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Warum wir Mozart zwei Mal aufnahmen

Interview mit Sebastian Bohren, Mai 2021 – geführt durch Oliver Fraenzke

Eine Aufnahme korrigierend zu wiederholen darf als gewagter Schritt bezeichnet werden: gerade in der heutigen Zeit, die charakterisiert wird einerseits durch eine Vielzahl an Möglichkeiten technischer Nachbearbeitung, andererseits durch eine Schnelllebigkeit und dadurch eine gewisse „Zweckmäßigkeit“ des Musikmarktes.

Der junge Schweizer Violinist Sebastian Bohren ließ sich davon nicht abhalten. Unzufrieden mit seiner Aufnahme der Violinkonzerte in G-Dur KV 216 und A-Dur KV 219 von Wolfgang Amadeus Mozart aus dem Jahr 2018, entschloss sich Bohren nach dem ersten Corona-Lockdown, die beiden Konzerte am selben Ort und mit den selben Mitstreitern erneut einzuspielen. So entstand im Juni 2020 gemeinsam mit den CHAARTS Chamber Artists unter Leitung von Gábor Takács-Nagy die nun erscheinende Neuaufnahme. Im Interview mit Oliver Fraenzke erzählt er von Mozart und dem steinigen Weg zu seiner neuesten CD.

OF: Nun gehören die Solokonzerte Mozarts ja zum viel gespielten und oft aufgenommenen Standardrepertoire, so dass bereits eine große Anzahl beachtlicher bis herausragender Aufnahmen existiert. Wieso haben Sie sich angesichts dessen entschieden, sie dennoch einzuspielen?

SB: Ja, tatsächlich. Ich glaube, ein junger Musiker muss sich zwar mit Raritäten, mit unbekanntem oder neuem Repertoire eingehend beschäftigen, darf sich aber auch nicht scheuen, die ganz großen Werke des Kanons früh und mit hohen Ambitionen anzugehen. Es geht letztlich bei jedem Repertoire um die Qualität und die Ernsthaftigkeit, die man als Interpret erreichen kann. Wie sehr schafft man es, der Musik gerecht zu werden?

OF: Allgemein gefragt, was macht Mozart so einzigartig?

SB: Mozart war die größte musikalische Begabung, die je gelebt hat. Das ist einzigartig. 

OF: Haben Sie gewisse Idole, was die Darbietung der Violinkonzerte betrifft? Und was hebt Ihre Anschauung dieser Stücke von jenen ab?

SB: Idole sind oft zu stark einschränkend, weshalb ich versuche, mich dahingehend zurückzuhalten und mich unbefangen der Musik zu nähern. Christian Tetzlaffs Spiel empfand ich im Konzert als passend zu Mozart. Ich versuche vor allem durch die Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk Mozarts einen Schlüssel zu seinen Violinkonzerten zu finden. 

OF: An Ihrer Seite befinden sich die CHAARTS Chamber Artists, ein Ensemble ausschließlich aus profilierten Streichquartettspielerinnen und -spielern. Wie wirkt sich dies auf den Gesamtklang aus?

SB: Durch ein intensiveres „Aufeinanderhören“. CHAARTS ist ein Ensemble mit sehr starken Persönlichkeiten, das schafft Profil und kommt der Musik zugute. Jeder für sich ist ein individueller Charakter mit besonderen Stärken, gleichzeitig durch das Quartettspiel fähig, den eigenen Klang in den Dienst des Ensembles zu stellen und mit diesem zu verschmelzen. Die fehlende Routine eines permanent spielenden Kammerorchesters könnte sich natürlich auch negativ auswirken zum Beispiel bei der Balance im vierstimmigen Satz und der allgemeinen Homogenität. Um dem entgegenzuwirken, versuchen wir vor gemeinsamen CD-Aufnahmen immer, Konzerte zu spielen, damit wir dann wirklich wie ein großes Streichquartett klingen. Das Streben nach Qualität in allen Aspekten steht im Zentrum. 

OF: Und auch Dirigent Gábor Takács-Nagy etablierte sich zunächst als Violinist und Primarius des Takács-Quartetts. Welche Einsichten bringt er vom Pult aus in die Musik? Welche Verbindung hat er zu Mozart?

SB: Gábor Takács-Nagy ist für mich ein musikalisches Phänomen. Er geht außerordentlich belebend an die Musik heran, was extrem gut zu Mozart passt. Die Musiker werden permanent stimuliert, aus jeder einzelnen Begleitung und jeder noch so unscheinbaren Wendung das Augenzwinkern Mozarts herauszukitzeln. Der unberechenbare, übermütige Mozart, wie wir ihn aus den Briefen kennen, wird hier lebendig. Er wird nicht zu einem Monument des Schönklangs „versteinert“.

OF: Eine Aufnahme nach zwei Jahren zu wiederholen, das ist ein wagemutiger Schritt. Was gab den Ausschlag für diese Entscheidung?

SB: Für mich war klar, dass ich keine Kompromisse in der Qualität meiner Arbeit machen werde; ich muss da meinen eigenen Ansprüchen treu bleiben. Das alles noch einmal auf die Beine zu stellen, war für mich eine ungemein kraftvolle Erfahrung. Es hat mich tief berührt, wie sehr meine Entscheidung und meine Klarheit diesbezüglich von meinem Umfeld, den Musikern und einem sehr breiten Gönnerkreis sofort verstanden und unterstütz wurden. 

OF: Wie unterscheiden sich die Aufnahmen von 2018 mit denen von 2020? Inwieweit haben Sie sich selbst in dieser Zeit weiterentwickelt?

SB: 2018 war ich – wie ich im Nachhinein feststellte – geigerisch nicht genügend vorbereitet. Entsprechend klang die Aufnahme zwar korrekt, aber nicht ausreichend durchdrungen und dadurch gezwungenermaßen angepasst. Ich wusste von meinen guten Erfahrungen mit Schubert, dass mir Mozart eines Tages liegen würde, habe die Stücke damals allerdings noch nicht zu Ende gearbeitet. Im Lockdown 2020 nahm ich das dann mit einer Vehemenz in Angriff, die mich sehr stolz macht. Natürlich ist man als Künstler niemals ganz zufrieden und denkt immer, man könnte es noch besser machen. Aber hinter dem jetzigen Resultat kann ich wirklich stehen: Da ist jeder Takt mit Liebe gespielt. 

OF: Auf welche Weise ließ sich solch ein Unterfangen überhaupt realisieren?

SB: Ich habe die Idee in Windeseile unter meinem Konzertpublikum verbreitet und innerhalb weniger Tage ca. 20’000 CHF sammeln können. Es war einfach genau der richtige Zeitpunkt. Wir hatten auch Glück, die gleichen Musiker am gleichen Aufnahmeort versammeln zu können. Das war Wahnsinn! 

OF: Sie sprechen vom „richtigen Zeitpunkt“: Wie beeinflussen die Lockdowns denn das Spielen wie auch das Hören?

SB: Ich spiele zurzeit viel lieber, weil ich weniger spiele. Auch in Zukunft will ich mehr auswählen, was ich spielen möchte: Die Qualität ist das einzige Kriterium. Wie sich das Publikum nach der Pandemie entwickeln wird, das weiß ich noch nicht. Ich bleibe aber Optimist!

OF: Was denken Sie: Wie könnte das Konzertieren nach der Pandemie weitergehen?

SB: Ich glaube, Vieles wird sehr schnell wieder sein wie vorher. Die, die gerne klagen, werden weiterklagen; dafür werden aber auch die, die immer einfach versuchen, die Dinge in die Hand zu nehmen und Lösungen zu finden, es ebenso weiter tun. 

[Das Interview führte Oliver Fraenzke]

Dieses Licht leuchtet, aber blendet nicht!

Hauchzarte, sphärische Flagoletts in höchster Tonhöhe stehen am Anfang von „Distant Light“, jenem 1997 von Pēteris Vasks geschaffenen Stück für Solovioline und Orchester. Auch wenn sein Schöpfer, der 1946 in Lettland geborene Komponist es als Solokonzert bezeichnet – ist es nicht doch eher ein Rezitativ? Oder eine Meditation? Als Bekenntnis zur Humanität will es sein Schöpfer allemal verstanden wissen – ebenso wie das im Jahr 2006 uraufgeführte, ebenfalls einsätzige Stück „Vox amoris“. Der junge schweizerische Geiger Sebastian Bohren geht in einer neuen Aufnahme der spirituell-meditativen Botschaft dieser Stücke auf den Grund – und konnte sich dabei auf das Georgische Kammerorchester Ingolstadt sowie auf die Chaarts Chamber Artists bestens verlassen!

„Vox Amoris“ und „Distant Light“ treffen einen Nerv – und sind daher seit ihrer Entstehung bei Publikum und Interpreten viel gefragt. Im Vergleich mit anderen, bereits vorhandenen und – nicht weniger gehaltvollen – Deutungen gelingt es Sebastian Bohren, hier  weitere, bereichernde Perspektive aufzuzeigen.

Wo manche das Melos in romantisierender Klanglichkeit verdichten und andere den tragischen Gestus durch betont dunkle Färbungen und eine gewisse „drängende“ Tongebung auf der Violine hervorheben, da lässt Sebastian Bohrens Spiel deutlich mehr Luft zum Atmen, was den expansiven Linien in diesen Stücken extrem zugute kommt. Weit öffnen sich hier Klanglandschaften, in denen sich Expression und Emphase ganz wie von selbst entwickeln. Vasks Tonsprache übt sich ohnehin in einer klugen Ökonomie, was die Melodik oft eingängig und durchaus auch mal etwas cineastisch wirken lässt. Wer hier feinfühlig hineinhört, kann sehr viel unmittelbaren, oft zart berührenden Ausdruck hervorbringen. Diesem Ideal kommt Sebastian Bohrens Spiel auf der Violine bestens nahe. Er macht nie zu viel Druck auf den Seiten. Der Ton funkelt und strahlt in allen Registern. Klug ist der Einsatz von oft sehr reduziertem, dann wieder ruhig pulsierendem und vor allem nie nervös wirkendem Vibrato. Und genau dieser Sinn für sensibles Maß geht im besten Sinne auf die beiden Orchester über.

„Distant Light“ ist das extrovertierte, dramatischere Stücke von beiden. Auf die elegische Einleitung folgt ein rhythmisch bewegter Mittelteil, der dramatische Eruptionen bis hin zu clusterhaften Verdichtungen freisetzt. In den kolossalen Solokadenzen lebt eine klare, aufgeräumte Rhetorik, dass es nie zur circensischen Demonstration von Virtuosität ausartet.  Am Ende steigt die Melodie wieder in den Himmel hinauf – durch ähnliche Flagoletts ganz hoch oben wie am Anfang. Das Licht, was hier leuchtet, blendet nie!

„Vox Amoris“ ist eine Hymne des lettischen Komponisten auf die Liebe. Es folgt einer ähnlichen Dramaturgie, aber mit weniger stark auftrumpfender Geste. Wärmende Emotionalität    ist hier alles. Hier wird Bohren Spiel eins mit den Chaarts Chamber Artists, mit denen er schon seit Jahren produktiv zusammenarbeitet – und die in der vorliegenden Aufnahme mit entsprechend intuitiven Gespür auf jede noch so feine Regung der Volovioline reagieren! Zu „Vox Amoris“ hat Sebastian Bohren übrigens eine besondere Beziehung, da er sich schon zu Beginn seiner  Karriere intensiv mit diesem Werk auseinander gesetzt hatte.

Und da aller guten Dinge drei sind, wurde dieser Aufnahme noch eine sinnvolle Ergänzung hinzugefügt –  nämlich das in einer fast seelenverwandten Ausdruckswelt daherkommende Stück „Chiaroscuro“ von Gya Kancheli.  Hier wird der Hörer wieder in eine stärker expandierende Dramatik hinein gezogen. Auch hier erhebt sich Bohrens selbstbewusstes Spiel wie ein Monolog, der sich und niemandem mehr zu beweisen braucht. Die Steigerung mitten im Stück ist die wuchtigste, heftigste von allen dreien, erzeugt durch ein perkussives Gewitter der Schlaginstrumente und eine temporären Sprengung jeder Tonalität.

Fazit: Sebastian Bohren und das Georgische Kammerorchester Ingolstadt sowie die Chaarts Chamber Artists demonstrieren anhand der unkonventionellen Musik von Peteris Vasks und Gya Kancheli einen hellsichtigen Weg, um über jede formalisierte Solokonzert-Konvention hinaus zu wachsen. Das wird noch dadurch unterstrichen, dass hier bewusst auf einen Dirigenten verzichtet wurde. So wird das Orchester zur konzentrischen Umgebung für einen jungen Ausnahme-Solisten.

Die Steigerung wäre jetzt noch, diese Konstellation in einer Surround-Aufnahme noch plastischer erfahrbar zu machen.

[Stefan Pieper, Januar 2018]