, galt es, Bach nurmehr mit Barockbogen und Darmsaiten zu spielen. Ich bin begeistert, wenn Musiker das machen; aber Musik nur noch auf diese Weise spielen? Dann müsste man ja Musiker wie Glenn Gould vollständig ablehnen! Dabei vermitteln gerade solche Musiker unglaubliche Sichtweisen auf Bach und auf diese Zeit, auf die vielleicht sonst niemand gestoßen wäre. Dann dürften wir auch Bachs Musik nicht auf andere Instrumente übertragen (also eine Praxis, woraus ich übrigens im Rahmen unserer Bach-Frequencies-Aufnahmen sehr viel gelernt habe). Aus meiner Sicht war Harnoncourt ein sehr weitsichtiger Mensch, der einen großartigen Umgang mit der historischen Aufführungspraxis gepflegt hat, der im Übrigen durchaus Orchester mit modernem Instrumentarium dirigiert hat und nicht einen einseitigen Blick auf beispielsweise Instrumentarium geworfen hat. Seine Aufführungen haben auch das, was in einer späteren Generation des musikalischen Historizismus oftmals keine Rolle gespielt hat: nämlich Schönheit. Ich bin zwar im Grunde genommen der Meinung Schönbergs, es gehe nicht um Schönheit, sondern um Wahrheit – doch ungeachtet dessen gehören die beiden oftmals zusammen. So halte ich es für falsch, den Wohlklang normativ abzulehnen und nur einen möglichst ruppigen, gewalttätigen Klang zu kultivieren, um das Gegenstück auszublenden.

Zurück auf das Instrumentarium nenne ich Ihnen ein Beispiel neuerer Zeit, das mir Rostropowitsch einst anvertraute, der ja die beiden Cellokonzerte Schostakowitschs uraufführte. Einer der Mittelsätze beginnt mit diesem herrlichen Horn-Solo, das später vom Solisten aufgegriffen wird. Und in Russland gab es zu der Zeit nur wirklich schlechte Hörner, dementsprechend klang es. Als er dann einige Zeit später nach Boston kam, hatte das Orchester dort glänzendes modernes Blech mit hinreißendem Klang, das dem Stück ganz neue Facetten offenbarte. So sagte er mir: „Und wenn Sie in 100 Jahren eine historische Aufführung von diesem Cellokonzert Schostakowitschs produzieren wollen, so werden Sie natürlich das schlechte Horn nehmen.“
Ich will damit nur sagen: Man muss das alles evaluieren. Ich bin ein Verfechter der Aufführungspraxis, ein Verfechter der Erkenntnisse, aber bitte nicht einseitig! Wir brauchen eine übergeordnete Sicht auf die Dinge.

Bei Bach stellt sich die Frage ja besonders, gerade da er in einer Zeit des Umbruchs im Instrumentenbau lebte. Dies betrifft in erster Linie die Tasteninstrumente: Er besaß nachweisbar eine ganze Reihe an Hammerklavieren. Und wenn ich mir beispielsweise das Wohltemperierte Clavier so besehe, so kann ich mir nicht vorstellen, dass es auf einem einzigen Instrument adäquat umgesetzt werden kann: Manche der Stücke schreien nach einem Clavicembalo, andere können meines Erachtens nur auf einem Hammerklavier umgesetzt werden, wieder andere verlangen ihrer Substanz nach eine Orgel.

Genau, Bach hat weitgehend unabhängig vom Instrumentarium gedacht und gearbeitet. Das ist reine Musik. Man muss nicht zwingend die Kunst der Fuge anführen, in der es keine Zuordnung von Instrumenten gab. Es geht um eine andere Frage, nämlich um die Realisierung der Magie, die hier in Noten gesetzt ist. Und wenn es ein Steinway Flügel ist und wir erleben es auf eine Art und Weise, dass wir sagen, einem Wunder begegnet zu sein, dann ist das eben so! Auf einem gut hergerichteten Cembalo kann natürlich das Selbe geschehen. Man sollte nie normativ ohne Kenntnis des Inhalts die Sicht auf einen Weg verengen.

Es gibt Musik, die ist einem gewissen Instrument idiomatisch zugedacht, sie kann entsprechend schnell verunstaltet werden durch Übertragungen – Schubert beispielsweise ganz extrem. Doch Bach ist meines Erachtens das Gegenteil, seine Musik lässt sich problemlos von jedem beliebigen Instrument darstellen, ohne dadurch an Wert zu verlieren.

Dem würde ich zustimmen. Das würde ich sogar zurückführen auf Bach selber. Was seine Transkriptionen anderer Solokonzerte betrifft, so mag das Klavier nicht idiomatisch erscheinen für diese Musik – man würde bei den Originalen nicht an eine Umsetzung für ein Harmonieinstrument denken. Und trotzdem hat er es gemacht.

Die von Ihnen für die Aufnahme verwendete Bearbeitung des Marcello-Konzerts entstammt einer Sammlung von sechzehn Konzerten, die Bach für ein Tasteninstrument ohne Begleitung transkribierte. Wie haben Sie nun das Orchester wieder hineingebracht in Ihrer Weiter-Bearbeitung?

Ich habe das Orchester von Marcello genommen und die Ausarbeitung von Bach, inklusive aller Ornamente. Besonders aus dem mittleren Satz, der im Original fast etwas einfach klingt, macht Bach durch kleinste Variationen ein absolutes Wunderwerk. Ohne harmonisch etwas zu verändern, nur durch Umspielungen und melodiöse Feinheiten hebt er ein schönes Stück italienischer Barockmusik auf eine ganz neue Ebene. Hier sehen wir auch, was die Rolle des Interpreten zu dieser Zeit war. Sie mussten kreativ mit dem Text umgehen und ihn nicht einfach wörtlich herunterspielen – Bach hat ein Musterbeispiel vorgelegt. Ich habe allerdings das, was Bach geschrieben hat, nicht weiterverarbeitet, sondern habe das übernommen, was er vorgeschlagen hat.

Und aus welchem Grund?

Ganz einfach. Man kann – oder zumindest ich könnte – es nicht besser, als es Bach gemacht hat. So gilt es als Gebot der Bescheidenheit. Es ist ein traumhaftes Resultat, das Bach vorgelegt hat, und ich verneige mich davor.

Und würden Sie eine originale Marcello-Partitur ohne eine Bearbeitung wie die durch Bach auch wörtlich spielen; oder wie würden Sie hier vorgehen?

Hier würde ich schon ornamentieren. Aber mein Lehrmeister für diesen Prozess bliebe Bach. Ich würde mir ansehen, was er mit vergleichbarer Musik gemacht hat und welche Arten der Verzierung er wo verwendet; damit gälte es zu versuchen, es auf ein anderes Stück zu übertragen.

Und Bach bleibt der beste Lehrmeister, auf den sich nahezu alle späteren Komponisten zurückbesonnen haben, von Mozart über Mendelssohn bis hin zu zeitgenössischen Tonsetzern – auch aus anderen Bereichen wie dem Jazz oder kubanischer Musik.

Ich hatte tatsächlich bereits Kontakte aufgenommen nach Warschau, wo es eine Jazz-Professur gibt, und somit überlegt, das Konzert im Jazzbereich anzusiedeln. Später kam ich aus verschiedenen Gründen wieder davon ab. Aber möglich wäre es, warum nicht?

Auf Ihrer CD gibt es zwei Stücke späterer Komponisten, die sich auf Bach bezogen haben: Piazzolla und Schostakowitsch.

Piazzolla schrieb sein Stück in Kenntnis des Gounod’schen Aufgriffs von Bachs C-Dur-Präludium aus dem Wohltemperierten Clavier I mit der berührenden Melodiestimme Ave Maria. Und ich war hingerissen davon, dass Piazzolla sich nicht nur an solch ein bekanntes und millionenfach gespieltes Stück wagte, sondern dann noch eine ganz eigene Auffassung davon zu Papier brachte. Die Begleitung übernahm er nicht wörtlich von Bach, lehnte sich eher daran an. Er hebt die Musik auf eine ganz eigene Ebene, was mich sehr bewegte.

Schostakowitsch schrieb in Anlehnung an das Wohltemperierte Clavier ebenfalls Präludien und Fugen; bei ihm spürt man allgemein eine Nähe – vor allem eine geistige Nähe – zu Bach, die er in seiner ureigenen Sprache artikulierte. Für uns rundete die Aufnahme von Schostakowitsch die Einspielung gewissermaßen ab.

Und Sie haben zu ihm auch eine zumindest indirekte persönliche Verbindung, einmal durch den Unterricht bei Rostropowitsch, andererseits zu Gubaidulina.

Sie wissen ja, dass Gubaidulina nicht immer die Bestnoten in Komposition hatte, dass ihre Weise des Musikmachens als Irrweg angesehen wurde. Nur Schostakowitsch hielt an ihr fest und gab ihr einen Rat, dem auch ich für mein Leben weiterspüren möchte, der übrigens ebenso viele aus meinem Umkreis wie vor allem Gidon Kremer und Luigi Nono maßgeblich beeinflusst hat. Dieser Rat deckt sich inhaltlich mit einer alten Gedichtzeile von Antonio Machado, der für uns eine Art Motto bedeutete, übertragen bedeutet sie: „Wanderer, es gibt keinen Weg. DU musst gehen.“

[Interview geführt von Oliver Fraenzke am 18. Juni 2021]

Tägliche Liebe zur Musik

Ein Interview mit dem Pianisten Andrea Vivanet

Der Sarde Andrea Vivanet ist ein herausragender Pianist, ausgestattet mit einer Makellosigkeit der Technik, die atemberaubend ist, und dies gepaart mit künstlerischen Werten, die man fast schon als verloren glaubte. Sein Spiel ist geprägt von einem eigenen, spezifischen Tonfall, den man unter Hunderten Pianisten wiederzuerkennen meint, der Vivanet aber nicht daran hindert, sich den von ihm ausgewählten Werken mit vorbildlicher Vorbereitung und akribischer Partiturarbeit zu nähern.

Russische Musik hat in seiner bisherigen Laufbahn eine große Rolle gespielt und war Bestandteil von drei seiner bislang insgesamt vier Albumaufnahmen. Daher ist es nur konsequent, dass sich der Künstler nun mit einem Album zurückmeldet, das ausschließlich russische Musik zum Inhalt hat. Als Russian Album ist es nun beim Münchner Label Aldilà Records erschienen (siehe auch diese Rezension).

Anlässlich der Veröffentlichung hatte René Brinkmann die Gelegenheit, mit Andrea Vivanet zu seinem neuen Album, aber auch zu vielfältigen Themen in den Bereichen Musik, Karriereaufbau und Gesellschaft zu sprechen.

The New Listener (TNL): Herr Vivanet, mit Ihrem Russian Album veröffentlichen Sie nun bereits Ihr viertes Album beim vierten Label. Wie ist es dazu gekommen?

Andrea Vivanet (AV): Ich würde sagen, dass meine diskografische Erfahrung als ein schrittweiser Prozess unter zwei verschiedenen Aspekten betrachtet werden kann. Einerseits habe ich sicherlich gelernt, wie man sich nach und nach auf eine Aufnahme vorbereitet. Das ist etwas ganz anderes, als die Vorbereitung auf ein Konzert. Ich kann mich zum Beispiel an meine erste Aufnahme nicht als etwas erinnern, auf dass ich vollkommen vorbereitet gewesen wäre, aber ich hatte das Gefühl, dass ich mit der Zeit immer mehr Selbstvertrauen gewann. Andererseits hat mir bisher jede Aufnahme geholfen, neue Leute kennenzulernen und als Nebeneffekt auch mit neuen Labels in Kontakt zu kommen.

TNL: Auf dem neuen Album kombinieren Sie bekannte mit weniger bekannten Werken, verbinden Schostakowitsch mit Tscherepnin und Tanejew. Wie kam das Programm zustande? Die Liner Notes im Booklet lassen vermuten, dass dieser Zusammenstellung ein langwieriger Auswahlprozess vorausgegangen ist?

AV: Wie Sie genau richtig sagen, wurde das Programm Stück für Stück mit dem Produzenten und Dirigenten Christoph Schlüren, abgesprochen. Wir hatten die Idee, gemeinsam ein Album zu konzipieren. Mein erster Vorschlag, die 24 Schostakowitsch-Préludes op. 34, wurde von Herrn Schlüren freudig angenommen, der daraufhin anregte, ein durchweg russisches Programm rund um die Schostakowitsch-Préludes aufzubauen.

Ich nahm seinen Vorschlag, das Tanejew-Präludium und die Fuge zu lernen, ziemlich schnell an, da Tanejew einer jener russischen Komponisten ist, die sich vor allem für die Polyphonie interessierten, und daher dachte ich, dass dies eine interessante Verbindung zu Schostakowitsch sein könnte, auch wenn es stilistisch ziemlich weit von Schostakowitsch entfernt ist (vergessen wir aber dabei nicht, dass die Préludes op. 34 viele polyphone Elemente im gesamten Zyklus enthalten, darunter eine kurze dreistimmige Fuge – das Prélude Nr. 4). Am Ende entschieden wir uns dazu, Tscherepnin zwischen Tanejew und Schostakowitsch aufzunehmen, und zwar aus zwei Gründen: Wir wollten einige Werke präsentieren, die bisher noch nicht aufgenommen wurden, und wir dachten, dass die Tatsache, dass Tscherepnin mehr stilistische Zeiträume durchschritt, eine schöne Brücke zwischen Tanejew und Schostakowitsch sein würde, da seine frühen Préludes mit der spätromantischen Tradition verbunden sind und seine Primitifs eine Öffnung zu einer neuen, modernen Sprache darstellen.

TNL: Besonders die Préludes, Morceaux und Primitifs von Nikolai Tscherepnin sind eine große Entdeckung. Musik von großer Schönheit, aber auch großer kompositorischer Kunstfertigkeit. Wie sind Sie auf diese selten gespielten und nie zuvor aufgenommenen Stücke aufmerksam geworden?

AV: Ich kannte die Musik von Tscherepnin nicht und wurde neugierig auf seine Kompositionen, als mir der Produzent vorschlug, die Préludes op. 17 zu lesen. Daraufhin beschloss ich, weitere Werke zu erforschen, und setzte mich mit der Tscherepnin-Gesellschaft in Verbindung. Der Vizepräsident David Witten, Pianist und Professor an der J. Cali School of Music, Montclair State University, der sehr wichtige Werke von Nikolai Tscherepnin aufgenommen hat, war eine wirklich wertvolle Unterstützung: Dank Herrn Witten hatte ich die Möglichkeit, an die Noten einiger Werke wie die der Primitifs zu kommen, die wirklich nicht leicht zu finden sind. David Witten war auch eine Quelle der Inspiration, da er mich über interessante Fakten zu Tscherepnins Leben informierte. Ich möchte auch die Gelegenheit nutzen, um der Tscherepnin-Gesellschaft zu danken, die als Sponsor zu dieser Veröffentlichung beigetragen hat.

TNL: Während sich Ihre ersten beiden Alben mit einem weithin bekannten Repertoire befassten, sind Sie mit Ihrem letzten Album bei Naxos (Szymanowski) und dem jetzt bei Aldilà Records erschienenen Russian Album einen anderen Weg gegangen und haben sich vor allem weniger bekannten Werken gewidmet. Ist das der Weg, den Sie jetzt weitergehen wollen?

AV: Ich würde nicht sagen, dass ich das Ziel habe, ein Spezialist für weniger bekanntes Repertoire zu werden – es sei denn, ich stoße auf meinem Weg auf Meisterwerke, die aus irgendwelchen Gründen von den Musikern vernachlässigt wurden –, aber ich erhebe keinen Anspruch auf eine besondere Rolle, etwa als Pionier des weniger gespielten Repertoires oder ähnliches.

TNL: Das Album wurde im großen Saal des georgischen Staatskonservatoriums in Tiflis aufgenommen. Haben Sie diesen Aufnahmeort bewusst gewählt, weil Tscherepnin mehrere Jahre in Tiflis gelebt und gearbeitet hat?

AV: Das war eher ein Zufall, da ich selbst seit November 2020 in Georgien lebe, aber ich würde sagen, dass es eine glückliche Wahl war: Der Konzertsaal ist sehr inspirierend und der Steinway dort ist einfach fantastisch. Der Tontechniker der Aufnahme, Paul Kavtchadze, ist ein wunderbarer Musiker und Mensch, dem ich für seine großartige Arbeit und Unterstützung sehr danken möchte.

TNL: Gibt es in Tiflis heute noch ein allgemeines Gedenken an Nikolai Tscherepnin?

AV: Im Museum des Konservatoriums (wo es übrigens auch ein Klavier gibt, das Sergej Rachmaninow gehörte) gibt es einen Teil, der Tscherepnin gewidmet ist, dennoch habe ich seine Musik bisher nicht in Konzertprogrammen gesehen (vielleicht habe ich sie auch nur übersehen). Es gibt jedoch einen jungen, brillanten Musikwissenschaftler, den ich grüßen möchte – ich entschuldige mich für die vielen Grüße (lacht) – Lasha Gasviani, der Artikel und ganze Dissertationen über die Musik von Tcherepnin im Zusammenhang mit der georgischen Musikkultur/dem georgischen Erbe veröffentlicht.

TNL: Auch Tschaikowsky und andere russische Komponisten besuchten Tiflis, und einige von ihnen gaben auch Konzerte oder hielten sich längere Zeit dort auf. Und dann sind da noch die großen georgischen Komponisten, die man nicht vergessen sollte, wie Kantscheli oder Chatschaturjan. Wie muss man sich Tiflis also vorstellen? Gibt es eine kulturelle Szene, die dieses Erbe der Vergangenheit pflegt und fördert?

AV: Absolut ja, ich habe mehrmals gesehen, wie georgische Musiker georgische Komponisten aufgeführt haben. Ich selbst habe einige interessante Werke von Otar Taktakischwili gelesen (ich habe gerade entdeckt, dass er eine Zeit lang bei Schostakowitsch studiert hat). Wer weiß, vielleicht nehme ich in Zukunft einige Werke von Taktakischwili in mein Repertoire auf, obwohl es im Moment noch zu früh ist, um das zu sagen – ich arbeite ohnehin schon an zu vielen neuen Stücken.

TNL: Sie haben Ihr gesamtes Klavierstudium mit Auszeichnung abgeschlossen, Sie haben einige der renommiertesten Klavierwettbewerbe gewonnen, doch trotzdem sind Sie – zumindest in Deutschland – selten im Konzert zu hören. Ist der deutsche Markt einfach besonders schwer zu „knacken“ oder treten Sie lieber woanders auf?

AV: Ich würde gerne in Deutschland auftreten, aber ich kann nicht wirklich sagen, warum es noch nicht passiert – vielleicht hat es die letzte Zeit mit den vielen Einschränkungen nicht einfach gemacht, also ziehe ich lieber keine voreiligen Schlüsse und warte ab, welche Möglichkeiten sich in der nächsten Zeit ergeben.

TNL: Was ist Ihre Meinung: Ist der Gewinn eines prestigeträchtigen Wettbewerbs heute keine Garantie mehr für eine Karriere? Wie waren Ihre bisherigen Erfahrungen bei der Suche nach einem Management- oder Labelvertrag?

AV: Zu Wettbewerben kann ich mich nicht wirklich äußern, da ich selbst nicht an vielen teilgenommen habe. Vielleicht ist es immer noch eine gute Möglichkeit, eine Karriere aufzubauen. Die Frage ist, ob es sich lohnt, eine Karriere durch Wettbewerbe zu erreichen oder nicht, und meine Antwort ist: Es kommt darauf an, es ist individuell. Ich möchte niemanden in die eine oder andere Richtung drängen. Sicherlich könnte ich mich wie ein Moralist aufführen und sagen, dass Wettbewerbe zwangsläufig negativ sind, dass sie dazu führen, dass Musiker mechanisch spielen, da sie zu oft einem übermäßigen Druck ausgesetzt sind (was vielleicht sogar stimmt), aber: trifft das auf alle zu? Hatten wir nicht auch erstaunliche Künstler, die an Wettbewerben teilgenommen haben? Sicherlich haben wir das.

Ich kann also nur sagen: Jeder muss alles tun, was im Rahmen seiner Fähigkeiten, Grenzen und Möglichkeiten seine künstlerische Integrität nicht gefährdet. Wenn ihr das Gefühl habt, dass ihr die Kraft habt, an Wettbewerben teilzunehmen, ohne in Routine zu verfallen, dann macht sie! Warum nicht? Es wird eine Gelegenheit sein, eure Musikalität mit eurem Publikum zu teilen, dank der Engagements, die ihr bekommen könnt. Wenn Ihr das Gefühl habt, dass sie Eure innere Musikalität verarmen lassen, dann lasst die Finger davon! Es ist besser, um einige Möglichkeiten zu kämpfen, als zu verderben, was spirituell ist. Das ist immer das Wichtigste.

Wissen Sie, wir Musiker (aber auch die Menschen im Allgemeinen) haben ein Ego, das uns immer dazu bringt, etwas zu kritisieren, um uns rechtschaffen zu fühlen. Ich glaube, dass Wettbewerbe kein guter Weg für mich gewesen wären, aber noch einmal: das gilt nur für mich (oder Musiker mit ähnlichen Eigenheiten), in Bezug auf meine eigenen Charakteristika.

Zum Thema Management, nur zwei Worte: sehr schwierig! Ich suche derzeit nach einem in diesem Bereich, Osteuropa/Naher Osten, aber möglicherweise auch in Westeuropa. Was Aufnahmen angeht, so hatte ich einige Gelegenheiten und ich denke, dass sich in der nächsten Zeit weitere Gelegenheiten ergeben werden.

TNL: Man kann auch ein wenig boshaft fragen: Gibt es vielleicht einfach zu viele Pianisten auf dem „Markt“? Sollte man bei der Auswahl von Pianisten an der Universität vielleicht weniger auf die technische Komponente achten (denn technisch haben selbst sehr junge Musiker heute oft ein ganz erstaunliches Niveau), sondern vielleicht mehr auf die Persönlichkeit eines Künstlers, bis hin zu dem Punkt, dass sie zum entscheidenden Aspekt wird, ob ein Künstler an der Universität zugelassen wird oder nicht?

AV: Auch wenn ich bei dieser Frage nicht wertend sein möchte, werde ich kurz (und vielleicht scharf, pardon) darauf antworten und sagen, dass die Auswahl wahrscheinlich eher unter den Lehrern als unter den Studenten getroffen werden müsste. In jungen Jahren sind eigentlich alle Richtungen offen, aber wenn die Lehrer ihren Schülern nur die Werte Erfolg, übermäßiger Ehrgeiz, Wettbewerb usw. vermitteln, werden sie genau das aufnehmen und glauben, dass es in der Musik nur darum geht. Vielleicht werden einige der Schüler eine natürliche „Erleuchtung“ haben, aber viele andere werden in die Irre geführt, obwohl sie wahrscheinlich die wichtigsten Aspekte der Musik erkennen könnten, wenn sie richtig unterrichtet würden, und vor allem von jemandem, der die Musik über alles andere stellt.

TNL: Sie geben selbst Meisterkurse und bilden junge Pianisten aus. Welche Ratschläge geben Sie diesen jungen Menschen für ihre zukünftige Karriere? Was sollte man tun, was sollte man vermeiden?

AV: Das ist schwer zu sagen. Das Beste, was ich tun kann, ist, meine Ratschläge mit mir selbst zu teilen. Ich sage mir: Es ist wichtig, ein Gleichgewicht zwischen Zielen und zukünftigen Erfolgen und dem, was in der Gegenwart oder in der jüngsten Vergangenheit liegt, zu finden. Wenn ich nur für das Erreichte lebe, dann ist es mit dem Glück vorbei: Ich verbringe einige leere Monate meines Lebens für das kurze Vergnügen dieses zukünftigen Tages eines Erfolges – was auch immer es sein mag, eine stehende Ovation, ein Artikel in der New York Times usw. Dann muss ich die Voraussetzungen für den nächsten Erfolg schaffen, weil ich plötzlich nichts mehr habe, was mich in der Gegenwart ausfüllt.

Im Grunde ist es das, was z. B. die neuen Plutokraten des Internets mit ihren Milliarden machen: totale Leere und Frustration, bis sie die nächste Milliarde verdienen. Diese Dimension nun auf etwas so höchst Spirituelles wie die Musik anzuwenden, ist ziemlich traurig. Nur ein krankes Wirtschaftssystem könnte es schaffen, sogar die Künste in diese leere Dimension zu verwickeln. Das hat Auswirkungen auf das alltägliche Leben, und das ist furchtbar traurig bei etwas wie Musik, die ein Grund zur Freude sein sollte, wann immer wir uns ihr widmen.

Aber wir sind natürlich keine Hedonisten, und wir brauchen Ziele, auch, um unserem Studium eine Struktur zu geben. Das ist nicht einfach; und da wir Menschen sind, sind schöne Erfolge und Rückmeldungen auch sehr willkommen. Das ist es also, was ich mit dem Gleichgewicht zwischen der Gegenwart/Vergangenheit und den zukünftigen Errungenschaften meine: zukünftige Ziele, um eine Richtung zu haben und gute Ergebnisse zu erzielen, aber nur nach täglicher Liebe zu jeder Seite der Musik, die wir berühren, das ist das Wichtigste (unsere Gegenwart und Vergangenheit). Das Leben wird entscheiden, welche Möglichkeiten wir bekommen und welche nicht, aber in der Zwischenzeit werden wir das wichtigste Geschenk in uns tragen: die Musik.

TNL: Im Booklet gibt es ein Zitat von Ihnen, das ich persönlich sehr treffend und im Zusammenspiel mit der Musik von Tscherepnin auch sehr berührend finde: Sie schreiben, die Musik von Tscherepnin sei für Sie wie ein Abschied von einer Epoche: als ob er wüsste, dass er sich von einer Zeit verabschiedet, die nicht wiederkommen wird. Passt diese Musik deshalb auch so gut in unsere Zeit, weil wir uns auch heute im Rekordtempo von Werten und Errungenschaften verabschieden, die immer weniger geachtet werden und denen immer weniger Wert beigemessen wird?

AV: Ich glaube, sie passt – auch wenn bei Tscherepnin diese nostalgische Dimension voller Hoffnung und Neugier auf neue Entdeckungen ist. Ich fürchte, dass bestimmte große Seiten von Schostakowitsch – im innersten kalt und ohne Hoffnung – viel besser in unsere Zeit passen.

TNL: Tscherepnin und seine Zeitgenossen reagierten auf die Veränderungen und Herausforderungen ihrer Zeit mit Ohnmacht und Melancholie. Das war ja aber auch immerhin eine Art Gemeinsamkeit. Ich habe das Gefühl, dass die Künstler heute angesichts der immensen Herausforderungen, vor denen wir stehen, noch nicht zu einer gemeinsamen Antwort gefunden haben. Wie gehen Sie persönlich mit den Veränderungen in Kultur und Gesellschaft um?

AV: Ich stimme Ihnen vollkommen zu. Es gibt ein Gefühl der Verlorenheit, keine gemeinsame Richtung und viele verschiedene Erscheinungsformen der Kreativität, die sich nicht mehr gegenseitig inspirieren, wie es zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Fall war. Strawinsky inspirierte zum Beispiel andere Komponisten, die seine Ästhetik aufgriffen und sie in eine klassische symphonische Dimension brachten, und wir könnten noch viele andere Beispiele anführen. Wenn dies heute nicht mehr der Fall ist, liegt das wahrscheinlich daran, dass Erfolg und Sensationslust ein größeres Ziel geworden sind als der Versuch, Musik für Komponisten und Interpreten zu machen – wieder einmal wegen der Konsumgesellschaft. An die Stelle von Ohnmacht und Melancholie sind Aggressivität und Konkurrenzdenken getreten.

Generell glaube ich, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der es darauf ankommt, was wir erreicht haben und nicht, wie wir es erreicht haben, und diese Perspektive betrifft auch den Bereich der Kunst (natürlich nicht immer, zum Glück).

Ich persönlich gehe mit jedem aktuellen gesellschaftlichen Phänomen nur auf eine Weise um: mit Begeisterung für das, was ich Tag für Tag tue.

TNL: Zum Schluss noch eine Frage zu Ihren Plänen für die Zukunft: Was planen Sie in den kommenden Wochen und Monaten? Gibt es irgendwelche besonderen Konzerte oder sogar schon Pläne für eine weitere Albumaufnahme?

AV: Was das tägliche Leben betrifft, so bin ich froh, hier in Tiflis einige Privatschüler zu haben, und ich hoffe, dass ich bald weitere haben werde.

Ich arbeite an einem neuen Repertoire, das mehrere Werke von Sweelinck, Chopin, Mozart, die Grieg-Ballade und Holberg-Suite sowie die zweite Sonate von Schostakowitsch umfasst. Derzeit gibt es keine konkreten Pläne für eine neue Aufnahme.

Was Konzerte angeht, so ist für das Frühjahr 2022 ein Rezital im Großen Saal des Konservatoriums von Tiflis geplant, und ich warte auf einen Termin für ein Konzert in Jerewan im Rahmen der Solistensaison des Armenischen Symphonieorchesters.

Ich freue mich auch, dass man mich kontaktiert hat, um zwei Konzerte in Frankreich, in Lille, für zwei Klavierfestivals 2022 zu geben. Und natürlich warte ich noch auf einige andere Antworten für die kommenden Monate. Bis dahin freue ich mich auf die kommenden Konzerte!

[Das Interview führte René Brinkmann]

Brahms auf der Flöte: ein Interview mit Karl-Heinz Schütz und Maria Prinz

Karl-Heinz Schütz, Soloflötist der Wiener Philharmoniker, hat die beiden Sonaten op. 120 von Johannes Brahms, ursprünglich Klarinettensonaten, dann vom Komponisten für Viola und Violine bearbeitet, für die Flöte eingerichtet. Zusammen mit der Pianistin Maria Prinz hat er für Naxos diese Bearbeitungen samt einigen Transkriptionen Brahmsscher Lieder eingespielt. The New Listener sprach mit beiden über ihre neue CD.

Wie kam es zu der nicht alltäglichen Idee, die Klarinettensonaten von Brahms in einer Fassung für Flöte und Klavier aufzunehmen?

Karl-Heinz Schütz: Brahms war, durch die Begegnung mit dem Klarinettisten Richard Mühlfeld, offensichtlich von der Klarinette fasziniert und hat somit für ein Blasinstrument komponiert und gedacht. Die Flöte befand sich zur damaligen Zeit in einem Dornröschenschlaf. Aus diesem hat sie erst Debussy wachgeküsst! Die ganze Musikgeschichte, insbesondere im 19.Jahrhundert, ist voll von Bearbeitungen. Von Brahms selbst liegen Versionen dieser Sonaten für Klarinette, Viola und Violine vor: drei sehr unterschiedliche Timbres für dieselbe Musik. Ich denke mit der Flöte einfach konsequent den brahmsischen Gedanken weiter.

Maria Prinz: Mit Karl-Heinz Schütz zu musizieren, ist für mich in den 10 Jahren unserer Zusammenarbeit immer ein musikalisches Erlebnis der Sonderklasse gewesen, inspirierend und beglückend. Seine Idee, die Sonaten op. 120, die zu den Stücken gehören, mit denen ich mich im Laufe meines Musikerlebens besonders oft und ausführlich beschäftigt habe, auf der Flöte zu spielen, war eine sehr willkommene Chance, diese Werke unter einem ganz neuen Blickwinkel zu sehen und zu interpretieren.

Sie haben die Klarinettensonaten schon häufig interpretiert, auch bereits aufgenommen. Was gefällt Ihnen an der neuen Fassung für Flöte besonders?

Maria Prinz: Die Sonaten op. 120 gehören zum Spätwerk des Komponisten und zeichnen sich durch eine gewisse herbstliche Färbung, besonnene Ruhe und leise Zwischentöne aus, die der Klangcharakteristik der Flöte in hohem Maße entsprechen; besonders wenn der Flötist, wie im Fall von Karl-Heinz Schütz, über einen so wandlungsfähigen und farbenreichen Klang verfügt. Ich bemühe mich bei jeder neuerlichen Begegnung mit Werken, die mir sehr vertraut sind, weitere Aspekte und Nuancen zu entdecken, und diese Version hat mich dazu sehr motiviert und inspiriert.

Karl-Heinz Schütz: Es war besonders inspirierend, diese Musik mit Maria Prinz aufzunehmen, die diese Musik viel länger als ich kennt!

Es gibt Komponisten, denen man nachsagt, sie hätten die Flöte nicht besonders gemocht. Mozart zum Beispiel. Wie verhält es sich mit Brahms?

Karl-Heinz Schütz: Ich denke, Brahms hatte die Flöte als Soloinstrument aus verschiedenen Gründen nicht auf dem Radar. Die wesentlichen instrumentenbautechnischen Veränderungen hatten noch keine goldene Ära mit hervorragenden Spielern hervorgebracht, wie es etwa dann 20 bis 30 Jahre später in Paris der Fall war. Dennoch spielen Flötenklang und Flöte als wesentliche Farbe in seiner Sinfonik eine zentrale Rolle, wie im Übrigen auch bei Mozart.

Die Brahms-Lieder auf dem Album in Fassungen für Flöte und Klavier zu hören, ist zum Teil sehr überraschend. Die Lieder scheinen so komponiert zu sein, dass sie auch ohne Text eine Botschaft in sich tragen. Waren Sie auch selbst überrascht davon, wie gut diese Kompositionen ohne Stimme funktionieren?

Karl-Heinz Schütz: Da ich als Flötist immer den Gesang und die menschliche Stimme als Ausdruck zum Vorbild habe, begleiten mich solche „Lieder ohne Worte“ schon mein Flötisten-Leben lang. Es ist schön, dass wir jetzt eine Auswahl davon auf dieser CD vorliegen haben.

Maria Prinz: Ich konnte mir von Anfang an gut vorstellen, dass die Version für Flöte und Klavier gut funktioniert. Es gibt die berühmte Bearbeitung von Schubert-Liedern von Theobald Böhm, die sehr beliebt bei Interpreten und Publikum sind, und ich bin sehr glücklich, dass das auch in unserer Fassung der Brahms-Lieder der Fall ist. Die ganz großen Komponisten sagen oft durch ihre musikalische Umsetzung der Poesie noch mehr als der Text uns mitteilt. Sie vertiefen die emotionale Wirkung, oder hinterfragen sogar manche Inhalte.

Wir haben uns auch bewusst dagegen entschieden, den Text der Lieder im Booklet abzudrucken, um dem Zuhörer den Freiraum für eigene, allein von der Musik inspirierte Assoziationen, zu geben.

Ist es eigentlich einfach oder schwierig, die Gesangs-Phrasierung der Lieder auf die Flöte zu übertragen, weil ja beide „Instrumente“ (Gesang und Flöte) durch Atemtechnik „gesteuert“ sind? Oder war dies am Ende gar nicht das Ziel?

Karl-Heinz Schütz: Ich finde, die Übertragung liegt in der Natur der Sache. Es erscheint mir ganz natürlich, da Gesang und Flötenspiel unglaublich viele Gemeinsamkeiten haben, wie z.B. die Atmung und Stütztechnik, ebenso das Vibrato. Naturgemäß entfallen die Worte und es entsteht ein Lied ohne Worte.

Und wie verhält es sich mit der Übertragung der Klarinettenphrasierung auf die Flöte?

Karl-Heinz Schütz: Das ist ein ähnliches Phänomen wie beim Gesang: die Gemeinsamkeiten sind frappierend. Für den Zuhörer ergibt sich vor allem ein unterschiedliches Klangbild.

Welche Herausforderungen ergeben sich für das Klavier?

Maria Prinz: Mein Credo ist immer gewesen, nicht einen universal verwendbaren Klavierklang anzubieten, sondern auf die klanglichen Besonderheiten meiner jeweiligen Kammermusikpartner einzugehen und Farben zu finden, die sich in einigen Passagen so perfekt mit dem Klang des anderen Instrumentes vermischen, dass beide eine Einheit bilden oder aber den vom Komponisten gesuchten Kontrast liefern. Für mich ist das silbrig Schimmernde des Flötenklanges besonders reizvoll und kommt dem, was ich am Klavier mache, sehr entgegen.

Im Fall der Brahms-Sonaten in der Flötenfassung ist auch die Frage der Balance besonders wichtig, damit die sehr dichte, akkordische Faktur des Klavierparts stets durchsichtig bleibt und die Flöte nicht erdrückt. Es gibt sehr wenige andere Werke des Kammermusikrepertoires, bei denen beide Instrumente in einem so ausgeglichenen und gleichberechtigten Dialog miteinander den musikalischen Inhalt wiedergeben.

Wie hat Ihr Label auf den Vorschlag reagiert, ein solch ungewöhnliches Programm aufzunehmen? In der allgemeinen Wahrnehmung war Naxos lange ein Label für den schmalen Geldbeutel, dann hat es sich zu einer Art klingenden Enzyklopädie entwickelt und heute scheint es kaum noch Unterschiede zu anderen Labels zu geben. Wie haben Sie das als Künstlerin empfunden, die schon seit Jahren mit Naxos zusammenarbeitet?

Maria Prinz: Zum Glück sehr positiv! Natürlich wissen wir alle, dass Bearbeitungen an sich oft als problematisch und überflüssig angesehen werden, aber sie geben auch die Chance auf einen frischen Zugang zu altbekannten Werken, und es geht auch immer um die Frage der Ehrlichkeit und Qualität der Interpretation. Ich arbeite schon seit vielen Jahren mit Naxos und kann nur von positiven Erfahrungen berichten.

Jedes Label ist so gut, wie die Leute, die es verantworten, und in diesem Fall ist Klaus Heymann die Persönlichkeit, die mit Mut und Weitsicht die Zeichen der Zeit erkannt hat und das Label innovativ und fantasievoll in die Zukunft führt. Die Zusammenarbeit mit ihm ist fantastisch, weil er blitzschnell auf Vorschläge reagiert, ganz klar seine Meinung äußert und wenn einmal die Zustimmung da ist, man sich 100% auf ihn verlassen kann. Natürlich ist der Beitrag des ganzen Teams von Naxos, der Mitarbeiter, mit denen man dann zu tun hat, nicht hoch genug einzuschätzen.

Sie sind Erster Flötist bei den Wiener Philharmonikern. Wie wichtig ist es für Sie, abseits des Orchesterbetriebs Kammermusik-Projekte wie diese Aufnahme mit Maria Prinz durchzuführen?

Karl-Heinz Schütz: Die Kammermusik ist für Komponisten wie für Interpreten immer eine sehr intime Sache. Und aus diesem Grund würde ich es als Herzensanliegen bezeichnen.

Die Wiener Philharmoniker sind zweifellos eines der weltbesten Orchester, stehen aber im Ruf, nicht sehr neugierig auf neues oder unbekanntes Repertoire zu sein. Stimmt dieser Eindruck oder sollte er revidiert werden?

Karl-Heinz Schütz: Das Publikum möchte natürlich von diesem Orchester zuerst ein bestimmtes Repertoire hören. Das hängt ganz eindeutig mit der Geschichte und der Tradition des Orchesters zusammen.

Ich erlebe aber im Orchester eine Offenheit und ein Interesse das Repertoire zu erweitern. Stücke, die vielleicht vor etwa 30 oder 40 Jahren nur am Rande vorgekommen sind, sind völlig im Selbstverständnis des Orchesters angekommen.

Viele Klassikliebhaber, gerade die besonders leidenschaftlichen, scheinen eine latente Abneigung gegenüber Transkriptionen oder Werkbearbeitungen zu haben. Woran liegt das Ihrer Meinung nach und wie würden Sie diesen Leuten beschreiben, weswegen Sie bewusst eine Bearbeitung aufgenommen haben?

Karl-Heinz Schütz: Die großen Komponisten haben alle voneinander gelernt, einerseits durch Studium, andererseits durchs bloße Abschreiben voneinander: Zahllose Beispiele lassen sich hierfür anführen. Sehr oft wurden auch eigene Werke anders wiederverwendet oder eben anders instrumentiert. Die Essenz einer Komposition bleibt ja hiervon im Grunde unberührt – es werden lediglich andere Aspekte beleuchtet, was einem auch Augen, Ohren und Sinne öffnen kann. Meine Bearbeitung und Interpretation versuche ich beim Kern des Werkes anzusetzen, um aufzuzeigen, wie diese wunderbare Musik mit Flöten-Timbre erklingt! Ich bin überzeugt, dass Brahms Flötensonaten geschrieben hätte, hätte er heute gelebt.

Maria Prinz: Wie ich schon erwähnt habe, ist es uns von Anfang an bewusst gewesen, dass eine gewisse Abneigung gegenüber Bearbeitungen existiert. Diese ist in Fällen, bei denen die Bearbeitung in krassem Gegensatz zu den Absichten und der Ausdrucksweise des Komponisten stehen, durchaus berechtigt.

Man darf allerdings nicht vergessen, dass sehr viele Komponisten ihre Werke selbst bearbeitet und Versionen für verschiedene Instrumente veröffentlicht haben. Das ist auch für die Sonaten op. 120 der Fall, von denen Brahms selbst Versionen für Bratsche und Violine erstellt hat. Somit deutet er an, dass dieses musikalische Material Raum für verschiedene klangliche Deutungen lässt. Und das zweite Argument zugunsten der Flötenversion ist, dass die Klarinette und die Flöte als Blasinstrumente doch näher verwandt sind, als es die Bratsche oder die Violine sind.

Bei den Liedern wiederum ist die Flöte der menschlichen Stimme durch die Beteiligung des Atems an der Klangerzeugung und auch durch die Fähigkeit, Phrasen „singend“ zu formen, verwandt und imstande die wunderschönen, langgezogenen brahmsischen Melodien zu gestalten.

[Das Interview führte René Brinkmann]

„Ich übe, gebe mein Bestes und bete um Klarheit.“

Der saarländische Pianist Marlo Thinnes hat vor allem mit seiner gemeinsam mit Ingolf Turban eingespielten Gesamtaufnahme aller Violinsonaten Beethovens im Frühjahr 2021 viel Aufsehen in der Presse erregt. Das CD-Box-Set war auch für den „Preis der deutschen Schallplattenkritik“ nominiert. Thinnes ist aber auch als Solokünstler aktiv und legt nunmehr sein bereits zweites Album als Solist vor. Dabei überrascht manches – von der Werkauswahl bis hin zur Repertoiregewichtung. So ergaben sich die Fragen an den Pianisten fast von selbst. Marlo Thinnes gibt im Gespräch mit the-new-listener.de interessante Einblicke in den Entstehungsprozess seines neuen Albums mit Werken von Beethoven, Liszt, Fauré, Ravel und Viñes.

Herr Thinnes, Sie haben im Frühjahr eine viel beachtete Gesamtaufnahme der Beethoven-Violinsonaten mit dem Münchner Geiger Ingolf Turban aufgenommen. Wie kam es dazu?

Unser gemeinsamer Produzent Joachim Krist brachte uns im Frühjahr 2018 zusammen. Ihn reizte dieses Projekt schon seit Jahren. Er wollte die Sonaten zyklisch mit Musikern seiner Wahl für das Label „telos“ im Portfolio haben. Ich bin glücklich, dass ich einer der beiden Musiker sein durfte, die dieses Prestige-Projekt stemmen durften.

Wie hat sich die Zusammenarbeit mit Ingolf Turban gestaltet? Er ist ja als Alben aufnehmender Musiker schon sehr lange im Geschäft, während Sie vor der Zusammenarbeit mit ihm gerade erst ein Debütalbum herausgebracht hatten?

Das ist richtig. Bis auf verschiedene Rundfunk- und Videoproduktionen war bis zum damaligen Zeitpunkt nur ein offizielles Album von mir auf dem Markt: „Ombre et Lumiére“, übrigens auch bei telos music erschienen.

Die Zusammenarbeit mit Ingolf war spannend, professionell und vor allem menschlich sehr angenehm. Die Proben in München, bei denen auch unser Produzent manchmal zugegen und dann fordernd und formend beteiligt war, brachten vielversprechende Ergebnisse. Bald fanden wir zu einer gemeinsamen Sprache, die Beethovens Duktus auf ideale Weise zum „Sprechen“ zu bringen schien.

Auf Ihrem neuen Album geht es nun mit Beethoven weiter, was aber überrascht, ist, dass Sie sich dabei für eine Beethoven-Bearbeitung entschieden haben. Wie kam es zu der Idee, eine der Sinfonie-Transkriptionen aufzunehmen, die Franz Liszt für Klavier gesetzt hat?

Mit diesen Transkriptionen kam ich bereits vor 10 Jahren in Kontakt, als ich eingeladen wurde, im Rahmen eines Festivals – quasi als Auftragsprogramm – die Zweite und Sechste der neun Sinfonien in der Bearbeitung für Klavier Solo aufzuführen. Die restlichen wurden damals unter drei weiteren Pianisten aufgeteilt. Das war ein Abenteuer und eine Entdeckungsreise, die bleibende Eindrücke hinterließen.

Spätestens seit dieser Zeit war ich dem Beethoven-Bazillus verfallen. Und so war es ganz selbstverständlich, dass seine Musik in den letzten Jahren zunehmend in meinen künstlerischen Fokus rückte: Ein Marathon mit allen Klaviersonaten, den ich mir mit einem Pianistenfreund teilte (jeder übernahm 16 Sonaten), die eben bereits erwähnte Aufführung und Gesamteinspielung der Violinsonaten mit Turban, Lecture-Recitals mit der Hammerklaviersonate usw. zeigen in diese Richtung. 

Da ich also durch diese wunderbaren Sinfonie-Transkriptionen die Chance hatte, auch interpretierend als Pianist am sinfonischen Schaffen Beethovens teilhaben zu können, das ich seit jeher verehre, war doch jetzt die Zeit, genau das zu tun.

Man könnte sagen, das Album ist vom Programm her zweigeteilt: Ein „Hauptwerk“, das einen Großteil der Spielzeit für sich verbucht, und mehrere (vom Umfang her) kleinere Werke. Bei so einer Konstellation passiert es leicht, dass Hörer die von der Spielzeit her kürzeren Werke als „nebensächlich“ einstufen, oder?

Das glaube ich nicht. Ich würde die Platte eher als ein zweiteiliges Konzertprogramm betrachten. Nach der großen Aufmerksamkeit, die die Beethoven-Transkription fordert, braucht’s danach einen Ausgleich, einen anderen musikalischen Duktus, andere Farben, leichtere  Bedeutungsschwere; besonders, wenn man die Platte ganzheitlich – sozusagen in einem Guss – hört.

Das war natürlich etwas überspitzt formuliert, denn es würde wohl niemand auf die Idee kommen, beispielsweise Ravels „Jeux d’eau“ als Bagatelle einzustufen. Aber liegt in Ihrer Programmkonstellation nicht die Gefahr eines Ungleichgewichts? Oder anders formuliert: „Wiegen“ Liszt, Ravel, Fauré und Viñes zusammen so schwer wie Beethoven?

Zusammen allemal. Aber ich glaube nicht, dass man sich diese Frage überhaupt stellen sollte. „Wie ein Konzertprogramm“ so titelte vor kurzem ein Fachmagazin über diese Einspielung. Genau das ist es. Abwechslungsreich, bunt und spannend – durchaus mit Gedankenzusammenhang, wenn man das Booklet erklärend zur Hand nimmt. Dieses Programm auf die Bühne gebracht, wird auch ganz unterschiedlichen Ansprüchen gerecht werden. Mir jedenfalls hat es persönlich viel Spaß gemacht, auch mal wieder außerhalb von „Integralem“ zu wandeln…

Bei Ihrer Interpretation geben Sie für alle Werke alles, das hört man dieser Aufnahme auf jeden Fall an. Wie bereiten Sie sich auf eine Klavieraufnahme vor?

Ich übe, versuche immer mein Bestes zu geben und bete um Klarheit – nicht nur in der Musik.

Spielen Sie auch bei einer CD-Aufnahme aus dem Gedächtnis? Ich kenne Pianisten, die spielen live aus dem Gedächtnis, bevorzugen bei einer Aufnahme aber, die Noten vor Augen zu haben.

Die Noten bei einer Aufnahme vor Augen zu haben, ist immer gut, obwohl ich live eigentlich aus dem Gedächtnis spiele. Bei einer Aufnahme – besonders wenn man einen kompetenten und fordernden Producer hat, der sehr kritisch ist, auch spannender Austausch über Interpretationen im Tonraum beim Abhören herrscht – ist die Partitur dein bester Freund in Aufnahmesessions.

Mögen Sie die Situation einer CD-Aufnahme? Manche Künstler fühlen sich „im Studio“ ja sehr wohl, andere betrachten eine Aufnahme eher als eine Art lästige Pflichtübung, um ein Album am Markt zu haben.

Wenn man gut vorbereitet ist, dann kann es trotz der nicht immer stressfreien Situation Freude machen, kann aber auch sehr zermürbend sein. Nirgendwo lernt man als Musiker mehr über sich und seine Interpretationen als im Studio und bei der Nachbereitung. Jedes Geräusch – sei es ein Quietschen des Stuhls, ein zu lautes Atmen, Mitbrummen – jede Note, jede Unachtsamkeit klingt überdeutlich, und das macht es manchmal schwer, sich freizuspielen. Glücklicherweise hatte ich bis jetzt immer ein wunderbares Aufnahmeteam, das es mir ermöglichte, schöne Interpretationen zu liefern und einzufangen.

Sie sind einer der wenigen klassischen Pianisten, die sich auch im Jazz-Sektor tummeln: Zusammen mit Ihrer Frau sind Sie Teil der Gruppe Venerem Early Art Music. Dabei entsteht eine Melange aus Musik der Renaissance und des Barock mit Jazz. Wie kam es dazu?

Meine Frau wusste um meine Vergangenheit. Vor über 25 Jahren bestand das Musizieren für mich vor allem aus Improvisieren, Arrangieren, gelegentlichem harmlosem Komponieren, vor allem für das Akkordeonorchester meines Vaters, das ich inklusive der Musikschule damals übernahm. Auch hatte ich Mitte der Neunziger eine Band formiert, die ausschließlich Eigenes zu Tage förderte, komponierte in meinem Studium Kadenzen, entwarf Transkriptionen für Klavier Solo. Das hat immer Freude gemacht, doch habe ich diese affairs de coeur  aufgegeben, da Anfang des neuen Jahrtausends die Ausbildung zum professionellen Pianisten aufzehrend und fast rücksichtslos in den Lebensmittelpunkt rückte.

Meine Frau bohrte ziemlich lange, bis ich Anfang 2019 endlich soweit war, mich darauf wieder einzulassen – nun in besonderer Besetzung und mit dem Ziel, Alte Musik neu zu erfinden.

Warum Alte Musik? Meine Frau, die Sopranistin Laureen Stoulig-Thinnes, ist Barocksängerin und spezialisiert auf diesem Gebiet. Warum besondere Besetzung? Einen guten Freund aus alter Zeit, der professioneller Bassist ist, wollte ich unbedingt dabei haben. Die Kunst beim Arrangieren bestand nun für mich darin, elektronischen Bass, Klavier, Gesang und Percussion so zusammenzubringen, dass in dieser kleinen Besetzung ein interessantes, polyphones und volles Klangbild, sozusagen ein individueller Sound mit eigenem Gesicht, entsteht. Das ist gelungen. Das Debütalbum von „Venerem early art music“ ist seit einigen Monaten am Start, wird in der Fachpresse sehr gut besprochen und die Formation wartet auf wieder offene Bühnen. 

Obwohl das Klavier ein typisches „Jazz-Instrument“ ist, scheint es mehr klassische Geiger zu geben, die ihre Nase in den Jazz gesteckt haben als Pianisten. Gibt es eigentlich einen Grund dafür, warum so wenige klassisch ausgebildete Pianisten gibt, die sich mal im Jazzgenre versuchen?

Vielleicht ist der Wunsch und der Mut zum Risiko sich mit Eigenem in einem anderen musikalischen Umfeld zu betätigen – und auch hier ein adäquates Niveau zu halten und damit zu überzeugen – bei vielen nicht da.

Bei mir brauchte es ja auch die Inspiration (m)einer Muse.

[Das Interview führte René Brinkmann]

„Musikvermittlung ist uns sehr wichtig!“

Tatjana Uhde und Lisa Wellisch im Interview mit the-new-listener.de zu ihrem Album „Märchenbilder“

Die Cellistin Tatjana Uhde und die Pianistin Lisa Wellisch haben ihr Duo-Debütalbum für das audiophile Label ARS Produktion aufgenommen (siehe Rezension). René Brinkmann sprach mit den beiden Musikerinnen im Juli 2021. Für Tatjana Uhde ist das die Zeit, in der sie sich als Cellistin im Bayreuther Festspielorchester engagiert, während Lisa Wellisch die ersten Solokonzerte nach dem Corona-Lockdown gab – eine geschäftige Zeit also, in der beide Musikerinnen trotzdem Zeit fanden, um the-new-listener.de einige Fragen zum Album „Märchenbilder“ zu beantworten.

Frau Uhde, Frau Wellisch, Ihr Debütalbum trägt den Titel „Märchenbilder“ und befasst sich überwiegend mit Stücken, die eigentlich literarische Vorbilder haben. Kann man das so sagen?

LW: Das kann man so sagen, im Fall der „Märchenbilder“ sogar ganz konkret das Gedicht „Märchenbilder“ von Louis de Rieux. Aber ungewöhnlich ist das für die Romantik nicht – die sogenannte „Poetische Musik“ war im 19. Jahrhundert sehr gefragt, oft gab es Anspielungen und Bezüge auf literarische Vorlagen. Diese Inspirationen aus der Literatur helfen natürlich, die Musik zu verstehen, und darauf nehmen wir auch bei der Moderation unserer Konzerte und in unserem beigelegten CD-Booklet Bezug.

TU: Auch Edvard Grieg komponierte seine Schauspielmusik Peer Gynt (Solveig’s Lied ist darin enthalten) nach dem dramatischen Gedicht von Henrik Ibsen mit gleichem Titel.

Inmitten der musikalischen Märchen steht die „Arpeggione“-Sonate von Franz Schubert. Schubert schrieb sie für das Arpeggione, eine Art Gitarre zum Streichen mit sechs Saiten und ganz anders gestimmt als ein Cello. Welche besonderen Anforderungen stellt dieses Stück an Cellistinnen und Cellisten, die es ja heute zumeist interpretieren?

TU: Die Sonate verdankt ihre Entstehung Schuberts Bekanntschaft mit dem Instrumentenbauer Johann Georg Stauffer (1778–1853), von dem Schubert eine Gitarre besaß. Im Jahr 1823 baute Stauffer ein neues Instrument, die Arpeggione, welche über sechs Saiten (Stimmung: E-A-d-g-h-e’) und Metallbünde verfügte. Im Jahre 1824 schrieb Schubert für dieses Instrument die Sonate in a-moll, welche hinsichtlich Virtuosität und Tonumfang auf die besonderen Möglichkeiten dieses Instruments abzielte. Da sich das neue Instrument nicht durchsetzen konnte, stellte sich die Frage einer Realisierung auf anderen Streichinstrumenten, um die besonderen Schönheiten der Sonate zum Ausdruck zu bringen; hierfür kamen eigentlich nur solche Instrumente in Frage, welche hinsichtlich des Tonumfangs den besonderen Anforderungen genügen konnten, also Violoncello oder Viola, weshalb das Werk vorzugsweise von diesen Instrumenten gespielt wird. Die „Arpeggione“-Sonate stellt hohe technische Anforderungen an Cellistinnen und Cellisten. Sehr virtuos und doch immer gesanglich kommt die ganze Bandbreite des Cellos von der Tiefe bis in die höchsten Töne des Griffbretts zum Erklingen. Die Herausforderung ist, trotz der instrumentalen Schwierigkeiten stets mit Leichtigkeit und Phrasierung zu spielen. Konrad Hünteler zählt die „Arpeggione-Sonate“ zu den „[…] unsterblichen Perlen im Kammermusikrepertoire“, und da stimme ich ihm voll zu. Beim Publikum sehr beliebt, gehört die „Arpeggione“-Sonate zu den Werken, die einen festen Platz im Repertoire eines jeden Cellisten haben.

Warum hat sich dieses Stück eigentlich überhaupt im Cello-Repertoire durchgesetzt? Von der Stimmlage her wäre ja eine Bratsche vielleicht sogar „näher“ am Klang des Arpeggione als ein Cello, oder?

TU: Sowohl das Cello als auch die Bratsche nähern sich vom Tonumfang der Arpeggione. Aus diesem Grunde wird diese Sonate auch vor allem von diesen beiden Instrumenten gespielt.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen Themenwechsel: Die „Märchenbilder“ repräsentieren Ihr erstes gemeinsames Album als Duo. Da darf man vielleicht noch fragen, wann und wie Sie als Duo zusammengefunden haben?

LW: Ich habe zusammen mit Tatjanas Mann [Anm. Prof. Tristan Cornut, ebenfalls Cellist] in Stuttgart studiert, und wir sind uns vor einigen Jahren zufällig in Bayreuth, wo Tatjana im Festspielorchester spielt, wieder begegnet. Tatjana und ich haben dann eine spontane Einladung für ein Konzert vor Ort bekommen. Die Zusammenarbeit hat uns so viel Spaß gemacht und wir verstehen uns so gut, dass wir beschlossen haben, ein festes Duo zu bilden. Ein lustiger Zufall ist auch, dass mein Mann wiederum Schüler von Tatjanas Großvater Jürgen Uhde war.

TU: Wir haben uns vor zwei Jahren in Bayreuth kennengelernt und hatten dort auch beim Festival „Bayreuth Summertime“ unseren ersten großen Auftritt mit dem „Märchenbilder“-Programm. Da eine Reihe von Konzerten damit geplant ist, haben wir uns letztes Jahr dazu entschlossen, dieses Programm aufzunehmen, welches uns sehr am Herzen liegt und beim Publikum sehr gut ankommt.

Sie, Frau Uhde, sind unter anderem zweite Solo-Cellistin des Orchesters der Nationaloper Paris und sind deshalb wahrscheinlich häufig in Frankreich. Und Sie, Frau Wellisch, sind als Solistin auch sehr aktiv und konzertieren viel. Wie gestaltet sich da die Zusammenarbeit als Duo? Wie finden Sie die Zeit, um gemeinsam zu arbeiten und treffen Sie sich dann stets am selben Ort oder immer da, wo es geografisch gerade am besten passt?

TU: Die Zusammenarbeit ist trotz der geografischen Distanz kein Problem. Wir treffen uns in regelmäßigen Abständen rund um unsere Konzerte, meist an dem Ort, der geografisch gerade am besten passt. Es ist eine Frage der Organisation. Natürlich muss das Programm anfangs sorgfältig einstudiert und gemeinsam geprobt werden, da muss man sich die Zeit nehmen, die nötig ist. Das können dann schon auch mal zwei Wochen intensives Proben sein. Auch wenn wir nicht am selben Ort sind, vergeht doch kaum ein Tag, an dem wir nicht über Nachrichten oder Telefon in Kontakt sind.

LW: Wir haben zum Glück jeden Sommer während der Festspielzeit ausführlich Zeit, zu proben und neues Repertoire zu studieren. An Konzerttagen sehen wir uns oft erst am gleichen Tag und spielen dann eher Stellen an, als lange zu proben. So ist es im Konzert frisch und man achtet inspiriert aufeinander.

Auf Ihrem Album haben wir vier sehr unterschiedliche Komponisten: Schumann, Schubert, Grieg und Juon. Wie würden Sie die Stile der vier Komponisten jeweils charakterisieren?

LW: Schubert bietet wahrscheinlich den größten Kontrast zu den anderen Werken auf der CD: Als einziger Komponist gehört er noch der klassischen Epoche an und der Stil der „Arpeggione“ ist trotz der volksliedhaften Klänge noch strenger in der Form und Agogik, genauer notiert in der Artikulation. Der schweizerische Komponist Paul Juon mit russischen Wurzeln war für uns eine neue Entdeckung, in seiner Tonsprache hört man deutlich die russische Romantik heraus und sein „Märchen“-Zyklus op. 8 klingt über weite Strecken sehr melancholisch. Grieg ist natürlich ein Meister darin, den „nordischen Ton“ in die Musik zu übertragen. Und Schumanns Kosmos, der stark von den Werken E. T. A. Hoffmanns und Jean Pauls beeinflusst ist, lässt sich gar nicht in einem Satz beschreiben: Es ist eine so komplexe, tief anrührende poetische Musik, die einen immer wieder Neues entdecken lässt und mich schon immer sehr bewegt hat. Schumann sah sich selbst ja als „Tondichter“ und wie kein anderer verkörpert er für mich die deutsche Romantik.

TU: Robert  Schumann ist auch für mich einer der bedeutendsten romantischen Komponisten. Ich finde bei Schumann immer unglaublich faszinierend die Bandbreite an Gefühlen, vom gesanglichen Poetischen, Schwelgerischen bis hin zum Stürmischen, Besessenen. Schuberts Ausdrucksweise empfinde ich als emotional sehr feinfühlig und sanft. Das Liedhafte und Lyrische ist auch in der „Arpeggione-Sonate“ sehr klar zu vernehmen. Bei Griegs Solveig’s Lied ist für mich das Lyrische im Vordergrund. Mit einem Hauch von Schwermütigkeit und Melancholie und einem unbeschwerten, heiteren Mittelteil. Paul Juons spätromantischen Stil würde ich charakterisieren als ernst und anspruchsvoll, er verwendet gerne russische und nordische Themen, auch im Märchen Op.8 finden wir Passagen mit Anklängen an russische Folklore.

Eine Überraschung war für mich Griegs „Solveigs Lied“ aus „Peer Gynt“ in der Duofassung für Klavier und Cello, von der ich nicht wusste, dass sie existierte. Sie scheint durch die reduzierte Besetzung eine ganz eigenartige „Qualität“ der Verlassenheit und der Einsamkeit auszustrahlen, und das finde ich gerade im Vergleich zur Orchesterfassung sehr interessant. Gibt es nur dieses eine Stück aus „Peer Gynt“ in der Duobesetzung für Cello und Klavier oder gibt es da noch weitere Stücke aus dem „Peer Gynt“ für diese Besetzung?

TU: Mir ist nur dieses eine Lied bekannt, aber sicherlich ließen sich auch andere Passagen problemlos arrangieren für Cello und Klavier. Da das Cello der menschlichen Stimme besonders nahe kommt, lassen sich die meisten Lieder sehr gut für Cello arrangieren. 

LW: Doch, es gibt noch weitere Stücke aus der Suite für unsere Besetzung, aber am besten eignet sich tatsächlich „Solveigs Lied“, weil es so wirklich auf eine andere (durchaus gleichwertig interessante) Art funktioniert. Bei der „Halle des Bergkönigs“ beispielsweise vermisst man dann doch das große Orchester.

Ist geplant, dass es noch ein weiteres Duo-Album von Ihnen geben wird? Oder werden die „Märchenbilder“ nun erst einmal ausführlich live vorgestellt?

TU: wir werden erst einmal unsere geplanten Konzerte mit dem « Märchenbilder » Programm spielen und freuen uns sehr, nach den extrem schwierigen Coronamonaten das Programm unseres Debütalbums dem Publikum endlich „live“ zu präsentieren. 

LW: Uns ist Musikvermittlung sehr wichtig und mit dem Programm erreichen wir ein großes Publikum. Aber natürlich spukt die Idee zu einer neuen CD auch schon in unserem Kopf herum…

[Das Interview führte René Brinkmann]

Warum wir Mozart zwei Mal aufnahmen

Interview mit Sebastian Bohren, Mai 2021 – geführt durch Oliver Fraenzke

Eine Aufnahme korrigierend zu wiederholen darf als gewagter Schritt bezeichnet werden: gerade in der heutigen Zeit, die charakterisiert wird einerseits durch eine Vielzahl an Möglichkeiten technischer Nachbearbeitung, andererseits durch eine Schnelllebigkeit und dadurch eine gewisse „Zweckmäßigkeit“ des Musikmarktes.

Der junge Schweizer Violinist Sebastian Bohren ließ sich davon nicht abhalten. Unzufrieden mit seiner Aufnahme der Violinkonzerte in G-Dur KV 216 und A-Dur KV 219 von Wolfgang Amadeus Mozart aus dem Jahr 2018, entschloss sich Bohren nach dem ersten Corona-Lockdown, die beiden Konzerte am selben Ort und mit den selben Mitstreitern erneut einzuspielen. So entstand im Juni 2020 gemeinsam mit den CHAARTS Chamber Artists unter Leitung von Gábor Takács-Nagy die nun erscheinende Neuaufnahme. Im Interview mit Oliver Fraenzke erzählt er von Mozart und dem steinigen Weg zu seiner neuesten CD.

OF: Nun gehören die Solokonzerte Mozarts ja zum viel gespielten und oft aufgenommenen Standardrepertoire, so dass bereits eine große Anzahl beachtlicher bis herausragender Aufnahmen existiert. Wieso haben Sie sich angesichts dessen entschieden, sie dennoch einzuspielen?

SB: Ja, tatsächlich. Ich glaube, ein junger Musiker muss sich zwar mit Raritäten, mit unbekanntem oder neuem Repertoire eingehend beschäftigen, darf sich aber auch nicht scheuen, die ganz großen Werke des Kanons früh und mit hohen Ambitionen anzugehen. Es geht letztlich bei jedem Repertoire um die Qualität und die Ernsthaftigkeit, die man als Interpret erreichen kann. Wie sehr schafft man es, der Musik gerecht zu werden?

OF: Allgemein gefragt, was macht Mozart so einzigartig?

SB: Mozart war die größte musikalische Begabung, die je gelebt hat. Das ist einzigartig. 

OF: Haben Sie gewisse Idole, was die Darbietung der Violinkonzerte betrifft? Und was hebt Ihre Anschauung dieser Stücke von jenen ab?

SB: Idole sind oft zu stark einschränkend, weshalb ich versuche, mich dahingehend zurückzuhalten und mich unbefangen der Musik zu nähern. Christian Tetzlaffs Spiel empfand ich im Konzert als passend zu Mozart. Ich versuche vor allem durch die Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk Mozarts einen Schlüssel zu seinen Violinkonzerten zu finden. 

OF: An Ihrer Seite befinden sich die CHAARTS Chamber Artists, ein Ensemble ausschließlich aus profilierten Streichquartettspielerinnen und -spielern. Wie wirkt sich dies auf den Gesamtklang aus?

SB: Durch ein intensiveres „Aufeinanderhören“. CHAARTS ist ein Ensemble mit sehr starken Persönlichkeiten, das schafft Profil und kommt der Musik zugute. Jeder für sich ist ein individueller Charakter mit besonderen Stärken, gleichzeitig durch das Quartettspiel fähig, den eigenen Klang in den Dienst des Ensembles zu stellen und mit diesem zu verschmelzen. Die fehlende Routine eines permanent spielenden Kammerorchesters könnte sich natürlich auch negativ auswirken zum Beispiel bei der Balance im vierstimmigen Satz und der allgemeinen Homogenität. Um dem entgegenzuwirken, versuchen wir vor gemeinsamen CD-Aufnahmen immer, Konzerte zu spielen, damit wir dann wirklich wie ein großes Streichquartett klingen. Das Streben nach Qualität in allen Aspekten steht im Zentrum. 

OF: Und auch Dirigent Gábor Takács-Nagy etablierte sich zunächst als Violinist und Primarius des Takács-Quartetts. Welche Einsichten bringt er vom Pult aus in die Musik? Welche Verbindung hat er zu Mozart?

SB: Gábor Takács-Nagy ist für mich ein musikalisches Phänomen. Er geht außerordentlich belebend an die Musik heran, was extrem gut zu Mozart passt. Die Musiker werden permanent stimuliert, aus jeder einzelnen Begleitung und jeder noch so unscheinbaren Wendung das Augenzwinkern Mozarts herauszukitzeln. Der unberechenbare, übermütige Mozart, wie wir ihn aus den Briefen kennen, wird hier lebendig. Er wird nicht zu einem Monument des Schönklangs „versteinert“.

OF: Eine Aufnahme nach zwei Jahren zu wiederholen, das ist ein wagemutiger Schritt. Was gab den Ausschlag für diese Entscheidung?

SB: Für mich war klar, dass ich keine Kompromisse in der Qualität meiner Arbeit machen werde; ich muss da meinen eigenen Ansprüchen treu bleiben. Das alles noch einmal auf die Beine zu stellen, war für mich eine ungemein kraftvolle Erfahrung. Es hat mich tief berührt, wie sehr meine Entscheidung und meine Klarheit diesbezüglich von meinem Umfeld, den Musikern und einem sehr breiten Gönnerkreis sofort verstanden und unterstütz wurden. 

OF: Wie unterscheiden sich die Aufnahmen von 2018 mit denen von 2020? Inwieweit haben Sie sich selbst in dieser Zeit weiterentwickelt?

SB: 2018 war ich – wie ich im Nachhinein feststellte – geigerisch nicht genügend vorbereitet. Entsprechend klang die Aufnahme zwar korrekt, aber nicht ausreichend durchdrungen und dadurch gezwungenermaßen angepasst. Ich wusste von meinen guten Erfahrungen mit Schubert, dass mir Mozart eines Tages liegen würde, habe die Stücke damals allerdings noch nicht zu Ende gearbeitet. Im Lockdown 2020 nahm ich das dann mit einer Vehemenz in Angriff, die mich sehr stolz macht. Natürlich ist man als Künstler niemals ganz zufrieden und denkt immer, man könnte es noch besser machen. Aber hinter dem jetzigen Resultat kann ich wirklich stehen: Da ist jeder Takt mit Liebe gespielt. 

OF: Auf welche Weise ließ sich solch ein Unterfangen überhaupt realisieren?

SB: Ich habe die Idee in Windeseile unter meinem Konzertpublikum verbreitet und innerhalb weniger Tage ca. 20’000 CHF sammeln können. Es war einfach genau der richtige Zeitpunkt. Wir hatten auch Glück, die gleichen Musiker am gleichen Aufnahmeort versammeln zu können. Das war Wahnsinn! 

OF: Sie sprechen vom „richtigen Zeitpunkt“: Wie beeinflussen die Lockdowns denn das Spielen wie auch das Hören?

SB: Ich spiele zurzeit viel lieber, weil ich weniger spiele. Auch in Zukunft will ich mehr auswählen, was ich spielen möchte: Die Qualität ist das einzige Kriterium. Wie sich das Publikum nach der Pandemie entwickeln wird, das weiß ich noch nicht. Ich bleibe aber Optimist!

OF: Was denken Sie: Wie könnte das Konzertieren nach der Pandemie weitergehen?

SB: Ich glaube, Vieles wird sehr schnell wieder sein wie vorher. Die, die gerne klagen, werden weiterklagen; dafür werden aber auch die, die immer einfach versuchen, die Dinge in die Hand zu nehmen und Lösungen zu finden, es ebenso weiter tun. 

[Das Interview führte Oliver Fraenzke]

Die Musik schleicht sich durch die Hintertür ein…

Das Kammerorchester Basel bringt den Struwwelpetter ins Klassenzimmer. Ein Gespräch mit Marcel Falk, dem Geschäftsführer und Initiator dieses Projekts

Ein Quartett des Kammerorchester Basel singt und spielt den Struwwelpeter – und zwar bevorzugt in Klassenzimmern. Aus diesen Erfahrungen entstand eine CD-Produktion, die jetzt auf dem Solo-Musica-Label vorliegt (Rezension siehe: hier). Sie steht für ein engagiertes Konzept, aus dem Elfenbeinturm des ritualisierten Konzertbetriebes hinaus zu treten. Die schräge Truppe kann gebucht werden, um in Schulen jedes Klassenzimmer aufzumischen. Lautstarke Einmischung seitens der Kids ist dabei ausdrücklich erwünscht! Die Nachfrage nach solch origineller wie musikalisch hochkarätiger Auflockerung des Schulunterrichts ist immens – fast 100x schon haben die kreativen Schweizer ihr Projekt aufgeführt. Stefan Pieper sprach mit Marcel Falk, der als Geschäftsführer hinter den „Schulklassenkonzerten“ des Kammerorchester Basel steht – und die dahinter liegende Philosophie erläuterte.

Welche Intention steht hinter der Produktion des Struwwelpeter?

Wir wollen die Kids und Jugendlichen zu Betroffenen machen, wollen sie aktiv beteiligen und suchen umso mehr den partizipativen Ansatz. Das klassische Kinderkonzert ist nicht unsere Sache, es geht um mehr, als 60 oder 80 Minuten Frontalkonzert zu machen.

Auf der CD mischen sich ja auch Kinderstimmen ein. Sie stellen Fragen und kommentieren. Also gibt es auch hier eine Überwindung der Frontalsituation?

Ja, wir sind der Meinung, die eigene Peergroup ist viel authentischer als unsere Musiker dies sein könnten.

Was kann ein solches Stück, was eine normale Aufführung nicht kann?

Ein Klassenzimmerkonzert ist keine Einbahnstraße, sondern ein lebendiges Geben und Nehmen. Wir können dadurch Vorbehalte gegenüber klassischer Musik abbauen, gar anregen, sich damit auseinander zu setzen. Eine solche Aufführung ist auch ein Erfahrungsgewinn für die Musiker. Allein, weil es um die Musik herum zu spannenden Diskussionen kommt. Durch diese neue Situation können alle Beteiligten mittendrin in der Musik sein, ohne auf die bekannten Konzertrituale Rücksicht nehmen zu müssen. Daraus erwächst eine ganz neue Botschaft: Ihr müsst nicht in den exklusiven Kulturtempel kommen, sondern wir kommen in euren Alltag – eben dahin, wo ihr euch wohlfühlt. Uns liegt die Musik am Herzen und es geht darum, die nachwachsende Generation für Musik zu begeistern. Das ist unser übergeordnetes Ziel. Das schaffen wir am ehesten über eine emotionale Erfahrung am eigenen Körper. Ich muss irgendwie partizipativ beteiligt sein an einem solchen Prozess. Gerade im Klassenzimmer sitzt etwa der Cellist nur einen Meter vor der Schülern und spielt, zumindest, wenn sich das nicht gerade wegen der Corona-Pandemie verbietet. Solch eine unmittelbare physische Erfahrung ist wichtig für das Erleben von Musik.

Die Geschichten von Struwwelpeter, Suppenkaspar, Zappelphilipp und Co. sind heute ein reichlich schräges Buch. Es werden Schauergeschichten ausgebreitet – eben was passiert, wenn Kinder sich nicht konform verhalten. So völlig unreflektiert kann man diese Botschaften heute nicht mehr wahrnehmen. Die Kinder hinterfragen ja auch aktiv auf der Aufnahme. Ist die humorvolle Brechung, die hier durch die Musik verstärkt wird, Teil dieses Konzepts?

Unbedingt! Die Musik geht ja einen Schritt weiter als der historische Text und bringt diesen auf eine ganz neue Flughöhe. Da schwingt viel Ironisierung auf tragikomischer Ebene mit. Dadurch verstärken sich noch die Fragezeichen, die schon in der ursprünglichen Botschaft vorhanden sind. Also knickt der erhobene Zeigefinger immer weiter ein.

Nicht alltäglich für eine Schulaufführung ist die musikalische Qualität. Die CD-Aufnahme dokumentiert – natürlich! – den hohen Standard von hervorragenden Profis, die in neuen Arrangements, Meisterwerke musizieren. Ist den Kindern dieser musikalische Qualitätsstandard bewusst?

Ich denke, er wird zu einem großen Teil unbewusst wahrgenommen. Die wenigsten Schüler haben sich bislang allgemein mit klassischer Musik oder gar mit einem Streichquartett auseinandergesetzt. Was unsere Quartettbesetzung im Klassenzimmer spielt, ist musikalisch von sehr hoher Qualität, das fühlen die Kinder und sind oft überwältigt, ohne es in Worte fassen zu können. Das ist dann oft der Punkt, an dem weiteres Interesse an unsere Arbeit entsteht und junge Menschen noch näher an unseren Produktionsbetrieb heranbringt.

Wie muss man sich das konkret vorstellen?

Beim Struwwelpeter sind die Kinder als aktive Teilnehmende in die Inszenierung eingeschlossen und schlüpfen in eine Rolle, in der sich viele Fragen ergeben. Dadurch treten sie in einen Dialog mit unseren Musikern, manchmal entsteht eine persönliche Beziehung, aus der Gegenbesuche im Konzert oder in unseren Proben resultieren können. Wir greifen hier mittlerweile auf viele Erfahrungen zurück. Sehr intensiv sind unsere Generationenprojekte, in denen wir mit Schulklassen über 5–6 Monate an gesellschaftlichen Themen arbeiten. Die Idee ist immer die Gleiche: dass sich so quasi durch die Hintertür die Musik neu erschließt. Wenn man Schülern Verantwortung gibt, kann unglaublich viel entstehen.

Sehen Sie diese Konzerte auch als eine Form von „audience developement“?

Wir sehen bei diesen Projekten einen starken gesellschaftlichen Input. Wenn man viel in Klassenzimmern spielt, wird dies unmittelbar von der Schule hinaus an den Mittagstisch getragen. Das ist für uns als Orchester sehr wichtig.

Herr Falk, ich bedanke mich für dieses interessante Gespräch!

[Das Interview führte Stefan Pieper]

„Darmsaiten offenbaren einfach mehr Farbe…“

… ein Gespräch mit der spanischen Geigerin Lina Tur Bonet

Lina Tur Bonet ist nicht nur eine gefeierte Barockgeigerin, sondern bringt allen Stilepochen dieselbe Neugier entgegen. Immer geht es darum, den Klang der Zeit zu verstehen und sich diesen mit den spezifischen Instrumenten zu eigen zu machen. Mittlerweile liegen circa ein Dutzend Soloaufnahmen von ihr vor – ebenso zeugen sieben Produktionen mit ihrer Gruppe MUSIca ALcheMIca von einer hohen Produktivität als Ensembleleiterin. Jetzt hat sie sich zusammen mit der Pianistin Aurelia Visovan ans Thema “Beethoven” heran begeben. Auf dem Programm der neuen CD steht zum einen dessen Sonate Nr. 9 A-Dur, opus 47 “Kreutzer-Sonate”, die ja eigentlich ganz anders heißen sollte, wenn es um den wahren Widmungsträger dieser virtuosen Komposition geht. Das andere große Werk dieser Aufnahme markiert das Gegenteil davon: Beethovens letzte Violinsonate Nr. 10 G-Dur, opus 96 “The Cockcrow” ist ein Spätwerk in Reinkultur. Nach einer vielbeschäftigten Zeit mit zahlreichen Konzerten fand Lina Tur Bonet Zeit für ein ausgiebiges Gespräch.

Sie genießen vor allem als Barockmusikerin einen herausragenden Ruf. Wie fügt sich jetzt eine Beethoven-Aufnahme in dieses Bild?

Ich bin sehr breit aufgestellt. Ich habe schon viel Romantik und modernes Repertoire gemacht, unter anderem auch eine Bartók-CD. Ich spiele sowohl auf historischen Instrumenten wie auf einer modernen Geige.

Ihr Schwergewicht bildet aber dennoch das Spiel auf historischen Instrumenten?

Auf jeden Fall. Ich habe sogar Bartók auf Darmsaiten gespielt, denn das war üblich zu seiner Zeit. Noch wichtiger ist die Auswahl eines Bogens, wie er zur Entstehungszeit einer Komposition üblich war. Gerade bei der Bartók-Aufnahme habe ich verschiedene Varianten ausprobiert. Die Wahl fiel schließlich auf eine Kombination aus drei Darmsaiten plus der höchsten E-Saite aus Stahl. Das war in Europa zu dieser Zeit verbreitet. Ich will gar nicht bewusst „historisch“ agieren, sondern habe einfach festgestellt, dass dies perfekt für die Musik ist.

Was können Darmsaiten mehr?

Darmsaiten sind nicht so stark im Klang, aber haben dafür viel mehr Obertöne. Wie diese sich mischen, das offenbart mehr Farbe und eröffnet viele neue Möglichkeiten. Es treten mehr Konsonanten im Spiel hervor, gerade weil der Klang nicht so „rund“ ist wie mit Stahlsaiten. Letztere etablierten sich, weil die Säle größer geworden sind. Darmsaiten haben mehr Farbe. Vorausgesetzt, man ist in der Lage, mit Flageolett und Portamenti zu experimentieren.

Erschließen sich dadurch neue Aspekte der Komposition?

Auf jeden Fall. Ich kann vieles, was der Komponist sagen wollte, besser verstehen.

Wie verbessern diese Saiten das Verstehen?

Das Spiel auf Darmsaiten fördert das Verständnis für die Aufführungspraxis ungemein. Die Affekte, die der Komponist wollte, kommen besser durch. Und zwar nicht nur die Farben, sondern auch die Sprache. Gerade, weil Darmsaiten viel besser die Konsonanten einer musikalischen Sprache entfalten – fast so, wie in der Vokalmusik. Nikolaus Harnoncourt spricht hier von Klangrede.

Was bedeutet Ihnen Rhetorik in der Musik?

Ich spüre in der Musik, ob die Sprache eines Komponisten deutsch, italienisch oder französisch ist. Solche feinen Unterschiede nachzuempfinden funktioniert auf Darmsaiten ungleich besser. Auch wenn der Original-Klang oft roher anmutet als auf Stahlsaiten. Dafür wirken plötzliche Forte-Ausbrüche viel unmittelbarer. Um dies herauszustellen, gerade bei Beethoven, kam auf der neuen Aufnahme auch ein Bogen aus der Zeit Beethovens zum Einsatz. Das hat mir geholfen, die Striche, wie sie bei Beethoven üblich waren, besser zu verstehen.

Was macht einen historischen Bogen aus?

Die Geige hat sich über die Jahrhunderte nicht so sehr verändert, aber der Bogen umso mehr. Beim historischen, heute üblichen Bogen geht die Kurve nach oben, sie ist also konvex. In der Klassik seit 1750 hat sich der Bogen dann verändert, die Form wechselte zu konkav. Das ermöglicht mehr Druck auf der Spitze, dadurch wurde alles gleichmäßiger im Sinne von Egalität. Ein Bogen aus der zeitgenössischen Praxis offenbart einfach mehr Kraft und Artikulation. So etwas erzeugt ein starkes Aha-Gefühl.

Barockmusik hat viele Freiräume, die Sie ja bekanntermaßen gerne auch improvisatorisch ausschöpfen. Beethoven jedoch setzt viele Vortragsbezeichnungen und überlässt anscheinend so wenig wie möglich dem Zufall. Empfinden Sie hier einen Widerspruch?

Nicht unbedingt. Zwar hat Beethoven immer sehr genau geschrieben, was er wollte. Gleichzeitig ist Freiheit seine Sache und wir wissen, dass er gerne improvisiert hat. Er war ja auch froh, dass Bridgetower in den Kadenzen der A-Dur-Sonate drauflos improvisiert hat.

Wie setzen Sie sich mit dem Komponisten als Menschen in seiner Welt auseinander?

Ich will die Partitur möglichst gut kennen und lese sehr viel über den Kontext eines Werkes. Ebenso recherchiere ich, wie damals gespielt wurde. Ich habe auch die zeitgenössischen Fingersätze erforscht. Wie war das Leben eines Komponisten? Beethoven war ein Revolutionär, der wusste, dass er etwas großes für die Musik macht. Und es blieb diese reiche, innere Welt, als er selbst nicht mehr hören konnte. Das alles inspiriert mich sehr.

Warum haben Sie gerade diese beiden Sonaten miteinander kombiniert?

Das Cover der CD ist schwarz und weiß, das soll die zwei unterschiedlichen Seiten von Beethoven illustrieren. Diese Sonaten widerspiegeln zwei Welten. Wir waren uns zunächst nicht sicher über die Kombination. Wir wollten auf jeden Fall die Kreutzer-Sonate aufnehmen und haben dann an alle möglichen Kombinationen gedacht. Die zehnte Sonate war die einzige, die wesentlich später komponiert wurde. Sie spiegelt also einen anderen Moment aus Beethovens Leben wieder. Sie atmet eine viel tiefere innere Ruhe. Beethoven war zu dem Zeitpunkt schon taub. Die daraus resultierende Ausschließlichkeit seiner innerlichen Gefühle fasziniert. Überhaupt werden so viele Stücke Beethovens immer ein Rätsel bleiben. Man denke hier auch an die späten Quartette – diese pure, reine, innerliche Musik.

Nach welchen Ausgaben erarbeiten Sie die Musik? Sind die Phrasierungen schon festgelegt?

Wir haben immer nach originalen Partituren gearbeitet. Es handelt sich um Noten von Geigern aus dieser Zeit – es geht aber nicht darum, diese zu kopieren, sondern stattdessen, sich zu etwas neuem inspirieren zu lassen und sich hier neue Freiheiten zu nehmen.

Sie begeben sich forschend in die Entstehungszeit einer Komposition hinein, zugleich sind Sie eine Musikerin aus dem Heute, die für ihr Publikum mit Leidenschaft und Temperament spielt. Wie geht das zusammen?

Wir spielen heute die Musik im Jahr 2021 und lassen Dinge aus unserer Zeit leben. Das schließt viel Respekt und eine große Neugier vor den Komponisten nicht aus. Dieses ganze Studium, dass wir für eine Aufnahme auf uns nehmen, gibt mir sehr viel und ich habe das Gefühl, dass dass Publikum dies auch schätzt und hören kann.

Das rockt ja manchmal richtig, wie Sie spielen. Was passiert emotional in einem Konzert?

In einem Konzert ist nicht zu hören, wie viel Arbeit da wirklich drin steckt. Ich versuche immer, ganz viel zu geben, denn ich glaube, dass die Musiker damals auch ganz viel gegeben haben. Es lässt sich wohl sagen, Vivaldi war ein echter Rockmusiker. Es gab noch keine Rockmusik, aber es gab dieselben Gefühle wie heute.

Wollen Sie Vorurteile revidieren, etwa in Bezug auf Alte oder auch klassische Musik? Konzerte von Ihnen suggerieren ja das Gegenteil von bildungsbürgerlicher Erstarrung.

Für Beethoven gilt so etwas auch. Die Uraufführung der Kreutzersonate muss extrem wild gewesen sein. Es wurde spontan fast vom Blatt gespielt. Ich lasse mich für mein Tun gern auch von heutiger Musik inspirieren. Dann stelle ich mir vor, was Beethoven und Vivaldi damals schaffen wollten. Ich glaube, die wollten alles andere als ein steifes Setting. Solche Gedanken inspirieren mich und ich lege Wert auf Kollegen, die diese Lust teilen. Aber im Konzert oder auf einer Aufnahme loslassen zu können, braucht eine gründliche Vorarbeit.

Wie sind Sie auf Ihre Partnerin Aurelia Visovan gekommen?

Wir haben uns vor ca. 1,5 Jahren in Wien kennengelernt, haben uns dann getroffen und ein paar Sonaten gespielt. Wir konnten uns dann schnell auf viele Dinge einigen, zum Beispiel auch auf die bevorzugte Notentext-Grundlage. Hier fiel die Wahl auf die neue Ausgabe. Wir haben Konzerte gemacht und es wurde klar, dass wir eine Platte machen wollen. Es blieb spannend von der ersten Probe bis zur Aufnahme.

Wie kam es zu diesem Titel? War ursprünglich „Sonata Mulattica“ anstelle von „Sonata Lunatica“ geplant? Was hat es damit auf sich?

Es sollte erst „Mulattica“ heißen. Beethoven hat alles sehr schnell herunter geschrieben und eine Widmung mit folgendem Wortlaut hinterlassen: „Sonata mulattica Composta per il Mulatto Brischdauer, gran pazzo e compositore mulattico“. Dieses Wortspiel bezog sich auf den Widmungsträger, den Afroeuropäer (bzw. „Mulatten“) George Bridgetower, den Beethoven hier als „Musikverrückten“ (= Lunatico) tituliert. Dann gab es Streit mit Bridgetower und er hat es ausradiert und die Sonate dem Geiger Rodolphe Kreutzer gewidmet. Kreutzer – übrigens der bekannteste Geiger seiner Zeit – hat die Sonate nie gespielt, weil er sie für zu schwierig hielt. Bridgetower war den Rest seines Lebens darüber beleidigt, da die Sonate ja eigentlich „seine“ Sonate war.

Das Video zu Ihrer vorigen Aufnahme „La Belezza“ zeugt nicht minder von Ihrer unstillbaren Neugier auf den historischen Kontext.

Mich interessiert, wie sich Menschen benommen haben und wie sie gelebt haben. Es gibt sehr viele Schlüssel, um dadurch die Musik zu verstehen. Auf „La Belezza“ geht es um einen breiteren Kontext, um die ganze Vielfalt in der Musik des 17. Jahrhunderts. Die Titel habe ich alle ausgewählt. Es sind wunderbare Stücke. Diese Epoche war eine schwierige Zeit mit vielen Problemen, es gab Epidemien, Hunger, Wetterkatastrophen, Korruption. Und trotzdem hat sich so viel wunderbare Musik ausgebreitet. Es zeigt, dass gerade in schlimmsten Zeiten die Menschen das beste von sich geben. Menschen haben immer neue Wege gesucht, sich auszudrücken. Hinzu kommt der interessante Umstand, dass die CD am 20. März 2020 herausgekommen ist. Das war in dem Moment, als es mit der Covid-Epidemie gerade losging. Es war ein sehr großer Zufall, dass gerade dann diese CD heraus kam.

Sie haben diese Aufnahme mit Ihrem festen Ensemble MUSIca ALcheMIca aufgenommen. Wie haben Sie diese Aufnahme erlebt?

Es war sehr schön, das aufzunehmen und viel improvisieren zu können. Es war wie eine dreitägige Jazz-Jamsession. Wir haben gar nicht mehr gesprochen, sondern nur noch gespielt. Es war wie eine Reise durch viele Länder und es war immer aufs Neue faszinierend, zu sehen, wie die Musik ist. Ich liebe diese Musik und ich glaube, das ist auch zu hören.

[Das Interview führte Stefan Pieper]

CD
Beethoven: Sonata Lunatica
Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Sonate Nr. 9 A-Dur, opus 47 “Kreutzer-Sonate”
Sonate Nr. 10 G-Dur, opus 96 “The Cockcrow”

Lina Tur Bonet: Violine
Aurelia Visovan: Klavier

„Fazil versteht viel von Geigentechnik“

Ein Interview mit dem Geiger Friedemann Eichhorn anlässlich seiner Einspielung sämtlicher Violinwerke von Fazil Say.

Naxos 8.574085 ; EAN: 747313408573

Ein bekannter Pianist als Komponist – kann der das auch für andere Instrumente? So oder ähnlich fragen es sich womöglich viele Musikfans, wenn Sie auf das neue Album „Fazil Say – Complete Violin Works“ stoßen. Initiator des Albums war der Violinvirtuose Friedemann Eichhorn. Im Interview mit the-new-listener.de verrät er seine Motivation hinter dem neuen Projekt und spricht auch über seine Sicht auf CD-Einspielungen im Allgemeinen. Außerdem erfahren wir Spannendes über die Pläne des in Weimar und an der renommierten Kronberg Academy lehrenden Ausnahmegeigers, der höchst erfolgreich eine internationale Laufbahn als Konzertsolist und Kammermusiker mit einer grundsoliden Pädagogenkarriere verknüpft.

The-new-listener.de: Herr Eichhorn, „Musik für Violine“ von Fazil Say – das klingt für manche Hörer vielleicht erst einmal überraschend, weil Fazil Say in Deutschland vor allem als Pianist und Interpret bekannt ist. Sie selbst sprechen von Says Kompositionen sehr anerkennend und zählen sie mit zur bisher besten Musik für Violine im 21. Jahrhundert. Was ist für Sie das Besondere an seiner Musik, was reizt Sie daran so sehr?

Friedemann Eichhorn: Fazil Say hat einen sehr persönlichen Kompositionsstil, unverwechselbar. Seine Stücke erzählen Geschichten. Er ist ein großer Erfinder von Klängen und Klangfarben, die Sie so in anderer Musik nicht finden. Und die rhythmische Prägnanz ist phänomenal. Sie können Kompositionselemente entdecken, die ich als „westlich“ und „östlich“ bezeichnen möchte. Es gibt beispielsweise Folklore- und Jazz-Elemente, freitonal oder mit tonalen Zentren. Das macht seine Musik so spannend und zu einem Erlebnis beim Spielen! Der Ausdruck in seiner Musik wirkt unmittelbar, die Emotionen werden sehr direkt und klar transportiert. Und ich merke immer an der Publikumsreaktion: auch Publikum, das selten Musik von lebenden Komponisten hört, reagiert frenetisch! Dabei ist seine Musik technisch mitunter sehr anspruchsvoll, aber es liegt alles hervorragend in den Händen. Fazil versteht viel von Geigentechnik.

The-new-listener.de: Says Kompositionen haben häufig programmatische Titel. Haben Sie mit dem Komponisten über die Programmatik der Musik gesprochen oder spricht Say ungern über konkrete Inhalte und überlässt das weitgehend der Imagination des Interpreten?

Friedemann Eichhorn: Er hat während der Proben sehr genau darüber gesprochen. Gerade beim Violinkonzert „1001 Nacht im Harem“ und der neuen Violinsonate hat mir Fazil Say auch Gedanken erläutert, die „zwischen den Zeilen“ stehen. Im Violinkonzert sind viele lautmalerische Stellen, die Worte darstellen. Das Stück folgt quasi einer „Storyline“ mit verschiedenen Personen.

The-new-listener.de: Besonders eindringlich wird der Bezug zwischen Musik und programmatischer Anlage bei der neu komponierten zweiten Violinsonate mit dem Untertitel „Mount Ida“, die die Naturzerstörung im Zuge des Baus einer gigantischen Goldmine im türkischen Ida-Gebirge zum Inhalt hat. Können Sie uns die immanente Programmatik kurz erläutern?

Friedemann Eichhorn: Ganze Waldungen sind im Ida-Gebirge aufgrund der Goldmine abgeholzt worden. Fazil Say bringt seinen Protest darüber in diesem Werk klanglich zum Ausdruck. Gleich zu Beginn hören Sie gehämmerte Schläge im tiefen, präparierten Register des Klaviers. Das ist bedrohlich, hier sind gleichsam zerstörende Maschinen am Werk! Die Geige hebt an zu einem fast verzweifelten, resignativen, choralartigem Thema… So beginnt dieses sehr eindrucksvolle Werk. Aber es gibt auch Klänge und Räume der Hoffnung.

The-new-listener.de: Im zweiten Satz, der „wounded bird“ betitelt ist, stellt die Violine akustisch unter anderem Laute eines„verwundeten Vogels“ nach. Ich habe mich gefragt, wie das notiert ist. Kann man das mit klassischer Notation überhaupt darstellen? Oder anders gefragt: Wie viel Improvisation des Solisten ist hier gefragt?

Friedemann Eichhorn: Das ist tatsächlich komplett improvisiert. Im Notentext steht: “improvisation any bird sound”. Insofern ist diese Aufnahme tatsächlich eine echte Uraufführung, das Einfangen eines besonderen Moments in besonderer Stimmung.

The-new-listener.de: Für die Violinsonaten hatten Sie die Gelegenheit, die Musik mit dem Komponisten Fazil Say zusammen einzuspielen. Geht man anders an die Erarbeitung einer Partitur, wenn man ständig im Hinterkopf hat: „Ich kann ja im Zweifel den Komponisten selbst fragen“?

Friedemann Eichhorn: Ihre Frage beschreibt genau das, weshalb mich Neue Musik prinzipiell und die Erarbeitung mit einem Komponisten so fasziniert. Ich habe schon immer gern musikwissenschaftlich recherchiert. Bei lebenden Komponisten ist die optimale Quelle so nah und so direkt! Vor allem mit Fazil Say ist das fantastisch, weil er seine Ideen sehr anschaulich teilt.

The-new-listener.de: War Say eigentlich auch bei der Einspielung des Violinkonzerts anwesend, die Sie zusammen mit der Deutschen Radio Philharmonie unter Christoph Eschenbach aufgenommen haben?

Friedemann Eichhorn: Nein, aber ich hatte die Gelegenheit das Violinkonzert mit Fazil Say für die Aufnahme erneut einzustudieren. Er hat dabei den Orchesterpart am Klavier dargestellt. Vor der Aufnahme hatte ich das Konzert mehrfach aufgeführt.

The-new-listener.de: Bevor Sie dieses Album aufgenommen haben, hatten Sie sich mehrere Jahre lang um die Wiederentdeckung der Musik von Komponistinnen und Komponisten wie Johanna Senfter, Pierre Rode, Frédéric Kummer und François Schubert gekümmert, also im Prinzip um Repertoire der Romantik und im Fall Senfter der Spätromantik. Nun also der Sprung ins 20. und 21. Jahrhundert, zu Say in die Gegenwart – wie kam es dazu?

Friedemann Eichhorn: Da mich das Violinkonzert von Fazil Say so fasziniert hat – es war das erste Geigenwerk von ihm, das ich spielte – wollte ich auch seine Kammermusik kennenlernen. So nahm ich mir die Violinsonate und „Cleopatra“ vor. Weil ich auch davon begeistert war, kam ich auf die Idee, die erste Gesamteinspielung seiner Violinwerke in Angriff zu nehmen. Meine Plattenfirma Naxos war von dem Vorhaben gleich überzeugt. Und das gipfelte dann in Fazil Says Idee, zu diesem Anlass eine neue Violinsonate für mich zu schreiben.

The-new-listener.de: Wird dieses Album mit Musik aus dem „Hier und Jetzt“ eine „One Shot“-Aktion oder möchten Sie sich in Zukunft bewusst etwas stärker mit der musikalischen Gegenwart beschäftigen?

Friedemann Eichhorn: In meiner Konzerttätigkeit habe ich mich immer schon intensiv mit der musikalischen Gegenwart befasst, vor allem in der Kammermusik. Hinsichtlich Aufnahmen ist es tatsächlich so, dass fast alle meine bisherigen etwa 30 CDs stilistisch von Barock bis Spätromantik reichen. Das ändert sich schon bald, denn als ein nächstes Großprojekt sind auf mehreren CDs sämtliche Werke für Violine und Orchester von Alfred Schnittke geplant, den ich trotz seines zu frühen Todes zur musikalischen Gegenwart zähle.

The-new-listener.de: Sie sind als Professor an der Musikhochschule Franz Liszt in Weimar beschäftigt und engagieren sich zudem intensiv bei der renommierten Kronberg Academy als Direktor der Kronberg Academy-Studiengänge und des Festivals. Wie lässt sich das mit ihrer ebenfalls sehr aktiven Solistenkarriere und Ihrer Arbeit im Trio mit Florian Uhlig und Peter Hörr verbinden?

Friedemann Eichhorn: Einerseits trenne ich die Tätigkeiten sehr strikt voneinander, andererseits befeuern sie sich hinsichtlich der gesammelten Erfahrungen und des Immer-Weiter-Lernens gegenseitig. Letztlich geht es immer um eins: um die Musik, das Thema, das ich – abgesehen von zwischenmenschlichen Beziehungen – am meisten liebe. Aber man muss natürlich gut organisiert sein, um die Bereiche verbinden zu können.

The-new-listener.de: Es gibt ja eine ganze Menge Pädagogen, die vor allem unterrichten, selbst aber nur wenig konzertieren oder wenig eigene Einspielungen vorlegen. Ihnen scheint es aber wichtig zu sein, die Konzertpraxis nicht aus den Augen zu verlieren. Liefert Ihnen das konkrete Impulse für die Ausbildung junger Musiker?

Friedemann Eichhorn: In meinem künstlerischen Leben hat das Selber-Musikmachen einen sehr hohen Stellenwert. Ich empfinde es auch nie als Arbeit, vielmehr fühle ich mich dabei wie in Freizeit. Dazu gehört auch das Reisen und insbesondere das Musizieren mit Freunden. Ich lerne von ihnen und vom Selbst-Spielen enorm viel und das findet direkten Niederschlag in meiner pädagogischen Tätigkeit. Aber es gibt genug erstklassige Beispiele von „reinen“ Pädagogen, das ist eine Typfrage.

The-new-listener.de: Sie sind ein Künstler, der schon mit einer ganzen Reihe von Labels zusammengearbeitet und eine inzwischen sehr umfangreiche Diskografie aufgebaut hat. Was bedeutet Ihnen die Arbeit an einem CD-Album?

Friedemann Eichhorn: Eine CD ist ein kleines Zeitdokument für mich. Ähnlich wie ein Wissenschaftler oder Schriftsteller sich freut, sein gedrucktes Buch in den Händen zu halten, so ist es für mich jedes Mal ein schönes Erlebnis, ein musikalisches Projekt durch die Einspielung abzurunden. Und ich persönlich mag auch viel lieber die CDs mit Booklet, Texten und schönem Layout als reine Online-Produktionen. Dieses haptische Element finde ich wichtig. Obwohl ich so gut wie nie eine selbst eingespielte CD anhöre, ist es für mich ein Ansporn, eine bestimmte Interpretation als Momentaufnahme in einer bestimmten Zeit festzuhalten.

The-new-listener.de: In einer Zeit, in der klassische Tonträger auf der einen Seite immer stärker an Bedeutung verlieren, während auf der anderen Seite Musik durch youtube, spotify und andere Dienste inflationär verfügbar wird, wie ändert sich dadurch Ihrer Einschätzung nach der gesellschaftliche Blick auf Einspielungen? Ist die Bedeutung als „Tondokument“ den Menschen noch bewusst?

Friedemann Eichhorn: Der Einfluss der CD bzw. ihre Bedeutung für die Hörer sinkt ohne Zweifel, nicht aber für die Musiker, zumindest kann ich das für den klassischen Bereich wohl sagen. Die Streamingdienste führen natürlich zum schnellen Konsumieren, möglicherweise satzweise mit Playlists quer durch den Gemüsegarten. Da halte ich die Beschäftigung mit einer CD, die einen programmatischen Faden hat oder z.B. ein Komponistenportrait darstellt, für viel nachhaltiger. Von der Gesamtidee der Einspielung bekommt man so mehr mit.

The-new-listener.de: Abschließend: Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?

Friedemann Eichhorn: Ich freue mich auf zahlreiche Konzerte, immer wieder auch mit Werken von Fazil Say. Das Schnittke-Projekt habe ich angedeutet, und für 2022 steht die Uraufführung eines Violinkonzerts an. Mehr kann ich hierzu aber noch nicht verraten…

Das Interview führte René Brinkmann

„Romantisch bis auf die Knochen“

Der Komponist Călin Humă im Gespräch mit René Brinkmann

The New Listener: Herr Humă, Ihre Karriere als Komponist kann heutzutage als untypisch bezeichnet werden: Sie wurden in Iasi in Rumänien geboren, begannen dann aber Anfang der 1990er-Jahre in Großbritannien eine Karriere als Geschäftsmann. Heute sind Sie Honorarkonsul der Republik Rumänien im Vereinigten Königreich und traten erst vor etwa zwölf Jahren zum ersten Mal als Komponist in Erscheinung. Aber wann und wie sind Sie überhaupt zur Musik gekommen?

Călin Humă: Das klingt ein bisschen eklektisch, nicht wahr? Vielleicht sind es die Kollision zwischen materieller Beschäftigung und einer metaphysischen Welt, die Projektion meiner eigenen Philosophie und die Errichtung eines Reservoirs an Emotionen, woraus ich meine musikalische Stimme ziehe.

Meine Tochter, Ruxandra, wurde von klein auf als Pianistin ausgebildet. Während dieser ganzen Zeit kam ich der inspirierenden Welt der klassischen Musik näher. Als ich ihr während unzähliger Stunden von Proben zuhörte, entzündete sich in mir ein Feuer, das irgendwann einfach bereit war, auszubrechen. Obwohl ich in meiner Familie niemanden mit einer Vorgeschichte in Belangen der  Musik hatte, wuchs ich mit der Klassischen Musik auf, mit Chopin, Rachmaninoff, Tschaikowsky, Enescu, Sibelius – was sich als die Basis erwies, auf der ich dann anfing, mir selbst ein musikalisches Profil aufzubauen. Ich fing an, Klavier zu spielen, beschäftigte mich aber nie mit Interpretation, sondern war von Beginn an schöpferisch tätig. Es geschah einfach so, als ob mein Inneres bereit gewesen wäre, sein Potenzial durch Musik zu erforschen, statt durch andere Formen des mentalen Ausdrucks.

The New Listener: Wann haben Sie begonnen, Ihre eigenen Werke zu komponieren, und wie kam es dazu?

Călin Humă: Ich habe damals angefangen, kleine Melodien zu „artikulieren“, durch Emotionen bis zu einem Punkt getrieben, an dem ich mir meiner Genese bewusst wurde. Das war, als ob die Musik mich tief geprägt hätte, indem sie die Partikel meiner Existenz entmaterialisierte und sie zu einem sich entwickelnden, nach einem besseren Selbst strebenden Menschen umgestaltete.

Vergessen wir nicht, dass ich in einem kommunistischen Rumänien unter der Ceausescu-Diktatur aufwuchs, die ihren üblen Gestank sicherlich in das schmelzende Reservoir von Gedanken, Empfindungen und widersprüchlichen Ideen überschwemmte, die die ursprünglichen „Substanzen“ meines Heranwachsens waren. Es war ein eindeutiger Konflikt mit einem Teil von mir, der sich im Schatten des Klassizismus der Aufklärung ausbildete, der Literatur, Malerei, Theater, Musik oder anderer Formen künstlerischer Manifestation war. Zum Glück, und nicht nur das, setzte sich der Altruismus durch, und durch wenige Takte Musik fand ich heraus, dass ich in der Lage war, etwas auszudrücken, was ich nicht in tausend Worte fassen konnte. Und so fuhr ich fort…

The New Listener: Gab es auch eine Zeit, in der Sie bereits komponierten, aber Ihre Kompositionen nicht der Öffentlichkeit vorstellten, weil Sie wahrscheinlich nicht sicher waren, ob Ihre Musik akzeptiert werden würde? Wenn dies der Fall war: Was war der entscheidende Grund, schlussendlich mit Ihren Kompositionen an die Öffentlichkeit zu gehen?

Călin Humă: Das war gar nicht der Fall. Ich beziehe eigentlich immer eine kleine Zahl von Personen, meist Freunde, in die frühen Phasen aller meiner Kompositionen mit ein. Ihnen spiele ich während der Entwicklung meiner Stücke vor. Ihre Reaktionen sind unbezahlbar, denn ihre emotionale Reaktion gibt mir einen Hinweis darauf, ob ich mit dem Zuhörer kommunizieren kann. Für mich – und ich fürchte, einige werden das missbilligen – ist ‚Vox Populi‘ auch ‚Vox Dei‘.

Die „Unsicherheit“ in Bezug auf meine Musik ist eine Konstante in meinem Leben! Sie sehen, durch Musik kann man nicht lügen. Meine Musik ist ein offenes Buch tief in meiner Seele, sie enthüllt die am besten verborgenen Geheimnisse meines Seins, meiner Lebensphilosophie. Es ist jedoch durchaus hilfreich, nicht klassisch als Musiker ausgebildet zu sein, da ich die Ängste und Vorurteile dieses Berufsstandes nicht teile. Ich habe keine Angst vor der „Wahrheit“, und ich bin bereit, Kritik anzunehmen.

Als meine Tochter ihr Studium am National Welsh Conservatoire abschloss, schenkten sie und ihr damaliger Freund Christopher Petrie, der eine Dirigierausbildung absolvierte, mir ihre Zeit und ihr Ohr und halfen mir, meine Kompositionen zu etwas mehr Strukturiertem zu konsolidieren. Das war der Zeitpunkt, an dem ich von der Komposition für Klavier solo zum Orchester überging. 2013 ließ ich ein Stück für großes Orchester, „Miorita Ballade“, ein berühmtes rumänisches Gedicht, vom Philharmonischen Orchester Craiova in Rumänien aufführen.  Das Werk wurde sehr gut aufgenommen und seine freundliche Rezeption gab mir die „Flügel“, die ich brauchte, um meinen „Flug“ zu beginnen! Später gründeten Ruxandra und Chris das Philharmonic Chamber Orchestra of London, ein professionelles Orchester junger Berufsmusiker. Ich werde ihren ersten Auftritt in der Londoner Cadogan Hall mit dem Grieg-Klavierkonzert in der Interpretation von Tom Poster und Tschaikowkys Pathetique-Sinfonie Nr. 6 nie vergessen.

Durch sie inspiriert, habe ich mein Werk konsolidiert und 2015 meine Symphonie Nr. 1 „Carpatica“ herausgebracht. Die Londoner Premiere in der Cadogan Hall in London war ausverkauft. Und hier sind wir heute……..

The New Listener: Viele Kritiker haben die Musik auf Ihrem ersten Album – das „Symphony Concerto“ und die Erste Sinfonie – mit Rachmaninows Stil verglichen. Ist Rachmaninow eine Ihrer Inspirationsquellen? Welche anderen Inspirationsquellen haben Sie?

Călin Humă: Das ist er in der Tat! Und was für ein genialer Komponist er war! Aber er steht nicht allein. Auf meinem imaginären Weg der Musik gibt es andere erstaunliche Komponisten, die den „Weg zum Himmel“ flankieren, wie die Klassiker, die Romantiker, nicht so sehr die Minimalisten, Strukturalisten oder die eher dissonanten Komponisten. Ich habe jedoch großen Respekt vor jedem Künstler, der sich mit dem Schaffensprozess im Besonderen besonderen beschäftigt, und das meine ich im Allgemeinen für jede Art von Kunst. Der Eindruck anderer Komponisten auf mich ist ziemlich subjektiv; wenn ich noch einmal auf meine Bemerkung über das kommunistische Rumänien zurückkommen darf, dann war das Hören ihrer Werke wie der Zugang zu einer anderen Welt, nicht nur einer esoterischen, sondern einer sehr materiellen Welt jenseits der Berliner Mauer, da die Freiheit vor allem eine dringende Notwendigkeit war. In diesem Zusammenhang ist es leicht zu verstehen, warum sie mich jenseits des lyrischen Universums ihrer Musik so sehr beeindruckt haben und warum ich mich ihrem Zugriff nicht entziehen kann; nicht, dass ich das wollen würde. 

The New Listener: Wie können wir uns den kompositorischen Prozess in Ihrem Fall vorstellen? Komponieren Sie auf dem Klavier oder frei in Ihren Gedanken?

Călin Humă: Auf dem Klavier. Dieses großartige Instrument wirkt als Katalysator, dessen Tasten Töne singen, die an meinen Gedanken haften bleiben, und verwandelt sie in Wellen, die zu meiner musikalischen Stimme werden. Stellen Sie es sich wie Schneeflocken vor, die sich durch Wasser bilden und sich an Partikel anlagern, die in Wolken schweben. Das Klavier übersetzt einfach diese emotionalen Ausbrüche, Emotionen, die zwischen der materiellen und der metaphysischen Welt schweben, in Musik und trägt sie weiter in die Bausteine eines Stückes. Ich komponiere von der Basis aufwärts. Natürlich gibt es angesichts meiner begrenzten Fähigkeiten im Klavierspiel viele Momente, in denen ich innerhalb des kognitiven Denkprozesses eine Melodie entwickle.

The New Listener: Sie haben mehrere Jahre lang mit dem Dirigenten und Komponisten Christopher Petrie zusammengearbeitet. Wie haben Sie ihn kennen gelernt und was ist die besondere Verbindung in dieser kreativen Partnerschaft?

Călin Humă: Er war neun Jahre lang mit meiner Tochter zusammen, eine Zeit, in der wir uns sehr gut kennengelernt haben. Er hat sich mit Neugierde und Respekt in die rumänische Kultur vertieft. Wir hatten unzählige philosophische Diskussionen, wir haben uns in allen Aspekten des Lebens ausgetauscht. Er ist die Art Mensch, die einen bereichert, und man wird nach jeder Begegnung weiser und erfährt immer etwas Neues. Er ist irgendwie in der Lage, mich zu provozieren, damit ich mich zu einem besseren Komponisten entwickle. Er ist auch ein Bezugspunkt, wenn es um Struktur, Arrangement und Orchestrierung geht, da ich nur begrenzte Kenntnisse über die Funktionsweise von Instrumenten habe. Ich habe zwar das gesamte Orchesterwerk im Kopf, aber er wird mir sagen, was nicht möglich ist, und wir gehen gemeinsam jeden Takt der Musik durch.

The New Listener: In früheren Epochen gab es oft Komponisten, die in ihrem Hauptberuf etwas völlig anderes machten: Alexander Borodin war Chemiker im Hauptberuf, Goethes Lieblingskomponist Carl Friedrich Zelter war Architekt und Bauunternehmer, und man könnte die Reihe der bekannten Namen fortsetzen. Heute scheint es, dass man vor allem einen akademischen Abschluss braucht, um als Komponist akzeptiert zu werden. Warum ist das Ihrer Meinung nach so? Waren die Menschen in der Vergangenheit der Musik gegenüber vielleicht etwas aufgeschlossener?

Călin Humă: Es gibt nur wenige Möglichkeiten, Musik zu hören: mit dem Verstand, mit dem Herzen und in Bezug auf große Komponisten mit beidem. Wie immer spiegelt die Musik die breitere politische und soziale Konjunktur wider: wo sich eine Gesellschaft in Zeit und Raum befindet, ihre Ideologie und ihren populären oder akademischen Glauben. Nehmen Sie zum Beispiel die Wende zum 20. Jahrhundert, als Strauss mit seiner Oper „Salome“ frischen Schwung in die Sache brachte. Schönberg und seine Schüler kamen danach und veränderten die Musik für immer. Da ich die Welt der Musik lediglich umkreise, bin ich eher wie ein ferner Planet auf einer sehr lockeren elliptischen Umlaufbahn. Vieles in der heutigen Musik beschäftigt sich vor allem mit Struktur- und Klangforschung. Für viele Künstler ist Kunst nur etwas für den Künstler! Kunst ist „sich selbst genug“. Wie zu Beginn des Interviews gesagt, für mich „Vox Populi, Vox Dei“.

The New Listener: Ihre musikalische Sprache könnte man als neo-tonal oder sogar neo-romantisch bezeichnen. Haben Sie diesen Stil bewusst gewählt oder repräsentiert er einfach die Musik, die in Ihnen klingt?

Călin Humă: Die einfache Antwort lautet NEIN! Wie kann ich etwas komponieren, was ich nicht bin? Für mich sollte die Gewissensentscheidung am Ende des Kompositionsprozesses stehen, nachdem Sie Ihr Herz aus dem allerletzten Gramm Emotion herausgequetscht haben, das Sie danach zu einer verständlichen Botschaft strukturieren werden.

Für mich ist die Selbstverwirklichung das immerwährende Streben des Menschen, das wie eine lebendige Flamme brennt. Ihr Lodern beruht auf der Wahrheit des Wissens, auf dem Glauben oder der Metaphysik und, als Vollendung der eigenen Begrenztheit, auf der Kunst, wodurch den Geheimnissen der menschlichen Existenz ein unaussprechlicher Ausdruck verliehen wird. In ihrer inneren Ordnung neigt die Musik unersättlich zur harmonischen Resonanz der Erregung der Seele mit der „Musik der Sphären“, die Platon einmal erwähnt hat. Als kosmische Wesen projizieren wir unsere innere Psyche innerhalb der himmlischen Rhythmen, um der stellaren Grenzenlosigkeit zu begegnen. Vom Konzept her ist der Klang der Musik die Stimme des Absoluten, ist unaussprechlich. Durch ihre Variationen objektiviert sie innere Spannungen und verwandelt die neutrale Welt in ein vermenschlichtes Wesen. Musik ist also demiurgisch. Durch die Sublimierung des Klangs, der voller Bedeutungen und Erfahrungen ist, kann Musik die Absurdität der Frage „Warum existiert etwas und existiert etwas nicht?“ überwinden. Als kosmische Wesen definieren wir den Sinn der Welt, einer Welt, die sich ihrer selbst nicht bewusst ist und unseren Geist in die Unendlichkeit projiziert. Musik konzentriert die nie endende Sehnsucht, den unendlichen Raum zu umarmen und aufzuwerten, auf die Versöhnung des menschlichen Mikrohorizonts mit dem kosmologischen Megahorizont. Es ist die Musik, die den Flügel der Seele über die Grenzenlosigkeit ausbreitet: denjenigen außerhalb seiner selbst, um denjenigen im Inneren entziffern zu können. Aufgrund des Wunders der Musik als harmonischer Klang geht unsere Reise durch das Universum in einem Wimpernschlag vorüber. Die innere Zeit und die äußere Zeit verschmelzen im organischen Akt dieser reinigenden Erfahrung. Es scheint, als ob die sehr mikrophysische Realität ihre Unbestimmtheit in eine geordnete Sphäre von unendlicher Bedeutung verwandelt. Die Musik ist das unbeschreibliche TOR zwischen diesen Welten, dem Mikro- und Makrokosmos, durch das der Geist auf die Begegnung mit dem Absoluten zufliegt! Unser Zweck, unsere Mission, unsere Pflicht kommen in diesem Konzept zum Ausdruck. Der Mensch erreicht durch die Musik seine existenzielle Vollkommenheit; aber was für eine kämpferische und brennende Erfahrung! Was für ein kathartischer Schmerz!

The New Listener: Inzwischen ist auch Ihre Zweite Symphonie aufgeführt worden. Sie heißt „Hampshire“, während Ihre erste Sinfonie „Carpatia“ heißt. Haben Sie mit diesen beiden Werken den beiden „Welten“ Reverenz erwiesen, aus denen Sie kommen bzw. in denen Sie jetzt leben?

Călin Humă: Ja, das habe ich! Ich bin ein Bürger beider Welten, der einen durch Geburt und der anderen durch Adoption. Ich werde immer mit einem nostalgischen Duft meines Geburtsortes leben. Ich hoffe, dies wird ein wenig in meine Musik übergehen, da ich nicht das „Gewand“ der Ethnizität tragen möchte. Ich möchte, so sehr ich kann, den universellen Charakter des rumänischen lyrischen Universums offenbaren, damit die Welt die vielen Dinge, die uns in Harmonie vereinen, würdigen kann. Auch die zweite Sinfonie „Hampshire“ ist eine Hommage an die Region, die mich adoptiert hat, und an ihre Menschen. Ich hatte die Ehre, dass zu ihrer Premiere am 3. Mai 2019 in der Kathedrale von Winchester unter den Eingeladenen sowohl Vertreter der Region Hampshire als auch Ihrer Majestät der Königin anwesend waren. Die Symphonie wurde Hampshire in einer Zeremonie nach dem Konzert symbolisch geschenkt.  Hampshire ist eine wunderbare Gegend, in der Gegenwart und Vergangenheit in einer ununterbrochenen Pirouette, einem fruchtbaren Raum der Inspiration, umarmt werden.

The New Listener: Ihre erste Symphonie wurde vom BBC National Orchestra of Wales aufgenommen und auch auf BBC Radio 3 gespielt. Wie sind Sie zur Zusammenarbeit mit der BBC gekommen? Und wie kamen Sie zur Zusammenarbeit mit dem Royal Philharmonic Orchestra, das Ihre zweite Sinfonie uraufgeführt hat?

Călin Humă: Zum BBC National Orchestra of Wales kam ich durch Chris, der in Wales geboren wurde, und durch Andrew Keener, ebenfalls Waliser. Das Orchester mochte mein Projekt und schätzte es, auf einer weltweit vertriebenen CD dabei zu sein, und sie fragten mich, ob ich einverstanden wäre, das Werk auf BBC Radio 3 auszustrahlen, was ich natürlich war. Als mein erstes Aufnahmeprojekt war die Erfahrung überwältigend, und die Arbeit mit diesem Orchester wird für immer in meinem Geist bleiben.

Für die Uraufführung der zweiten Sinfonie verfolgte ich ein Projekt, das vom Rumänischen Kulturinstitut in London ins Leben gerufen wurde, wo der Geigenvirtuose Alexandru Tomescu am 1. Mai 2019 ein Konzert mit dem RPO in London gab. Es war logisch, den ersten Teil der Aufführung, das Violinkonzert Nr. 3 von Saint-Saëns, beizubehalten und mit der Hampshire-Sinfonie zu enden. Die Zusammenarbeit mit dem RPO war eine weitere Erfahrung, die meine Entwicklung als Komponist nachhaltig beeinflussen wird.

The New Listener: Ihr erstes Violinkonzert befindet sich gerade im Kompositionsprozess. Können Sie uns schon ein wenig darüber erzählen, was wir zu hören bekommen werden?

Călin Humă: Ich freue mich sehr, sagen zu können, dass ich bereits begonnen habe, mit Chris an der Orchestrierung zu arbeiten. Das Konzert wird drei Teile beinhalten. Der erste Teil gliedert sich in drei Selbstgespräche als Pfeiler für das gesamte Werk auf. Ich neige derzeit zu einer Orchestrierung für Streicher und Hörner, da ich glaube, dass wir mit dieser Struktur viel Farbe und Stimmen herausholen können, während wir das Stück für Orchester unterschiedlicher Größe zugänglich machen. Ich hoffe, ich werde meinen Zuhörern beweisen können, dass ich aus meinen Erfahrungen gelernt habe, deshalb wird das Konzert eine Weiterentwicklung meiner früheren Werke sein. Natürlich romantisch ‚bis auf die Knochen‘!

The New Listener: In der Corona-Krise ist es natürlich im Moment sehr schwierig, über zukünftige Pläne zu sprechen, aber gibt es vielleicht einige Termine oder Aufführungen, die sich anbahnen?

Călin Humă: Ich hoffe, dass Alexandru Tomescu das Violinkonzert annimmt und versuchen wird, es 2021 beim prestigeträchtigen Enescu-Festival in Bukarest aufführen zu lassen. Inzwischen schicke ich meine Musik an viele Orchester in der ganzen Welt und auch an einige in Rumänien, in der Hoffnung, dass es eine Chance für Aufführungen gibt. Ein Traum für mich wäre es, dass einige meiner Werke in meiner Geburtsstadt Iasi in Rumänien aufgeführt werden. Das Bild des „Jungen“, der nach Hause zurückkehrt, ist einfach zu verlockend!

The New Listener: Gibt es etwas, was Sie den Hörern Ihrer Musik in Deutschland sagen möchten?

Călin Humă: Was kann ich so bemerkenswerten Menschen wie den Hörern in Deutschland sagen? Ich fühle mich durch diese Gelegenheit gedemütigt und entschuldige mich bei ihnen, denn meine Musik wird nie so gut sein wie die der großen deutschen Komponisten, aber was ich tue, ist so aufrichtig, so aus meinem Herzen, dass es vielleicht Gnade verdient. Mein ganzes Leben ist in jeder einzelnen Note, die ich komponiere, enthalten, als ob es die letzte wäre! Ich danke Ihnen für diese Gelegenheit!

[René Brinkmann, Juli 2020]