Alle Beiträge von Stefan Pieper

Künstlerische Faszination für ein Instrument

Interview mit dem Pianisten Mathias Weber, dem künstlerischen Leiter des Hamburger Érard Festivals

Von 23. 10. bis 30. 10 findet in Hamburgs Laeiszhalle das 6. Érard-Festival statt. Die aktuelle Festivalausgabe ehrt den frankobelgischen Komponisten César Franck anlässlich seines 200. Geburtstags. Dafür konnte die Érard-Gesellschaft jenen orginalen Érard-Flügel nach Hamburg holen, auf dem Franck viele seiner Werke komponiert hat – unter anderem auch sein f-Moll Klavierquintett, das in Hamburg in gleich zwei Fassungen zur Aufführung kommt. Das in Hamburg stattfindende deutsch-französische Érard-Festival, veranstaltet von der durch Stephanie Weber ins Leben gerufene Érard-Gesellschaft, ist die wohl bedeutendste Institution im deutschsprachigen Raum, die das Kulturgut dieser legendären französischen Flügel lebendig hält. Mathias Weber, Pianist und künstlerischer Leiter des Festivals schöpft aus dem linearen und feinen Klangcharakter dieser Instrumente immer wieder neues künstlerisches Potenzial für kammermusikalische Begegnungen.

The New Listener: Warum haben Sie César Franck ins Zentrum des Érard Festivals gesetzt?

Mathias Weber: Das ist vor allem dem glücklichen Umstand geschuldet, dass wir den Original-Flügel von César Franck zur Verfügung gestellt bekamen. Mehr noch: Auf diesem Érard-Flügel hat César Franck sein f-Moll Klavierquintett, welches in der Laeiszhalle zur Aufführung kommen wird, komponiert. Und auch Franz Liszt, dessen Klavierkonzert Nr. 2 unter anderem auf dem Programm steht, ist ja „der“ Érard-Künstler schlechthin. Beide Komponisten sind durch den Klang dieses Instruments originär beeinflusst worden.

Bei den ersten beiden Konzerten steht César Francks Klavierquintett f-Moll gleich zweimal auf dem Programm – einmal im Original zusammen mit dem Schumann Quartett und danach im viel größer besetztem Format mit dem Oldenburgischen Staatsorchester.

Genau. Dem Original steht eine von mir kreierte Orchesterversion gegenüber. Mich interessierte hier das Spiel mit den Rollenverteilungen. Durchaus wird in der Orchesterversion dem Klavier einiges „weggenommen“ und an ein ganzes Orchester weitergegeben. Deswegen ist diese neue Fassung von mir kein Klavierkonzert im üblichen Sinne. Das Klavier agiert eher wie ein obligates Soloinstrument. Ich habe das Stück so bearbeitet, dass es eben nicht genuin klaviermäßig ist, sondern stattdessen mehr Gleichberechtigung entsteht. Das kommt auch äußerlich dadurch zum Ausdruck, dass der Dirigent bei dieser Aufführung vor dem Klavier steht.

Wie sind Sie vorgegangen bei dieser Neufassung?

Nach einer meiner Aufführungen des Franck-Quintetts kommentierte ein Musikerkollege: Das klingt ja wie ein Orchester, was mich dazu brachte, das Quintett zunächst für ein solches zu bearbeiten. Aber dadurch fehlte wieder etwas. Vor allem wurde mir klar, dass das rein figurative Element des Klaviersatzes nur im Orchester allein nicht darstellbar ist. Also habe ich das Quintett von Franck zu einer „Sinfonie für Orchester und Klavier“ weiterentwickelt.

Welche Rolle spielt Franz Liszt im Programm?

Mit Franz Liszts Klavierkonzert A-Dur und der sinfonischen Dichtung Les Préludes wollen wir auf die Verwandtschaft César Francks mit Franz Liszt anspielen.

Welche Aspekte standen für César Franck im Vordergrund, wenn er sich an Franz Liszt orientierte?

Der Klavierpart bei César Franck ist ja auffallend beweglich, so dass hier eine Inspiration durch Franz Liszt nahe liegt. Aber trotz solcher Einflüsse hat César Franck etwas ganz eigenständiges daraus gemacht. Durch die fantasievolle Verwendung eines Grundgedankens konnte sowohl bei Liszt als auch bei Franck eine monumentale Großform entstehen.

Am 30. Oktober spielen Sie zusammen mit dem Ensemble Acht – auf dem Programm stehen zwei Septette von Ludwig van Beethoven und Nepomuk Hummel. Worauf können wir uns hier freuen?

Hummels Septett d-Moll op. 74 ist von Franz Liszt herausgegeben worden und man kann es zu den bedeutendsten Stücken der Kammermusik nach Beethoven rechnen. Es ist ein sehr dramatisches, viersätziges Stück. Man könnte den Charakter dieser Musik als „janusköpfig“ oder doppelbödig bezeichnen. Formal ist es eigentlich ein Klavierkonzert und trotzdem zugleich ein Kammermusik-Stück. Die Besetzung „sechs Instrumente plus Klavier“ geht ja schon ins Orchestrale. Daher ist der Klaviersatz auch sehr konzertmäßig. Aber trotzdem ist es kein Klavierkonzert, da die anderen Instrumente thematisch viel zu sagen haben. Vom Ausdruckscharakter her steht diese Musik auf einer Schwelle zwischen den Zeiten. Ich sehe hier eine Symbiose von Mozart´scher Leichtigkeit und dämonischer Romantik. Durchaus stand hier auch E. T. A. Hoffmann Pate. Zugleich bezieht sich die Komposition in ihrem dritten Satz auf Beethovens vierten Satz seines Es-Dur Septetts. Hier einen Vergleich zu ziehen, ist doppelt lehrreich: Beethoven bleibt in seiner Komposition in der Form drin, wo Hummel sie stärker aufbricht – allein das macht die Gegenüberstellung dieser beiden Werke in einem Konzert zu einem spannenden Stück musikalischer Zeitgeschichte.

Welchen Austausch gab es zwischen Beethoven und Hummel?

Hummel war ein Freund von Beethoven und die beiden haben sich sehr geschätzt. Angeblich hat sich Beethoven auch für Hummels Frau interessiert. Das fand Hummel aber nicht so nett und wollte deswegen nicht auf Beethovens Beerdigung spielen. Aber Hummels Frau hat trotzdem darauf bestanden, dass er es tue.

Was macht Ihre persönliche Faszination für die Flügel aus dem Hause Érard aus?

Meine Leidenschaft für den Érard-Flügel resultiert aus einer gewissen Verrücktheit. Aber ich habe hier den perfekten Klang für mich gefunden.

Gab es dafür ein Erweckungserlebnis?

Ja, es war wie eine Offenbarung, als ich zum ersten Mal diesen Klang gehört habe. Ich bin in einem Klaviergeschäft eher zufällig darauf gestoßen. Ich wusste schon, dass die Érard-Flügel interessant sind. Auch Richard Wagner hatte so einen und deswegen dürften sie wohl nicht ganz so schlecht sein. Als ich nun in diesem Klaviergeschäft war, habe ich einen Érard aus dem Jahr 1858 zum ersten Mal bewusst gehört. Der war noch nicht mal richtig restauriert. Aber ich habe ihn gespielt und gedacht, das ist es! Ich habe noch diverse andere Instrumente demonstriert bekommen, aber bin immer wieder zum Érard zurück gegangen.

Man sagt, dass Érard-Flügel durch die Technik der „doppelten Repetition“ die ersten modernen Flügel sind. Was macht dieses Prinzip aus?

Man konnte dadurch einfach viel schneller spielen. Der entscheidende Unterschied ist, dass der Hammer nicht mehr komplett zurückfällt, sondern auf halber Strecke gehalten wird. Die ganze moderne Spielweise, die sich seit Liszt und Mendelssohn etabliert hat, wäre ohne die doppelte Repetition nicht denkbar. Auch jeder moderne Flügel hat sie heute noch.

Wo hingegen zeigt sich die Überlegenheit des Érard-Flügels?

Steinway hat als erster Klavierbauer die tiefen Saiten überkreuz gespannt, womit er eine Revolution vollzogen hat. Das führte zu deutlich mehr Wucht in den Bässen. Der Reiz des Érard besteht darin, dass hier die Saiten weiterhin linear, also überall nebeneinander gespannt sind. Dadurch klingt der Érard viel klarer und genau diese Klarheit und Linearität macht meine künstlerische Faszination für dieses Instrument aus. Mit einem „Kreuzsaiter“ kann man polyphone Bass-Führungen längst nicht so differenziert abbilden. Alles ist immer eine Frage des Standpunktes. Rachmaninoff wird auf einem modernen Konzertflügel immer eine viel mächtigere Wirkung entfalten als auf einem Érard. Aber Ravel klingt wiederum auf einem Érard umso faszinierender.

[Das Interview führte Stefan Pieper]

Talking Drums: Balafon-Weltmeister Mamadou Diabate krönt das „Große Fest der Frankophonie“

Delicious Tunes; UPC: 196292544589

Eine einzigartige Verbindung von traditioneller afrikanischer Musik mit Jazz-, aber auch Klassikelementen steht am 7. September im Wiener Musikclub Fania live bevor. Mamadou Diabate, der „Meister des sprechenden Balafons“ krönt zusammen mit seiner Band „Percussion Mania“ das erste „Große Fest der Frankophonie“. Dieses wird vom Verein Le Cercle ausgerichtet, der sich mit wechselnden künstlerischen Akzenten der französischsprachigen Kultur in Wien widmet.

Termin: 7. September 2022 um 20:30

Ort: Fania live (U-Bahn Bogen Gürtellinie 22-23 in 1080 Wien)

Mamadou Diabate und „Percussion Mania“ sind eine weltweit einzigartige Formation, die sich von allen westafrikanischen Bands unterscheidet. Herzstück der musikalischen Interaktionen sind die spektakulären Balafon-Duelle zwischen den beiden Cousins Mamadou Diabate und Yacouba Konate. Mamadou Diabate greift dabei auf eine völlig eigenständig entwickelte Spieltechnik zurück. Seine Soli erwecken oft den Eindruck, als würden hier mindestens drei Balafonspieler zusammen spielen.

Das aktuelle Projekt Seengwa, das seit Frühjahr auch auf einer neuen CD vorliegt, ist eine Hommage an die fast vergessenen Musiktraditionen des Volkes der Sambla aus der gleichnamigen Region in Burkina Faso. Die Sambla gehören zu den sehr wenigen Völkern der Welt, die eine Sprache mit einem Xylophon (von den Sambla Balafon genannt) entwickelt haben. Es handelt sich dabei um eine Übertragung der samblischen Sprache in Musik, die als „Ersatzsprache“ dient. Musiker, die diese Sprache nicht verstehen, können das Instrument nicht beherrschen.

In Mamadou Diabates Band „Percussion Mania“ treffen sich hochkarätige Musiker aus Diabates Heimatland und aus Europa. Als prominentestes Mitglied hat sich der österreichische Jazz-Saxophonist Wolfgang Puschnig der sechsköpfigen Band angeschlossen. Perkussionsinstrumente wie Djembe und Kalebasse runden den Klangteppich ab, ebenso Streicher, Klavier und Kora sowie E- und Bassgitarre. Mamadou Diabates Kompositionen sind eine Hommage an Jahrtausende westafrikanischer Kultur und erzählen auf unterhaltsame Weise die Geschichten des Sambla-Volkes.

Mamadou Diabate begann im Alter von fünf Jahren, professionell Musik spielen zu lernen und gilt als einer der weltbesten Instrumentalisten auf dem Balafon. Dieses vielseitige Instrument ist ein Archetyp des Xylophons, dessen Holzstäbe durch unten befestigte Calabas (hohle Kalebassen) verstärkt und mit einer Resonanzmembran überzogen sind, die einen unverwechselbaren Perkussionsklang erzeugt.

Le Cercle

Le Cercle ist eine unabhängige französischsprachige Vereinigung, die im Jahr 2018 von Studierenden der Diplomatischen Akademie in Wien gegründet wurde. Seitdem wächst das frankophone und frankophile Netzwerk und bietet ein breit gefächertes und abwechslungsreiches Veranstaltungsprogramm, u. a. Konzerte, Konferenzen, Debatten, literarische Abende und auch Filmvorführungen.

[Stefan Pieper, September 2022]

Brahms in frischer, neuer Klangerfahrung

Hamburg, 31. Oktober 2021, Elbphilharmonie

Matinéekonzert, Érard-Festival

Werke von Johannes Brahms

Vier Klavierstücke op. 119

Sonate f-Moll op. 120/1 / Bearbeitung für Klarinette und Kammerorchester von Mathias Weber (Uraufführung)

Klavierquintett f-Moll op. 34 / Bearbeitung für Klavier und Streichorchester von Mathias Weber

Mathias Weber, Klavier und Dirigent

Sabine Grofmeier, Klarinette

Hamburger Camerata

Photo © Stefan Pieper

Die Matineekonzerte in der Elbphilharmonie haben sich als Publikums-Selbstläufer etabliert. Ein Glücksfall ist dies für die Hamburger Érard-Gesellschaft, die hier am 30. Oktober den Höhepunkt ihres diesjährigen Érard-Festivals begehen konnte. Das Konzert bot auch eine Uraufführung: Nämlich eine Neubearbeitung der f-Moll Klarinettensonate von Johannes Brahms op 120/1 von Mathias Weber. Sabine Grofmeier, eine hochmotivierte, in Hamburg lebende Klarinettistin war in ihrem Element.

Mathias Weber, Pianist und auch Komponist ist ein nachdenklicher Musikforscher, der in seinen beachtlichen Neubearbeitungen einschlägiger Meisterwerke der tiefen Wahrheit zwischen den Zeilen des Notentextes weiter auf den Grund geht. Aus einem solchen Erfindergeist ging diese „neue“ Orchesterbearbeitung von Johannes Brahms‘ Klarinettensonate f-Moll opus 120/1 hervor. Sie wirkt lichtdurchfluteter und anmutiger und irgendwie kammermusikalischer als Luciano Berios von deutlich mehr romantischem Orchesterpathos durchdrungene Adaption aus dem Jahr 1986.

Sabine Grofmeier hat zu dieser empfindsamen Sonate schon lange ein tiefes Verhältnis. In der „Elphi“ funktioniert eine perfekte Kombination aus Werk, Interpretin, Zeit und Ort. Zu einer überraschenden Streichereinleitung der Hamburger Camerata erhebt sich ihr höchst kantabler Klarinettenton, um dann den festlichen, zugleich tief empfindsamen Gestus mit großer Strahlkraft in allen Sätzen aufrecht zu erhalten. Wo bislang der Dialog mit dem Klavier stand, da bauen sich jetzt verblüffende Querverbindungen und Berührungen zu vielen Orchesterinstrumenten auf. Mathias Weber beschreibt später seinen eigenen schöpferischen Prozess: „Ich höre beim Klavierpart eines solchen Originals manchmal andere imaginäre Instrumente“. Das Miteinander zwischen spielerischer Bravour und starken Emotionen verdichtet sich noch weiter im Andante. Die Interpretin ist selber sichtlich überwältigt – von der Musik in diesem Moment an diesem Ort, von der Reaktion des Publikums, welches spürt, dass da jemand ehrlich auf der Bühne agiert. Das Menuett des dritten Satzes kommt fast wie ein Walzer daher. Molto vivace und in sonnig aufblühender Klangpracht gelangt die vertraute, zugleich völlig neue Komposition in ihre Zielgerade.

Photo © Stefan Pieper

Befreite Emotionen ließen tosenden Beifall folgen. Das befeuerte Sabine Grofmeiers Zugaben – und wie! Viele wollen Piazolla spielen. Aber kaum jemand beherrscht wie diese Solistin ein dermaßen organisches Crescendo in jedem einzelnen Ton und eine geschmeidige Phrasierung, die jedes Korsett von „richtiger Intention“ souverän überwindet. Musik im Konzertsaal „funktioniert“ vor allem dann, wenn eben nicht nur die Experten befriedigt sind, sondern vor allem das unvoreingenommene „Laufpublikum“ erreicht ist. Sabine Grofmeier erreichte dies an diesem Morgen durch das Zulassen und Zeigen von Empfindung. Zu Teilnehmenden wurde schließlich das Publikum in einer Mitmach-Aktion, in der sie im Brahmschen Wiegenlied „Guten Abend, Gute Nacht“ zum Mitsummen der Melodie einlud.

„Ich konnte hier alles machen, was geht“, freute sich Sabine Grofmeier. Eines hatte sie am meisten überrascht: Die spezielle Akustik in Hamburgs Elbphilharmonie, die oft als „trocken“ beschrieben wird, erwies sich als ausgesprochen freundlich gegenüber ihrem Spiel, da sie verblüffend viel Rückmeldung gibt.

Photo © Stefan Pieper

In vielen exklusiven Recitals macht die Érard-Gesellschaft den einmaligen Klangcharakter der historischen Érard-Flügel aus dem 19. Jahrhundert entdeckbar. In Johannes Brahms‘ Vier Klavierstücken op. 119 aus dem Spätwerk, bündelte sich zum Auftakt der Matinee diese Philosophie in jedem einzelnen Ton: Unter Mathias Webers Händen wirken diese scheinbar skizzenhaften Werke wie stark komprimierte Seelengemälde – eine Stimme, die sich haushoch über jeder Kategorie von spieltechnischer Bravour erhebt! Der Klaviersolist als Orchesterleiter im Zentrum eines sinfonischen Gefüges – diese Konstellation kam zum Finale dieses ausverkauften Konzertes in einer weiteren Bearbeitung von Mathias Weber zum Tragen:

So hat er das Brahmsche Klavierquintett f-Moll opus 34 zu einer ausdrucksmächtigen Kammersinfonie ausgeweitet. Große orchestrale Spektren, weite atmende Räume tun sich in den ausgedehnten Sätzen aus. Die hellwache Interaktion zwischen den Instrumenten – exemplarisch gewürdigt sei hier nur ein hinreißender Solocello-Part als Antwort auf das Klavierspiel, blieb dabei dem Geist des kammermusikalischen Originals in wunderbarer Weise treu.

So wie hier geht es im Idealfall zu, wenn in einer lebensfrohen Weltstadt idealistische Künstlerpersönlichkeiten an einem Strang ziehen – und dabei auf einen Komponisten zurückgreifen, der ebenfalls ein Kind dieser Stadt war und auch in der Gegenwart noch ganz viel zu sagen hat.

[Stefan Pieper, November 2021]

NB: Am 6. Dezember gibt es in der Laeiszhalle der Elbphilharmonie eine Soiree Érard, die ebenfalls von der Érard-Gesellschaft ausgerichtet wird.

Kulturelle Brücken im Ostseeraum: Ein Besuch beim Usedomer Musikfestival 2021

Das Usedomer Musikfestival schlägt seit seiner Gründung immer wieder neue kulturelle Brücken zwischen den Ländern des Ostseeraums. Wer irgendwann zwischen September und Oktober für eine Weile an die Ostseeküste reist, erlebt jene Vielschichtigkeit, für die das Usedomer Musikfestival im ganzen Ostseeraum zu einer Marke geworden ist. Auch im letzten Jahr traf dies unter eingeschränkten Bedingungen zu. Jetzt sind fast alle Grenzen wieder offen – umso mehr durchströmte die jüngste, 28. Festivalausgabe die Aura eines umfassenden Neustarts.

„Es fühlt sich alles wieder so wie damals an, als gerade die Grenzen offen waren und wir endlich hierhin kommen konnten“, beschreibt der litauische Komponist und Dirigent Gediminas Gelgotas die neue Aufbruchstimmung. Gelgotas, aber auch der weltberühmte Cellist David Geringas präsentierten in hervorragender Weise den diesjährigen Länderschwerpunkt Litauen. Aber auch die Nachbarschaft zum nahen Polen wirkt auf Usedom in engagierten Kooperationen gepflegt. Zu Beginn des diesjährigen Besuches ging es über die Grenze ins schmucke Kulturzentrum von Swinoujscie (Swinemünde) – einer hellwachen Fast-Großstadt, in der sich gerade alles rasant nach vorne entwickelt. David Geringas, Artist in Residence und einer der Weltstars auf dem Violoncello, der u.a. Sol Gabetta ausbildete und prominenter Schüler des „Jahrhundert-Cellisten“ Mstislaw Rostropowitsch war, zeigte sich bei einem Kammermusikabend in einer Traumbesetzung zusammen mit Dylan Blackmore (Violine), Hartmut Rohde (Viola) und Vytautas Sondeckis (Violoncello) als musikalischer Partner unter Freunden, der seine Kunst mit jüngeren Generationen teilt. Ein selten gehörtes Beethoven-Trio für Viola und zwei Violoncelli überrascht mit einer interessanten „Emanzipation der Mittellage“. Ein Steichquartettsatz von Peter Tschaikowski und eine von Geringas neu arrangierte Tschaikowski-Humoresque widerspiegelt in der Tonsprache des russischen Komponisten die Programmatik dieses Festivals, bei dem sich Weltoffenheit und Bekenntnis zu den eigenen kulturellen Wurzeln vereinen. Vytautas Barkauskas Drei Fragmente für Viola und Violoncello wurden bereits vor etwa zehn Jahren auf Usedom aufgeführt, aber dieses Stück markiert immer noch ein kraftvolles Statement für die forschende Gegenwart dieses Festivals. David Geringas vergleicht die menschlichen Verbindungen solcher Kammerbesetzungen mit jenen berühmten Schubertiaden – Schuberts Hauskonzerte im verständigen Kreise. Ein solcher Communitygeist setzt sich alljährlich beim Cellisten-Meisterkurs auf Schloss Stolpe im weiten Hinterland der Insel fort.

Am Anfang stand der Wunsch, in einer attraktiven, aber strukturschwachen Region die Kultur zu beleben, damit es hier noch mehr gebe als den traditionellen Bädertourismus mit seiner heute aufwändig herausgeputzten Infrastruktur. Ein Verein wurde gegründet. Immer mehr Akteure in der Region ließen sich von der Idee eines weltoffenen Musikfestivals mitreißen. Heute machen sich unter anderem viele traditionelle Bäderhotels, eine breite Unternehmerschaft, aber auch Bund, Länder und Gemeinden sowie der öffentlich-rechtliche Rundfunk für das Festival stark. Das hält auch den Publikumszulauf auf überregionalem, ja internationalem Level. Dieses Engagement hat aktuell auch die Aufmerksamkeit des „Europäischen Kulturmarken Award“ erregt.

Nordic String Quartet

Weit geht es hinaus in die Landschaft dieser Insel. An besonderen Orten das Herausragende erfahrbar oder erst möglich machen, das kann dieses Festival. Was sich vor allem beim Auftritt des Nordic String Quartett zeigte, dessen Mitglieder aus Dänemark und von den Färöer-Inseln stammen. Heidrun Petersen (Violine), Mads Haugsted Hansen (Violine), Daniel Eklund (Viola) und Lea Emilie Brøndal (Violoncello) musizieren in der kleinen Kirche im Seebad Zinnowitz – und es war so, als wenn es kein Morgen gebe: Zunächst baute eine zeitgenössische Komposition trickreich auf einem frühbarocken Kanon von Johannes Pachelbel auf, der zunehmend eine improvisatorische Unterwanderungen erfährt. Carls Nielsens sehr geschmeidig daher kommendes nordisch-romantisches Quartett baut die Brücke zu einem wahrhaft kolossalen Erlebnis mit Musik: Franz Schubert komponierte sein freigeistig-überschwängliches Streichquartett Der Tod und das Mädchen eben in einer Ausdrucksweise, als würde es kein Morgen geben. Eine Einsicht, die selten so unmittelbar jede Nervenzelle durchdringt, wie in dem Moment, wo sich das Nordic String Quartet dieser einzigartigen, mächtigen Musik annimmt.

Jan Garbarek (Saxofon) und Trilok Gurtu (Schlagzeug)

Im letzten Jahr war Norwegen Länderschwerpunkt – aber durch die Reiseverbote fielen viele Programmpunkte aus. Welcher Verlust ein Ausfall der Jan Garbarek Group gewesen wäre, offenbarte sich in einem modernen, funktionalen Ort kurz vor der polnischen Grenze, nämlich in der Lokhalle der regionalen Bäderbahn, welche die Küstenorte verbindet: Der norwegische Saxofonist Jan Garbarek, ebenso der indisch-stämmige, in Hamburg lebende Schlagzeuger Trilok Gurtu sowie Reiner Brüninghaus am Piano und der Brasilianer Yuri Daniel am E-Bass ziehen hinein in einen charismatischen, tief lyrischen Sog, der aber durch eine bestens geölte Bandchemie auch mit mächtigem Abgehfaktor gesegnet ist. Hier lebt es wieder, das Anliegen dieses Festivals: Nämlich kulturelle Einflüsse zusammen zu bringen, die scheinbar sonst weit weg voneinander scheinen: Ein starkes Gegengewicht zur verklärten Melancholie im Spiel Jan Garbareks ist jene indisch beeinflusste polymetrisch ausdifferenzierte Rhetorik des Schlagwerkers Trilok Gurtu, der regelmäßig mit neuen eigenen Projekten überrascht. Der enthusiastischste Applaus kam auf jeden Fall von den polnischen Fans – da zeigte sich, dass in Polen Jazz (und alles, was darüber hinausgeht) viel mehr als nur Nische ist.

„Ich habe in meinem Heimatland einen fabelhaften Klarinettisten entdeckt. Deswegen rief ich die Professorin Sabine Meyer ein, um diesen besonders begabten Absolventen der Rostropowitsch-Stiftung für ein Studium zu empfehlen“, beschrieb David Geringas die Vorgeschichte, welche den litauischen Klarinettisten Žilvinas Brazauskas zum Studium nach Lübeck führte. Und eben auch zum Usedom-Festival, wo ein alljährlicher Musikpreis seitens der Oscar- und Vera Ritter-Stiftung die „Education“-Bestrebungen zugunsten hoffnungsvoller Karrieren und produktiver Synergieeffekte abrundet. Was hierbei wohl Kriterien sein mögen, braucht man gar nicht weiter hinterfragen – denn das stellen Brazauskas und sein italienischer Klavierpartner Matteo Gobbini in der Kirche von Heringsdorf mitreißend unter Beweis: Beiden jungen Interpreten geht es um weit mehr als um perfekte Instrumentenbeherrschung – sondern auch um Erkundung neuer Möglichkeiten gepaart mit kreativer Bühnenpräsenz. Herausfordernd waren die Werke des Mammutprogramms in der Heringsdorfer Kirche allemal – unter anderem zeitgenössische Klangstudien von Vytautas Germanavicius, wo der Solist sich einer raffinierten Zirkularatmungstechnik bediente, und David Lang, eine spektakuläre Demonstration von simulierter Mehrstimmigkeit auf der Bassklarinette.

Ein Festival hat seine Mission erreicht, wenn sich bei aller Vielfalt der künstlerischen Ansätze und musikalischen Farben verbindende Aspekte herauskristallisieren. Im aktuellen Fall ist es die elementarste musikalische Praxis des Gesangs: Gesungen hatten die Cellisten des Geringas-Meisterkurses am Ende ihres Workshop auf Schloss Stolpe. Trilok Gurtu, Schlagzeuger bei der Jan Garbarek Group demonstrierte in ausgiebigen Soloparts die klassische vokale Rhythmisierungskunst. Und Žilvinas Brazauskas legte schließlich die Klarinette beiseite, um als Zugabe ein getragenes litauisches Volkslied anzustimmen. Und Litauen im Ganzen hat sich Anfang der 1990er Jahre von der sowjetischen Fremdherrschaft nicht zuletzt durch eine friedliche „Singende Revolution“ befreit.

Gediminas Gelgotas dirigiert das New Ideas Chamber Orchestra

Darauf wies Gediminas Gelgotas vor seinem spektakulären Konzert mit dem New Ideas Chamber Orchestra hin. Auch dessen Mitglieder erheben immer wieder – ergänzend zu ihrer „magisch“ wirkenden Streicherkunst – ihre Stimmen. Im New Ideas Chamber Orchestra, welches Gelgotas nicht nur dirigiert, sondern dafür auch exklusiv die Musik scheibt, performen, ja choreografieren die Mitglieder ihre Musik, während man Notenständer vergeblich sucht. Eine melancholische Philip Glass Nummer versetzt zu Beginn in ergreifende Trancezustände. Danach offenbaren viele von Gelgotas Eigenkompositionen tänzerische, aufrührerische, manchmal auch durchaus pop-affine Facetten in einem wirkungsmächtigen Koordinatensystem aus Minimal Music und dem von litauischen Einflüssen genährten Personalstil von Gelgotas. Als Höhepunkt musiziert David Geringas eine flammenden Solopart. So klingt es, wenn ein Ausnahmemusiker, der auch im Alter von 75 Jahren noch beständig neu dazu lernt, sich wieder in seiner Beschäftigung als Musiker (und auch mit Musikerinnen und Musikern) neu geboren fühlt – wie er selbst diesen Prozess im Gespräch beschrieb.

Stefan Pieper [Oktober 2021]

Die Musik schleicht sich durch die Hintertür ein…

Das Kammerorchester Basel bringt den Struwwelpetter ins Klassenzimmer. Ein Gespräch mit Marcel Falk, dem Geschäftsführer und Initiator dieses Projekts

Ein Quartett des Kammerorchester Basel singt und spielt den Struwwelpeter – und zwar bevorzugt in Klassenzimmern. Aus diesen Erfahrungen entstand eine CD-Produktion, die jetzt auf dem Solo-Musica-Label vorliegt (Rezension siehe: hier). Sie steht für ein engagiertes Konzept, aus dem Elfenbeinturm des ritualisierten Konzertbetriebes hinaus zu treten. Die schräge Truppe kann gebucht werden, um in Schulen jedes Klassenzimmer aufzumischen. Lautstarke Einmischung seitens der Kids ist dabei ausdrücklich erwünscht! Die Nachfrage nach solch origineller wie musikalisch hochkarätiger Auflockerung des Schulunterrichts ist immens – fast 100x schon haben die kreativen Schweizer ihr Projekt aufgeführt. Stefan Pieper sprach mit Marcel Falk, der als Geschäftsführer hinter den „Schulklassenkonzerten“ des Kammerorchester Basel steht – und die dahinter liegende Philosophie erläuterte.

Welche Intention steht hinter der Produktion des Struwwelpeter?

Wir wollen die Kids und Jugendlichen zu Betroffenen machen, wollen sie aktiv beteiligen und suchen umso mehr den partizipativen Ansatz. Das klassische Kinderkonzert ist nicht unsere Sache, es geht um mehr, als 60 oder 80 Minuten Frontalkonzert zu machen.

Auf der CD mischen sich ja auch Kinderstimmen ein. Sie stellen Fragen und kommentieren. Also gibt es auch hier eine Überwindung der Frontalsituation?

Ja, wir sind der Meinung, die eigene Peergroup ist viel authentischer als unsere Musiker dies sein könnten.

Was kann ein solches Stück, was eine normale Aufführung nicht kann?

Ein Klassenzimmerkonzert ist keine Einbahnstraße, sondern ein lebendiges Geben und Nehmen. Wir können dadurch Vorbehalte gegenüber klassischer Musik abbauen, gar anregen, sich damit auseinander zu setzen. Eine solche Aufführung ist auch ein Erfahrungsgewinn für die Musiker. Allein, weil es um die Musik herum zu spannenden Diskussionen kommt. Durch diese neue Situation können alle Beteiligten mittendrin in der Musik sein, ohne auf die bekannten Konzertrituale Rücksicht nehmen zu müssen. Daraus erwächst eine ganz neue Botschaft: Ihr müsst nicht in den exklusiven Kulturtempel kommen, sondern wir kommen in euren Alltag – eben dahin, wo ihr euch wohlfühlt. Uns liegt die Musik am Herzen und es geht darum, die nachwachsende Generation für Musik zu begeistern. Das ist unser übergeordnetes Ziel. Das schaffen wir am ehesten über eine emotionale Erfahrung am eigenen Körper. Ich muss irgendwie partizipativ beteiligt sein an einem solchen Prozess. Gerade im Klassenzimmer sitzt etwa der Cellist nur einen Meter vor der Schülern und spielt, zumindest, wenn sich das nicht gerade wegen der Corona-Pandemie verbietet. Solch eine unmittelbare physische Erfahrung ist wichtig für das Erleben von Musik.

Die Geschichten von Struwwelpeter, Suppenkaspar, Zappelphilipp und Co. sind heute ein reichlich schräges Buch. Es werden Schauergeschichten ausgebreitet – eben was passiert, wenn Kinder sich nicht konform verhalten. So völlig unreflektiert kann man diese Botschaften heute nicht mehr wahrnehmen. Die Kinder hinterfragen ja auch aktiv auf der Aufnahme. Ist die humorvolle Brechung, die hier durch die Musik verstärkt wird, Teil dieses Konzepts?

Unbedingt! Die Musik geht ja einen Schritt weiter als der historische Text und bringt diesen auf eine ganz neue Flughöhe. Da schwingt viel Ironisierung auf tragikomischer Ebene mit. Dadurch verstärken sich noch die Fragezeichen, die schon in der ursprünglichen Botschaft vorhanden sind. Also knickt der erhobene Zeigefinger immer weiter ein.

Nicht alltäglich für eine Schulaufführung ist die musikalische Qualität. Die CD-Aufnahme dokumentiert – natürlich! – den hohen Standard von hervorragenden Profis, die in neuen Arrangements, Meisterwerke musizieren. Ist den Kindern dieser musikalische Qualitätsstandard bewusst?

Ich denke, er wird zu einem großen Teil unbewusst wahrgenommen. Die wenigsten Schüler haben sich bislang allgemein mit klassischer Musik oder gar mit einem Streichquartett auseinandergesetzt. Was unsere Quartettbesetzung im Klassenzimmer spielt, ist musikalisch von sehr hoher Qualität, das fühlen die Kinder und sind oft überwältigt, ohne es in Worte fassen zu können. Das ist dann oft der Punkt, an dem weiteres Interesse an unsere Arbeit entsteht und junge Menschen noch näher an unseren Produktionsbetrieb heranbringt.

Wie muss man sich das konkret vorstellen?

Beim Struwwelpeter sind die Kinder als aktive Teilnehmende in die Inszenierung eingeschlossen und schlüpfen in eine Rolle, in der sich viele Fragen ergeben. Dadurch treten sie in einen Dialog mit unseren Musikern, manchmal entsteht eine persönliche Beziehung, aus der Gegenbesuche im Konzert oder in unseren Proben resultieren können. Wir greifen hier mittlerweile auf viele Erfahrungen zurück. Sehr intensiv sind unsere Generationenprojekte, in denen wir mit Schulklassen über 5–6 Monate an gesellschaftlichen Themen arbeiten. Die Idee ist immer die Gleiche: dass sich so quasi durch die Hintertür die Musik neu erschließt. Wenn man Schülern Verantwortung gibt, kann unglaublich viel entstehen.

Sehen Sie diese Konzerte auch als eine Form von „audience developement“?

Wir sehen bei diesen Projekten einen starken gesellschaftlichen Input. Wenn man viel in Klassenzimmern spielt, wird dies unmittelbar von der Schule hinaus an den Mittagstisch getragen. Das ist für uns als Orchester sehr wichtig.

Herr Falk, ich bedanke mich für dieses interessante Gespräch!

[Das Interview führte Stefan Pieper]

Alte Schauergeschichten werden zum großen musikalischen Spaß

Solo Musica, SM 355; EAN: 4 260123 643 553

Ein Quartett des Kammerorchesters Basel musiziert den Struwwelpeter.

Wer kennt noch die Geschichten vom Struwwelpeter – diese kleinen Schauermärchen mit ihrem erhobenen Zeigefinger, der eben darauf verweist, was am eben Ende für all Jene droht, die nicht aufessen, was auf den Tisch kommt, die mit Feuer spielen oder nicht stillsitzen können? Heute werden diese Geschichten eher humorvoll rezipiert. Den moralischen Zeigefinger erheben heute andere. Dass Aufklärung und Diskussion schon im Umgang mit Kindern selbstverständlich sein sollte, dachte sich der Autor dieses Bilderbuches aus dem Jahr 1844. Dass es der Frankfurter Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann nicht ganz so bierernst mit diesen Lehrgeschichten gemeint haben kann, verrät eine Notiz des Autors im Vorwort: Die meisten anderen Bücher moralisieren doch viel zu viel herum. Dem wolle er mit dem Struwwelpeter etwas entgegen setzen. Wenn ein Ensemble des Kammerorchesters Basel diese Geschichten nun musikalisch kommentiert, wird der augenzwinkernde Blickwinkel umso deutlicher. Die neue CD, die aus der Erfahrung mit zahllosen Schulkonzerten hervorgeht, ist auf jeden Fall ein großer musikalischer Spaß – nicht nur für die anvisierte Zielgruppe zwischen 6 und 11 Jahren!

Eva Miribung (Violine und Banjo), Jan Wollmann (Trompete), Konstantin Timokhine (Horn) und Georg Dettweiler (Violoncello) gingen unter Regie von Salomé Im Hof auf Tour, um die Geschichten aus diesem Bilderbuch zu einem Narrativ für die ausgewählte Musik zu machen. Der Komponist und Arrangeur Konstantin Timokhine hat damit guten konzeptionellen Weitblick bewiesen. Viele Meisterwerke aus der Musikgeschichte, aber auch Jazzanleihen vereinen sich in müheloser Weise, schaffen einen roten Faden, verleihen den Episoden von Struwwelpeter, Zappelphilipp, Suppenkaspar, dem fliegenden Robert und Hanns Guck-in-die-Luft viel schrägen Drive und dies auf höchstem Niveau. Ganz am Rande ist dies auch eine leichtfüßige, zugleich gehaltvolle Antwort auf jedes weichgespülte Easy Listening, welches ja oft schon in Kinder-Produktionen strapaziert wird, um junge Ohren von vornherein auf Mainstream zu konditionieren. Dabei stimuliert große, gute, gehaltvolle und hier auch noch meisterhaft gespielte Musik doch viel nachhaltiger die Fantasie, was diese CD einmal wieder klarstellt.

Der Prolog aus Monteverdis Oper Orfeo untermalt das Schicksal der Titelfigur, die sich nicht die Haare schneiden lässt und immer mehr verlottert. Auszüge aus Schostakowitschs Cellokonzert – ohnehin eine Tonsprache von großer Doppeldeutigkeit – interpretieren lakonisch die Leiden des bösen Friederich, der schließlich seine Untaten bereuen muss. Paulinchen, die mit Feuerzeugen herumspielt und schließlich aus Unachtsamkeit sich selber abfackelt, wird sarkastisch mit einer heiteren Swingjazz-Nummer unterlegt – das ist echter schwarzer Humor in diesem Moment! Ein großes Kompliment geht an die Flexibilität dieser Musikerinnen und Musiker vom Basler Kammerorchester. Die Geschichte vom Schwarzen Buben greift – heute wieder sehr aktuell – den Umgang mit Menschen anderer Hautfarbe auf, wenn schließlich die Mehrheit der Kinder einen Jungen wegen seiner dunklen Hautfarbe hänseln – und dafür schließlich selbst in ein schwarzes Tintenfass getaucht werden. Bei der Figur des Hanns Guck-in-die Luft kommen den anwesenden jungen Zuschauerinnen und Zuschauern sofort heutige Gewohnheiten in den Blick. Mit dem Unterschied, dass der Blick heute meist nicht nach oben, sondern nach unten, aufs eigene Handy geht – aber eben auch nicht nach vorn in die Wirklichkeit. In jedem Fall entfalten die ausgewählten Kompositionen in diesen Kontexten ganz neue Facetten von Darstellungslust. Eine Händel-Arie überhöht die Geschichte vom Suppenkaspar auf Allerfeinste. Ironie und höchste musikalische Finesse verstehen sich einfach gut miteinander. Richard Wagners Fliegender Holländer erhebt die Anekdote vom fliegenden Robert in neue Sphären. Die Moral von der Geschicht‘: Spanne keinen Regenschirm auf, wenn es stark windet. Immer wieder mischen sich die Kinder ein, fragen und kommentieren. Mit dem Feuer spielen hat ja – metaphorisch betrachtet – auch etwas damit zu tun, mutig zu sein und etwas zu riskieren. Dem Struwwelpeter in neuer musikalischer „Inszenierung“ durch das Kammerorchester Basel haftet bei allem heiteren Spaßfaktor auch etwas Aufklärerisches an. Und ein solches „Audience Development“ für klassische Musik hat allemal etwas mit Aufklärung zu tun.

Stefan Pieper [Mai 2021]

Siehe dazu auch: Stefan Piepers Interview mit Marcel Falk, Geschäftsführer des Kammerorchesters Basel und Initiator dieses Projekts

„Darmsaiten offenbaren einfach mehr Farbe…“

… ein Gespräch mit der spanischen Geigerin Lina Tur Bonet

Lina Tur Bonet ist nicht nur eine gefeierte Barockgeigerin, sondern bringt allen Stilepochen dieselbe Neugier entgegen. Immer geht es darum, den Klang der Zeit zu verstehen und sich diesen mit den spezifischen Instrumenten zu eigen zu machen. Mittlerweile liegen circa ein Dutzend Soloaufnahmen von ihr vor – ebenso zeugen sieben Produktionen mit ihrer Gruppe MUSIca ALcheMIca von einer hohen Produktivität als Ensembleleiterin. Jetzt hat sie sich zusammen mit der Pianistin Aurelia Visovan ans Thema “Beethoven” heran begeben. Auf dem Programm der neuen CD steht zum einen dessen Sonate Nr. 9 A-Dur, opus 47 “Kreutzer-Sonate”, die ja eigentlich ganz anders heißen sollte, wenn es um den wahren Widmungsträger dieser virtuosen Komposition geht. Das andere große Werk dieser Aufnahme markiert das Gegenteil davon: Beethovens letzte Violinsonate Nr. 10 G-Dur, opus 96 “The Cockcrow” ist ein Spätwerk in Reinkultur. Nach einer vielbeschäftigten Zeit mit zahlreichen Konzerten fand Lina Tur Bonet Zeit für ein ausgiebiges Gespräch.

Sie genießen vor allem als Barockmusikerin einen herausragenden Ruf. Wie fügt sich jetzt eine Beethoven-Aufnahme in dieses Bild?

Ich bin sehr breit aufgestellt. Ich habe schon viel Romantik und modernes Repertoire gemacht, unter anderem auch eine Bartók-CD. Ich spiele sowohl auf historischen Instrumenten wie auf einer modernen Geige.

Ihr Schwergewicht bildet aber dennoch das Spiel auf historischen Instrumenten?

Auf jeden Fall. Ich habe sogar Bartók auf Darmsaiten gespielt, denn das war üblich zu seiner Zeit. Noch wichtiger ist die Auswahl eines Bogens, wie er zur Entstehungszeit einer Komposition üblich war. Gerade bei der Bartók-Aufnahme habe ich verschiedene Varianten ausprobiert. Die Wahl fiel schließlich auf eine Kombination aus drei Darmsaiten plus der höchsten E-Saite aus Stahl. Das war in Europa zu dieser Zeit verbreitet. Ich will gar nicht bewusst „historisch“ agieren, sondern habe einfach festgestellt, dass dies perfekt für die Musik ist.

Was können Darmsaiten mehr?

Darmsaiten sind nicht so stark im Klang, aber haben dafür viel mehr Obertöne. Wie diese sich mischen, das offenbart mehr Farbe und eröffnet viele neue Möglichkeiten. Es treten mehr Konsonanten im Spiel hervor, gerade weil der Klang nicht so „rund“ ist wie mit Stahlsaiten. Letztere etablierten sich, weil die Säle größer geworden sind. Darmsaiten haben mehr Farbe. Vorausgesetzt, man ist in der Lage, mit Flageolett und Portamenti zu experimentieren.

Erschließen sich dadurch neue Aspekte der Komposition?

Auf jeden Fall. Ich kann vieles, was der Komponist sagen wollte, besser verstehen.

Wie verbessern diese Saiten das Verstehen?

Das Spiel auf Darmsaiten fördert das Verständnis für die Aufführungspraxis ungemein. Die Affekte, die der Komponist wollte, kommen besser durch. Und zwar nicht nur die Farben, sondern auch die Sprache. Gerade, weil Darmsaiten viel besser die Konsonanten einer musikalischen Sprache entfalten – fast so, wie in der Vokalmusik. Nikolaus Harnoncourt spricht hier von Klangrede.

Was bedeutet Ihnen Rhetorik in der Musik?

Ich spüre in der Musik, ob die Sprache eines Komponisten deutsch, italienisch oder französisch ist. Solche feinen Unterschiede nachzuempfinden funktioniert auf Darmsaiten ungleich besser. Auch wenn der Original-Klang oft roher anmutet als auf Stahlsaiten. Dafür wirken plötzliche Forte-Ausbrüche viel unmittelbarer. Um dies herauszustellen, gerade bei Beethoven, kam auf der neuen Aufnahme auch ein Bogen aus der Zeit Beethovens zum Einsatz. Das hat mir geholfen, die Striche, wie sie bei Beethoven üblich waren, besser zu verstehen.

Was macht einen historischen Bogen aus?

Die Geige hat sich über die Jahrhunderte nicht so sehr verändert, aber der Bogen umso mehr. Beim historischen, heute üblichen Bogen geht die Kurve nach oben, sie ist also konvex. In der Klassik seit 1750 hat sich der Bogen dann verändert, die Form wechselte zu konkav. Das ermöglicht mehr Druck auf der Spitze, dadurch wurde alles gleichmäßiger im Sinne von Egalität. Ein Bogen aus der zeitgenössischen Praxis offenbart einfach mehr Kraft und Artikulation. So etwas erzeugt ein starkes Aha-Gefühl.

Barockmusik hat viele Freiräume, die Sie ja bekanntermaßen gerne auch improvisatorisch ausschöpfen. Beethoven jedoch setzt viele Vortragsbezeichnungen und überlässt anscheinend so wenig wie möglich dem Zufall. Empfinden Sie hier einen Widerspruch?

Nicht unbedingt. Zwar hat Beethoven immer sehr genau geschrieben, was er wollte. Gleichzeitig ist Freiheit seine Sache und wir wissen, dass er gerne improvisiert hat. Er war ja auch froh, dass Bridgetower in den Kadenzen der A-Dur-Sonate drauflos improvisiert hat.

Wie setzen Sie sich mit dem Komponisten als Menschen in seiner Welt auseinander?

Ich will die Partitur möglichst gut kennen und lese sehr viel über den Kontext eines Werkes. Ebenso recherchiere ich, wie damals gespielt wurde. Ich habe auch die zeitgenössischen Fingersätze erforscht. Wie war das Leben eines Komponisten? Beethoven war ein Revolutionär, der wusste, dass er etwas großes für die Musik macht. Und es blieb diese reiche, innere Welt, als er selbst nicht mehr hören konnte. Das alles inspiriert mich sehr.

Warum haben Sie gerade diese beiden Sonaten miteinander kombiniert?

Das Cover der CD ist schwarz und weiß, das soll die zwei unterschiedlichen Seiten von Beethoven illustrieren. Diese Sonaten widerspiegeln zwei Welten. Wir waren uns zunächst nicht sicher über die Kombination. Wir wollten auf jeden Fall die Kreutzer-Sonate aufnehmen und haben dann an alle möglichen Kombinationen gedacht. Die zehnte Sonate war die einzige, die wesentlich später komponiert wurde. Sie spiegelt also einen anderen Moment aus Beethovens Leben wieder. Sie atmet eine viel tiefere innere Ruhe. Beethoven war zu dem Zeitpunkt schon taub. Die daraus resultierende Ausschließlichkeit seiner innerlichen Gefühle fasziniert. Überhaupt werden so viele Stücke Beethovens immer ein Rätsel bleiben. Man denke hier auch an die späten Quartette – diese pure, reine, innerliche Musik.

Nach welchen Ausgaben erarbeiten Sie die Musik? Sind die Phrasierungen schon festgelegt?

Wir haben immer nach originalen Partituren gearbeitet. Es handelt sich um Noten von Geigern aus dieser Zeit – es geht aber nicht darum, diese zu kopieren, sondern stattdessen, sich zu etwas neuem inspirieren zu lassen und sich hier neue Freiheiten zu nehmen.

Sie begeben sich forschend in die Entstehungszeit einer Komposition hinein, zugleich sind Sie eine Musikerin aus dem Heute, die für ihr Publikum mit Leidenschaft und Temperament spielt. Wie geht das zusammen?

Wir spielen heute die Musik im Jahr 2021 und lassen Dinge aus unserer Zeit leben. Das schließt viel Respekt und eine große Neugier vor den Komponisten nicht aus. Dieses ganze Studium, dass wir für eine Aufnahme auf uns nehmen, gibt mir sehr viel und ich habe das Gefühl, dass dass Publikum dies auch schätzt und hören kann.

Das rockt ja manchmal richtig, wie Sie spielen. Was passiert emotional in einem Konzert?

In einem Konzert ist nicht zu hören, wie viel Arbeit da wirklich drin steckt. Ich versuche immer, ganz viel zu geben, denn ich glaube, dass die Musiker damals auch ganz viel gegeben haben. Es lässt sich wohl sagen, Vivaldi war ein echter Rockmusiker. Es gab noch keine Rockmusik, aber es gab dieselben Gefühle wie heute.

Wollen Sie Vorurteile revidieren, etwa in Bezug auf Alte oder auch klassische Musik? Konzerte von Ihnen suggerieren ja das Gegenteil von bildungsbürgerlicher Erstarrung.

Für Beethoven gilt so etwas auch. Die Uraufführung der Kreutzersonate muss extrem wild gewesen sein. Es wurde spontan fast vom Blatt gespielt. Ich lasse mich für mein Tun gern auch von heutiger Musik inspirieren. Dann stelle ich mir vor, was Beethoven und Vivaldi damals schaffen wollten. Ich glaube, die wollten alles andere als ein steifes Setting. Solche Gedanken inspirieren mich und ich lege Wert auf Kollegen, die diese Lust teilen. Aber im Konzert oder auf einer Aufnahme loslassen zu können, braucht eine gründliche Vorarbeit.

Wie sind Sie auf Ihre Partnerin Aurelia Visovan gekommen?

Wir haben uns vor ca. 1,5 Jahren in Wien kennengelernt, haben uns dann getroffen und ein paar Sonaten gespielt. Wir konnten uns dann schnell auf viele Dinge einigen, zum Beispiel auch auf die bevorzugte Notentext-Grundlage. Hier fiel die Wahl auf die neue Ausgabe. Wir haben Konzerte gemacht und es wurde klar, dass wir eine Platte machen wollen. Es blieb spannend von der ersten Probe bis zur Aufnahme.

Wie kam es zu diesem Titel? War ursprünglich „Sonata Mulattica“ anstelle von „Sonata Lunatica“ geplant? Was hat es damit auf sich?

Es sollte erst „Mulattica“ heißen. Beethoven hat alles sehr schnell herunter geschrieben und eine Widmung mit folgendem Wortlaut hinterlassen: „Sonata mulattica Composta per il Mulatto Brischdauer, gran pazzo e compositore mulattico“. Dieses Wortspiel bezog sich auf den Widmungsträger, den Afroeuropäer (bzw. „Mulatten“) George Bridgetower, den Beethoven hier als „Musikverrückten“ (= Lunatico) tituliert. Dann gab es Streit mit Bridgetower und er hat es ausradiert und die Sonate dem Geiger Rodolphe Kreutzer gewidmet. Kreutzer – übrigens der bekannteste Geiger seiner Zeit – hat die Sonate nie gespielt, weil er sie für zu schwierig hielt. Bridgetower war den Rest seines Lebens darüber beleidigt, da die Sonate ja eigentlich „seine“ Sonate war.

Das Video zu Ihrer vorigen Aufnahme „La Belezza“ zeugt nicht minder von Ihrer unstillbaren Neugier auf den historischen Kontext.

Mich interessiert, wie sich Menschen benommen haben und wie sie gelebt haben. Es gibt sehr viele Schlüssel, um dadurch die Musik zu verstehen. Auf „La Belezza“ geht es um einen breiteren Kontext, um die ganze Vielfalt in der Musik des 17. Jahrhunderts. Die Titel habe ich alle ausgewählt. Es sind wunderbare Stücke. Diese Epoche war eine schwierige Zeit mit vielen Problemen, es gab Epidemien, Hunger, Wetterkatastrophen, Korruption. Und trotzdem hat sich so viel wunderbare Musik ausgebreitet. Es zeigt, dass gerade in schlimmsten Zeiten die Menschen das beste von sich geben. Menschen haben immer neue Wege gesucht, sich auszudrücken. Hinzu kommt der interessante Umstand, dass die CD am 20. März 2020 herausgekommen ist. Das war in dem Moment, als es mit der Covid-Epidemie gerade losging. Es war ein sehr großer Zufall, dass gerade dann diese CD heraus kam.

Sie haben diese Aufnahme mit Ihrem festen Ensemble MUSIca ALcheMIca aufgenommen. Wie haben Sie diese Aufnahme erlebt?

Es war sehr schön, das aufzunehmen und viel improvisieren zu können. Es war wie eine dreitägige Jazz-Jamsession. Wir haben gar nicht mehr gesprochen, sondern nur noch gespielt. Es war wie eine Reise durch viele Länder und es war immer aufs Neue faszinierend, zu sehen, wie die Musik ist. Ich liebe diese Musik und ich glaube, das ist auch zu hören.

[Das Interview führte Stefan Pieper]

CD
Beethoven: Sonata Lunatica
Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Sonate Nr. 9 A-Dur, opus 47 “Kreutzer-Sonate”
Sonate Nr. 10 G-Dur, opus 96 “The Cockcrow”

Lina Tur Bonet: Violine
Aurelia Visovan: Klavier

„Es tut gut, nach einem Konzert in glückliche Augen zu blicken!“

Die Pianistin Shoreena Tsintsabadze pflegt ein gesundes Bewusstsein für die Vielfalt der Welt. Es zahlt sich aus, an unterschiedlichen Orten zu leben und dabei zu wachsen. In Moskau geboren, zog es sie über den Umweg der USA in die Heimat ihrer Familie, nach Georgien. Da wirkt sie seit Jahren am Aufbau eines Musiklebens tatkräftig mit – für diese idealistische Künstlerin ein selbstverständlicher Bestandteil einer internationalen Biografie! Zudem legt sie gerade ihre erste reine Solo-CD vor – mit Schumanns Symphonischen Etuden, Drei Intermezzi von Johannes Brahms sowie Frédéric Chopins Andanta spianato und Grande Polonaise brillante.

Was genießen Sie am meisten an Ihrer „neuen“ Heimat in Georgien?

Die Nähe zu meiner Familie. Ich ich freue mich sehr darauf, hier in kultureller Hinsicht etwas aufzubauen. 

Sie haben in Moskau studiert und danach eine längere Zeit in den USA verbracht. Was für Unterschiede zwischen den Kulturen haben Sie empfunden?

Nachdem ich in Moskau groß geworden bin, kam bei mir der Wunsch auf, mich neu zu erfinden und mir neue Lebensmittelpunkte zu erschließen. Ich habe dann in den USA gelebt und studiert. Hier hat mich vor allem die Weltoffenheit der Menschen begeistert.

In die georgische Heimat meiner Familie zieht es mich aber schon lange. Hier gibt es viel aufzubauen und das Dasein als Musiker ist erst mal, vor allem ökonomisch schwierig.

In Georgien werden Lehrtätigkeiten in Musikschulen immer noch recht schlecht bezahlt. Aber dafür fasziniert mich hier so vieles. Die Kultur in Georgien ist einzigartig. Wir haben eine eigene Schrift, Tanz und Musik sind auch völlig anders als etwa im Nachbarland Armenien. Die Vielfalt der Kaukasusrepubliken untereinander ist extrem spannend. Es gibt aber auch viele Gemeinsamkeiten …

Was möchten Sie hier bewirken?

Ich möchte diesen Ort mit aufbauen und helfen, ihn zu wandeln: Ich fühle mich hier gebraucht. Hier fühle ich mich frei, kann meine eigenen Projekte gestalten. Auch gibt es viele bessere Möglichkeiten als Solist, weil der Markt nicht so umkämpft ist. Damit werden die vergleichsweise schwierigen Lebensbedingungen für klassische Musiker aufgewogen.

Ich möchte durch mein Beispiel vielen jungen Musikern in unserem Land zeigen, dass es nicht notwendig ist, Georgien für immer zu verlassen, um Konzerttätigkeiten durchzuführen und das zu tun, was man liebt. Trotz vieler Hindernisse kann man alles erreichen, wenn man an sich glaubt und sich jeden Tag Schritt für Schritt seinem Ziel nähert.

Im Jahr 2015 haben wir die „Young Musicians International Association of Georgia“ gegründet. Es geht darum, flächendeckend die vielen jungen Talente zu fördern, Wettbewerbe ins Leben zu rufen, Festivals zu gründen. Besonders stolz sind wir auf die „Music International Summer Academy“ und natürlich auf unser „Georgian Youth Symphony Orchestra“.

Ich arbeite jetzt mit viel Energie daran, ein Netzwerk aus Förderern und Sponsoren aufzubauen. Dieses Jahr haben wir einen Zuschuss der Europäischen Union für ein neues Projekt „Opera Past“ erhalten. All dies ist viel harte Arbeit, aber auch ein großes Geschenk, dies überhaupt tun zu können.

Es klingt fast so wie eine kulturelle Gründerzeitstimmung. Genießen Sie das?

Ja, alles fühlt sich neu und unverbraucht an. Es tut so gut, nach jedem Konzerte in so viele glückliche Augen zu blicken. Ständig werden dabei neue Freundschaften geschlossen; das ist ein fruchtbarer Nährboden für Netzwerke. Wir haben bereits ein Festival ins Leben gerufen, welches in einer der schönsten Regionen dieses Landes stattfindet. Im Idealfall finden Konzerte überall im Lande Verbreitung, wodurch es am besten gelingen würde, Talente in den jeweiligen Regionen aufzuspüren und damit unsere Projekte zu bereichern. Wir arbeiten sogar schon mit drei weiteren Ländern zusammen, nämlich Serbien, Montenegro und die Niederlande. Wir hoffen sehr und sind sogar überzeugt, dass sich bald mehr Länder anschließen werden.

Lassen Sie uns über die neue CD sprechen. Sie haben sich für den Dreh Ihres Promovideos ja sogar in die Stadt, in der Robert Schumann lebte, begeben.

Es war schon ein besonderes Gefühl, in der Heimatstadt von Robert Schumann zu sein. Aber es störte gewissermaßen einen Mythos. So vieles Alte ist in der Stadt Düsseldorf durch den Krieg zerstört und neu gebaut worden. Es sieht kaum noch nach einer Stadt mit solch einer Historie aus, von einigen wenigen Dingen abgesehen.

Was war Ihre Intention, Schumann, Brahms und Chopin auf einer CD zu integrieren?

Ich wollte drei verschiedene charakteristische Werke aus einer Epoche miteinander verbinden. Die drei Komponisten sind so unterschiedlich, aber rangieren doch auf einer gemeinsamen Augenhöhe, um die romantische Idee zu idealisieren. Da strahlen Ideale in unsere Gegenwart hinein – in eine Zeit, in der sie nicht mehr in dieser Form da sind!

Nicht mehr da? Hat nicht jeder Mensch ganz tiefe Empfindungen, die sich durch eine solche Musik wecken lassen?

Ja, Musik kann das. Deswegen machen wir das ja. Musik hilft uns, zu überleben in diesen Routinen des Alltags. Wenn Sie mich fragen, ob man die kompositorischen Elemente dieser drei Komponisten vergleichen kann, würde ich ja sagen, obwohl sie so unterschiedlich sind. Aber die Idee dahinter bleibt gleich.

Schumann nannte seine Etuden erst „pathetisch“. Danach strich er diesen Untertitel und wählte das Attribut „sinfonisch“.  Sind das für Sie auch unterschiedliche Qualitäten?

Zu Anfang wollte Schumann sie pathetisch nennen wegen der Tiefe und Ernsthaftigkeit ihrer Tonsprache. Pathetisch hat ja auch etwas Wertendes, deswegen hat er wohl nach einer treffenderen Definition gesucht. Robert Schumann war von Grund auf ein Sinfoniker. Er hat in seinen Partituren von jedem einzelnen Instrument eine Klangvorstellung. Darüber gibt es viele Zeugnisse aus seiner Zeit als Kapellmeister.

Färbt Schumanns orchestrale Klangvorstellung auf Sie als Pianistin ab?

Ich denke immer sehr orchestral. Wenn mich jemand nach meinem Lieblingsinstrument fragt, würde ich sagen, es ist das Orchester. Das Klavier ist mein Beruf, aber ich liebe jedes Instrument im Orchester. Trotzdem würde ich keine Dirigentin sein wollen: Ich weiß, dass ich dafür nicht der Typ bin. Also imaginiere ich alle Orchesterinstrumente, wenn ich die sinfonischen Etuden spiele. Aber mich regt hier nicht nur die Idee der Instrumente an; Schumann war ja nicht nur ein außerordentlicher Komponist, sondern ebenso ein großer Denker und liebevoller Ehepartner, Vater und vieles mehr. Er vereint in seinem Wesen so viel, etwa so, wie ein Maler die Farben auf einem Bild. Aber Musik kann noch viel differenzierter die tiefsten menschliche Regungen wieder geben. Es ist überliefert, dass Schumann immer auf ganz verschiedene Weise gespielt hat. Ich versuche, mich mit meinem eigenen Denken und Spielen dieser Variabilität anzunähern. Dadurch kommen immer mehr Möglichkeiten und Facetten ins Spiel und deswegen ist es unmöglich, immer genau gleich zu spielen.

Über Ihre Interpretation von Johannes Brahms Intermezzi schrieb ein Kritiker, sie währen sehr lebensbejahend und gar nicht so jenseits-gewandt wie es für den späten Brahms gesagt wird. Wie finden sie dieses Urteil?

Das Lebensbejahende zum Ausdruck bringen, war mir ein großes Anliegen. Brahms ruhte sehr stark in sich selbst, was sich in den Intermezzi widerspiegelt. Obwohl die Stücke recht kurz sind, leben  viele Erinnerungen und Prägungen aus der Vergangenheit. So klingt ein reiches Leben; das ist schon ein gewisser Kontrast zu Robert Schumann. Dessen Motto war bekanntlich: Frei aber einsam. Brahms hat es geändert, so dass diese Parole für ihn lautete: „Frei aber glücklich“, und auf keinen Fall einsam. Schumann war ein viel komplizierterer Charakter, introvertiert im Leben und extrovertiert in der Musik.

Was möchten Sie Ihrem Publikum vermitteln?

Jeder, der in ein Konzert geht, erwartet ein neues Erlebens und keine Kopie von bereits Vorhandenem. Deswegen ist es jeden Tag immer wieder eine neue Erfahrung, mein Repertoire zu spielen. Ich erfinde mich einfach gerne neu. Aus diesem Grund mag ich es gar nicht so sehr, meine alten Aufnahmen zu hören. Das sind Momentaufnahmen von etwas Vergangenem.

[Interview mit Stefan Pieper]

„Momente, die ausschließlich mir gehören!“

Nach ihrer Duo-CD mit dem Klavierpartner David Fung legt die Geigerin So Jin Kim nun eine Produktion mit dem Kurpfälzischen Kammerorchester Mannheim vor. Für die schlanke Besetzung dieses Klangkörpers lag die Entscheidung für Mozarts Violinkonzerte KV 216 und 219 auf der Hand – Stücke, die erklärtermaßen wie eine Energiequelle für So Jjin Kim wirken. Mit Stefan Pieper sprach sie über diese Musik und die emotionalen Voraussetzungen dafür. Aber es ging auch um ihr Festival, das hoffentlich im Sommer im koreanischen Yeosu Premiere hat.

Wie geht es Ihnen unter den momentanen Umständen?

Ich habe viel freie Zeit. Zum Glück habe ich eine feste Stelle als stellvertretende Konzertmeisterin in einem Orchester und damit immer noch ein festes Auskommen. Aber es sind auch bei mir viele Konzerte ausgefallen. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen, die Freelancer sind, haben jetzt ein echtes Problem. Für die, denen jetzt gerade eine fest geplante Tour platzt, ist es besonders schlimm. Es zahlt sich jetzt aus, gut vorgesorgt zu haben. Gut aufgestellt ist, wer auf eine Mischkalkulation aus verschiedenen Einnahmenquellen zurück greifen kann. Es überrascht mich die optimistische Stimmung, die in den sozialen Medien herrscht.

Teile Ihrer Familie leben ja in den USA und in Südkorea. Was ist anders dort?

Es kommt mir so vor, als ob in Korea die Menschen schon das Schlimmste mit der Corona-Epidemie überstanden haben und die Menschen die Situation in den Griff bekommen. Dort wurde meiner Meinung nach auch besser reagiert. Alle verdächtigen Personen sind sofort isoliert worden – und das Gesundheitssystem ist viel effektiver dort!

Wirkt sich eine andere Kultur/Mentalität aus?

Unbedingt. Der Lebensstil ist anders. Das zeigt sich schon im Alltagsleben: Alles wird in Korea online bestellt und geliefert und es drängeln sich keine Menschenmassen in den Supermärkten.

Wie gestalten Sie Ihre freie Zeit?

Es ist schön, Zeit mit dem Instrument zu verbringen. Ich blicke in die Zukunft und will das Repertoire erweitern, Solokarriere und Orchesterjob verbinden und ein eigenes Festival planen.

Warum haben Sie sich für Ihre aktuelle Aufnahme für diese zwei Mozart-Violinkonzerte entschieden?

Beide Konzerte sind eine Art Pflichtprogram für Geiger. Man kommt um diese Stücke nicht herum. Jeder Violinist muss sie spielen, zu allen Gelegenheiten: Für Bewerbungen, in Wettbewerben bei allen erdenklichen Jobs. Normalerweise symbolisieren solche Stücke viel Stress und Erwartungsdruck, weil so vieles davon abhängt. Auch ich habe das ganze durchgemacht.

Da bin ich jetzt aber sehr neugierig, warum Sie gerade mit diesen Konzerten ins Aufnahmestudio gehen. Und wo das Geheimnis liegt, dass schließlich doch so eine beseelte Musik heraus kommt!  

Eigentlich ist es ganz einfach: Mozarts Musik erhebt sich auf Anhieb über alle schwierigen Begleitumstände. Beide Konzerte verkörpern für mich eine absolute Reinheit. Die Natürlichkeit der Phrasen erzeugt auf Anhieb so viel emotionale Wärme in mir. Die Außenwelt kann noch so aufreibend sein, sobald ich diese beiden Konzerte spiele, geben sie mir Momente, die ausschließlich mir gehören. Sogar in Wettbewerbssituationen haben mir Mozart (und auch Bach!) das starke Gefühl vermittelt, dass ich gerade etwas für mich mache. 

Gibt es trotzdem so etwas wie Schwierigkeit? 

Oh ja – und wie! Da ist der Prozess, um eine Idee im tiefsten Inneren nach außen lebendig zu machen und zwar so, dass diese in der Musik wirkt und diese lenkt. Kreative Ideen entstehen im Kopf – von da ab ist es ein langer Weg, diese zum Leben zu wecken. Da kommt immense Arbeit und viel Technik ins Spiel, bis schließlich alle Vorstellungen real sind.

Haben Sie bestimmte Bilder im Kopf?

Bei mir geht es in dieser Hinsicht nicht so visuell zu. Für mich steht Mozart für eine ganz bestimmte Emotion. Egal was Mozart komponiert, da ist nie etwas Angestrengtes im Spiel, kein negatives Gefühl oder gar Aggressivität. Andere Komponisten bringen häufig auch Affekte wie Tragik, Trauer und Wut zum Ausdruck. Auch dabei kann große Musik heraus kommen. Mozart markiert eine andere Welt. Er hatte ja wirklich ein verrücktes Leben, war aber fähig, daraus das Schönste, Dramatischste und Tiefste zu schöpfen.

Denken Sie überhaupt noch über Technik nach?

Die Technik auf der Violine ist kein Selbstzweck, sondern einfach da. Ich möchte die Emotion dahinter aufspüren. Auch wenn gerade Trauer dominiert, erwächst bei Mozart doch immer eine schöne Farbe daraus. Das wunderbare ist hier auch, dass diese Empfindungen von Menschen sehr unmittelbar geteilt werden, die gar keine Kenntnisse von Klassik haben. Mozart kann jeden an einen froheren und glücklicheren Platz bringen.

Was wollen Sie Ihrem Publikum mit einer CD-Aufnahme weitergeben?

Es geht immer darum, auf dem Weg der Musik den besonderen Moment zu finden. Aber alles, was wir machen, ist temporär. Daraus erwächst das Bedürfnis, etwas Dauerhaftes zu schöpfen. Etwas zu erzeugen, das man immer wiederholen möchte. Und mit dem sich ein gemeinsamer Nenner beim Publikum und bei den Hörern zuhause finden lässt.

Wie kam es zur Aufnahme gerade mit diesem Orchester?

Ein gemeinsames Projekt mit dem Kurpfälzischen Kammerorchester ist ein Glücksfall für mich. Ich hatte schon vorher von diesem Orchester gehört. Diese Musiker sind sehr offen und wunderbar flexibel. Allein deswegen wollte ich sofort mit ihnen arbeiten. Erst danach fiel die Wahl auf Mozart.  Dass wir in der Mannheimer Epiphaniaskirche aufgenommen haben, geht ebenso auf meine persönliche Wahl zurück. Es hatte mehrere Alternativen gegeben.

Warum ist ein kleines Orchester für dieses Unterfangen so prädestiniert?

Die Instrumentierungen bleiben schlank und das passt unmittelbar zu Mozarts eigenem Schaffenskontext: Mozart schrieb für sich selber, dirigierte und spielte.

Sie spielen und dirigieren ja auch abwechselnd. Wie wirkt sich das auf die Kommunikation aus?

Der Dirigent ist normalerweise Kommunikator zwischen Solist und Orchester. Bei einem kleinen Orchester ohne Dirigent ist die Verbindung viel unmittelbarer. Davon profitieren auch die Proben: Sie machen viel Spaß und alles geht scheinbar wie von selbst. Das kommt nicht zuletzt den opernhaft-dramatischen Aspekten in Mozarts Kompositionen zugute.

Wie sehen Sie das spezifisch opernhafte in Mozarts Musik?

Oper heißt ja, dass die Musik Geschichten erzählt. Alles hat eine Bedeutung und sagt etwas. Mozarts Opern transportieren viel Menschlich-allzu-Menschliches. Egal ob die „Hochzeit des Figaro“ oder auch „Don Giovanni“ –  alles kommt aus dem prallen Leben! Und diese Natürlichkeit im Ausdruck lässt bei Mozart immer den Funken überspringen.

Sie hatten gerade schon Ihr eigenes Festival angesprochen. Darüber möchte ich gerne noch mehr erfahren.

Es soll – wenn alles so kommt wie erhofft –  in Yeosu in Südkorea stattfinden. Dort leben auch meine Eltern. Es ist ein ganz toller Platz am Meer. Im Jahr 2012 wurde hier anlässlich der Expo eine spektakuläre Halle gebaut. Ich habe mich für ein Festival mit klassischer Musik an diesem Ort stark gemacht. Ich möchte hier vor allem junge Musiker präsentieren, bevorzugt kleinere Kammerensemble. Dabei ist mir an einem zeitgemäßen Konzept gelegten, den Menschen in dieser Stadt die klassische Musik nahe zu bringen.

Was für Prioritäten setzen Sie hier?

Wir haben ja gerade schon über diese besonderen Momente gesprochen. Mir ist an Musikern gelegen, die so etwas transportieren können. Denn das kann Schlüsselerlebnisse für die klassische Musik vermitteln. Ein sinnvolles Festivalprogramm sollte einem klaren Narrativ folgen, denn es geht doch auch um die Geschichten hinter der Musik. Und zwar für ein Publikum, das nicht zu den Spezialisten gehört. Mein Ziel ist es, dass die Klassik das Elitäre abschüttelt und sich Schwellenängste abbauen. Das wichtigste bleibt aber, wie die Musiker spielen. Mittelmaß hat in klassischer Musik nichts verloren. In der Popkultur mag sich vieles über schöne Dekoration definieren. In der Klassik ist echte Substanz alternativlos und gerade dadurch geht diese Musikform einen bedeutenden Schritt weiter.

Wie motiviert man die medial dauerberieselten Menschen, diesen Schritt mitzugehen?

Es ist schwerer geworden. Die sozialen Medien diktieren eine Kultur der Kurzlebigkeit. Keiner guckt mehr ein Video, das länger als 5 Minuten ist. Jeder will alles immer kürzer. Das ist dass genaue Gegenteil von Klassik – und genau da wird die Vermittlung zur Herausforderung. Eine ganze Komposition hören, kann manchmal heißen, ein ganzes Leben zu durchlaufen.

„Jede Variation führt uns eine neue Facette von uns selbst vor!“

Aus Russland stammend, wurde die Pianistin Anna Kavalerova in Tel Aviv heimisch – heute schöpft sie aus dem Leben in der vibrierenden Kulturmetropole viele künstlerische Anregungen. Ihr jüngstes Projekt wiederspiegelt eine künstlerische Haltung, in der die Ausforschung einer tiefen Wahrheit in der Musik mit persönlicher Selbsterkenntnis einher geht. Um verschiedene Aspekte von Variationen geht es auf der aktuellen CD: Robert Schumann unternimmt in seinen Sinfonischen Etüden opus 13 ausgedehnte Streifzüge durch die Gattungen der Musikhistorie. Sergej Rachmaninov mischt in seinen Variationen eines Corelli-Themas die harmonischen Farben, bis schließlich ein jazz-affiner Tonfall heraus kommt. Ein Thema, dass sich in zahllosen Variationen immer wieder neu erfindet, steht für Anna Kavalerova symbolisch für die Kunst des Sich-selbst-neu-erfindens. Im letzten Programmpunkt erweist sie sich als ungemein stilsicher aufspielende Jazzpianistin – auch, wenn Nikolai Kapustin in seinen Variationen opus 41 alles bis zur letzten Note durchkomponiert hat.

Das Interview führte Stefan Pieper

Warum haben Sie gerade diese Werke auf Ihrer neuen CD vereint?

Ich habe Robert Schumanns Sinfonische Etuden und Rachmaninows Variationen über ein Thema von Corelli miteinander kombiniert, weil ich diese Stücke endlich einmal aufnehmen wollte, nachdem ich sie schon oft im Konzert gespielt hatte. Es war aber eine Riesen-Herausforderung, diese vielen Stücke auf eine CD zu bringen. Es sind ja komplexe Werkzyklen voller Gegensätze. Vor allem zwischen Schumanns Sinfonischen Étuden und Rachmaninoffs Variationen gibt es einen großen Unterschied vom Konzept her. Daraus einen einheitlichen Spannungsbogen für eine Aufnahme zu kreieren, war schon ein kolossales Unterfangen.

Sollen Nikolai Kapustins Variationen opus 41 einen bewussten Kontrast setzen?

Kapustins jazziges Stück dient tatsächlich dazu, den Hörer in beschwingter Leichtigkeit zu entlassen. Aber trotzdem sehe ich auch eine starke Gemeinsamkeit bei diesen Programmpunkten: In allen drei Fällen begeisterte es mich, wie wundervoll diese Tonschöpfer mit dem Material arbeiten.

Können Sie Ihr Anliegen im allgemeinen auf den Punkt bringen?

Es ist wichtig, als Musiker etwas für sich zu gewinnen – ebenso, dem Publikum etwas zu vermitteln. Ich möchte auf jeden Fall immer diese Komponenten miteinander verbinden.

Was reizt Sie am Prinzip der Variation?

Variationen waren und sind ein beliebtes und vielseitiges Feld für Komponisten. Sie offenbaren so eine große Vielfalt. Jeder Zyklus hat seine spezifischen Herausforderungen. Mich reizt vor allem dieser Freiraum, der weit über den rigiden Rahmen der Sonatenform hinaus geht. Eine Sonate hat eine klar definierte Gestalt. In Variationen haben Komponisten gerne solche Grenzen überschritten. Daraus einen Spannungsbogen zu schaffen, ist für jeden Interpreten eine große Herausforderung. Da jede Variation naturgemäß sehr kurz ausfällt, ist das komponierte Material in der Regel extrem komprimiert. Aus der Kürze und Pluralität ein großes Ganzes zu erzeugen, ist ein spannendes Unterfangen, das mich sehr fasziniert hat. Vor allem der Aspekt von Entwicklung spielt eine große Rolle. Umso mehr, weil die Musik immer wieder zum Ausgangsmaterial zurück kehrt, das immer präsent bleibt. Das berührt bei mir tief persönliche Gedanken. Denn es zeigt etwas von unserem Wesenskern, der immer da ist, aber der sich trotzdem aufs neue entfaltet. Jede Variation eröffnet eine neue Facette von uns selbst und führt symbolisch vor, dass wir am Leben sind.

Das ist eine interessante Ausweitung ins Philosophische. Was für Aspekte sprechen Sie bei Schumann und Rachmaninoff besonders an?

Schumanns „Sinfonische Etüden“ sind tief persönlich geprägt, wenn sie vor allem die erwachte Liebe zu seine künftigen Frau Clara abbilden. Alles führt vom Dunkel ins Licht hinein. Das erste Thema ganz zu Beginn ist ein Trauermarsch. Die ersten sechs Variationen machen dann in  Molltonarten weiter, danach wechselt es ins Dur und alles geht bergauf. Verschiedene Instrumente werden imaginiert, Holz- und Blasinstrumente imitiert und es folgen Zitate aus dem Mendelssohn-Konzert, später dann aus dem Capriccio von Paganini. Auch kommen viele verschiedene Stile ins Spiel: Ein Menuett, ein Walzer, ein Intermezzo im spanischen Stil sowie osteuropäische Elemente. Das Finale am Ende der Variationen wirkt schließlich wie ein Triumphzug. Schumann hat diese Musik in der Jugend geschrieben, das merkt man. Es ist manchmal wie Karneval. Da ist pure Lebensfreude.

Welche andere Perspektive nehmen Rachmaninoffs Variationen ein?

Rachmannoffs Variationen bilden die unruhige Entwicklung der menschlichen Zivilsation im frühen 20. Jahrhundert mit seinen Weltkatastrophen ab. Musikalisch kommt alles aus der Vergangenheit: Es überwiegen klassische Harmonien und alles ist – völlig losgelöst von der erwachenden Avantgarde –  sehr konservativ. Emotional und atmosphärisch ist diese Musik auf der Höhe der Zeit und  wiederspiegelt eine gewisse Düsternis, die aus der russischen Revolution und später vom zweiten Weltkrieg her rührt. Man hört in dieser Musik, dass durch die Tragödien der Gegenwart gerade eine Welt zusammen bricht. Wir spüren in dieser Musik, dass eine Entwicklungslinie, die von der Klassik her kam, endgültig zerbrochen ist. Man kann es vielleicht mit „La Valse“ von Maurice Ravel vergleichen, wie hier Rückschau gehalten wird aus einem Blickwinkel, der immer ironischer wird.

Gleich mehrere Variationenzyklen in einem Programm – eine größere pianistische Vielfalt lässt sich vermutlich kaum auf einer CD vereinen. Wollten sie mit diesem Programm ganz bewusst möglichst viel von sich selber zeigen?

Bei der Arbeit an jedem Stück reflektiere ich spezifische Aspekte von mir selbst. Das macht ja auch den Reiz an meinem Beruf aus. Musik machen ist ein immerwährendes Suchen. Eine konstante Wahrheit gibt es ja sowieso nicht. Pianistin zu sein, hilft ja auch, sich immer wieder neu zu erfinden. Was den einen Tag das wahre, richtige war, kann ja eine Woche danach schon etwas ganz anderes sein. Und es geht ja auch nicht immer in eine Richtung. Das Leben hat Höhen und Tiefen, auch das gehört dazu. Als Musikerin versuche ich, immer wieder nach etwas Neuem, vielleicht Besseren in meinem Leben zu suchen.

Das schließt bei Ihnen dann sogar ein, auch mal in die Rolle einer brillanten Jazzpianistin zu schlüpfen. Wie Sie hier die Variationen von Nikolai Kapustin spielen, hält dies jedem Vergleich mit improvisierenden Jazzern stand. Ihr Spiel hat Swing. Viele Klassik-Musiker scheitern daran, wenn sie sich auf solch ein Terrain begegeben.

Vielen Dank für das Kompliment! Es ist schön, wenn Sie das überrascht hat. Das war gewissermaßen die Idee. Denn niemand, der den Titel „Variationen plus“ liest, erwartet diesen Effekt beim Hören der CD. Aber hinter dem, was hier so leicht und improvisiert wirkt, steckt extrem viel harte Arbeit.

Haben Sie vorher schon mal Jazz gespielt?

Nein! Und das Kapustin-Stück ist ja im Kern überhaupt kein Jazz. Der Komponist hat hier alles bis auf den letzten Ton und aufs letzte Detail schriftlich fixiert, auch wenn er die Tonsprache und die Harmonien des Jazz nutzte. Es kommt hier darauf an, den Vibe und die Emotion zu erfassen.

Nochmal kurz zu Ihrer heutigen Situation. Was hat Sie eigentlich nach Israel verschlagen?

Ich folgte meinem Lehrer Emanuel Krasowsky nach Israel und habe hier drei Jahre lang auf meinen Master-Abschluss hin gearbeitet. Mittlerweile lebe ich seit sieben Jahren in Israel und es ist der ideale Lebensmittelpunkt – vor allem in künstlerischer Hinsicht! Mir gefallen hier vor allem die vielen Musikfestivals und der rege Austausch. Es gibt hier so viele Musiker, Konzerte und Festivals. Ich spiele sehr viel Kammermusik. Diese immense Dichte hält mich auf Trab.

Was ist anders als in Russland?

Vor allem die Mentalität. Es herrscht eine große Offenheit. Alle sind sehr freundlich und hilfsbereit. Vielleicht liegt es daran, dass dieses Land von Einwanderern aufgebaut worden ist. Jeder, der hier heute lebt, hat Vorfahren, die Einwanderer waren. Und es ist ein kleines Land. Entsprechend überschaubar und transparent ist der Berufsmarkt für Musiker. Jeder kennt jeden, das macht die Vernetzung einfach.

Ist die sprichwörtlich strenge „Russische Klavierschule“, die Sie sicherlich in Ihrer Jugend durchlaufen haben, heute noch ein Kapital?

Ich bin sehr für diese Grundausbildung dankbar, denn sie ist ein Fundament für alles. Mein gesamter Werdegang ist aber erst durch eine große Vielfalt in meinem Leben zu dem geworden, was er heute ist. Es ist wichtig, verschiedene Orte, Erfahrungen, Kulturen, Traditionen zu einem großen Ganzen zu vereinen und daran zu wachsen. Erst dann wird man flexibel und kann sich immer weiter entwickeln. Das Leben ist ein lebenslanger Prozess, eine endlose Suche.

Raus aus der Komfortzone: Karina Cannelakis verfolgte in Hamburgs Elbphilharmonie eine klar definierte Mission

Beethoven wollte aufbegehren und Grenzen sprengen. Der polnische Komponist Witold Lutoslawski hörte seismografisch die Verwerfungen eines unruhigen Zeitalters, um sich in seinem viel zu selten gespielten Orchesterkonzert kraftvoll darüber zu erheben. Die amerikanische Dirigentin Karina Cannelakis stand zum Ersten Mal in der Elbphilharmonie auf dem Dirigentenpult und zeigte sich selber überwältigt von dieser Komposition. Emotionen, die sie ungefiltert ans hochmotivierte NDR-Sinfonieorchester und das Publikum in der Elbphilharmonie weitergab!

NDR Sinfonieorchester – Foto: Nikolaj Lund | NDR

Symbolträchtig laufen solch verschiedene Fäden in der Hamburger Elbphilarmonie zusammen. Bemerkenswert beim Gastspiel mit der vielgefragten US-Dirigentin und einem bestens motivierten NDR-Sinfonieorchester: Das wohlfeile „Sandwich-Prinzip“, bei dem die klassischen Werke die modernen Programmpunkte sicher „umrahmen“, ist an diesem Morgen umgedreht. Webern – zweimal Beethoven- schließlich Lutoslawski  – soll die Dramaturgie sein. 

Ganz unproblematisch ist diese Reihenfolge nicht: Zu einem sensiblen Drahtseilakt bei diesem Matineekonzert – dem zweiten Termin mit diesem Programm – geraten Anton Weberns „Sechs Stücke“ zu Beginn. Der wohl puristischste Vertreter der Zweiten Wiener Schule hat in radikaler Zuspitzung sämtliche orchestralen Ausdrucksmittel aus jeder Weitschweifigkeit herausgelöst und komprimiert so etwas in hochverdichteten Miniaturen, die sich auch gerne mal in berstende Tutti-Ausbrüche hinein steigern. Karina Cannelakis Mission in der Elbphilharmonie ist klar definiert: Geht es doch darum, mit lebhafter Gestik das Orchester vom ersten Ton an aus jeder Komfortzone heraus zu holen. Das gibt allerdings den Webernschen Klangskizzen eine gewisse Überspanntheit, wo mehr atmende Kontemplation und mehr Versenkung einen Zustand des Tastens und Suchens markiert hätte.

Wenn sich Kammermusiker in Beethovens Tripel-Konzert Opus 56 zur gemeinsamen „Solistenrolle“ vor einem Orchester vereinen, kann, ja muss eine intensive Interaktion die Folge sein. Christian Tetzlaff, Violine, seine Schwester Tanja Tetzlaff, Violoncello, und der Pianist Lars Vogt erweisen sich in der Elbphilharmonie als charaktervolle Protagonisten, bei denen die persönliche Chemie noch mehr wiegt als die – sowieso vorhandene – spielerische Weltklasse. Karina Cannelakis schwört erstmal jeder Kraftstrotzerei am Dirigentenpult ab, lässt geschmeidige Bögen modellieren, was einer feingliedrigen Differenzierung umso mehr Raum gibt. Das braucht es auch für die aspektreiche Konversation des Solisten-Dreigestirns mit allen Zwischentönen und Doppelbödigkeiten. Christian Tetzlaff lässt seine Violine in hohen Lagen leuchten und strahlen. Seine Partnerin am Cello bedient die Mittellage mit nobler Eleganz – und zwar ohne das Geschehen zu sehr an sich zu reißen, was bei der Cellostimme in dieser Komposition naheliegend schiene. Lars Vogt am Flügel fokussiert sich darauf, die Musik dieses von nun an wohl pausenlos gefeierten Komponisten für die Gegenwart zu reflektieren. Erfrischend freigeistig und impulsiv, ja manchmal fast aufrührerisch sucht das Spiel von Lars Vogt nach Überraschungsmomenten.

Gut, dass nicht immer dann aufgehört wird, wenn es am schönsten ist: Mit noch mehr beseelter Wärme geht es ohne Orchester weiter, um dem jubelnden Publikum mit dem Dritten Satz aus Dvoraks gefühlvollem Dumky-Trio eine Zugabe zu schenken. 

Karina Cannelakis – Foto: Mathias Bothor

Dann wieder Beethoven: Messerscharf fokussiert sich eine nun verschlankte  Orchesterbesetzung auf die vergleichsweise selten zu hörende „Ouvertüre zu Coriolan“ Opus 61. Fast physisch spürbar sind die Crescendi, die aus dieser atmenden Präzision hervorgehen – so geht eine gelungene Symbiose aus Dirigent, Klangkörper und Aufführungsraum. Und ja: Eigentlich wäre diese Beethoven-Ouvertüre als beflügelndes Eröffnungsstück die perfekte Wahl gewesen. Das Programm komplett in einen klassischen Teil vor der Pause und einen modernen danach zu splitten, scheint jedoch nach wie vor ein Wagnis in Bezug auf das Publikumsverhalten.

Witold Lutoslawkis „Konzert für Orchester“ heißt so, weil eben das Orchester zum kompromisslos expressiven Akteur wird. Von maximaler, schonungsloser Direktheit soll keine sinfonische Konvention ablenken, etwa in Gestalt von ruhigen Mittelsätzen. Genau dies ist Sache von Karina Cannelakis: Gleich zu Beginn fordert sie den NDR-Sinfonikern ein straffes Tempo ab. Das gibt der treibenden Rhythmik einen unerbittlichen Puls, lässt Klangereignisse aus allen Richtungen aufbliltzen, sorgt für perkussive Wucht und  schneidende, manchmal collagenhafte Übergänge. Plastisch verzahnt sind die Instrumentengruppen in den weitgespannten polyphonen Parts und die stampfenden tiefen Streicher im berühmten Hauptthema des ersten Satzes entfalten ihre hypnotisch-dunkle Dramatik. Berühmt ist das Thema, weil es als Titelmelodie für das altehrwürdige ZDF-Magazin vereinnahmt wurde und damit zweifellos das beste an dieser Sendung war. Aber hier passiert mehr, viel mehr. Auch blitzen Strawinsky-Zitate auf in dieser aufregenden Gratwanderung zwischen osteuropäischer Tonalität und früher Moderne, zwischen sarkastischer Doppelbödigkeit und Pathos. Ebenso wie Schostakowitsch schuf auch Lutoslawski dieses Meisterwerk unter dem Verfolgungsdruck einer totalitären Zensurbürokratie im Polen der 1950er Jahre.

Karina Cannelakis und das Orchester halten den Spannungsbogen mit bezwingender Urgewalt durch – bevor dieser nach über 30 Minuten ebenso atemlos und abrupt endet, wie er begonnen hat. Die Zeitumstünde dieser Komposition waren düster. Geblieben ist große Musik, die in der Elbphilharmonie einmal dazu beitrug, sich lebendig zu fühlen.

„Neue Wege einschlagen, ohne aus einer alten Kirche eine Disco zu machen…“

Im Gespräch mit dem Viola-Spieler Atilla Aldemir

Atilla Aldemir kam als Spätberufener zur Viola – oder ist es zutreffender, zu sagen: Die Viola hat ihn gefunden? Auf einem Streichinstrument die Mittellage zu entdecken hat bei ihm etwas mit „sich selbst erfinden“ zu tun. Seine neue Doppel-CD vereint Meisterwerke aus Westeuropa mit aktuellen türkischen Kompositionen. Vor allem Spätwerke hatten es ihm bei der Auswahl angetan, da sich gerade hier die emotionale Reife bündelt. Mit der emotionalen Reife geht eine spirituelle Dimension einher. Stefan Pieper traf den umtriebigen Vollprofi in der lauschigen Kantine des Berliner Konzerthauses. Diese Spielstätte und ihr Orchester waren für ihn von 2013 bis 2017 künstlerische Heimat, bevor er seine Stelle als Solobratscher im MDR-Sinfonieorchester antrat.

Das Interview führte Stefan Pieper

Herr Aldemir, Sie sind im schnelllebigen Probenalltag eines Rundfunksinfonieorchesters gefordert, musizieren im Duo mit ihrem Pianisten Itamar Golan –  und morgen geben Sie ein Konzert mit einem türkischen Kemence-Spieler, wo Jazz und Kunstmusik aufeinander treffen. Wie geht das alles bei Ihnen zusammen?

Es hat mir immer schon gefallen, das sinfonische und das solistische Leben zu kombinieren. Abwechselnd mit internationalen Dirigenten und Solisten zu arbeiten, bereichert meine künstlerische Arbeit und tut der schöpferischen Produktivität sehr gut.

Sie haben erst vor einigen Jahren überhaupt angefangen, Bratsche zu spielen und sind jetzt schon Solospieler beim MDR. Wie erklärt sich diese rasante Entwicklung?

Ich kann auf diesem Instrument eine besondere Beseeltheit zum Ausdruck bringen. Eine maßgebliche Anregung dazu habe ich durch meinen damaligen Mentor Matthias Maurer bekommen. Er war mein Bratschenprofessor und ehemaliger Solobratschist des Concertgebouw-Orchesters. Außerdem hatte ich das Glück, zwei hervorragende Instrumente zu finden. Zum einen eine Zanetti Pellegrino, sie stammt aus dem Jahr 1560 und ist von der Größe her fast ein Mini-Cello. Die zweite Bratsche ist ein ganz neues Instrument, gebaut 2016 vom Geigenbauer Alexandre Breton und fast 500 Jahre jünger. Beide haben sehr unterschiedliche Qualitäten, die ich nicht missen möchte. Ich bin seitdem Feuer und Flamme, mir viel Repertoire anzueignen bzw. dieses überhaupt erst für die Bratsche zu erschließen. Neben den Stücken für die neue CD haben es mir die Solo-Violinsonaten von Johann Sebastian Bach besonders angetan.

Geiger gibt es endlos viele, Bratschisten ja schon deutlich weniger. Reizt Sie auch eine gewisse Befreiung von zu viel „Konkurrenz“?

Ich empfinde mich als Streich-Instrumentalist, dem es in erster Linie darum geht, Musik zu machen, egal ob auf der Geige oder auf der Bratsche. Ich habe einige Zeit in Wien gelebt, wo ich wichtige Impulse von meiner ›Geigenmutter‹ Barbara Górzyńska erhielt. Ihr Mann, Matthias Maurer erkannte mein Potential und hat mich dazu ermutigt, mich als eigentlicher Geiger ebenso der Bratsche zuzuwenden. Auf der Bratsche ist es noch einfacher, einen deutlich erkennbaren Wiedererkennungsfaktor herauszuhören. Auch bei den ganz berühmten Spielerinnen und Spielern ist es so. Darüber hinaus empfinde ich den Klang der Bratsche als beseelter, so dass ich mich damit als Künstler noch besser identifizieren kann und daher meine eigene Signatur für die Hörer noch klarer erkennbar wird. Ich bin nun seit April 2017 Solobratschist beim MDR-Sinfonieorchester in Leipzig und möchte zukünftig auch in meinen solistischen Tätigkeiten den Fokus auf die Bratsche legen.

Verraten Sie mir einige grundsätzliche Unterschiede zwischen den beiden Streichinstrumenten!

Als Geiger denkt man oft, je schneller und lauter, desto besser. Diesem sportlichen Aspekt setzt die Bratsche eine andere Dimension entgegen: Der Klang ist einfach tiefer und oft auch eigenständiger. Auch geht es nicht so sehr um Tempo auf der Bratsche, denn für alles braucht es viel mehr Bogenkontrolle. Die Bogentechnik ist wesentlich schwieriger würde ich sagen. Generell geht es mir nicht um irgend welchen Ehrgeiz, der beste sein zu wollen. Ich möchte einfach auf der Bühne sein und Musik machen.

Sie haben beim MDR Sinfonieorchester unter Kristian Järvis Leitung gespielt. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Järvis Mut zu kreativen Programmen hat mich maßgeblich zu meinen aktuellen Projekten inspiriert. Ich habe hier eine neue Art der Interpretation kennen gelernt. Sie ist wenig konventionell, dafür eher kompakt. Järvi bricht gerne Tabus, aber gerade das kommt gut an! Genau diese Denkweise lebt auf der neuen CD fort: Warum soll man nicht etwas machen, wenn es doch Spaß macht? Deswegen präsentiere ich neue Arrangements von Kompositionen, die jetzt zum ersten Mal auf der Bratsche erklingen. Man muss neue Wege einschlagen – aber ohne, dass man aus alten Kirchen eine Disco macht. Denn das wäre Scharlatanerie.

Gehört es zu Ihrem Wesen, dass Sie sich immer neu erfinden?

Ich habe beobachtet, wie Personen oder Künstler früher ihre Laufbahn geplant haben. Man bewarb sich, um irgendwo unter zu kommen, lernte fürs Probespiel das Konzert von Hofmeister oder Stamitz und alles maß sich daran. Für mich ist dieser Weg heute zu eingegrenzt. Das musikalische Repertoire ist dafür viel zu reichhaltig und riesig. Da reicht es mir nicht, einfach nur 40 Jahre lang zum Dienst zu gehen. Sie dürfen das nicht falsch verstehen: Ich liebe es, im Orchester zu musizieren. Vor allem mit Kristjan Järvi habe ich viele Crossover-Projekte gemacht. Und ich verspüre auch den starken Drang, mehr aus der eigenen Kultur zu machen. In meiner Freizeit höre ich unter anderem gern türkische Kniegeigenmusik. Warum nicht irgendwann mal ein Bratschenkonzert im Stil einer Kemence komponieren? Wie klingen die Violinsonaten von Bach auf der Viola? Oder Schumanns Violinkonzert? Ich würde all diese Neuerungen gerne für mich entdecken und dann dem Publikum zugänglich machen.

Erzählen Sie, wie das Programm entstand! Sie erweitern ja das Spektrum durch türkische Komponisten…

Necil Kazim Akses gehörte zu dem sogenannten „türkischen Fünfer“ und mich hat die Schönheit dieser Musik immer schon fasziniert. Ich höre im Capriccioso für Solo-Bratsche von Akses viel Begeisterung für den Komponisten Enescu heraus. Auch zu Bartok gibt es Parallelen, denn Akses hat Bartok bei Recherchen in Anatolien begleitet – zugleich war er Mitarbeiter von Paul Hindemith. Ebenso ist er tief in der türkischen Kultur verwurzelt. Es kommt nicht von ungefähr, dass ich hier den Sound der orientalischen Längsflöte Ney nachempfinde.

Was für eine zeitlose Botschaft steckt in dieser Musik?

Da ist ein ganzer Ozean, ein echtes Meer drin. Und so viel Liebe, ebenso viel Klage und so viel Wehmütiges. All das ist doch fantastisch für den Bratschenklang. Dieser kann auch diese typische Bambusflöte gut nachempfinden. Der will sagen: Erkenne, was für Dich Glaube ist und bringe dies zum Ausdruck. Und damit liegt diese Musik auf derselben geistigen Ebene wie Bach. 

Der Sufismus ist eine friedliche Geisteshaltung und eben keine Herrschaftsideologie, die sich der Religion bedient. Es geht viel um Achtsamkeit. Liegt Halit Turgays Stück „Troja“ auf einer ähnlichen Wellenlänge?

Das Stück für Solobratsche, das der türkische Komponist, Flötist und Professor am Konservatorium in Ankara für mich geschrieben hat, ist ein Lamento, das von virtuos-furiosen Ausbrüchen durchbrochen wird. Ich habe es im Sommer 2018 in Burhaniye/Ören an der Ägäisküste uraufgeführt.

Turgay hatte beim Komponieren jene Söldner im Sinn, die im Kampf um die nach Troja entführte Helena fielen. Sowohl melodisch wie rhythmisch ist das Werk tief in Kleinasien verwurzelt. Die  sich verdichtenden Pizzicato-Passage lassen hier an das Spiel der Oud denken. „Hellas … Hier begann alles und hier wird alles enden.“ Dieses von Mevlana, dem im Westen unter dem Namen Rumi bekannten Begründer des Sufismus überlieferte Wort fällt mir zu diesem Stück ein. Ich wollte hier aber etwas aufnehmen, das intuitiv komponiert ist und nicht verkopft mit einer schöngeistigen Haltung im Kern. Auch bei Turgay habe ich das Gefühl, er komponiert eben das, was ihm Spaß macht. Mich reizen keine Komponisten, die nur eine bessere Technik präsentieren wollen. Konkret geht es hier um Krieg und um Liebe. 

Darum, das Liebe den Krieg besiegt?

Liebe und Tragik sind gleichberechtigt vorhanden. Viel morbide Trauer kommt hier lautmalerisch zum Ausdruck, wenn direkt am Steg gespielt wird.

Warum haben Sie Henri Vieuxtemps Capriccio als Finale dieser CD ausgewählt?

Dieses Stück ist der Grund, warum ich zur Bratsche gefunden habe. Das Stück ist so virtuos und dramatisch. Als ich es gehört habe, habe ich mich in die Bratsche verliebt.

In welcher Relation stehen diese „Repertoire“-Entdeckungen zu den bekannten Meisterwerken dieser CD?

Ich wollte hier einen inneren Zusammenhang herstellen. Schostakowitschs Werk wollte ich schon lange mal aufnehmen und hatte jetzt das Gefühl, dass die Zeit dafür reif ist. Von diesem Ausgangspunkt suchte ich andere Meisterwerke als Gegengewicht.

Die Schostakowitsch-Sonate widerspiegelt ja sehr unmittelbar das Lebensende ihres Schöpfers. Sehen Sie hier einen Zusammenhang zum Mevlana-Satz, den Sie auf dem Booklet veröffentlichen, wo es „Stirb in Liebe“ heißt? 

Ja, auf jeden Fall. Schostakowitsch bilanziert sein ganzes Leben mit wenigen Tönen. Damit eine Aufführung dieses Stückes wirkt, braucht es eine ganz besondere Haltung: Wir haben bei der Aufführung den Saal verdunkelt, damit die richtige Stimmung entsteht. Erst dann ist ein hohes Maß an innerer Einkehr möglich. Dieser Satz wird nur sehr selten gespielt. Es ist definitiv kein Stück für einen schönen Abschluss im Konzert. Schostakowitsch weiß hier, dass sein Ende nah ist.

Die Sonate von Johannes Brahms und Cesar Francks berühmte A-Dur-Sonate sind Spätwerke. Was für eine Faszination geht gerade aus diesem reifen Lebensabschnitt hervor?

In der späten Brahms-Sonate bündelt sich so viel Ausdrucksreife. Es ist mir ein Anliegen, dies so zu spielen, dass hier die ganze Emotion, diese ganze Liebe und Melancholie zum Leben erwacht. Meine Brahms-Affinität hat sich maßgeblich während der neun Jahre, in denen ich in Wien lebte, entwickelt. Auf dieser CD schlägt Brahms dann auch wieder eine innere Brücke zu den türkischen Komponisten, zur Kultur meines Heimatlandes. Denn auch in der Türkei spricht man sehr viel über die Liebe und räumt solchen Emotionen viel Gewicht ein. Cesar Francks Sonate bündelt ebenfalls viel Leidenschaft, die hier aus einem gelebten Leben hervor geht. Sie entstand gerade einmal zwei Jahre vor dem Tod des Komponisten. Er hat diese Sonate als Hochzeitgeschenk für Eugene Ysaye geschrieben. Ich finde übrigens, die Sonate bekommt auf der Bratsche noch mehr Gewicht und Tiefe als auf der Geige.

Wie gestalteten sich die Aufnahmen mit Ihrem Klavierpartner Itamar Golan? 

Wir haben fünf Tage gearbeitet, von morgens bis tief in die Nacht. Wir haben nur gespielt und so gut wie nie darüber gesprochen. Vor allem das macht die Musik so authentisch. Sobald man alles zerredet und die Noten mit Bleistift-Anmerkungen vollkritzelt, geht die Spontaneität verloren. Das war auf Anhieb Konsens zwischen Itamar und mir. Er ist unglaublich schnell und erfasst alles sofort. Umfassender kann ein musikalisches Verständnis kaum sein. Und natürlich fühle ich mich sehr geehrt, dass ich einen so prominenten Klavierpartner für dieses Projekt gefunden habe.

Schön, dass die CD so attraktiv geworden ist. Auch der von Ihnen verfasste Booklet-Text ist sehr bereichernd. Zugleich gibt es viele Major-Labels, die ihre Aufnahmen nur noch als Download herausbringen und überall wird lamentiert, dass die CD tot sei. Wie bewerten Sie selbst die Zukunft des physischen Tonträgers?

Aus eigener Erfahrung sehe ich keine Bedenken, was die Nachfrage nach physischen CDs betrifft. Nach jedem Konzert erlebe ich beim Publikum eine sehr große Nachfrage nach CDs. Die Menschen sind erfüllt und möchten einfach die Begeisterung mit nach Hause nehmen. Als es noch keine Aufnahmen von mir gab, wurde ich immer wieder danach gefragt. Das Publikum hatte so etwas vermisst. Vor allem die aktuelle CD füllt hier eine wichtige Lücke.

„Es ist wichtig, mit allen Sinnen hinein zu finden!“

Romain Nosbaum im Gespräch über seine neue CD „Saudades“

Zeit zu haben ist für den luxemburgischen Pianisten Romain Nosbaum die wichtigste Ressource, um künstlerisch aufzutanken, sich in neue Projekte hinein zu versenken, die Essenz reifen zu lassen. Die Idee für seine aktuelle CD kam ihm im letzten Jahr, als die kalte, dunkle Jahreszeit herauf zog. Spanien und Südamerika standen als aktuelles musikalisches Reiseziel auf der Agenda. Das Programm beginnt mit einer sehnsuchtsvollen Fantasiereise aus Enrique Granados „Goyescas“, in denen Francisco de Goyas tiefgründige Bilder ihren Widerhall finden. Darauf folgen Musikstücke von spanischen und brasilianischen Komponisten. Sie verdichten einen Zustand, für den es in der portugiesischen Sprache das Wort „saudades“ gibt. Das ist ein sehr universelles Wort, es steht für Fernweh, Sehnsucht, Liebe, Freude, Trauer. Vielleicht alles zugleich. In unserer nordisch-westlichen, rationalisierten Welt gibt es dieses Wort nicht – wen wundert es!?

Das Interview führte Stefan Pieper

Was war die Initialzündung zu diesem spanisch-südamerikanischen Projekt?

Die kam eher zufällig etwa vor einem Jahr. Draußen war es kalt und ich hörte solche Musik. Ich spürte, so etwas will ich jetzt selber machen. Da fließen viele persönliche Erlebnisse mit ein. Ich war ja selbst viel im Süden, vor allem in Brasilien und habe dort viel Zeit in kleinen Läden mit Livemusik verbracht und war immer fasziniert. Da gibt es so viel Musik, die hier niemand kennt. Also nahm ich mir Zeit, dies näher zu erforschen. Hinzu kommt, dass ich lange mit einer Person zusammen war, die aus Brasilien kommt. Das alles hat mich schon stark geprägt. Ich bin viel gereist, war vor allem an der Küste unterwegs. Man kann dort so viel unmittelbare Emotion spüren. Das ist alles ohne Filter dort und kommt wirklich von Herzen! Die Mentalität ist sehr direkt und die Menschen überlegen nicht dreimal, bevor sie etwas sagen.

Gibt es einen Unterschied zwischen den großen Städten und dem kulturellen Leben auf dem Land?

Ich war ja viel in den Küstenregionen. Das Leben ist dort schon anders als in den Städten. Die echte, authentische Musik kommt vor allem von dort her, was ich gerade in den vielen Cafés immer neu erlebt habe. Es ist so faszinierend – diese Stimmen, dieses Rhythmusgefühl!

Die Kompositionen auf der CD sind natürlich in erster Linie raffinierte Kunstmusik. Wie widerspiegelt sich in der Dramaturgie die populäre Musik?

Das Programm ist so aufgebaut, dass es mit den „klassischsten“ Werken beginnt. Die beiden Stücke von Enrique Granados zum Beispiel sind noch sehr „klassisch“ geschrieben mit viel Polyphonie. Nach und nach geht es aber in immer populärere Richtungen, nachher dann etwa mit Ernesto Lecuonas Danzas Cubanas, dann zum Schluss Marlos Nobres Stück „Frevo“. Sehr populär ist auch Luisa Sobras „Amarpelos dois“.  Man kann schon sagen, dass die südeuropäische Musik schon viel klassischer verwurzelt ist, als etwas die cubanischen Stücke.

Wie sind Sie auf die Stücke gestoßen?

Ich habe einige meiner besten Musikerfreunde kontaktiert – vor allem einen in Brasilien. Der kennt viele Werke und hat mir Vorschlüge gemacht. Es gibt schon viele tolle Sachen für Klavier. Nicht alles ist unbedingt sehr pianistisch, aber es klingt immer gut. Es lohnt sich außerordentlich, vor Ort die Bibliotheken zu durchstöbern. Es gibt mittlerweile auch gute online-Dokumentationen.

Aber es finden sich ja auch viele moderne Farben in den Stücken.

Das stimmt. Es ist alles sehr unmittelbar aufeinander bezogen und berührt sich. Das merkt man vor allem bei der Sonatina von Carlos Guastavino. Da klingt so manches typisch romantisch, fast französisch, so dass es von Debussy oder Ravel sein könnte mit Rhythmen, die südländisch wirken. Guastavino ist hier sicherlich von Debussy und Ravel inspiriert worden. 

Umgekehrt hat sich Debussy ja auch mächtig bei solchen Einflüssen bedient!

Natürlich. Die Habanera ist ja so ein typisches Beispiel.

War es Ihnen wichtig, diese enge Verbindung zwischen Musikstilen, Kulturen und auch Emotionen darzustellen?

Auf jeden Fall. Deswegen kam ich ja auch auf das portugiesische Wort „Saudades“. Dieses Wort fasst so vieles zusammen. Es liegt so viel unendliches darin: Melancholie, Sehnsucht, Liebe.

Hatten Sie als erstes dieses Wort im Sinn und haben daraufhin erst die Musik ausgesucht oder stand „Saudades“ hinterher als Fazit im Raum?

Eher ist letzteres der Fall. Ich hatte erst Musik im Sinn, die ich gerne spielen wollte. Am Anfang standen die Goyescas von Enrique Grandados. Alles weitere hat sich daraus ergeben. Schnell wurde eine große Einheit daraus – und die hat viel mit Seele zu tun. Das Wort „Saudades“ ergab sich dann als verbindende Assoziation, als großer gemeinsamer Nenner. Ich habe das dann einfach so stehen gelassen, weil es passte.

Es ist doch bezeichnend, dass es dieses Wort in keinen Übersetzungen gibt. Was ist an diesem Wort spezifisch für die portugiesisch/brasilianische Kultur?

Das Wort ist sehr undefinierbar, sogar in der Sprache selbst. Es heißt alles mögliche: Das Verlangen nach einer Person oder die Sehnsucht nach einem Land, Fernweh also. Das alles kommt in jedem Stück vor. Ebenso liegen Melancholie und Tristesse und andererseits auch Freude stark beieinander.

In unserer westeuropäischen Mentalität ist ja alles rationaler und schablonenhafter. Alles hat seine Schublade, es gibt ein ausgeprägtes entweder/oder. Was für eine andere Mentalität haben Sie in Südamerika entdeckt? 

Vor allem dieser Wechsel und diese Gleichzeitigkeit von Gefühlen: Man kommt ganz schnell von einem Sentiment ins andere. Jemand ärgert sich drei Minuten lang aufs heftigste und ist danach wieder weg. Genauso verhält es sich auch in dieser Musik.

Was war Ihnen beim Spiel besonders wichtig, um diese Gemengelage abzubilden?

Es geht vor allem darum, die ideale Balance zu finden. Es ist wichtig, diese Stücke bloß nicht zu süßlich überzuckert zu spielen.

Würden Sie sagen, einige Stücke füllen diskografische Lücken?

So direkt neu weiß ich nicht. Ich höre auch gar nicht so viele andere Interpretationen vorher, weil ich gerne eine eigene Idee selber verwirkliche. Einige Stücke sind noch nie aufgenommen worden. Wiederum andere sind natürlich sehr bekannt – das berühmteste dürfte wohl Asturias von Isaac Albeniz sein.

Sie arbeiten hier ja einen echt perkussiven Gestus heraus. Wie haben Sie diese Technik entwickelt?

Ursprünglich ist dieses Stück ja für Gitarre geschrieben. Hier wird immer eine Note repetiert und alterniert. Als Gitarrist kann man hier nicht viel falsch machen, wenn man die Saiten zupft. Es war fast eine Art Obsession, einen vergleichbaren Effekt aus dem Klavier heraus zu kitzeln. Es bot sich hier an, auch mal eine Prise Scarlatti einzubringen. Es sollte wie ein Perpetuum mobile sein und im guten Sinne „auf den Wecker gehen“.

Möchten Sie neben dem persönlichen Erfahrungsgewinn auch dem Publikum etwas Neues vermitteln?

Auf jeden Fall! Ich freue mich, dass es im deutschsprachigen Raum noch so vieles vermitteln gibt. Im französischen Raum, der mir als Luxemburger natürlich auch sehr nah ist, gibt es einen größeren Bezug zum Spanischen. Aber ich glaube nicht, dass zum Beispiel Wiener üblicherweise Konzerte mit solchem Repertoire erleben und auch in Luxemburg betrete ich mit diesem Repertoire immer noch Neuland. Ich habe es kürzlich in der Philharmonie aufgeführt und dass war eine ganz neue, starke Erfahrung für mich: Ich war wirklich erstaunt, allein, weil ich ganz viele neue Menschen hier im Publikum gesehen habe – weit jenseits vom „normalen“ gediegenen luxemburgischen Bildungsbürgertum. Plötzlich waren ganz viele Portugiesen und auch Kapverdianer im Publikum. 

Gibt es einen kulturellen Patriotismus, der in die Konzertsäle lockt? Erlebnisse mit brasilianischen Musikern, die auch in Deutschland ihr „eigenes“ Publikum haben, bestärken diesen Eindruck. Wenn berühmte Musiker aus der heimischen Kultur spielen, scheint sich dies wie ein Lauffeuer herumzusprechen.

Ich weiß, was Sie meinen. Es gibt diese Legenden, etwa Caetano Veloso oder Mariza. Einen solchen Effekt spüre ich auch, wenn ich brasilianische Musik aufführe. Ich habe mit vielen Brasilianern nach dem Konzert gesprochen, die waren unglaublich glücklich und dankbar, dass sie „mal für eine Stunde zuhause“ waren, wie mir gesagt wurde. Die Leute fühlen sich geehrt, dass man in einem kalten Land weit weg deren eigene Musik spielt. So eine Rückmeldung gibt mir eine ganz neue Energie, die ich bei Klassikprogrammen zuweilen vermisse. Ich wusste, da sitzen Leute, die haben eine riesige Lust, das zu hören. Das war wirkte unmittelbarer als beim normalen kritischen Konzertpublikum, das meist auf die Interpretation eines bekannten Werkes achtet. Mein neues Programm steht für einen sehr unmittelbaren Zugang, wo die Musik ohne Umwege zu den Menschen kommt. Der Abend in der Luxemburger Philharmonie war ein echtes Erweckungserlebnis. Viele Menschen, die noch nie in der Philharmonie waren, hatten neue Erlebnisse und Vorurteile abgebaut.

Fühlen Sie sich wie auf einer Mission bei so etwas?

Ich mache vor allem, was ich gerne mache. Ich kann nicht etwas machen, bei dem ich mich nicht wohlfühle. Es muss eine richtige Idee dahinter sein.Wenn ich südamerikanische Musik aufnehme, ist das integrale, übergreifende Programm sehr wichtig. Die große Idee geht über das einzelne einstudierte Werk weit hinaus. Deswegen habe ich auf Konzerten auch schon mal alles in einem Durchgang ohne Pausen gespielt. Denn, wenn ein Konzert zu viel in Zwischenapplaus zerfällt, geht viel von der Magie verloren, die möglich wäre.

Was machen Sie anders als viele Ihrer Kollegen?

Viele junge Musiker von heute lassen sich nur auf Leistung trimmen- das hat mich noch nie interessiert. Ich hatte einst gar nicht so sehr die große Karriere im Visier, sondern habe Klavier studiert, um zu unterrichten. Wettbewerbe haben mich auch nicht interessiert. Aber ich bekam immer mehr Lust am Spielen. Der Wunsch, aufzutreten, nahm langsam, aber sicher Gestalt an. Alles passierte ohne jeden Druck. Vielleicht ist dies meine tiefe Weisheit. Vor allem möchte ich etwas mit Menschen teilen. Es geht doch nicht ums eitle Imponieren, stattdessen birgt Musik doch die große Chance, eine Gemeinsamkeit mit anderen zu Menschen finden. Musik soll doch ehrlich sein und Wahrheit, aber auch Schönheit transportieren.

Ich höre bei allem heraus, dass Sie sehr gern der Sache auf den Grund gehen. Wie hat sich diese Haltung bei Ihnen entwickelt?

Ich brauche relativ lange, bis ich Sachen fühle. Dass ich den Weg finde und erkenne, was ich machen will. Was ich hier auf der CD vorliege ist im Vergleich etwa zu Mozart oder Bach eine sehr freie, imaginative Musik. Es ist wichtig, hier erst mal mit allen Sinnen hinein zu finden. Viele andere Pianisten sind oft sehr ungeduldig oft. Ich will mir aber möglichst viel Zeit nehmen, um die die Stücke ausgiebig zu lernen. Das beinhaltet auch, dass ich aus Prinzip immer auswendig spiele. Ich bin ein sehr intuitiver Mensch. Aber ich bin auch sehr rational in meinen Gefühlen. Ich lasse es gehen, aber ich weiß auch, wie ich es gehen lasse. Und dabei eine Idee finde, das große Ganze wieder zu bündeln. Also die Affekte in einer Musik zu bündeln wie die Gefühle in diesem Wort. Musik ohne Spannung lebt nicht.

Sind die Lebensbedingungen für Musiker in Luxemburg besser?

Wir sind schon unter einem gewissen Druck, kenne ein paar Musiker. Aber Kulturschaffende bekommen viel finanzielle Unterstützung. Das ist absolut genial bei uns. Da haben wir haben ein Riesenglück. Trotzdem haben wir starke Konkurrenz, vor allem, weil hier alles so lokal ist. Aber ich halte mich auch manchmal fern davon, das hilft mir, meinen eigenen Weg zu machen. Trotz aller Gelassenheit bin ich auch sehr diszipliniert und verlange viel von mir. Manchmal brauche ich auch Distanz, um die Musik immer aufs neue frisch anzugehen. Das beinhaltet auch Alltagsrituale: Abends mache ich den Klavierdeckel zu und höre dann sehr gerne Jazz.

„Man kann sich zwei kleine Kinder vorstellen, die Spaß haben“

Tetiana Muchychka, Akkordeon – kunstsignal im Alten Bahnhof Mönchengladbach Rheydt-Geneicken

Eine Konzertreihe für die begabte musikalische Jugend braucht attraktive, geeignete Spielstätten. Ideale Aufführungsbedingungen für die renommierte Kammermusik-Reihe „Best of NRW“ sieht die Werner Richard – Dr. Carl Dörken-Stiftung in einem ehemaligen Bahnhofsgebäude im Mönchengladbacher Stadtteil Rheydt-Geneicken verwirklicht. Unter den Etikett „kunstsignal“ verbinden sich hier fortan Ereignisse der Musik mit der bildenden Kunst. Jens Gunnar Becker, der als Künstleragent die Reihe betreut, äußerte sich hellauf begeistert vom Ambiente im ehemaligen Wartesaal. Und von dem fühlte sich die ukrainische Akkordeonvirtuosin Tetjana Muchychka bei ihrem spektakulären Solo-Recital spürbar inspiriert!

Tetiana Muchychka, die zurzeit an der Essener Folkwang-Hochschule studiert, weiß, was sie auf ihrem Akkordeon kann und was nicht. Was zum Beispiel geht: Ohne weiteres sich fast die gesamte Klavierliteratur eins zu eins auf die Möglichkeiten des Akkordeons übertragen. Wo es Einschränkungen gibt? „Chopin kann ich gleich vergessen, denn diese Musik beruht vor allem auf Klangeffekten im Pedal und dafür gibt es auf dem Akkordeon keine Möglichkeiten.“

Was stattdessen alles geht, welche Steigerungen der Ausdruckskraft, welch neue Sichtweisen und vor allem, was für ungeahnte Energien scheinbar bekanntem Repertoire abgerungen werden können, das demonstrierte Tetiana Muchychka dann aufs eindrücklichste. Vor allem: Wie diese junge zierliche Musikerin die ganze dynamische Kraft entfaltet, das ist nicht nur eitler Selbstzweck, sondern hat bei ihr viel mit musikalischer Wahrheitssuche zu tun.

Alles, was wuchtig aufbrandet, was in opulenter Klangpracht den Raum anfüllt, steht im Dienst einer darstellerisch plausiblen Diktion. Da darf auch eine Portion jugendlicher Wagemut nicht fehlen! Bachs „Französische Suite Nr. 3 h-Moll“ mutet zunächt noch wie vertrautes Terrain an, wenn deren polyphone Tonarchitektur durch die atmende Dynamik des Akkordeons sehr orgel-artig daher kommt. Zugleich bringt die junge Interpretin mit frappierender Fingerfertigkeit die tänzerischen Passagen in leichtfüßigen Schwung. Die herrlich offene Akustik in diesem ehemaligen Bahnhofs-Wartesaal bringt ohnehin jedes Detail zum Leuchten. Mozarts f-Moll-Klaviersonate geht dann so richtig in die Vollen, wenn es um pointierte Darstellungslust geht. Zwar mag mancher hier die Mozartsche Schlankheit vermissen. Stattdessen erobert umso mehr eine starke, oft stürmische, Emotionalität den Raum und das Publikum. Denn Mozart will alles sein, nur keine Wellness-Oase.

In einfachen, charmanten Worten macht Tetiana Muchychka immer wieder ihren persönlichen Bezug verständlich, um damit ihrem Publikum einen Leitfaden zum verstehenden Hören an die Hand zu geben. 

„Man kann sich zwei kleine Kinder vorstellen, die spielen und Spaß haben“, sagt sie zur Einleitung zweier Scarlatti-Sonaten. Die spielerische Einlösung folgt auf den Punkt, wenn sie in den Stücken die beiden Stimmungscharaktere leichtfüßig heraus kehrt.

Das konzertante Akkordeon ist ein Instrument, das sich frei von zu viel erdrückendem Konventions- und Traditionsballast fühlen darf. Diese Einsicht scheint Tetiana Muchychka mit ihrer jugendfrischen-spontanen Spiellust wörtlich zu nehmen, vor allem bei den moderneren Stücken des Abends. Aufrührerisch anmutende chromatische Skalen pulsieren in Wolfgangs Jacobis Scherzo aus dem Divertissement pour Akkordeon. Sergej Voitenkos melancholisch-cineastische „Offenbarung“ wirkt wie eine geschmeidige Überleitung zur Leidenschaft des Tangos – keine Frage, dass Tetiana Muchychkas schonungsloser dymanischer Zugriff auch in der aufwühlenden Emotionalität von Frank Angelis Konzertetüde über ein Thema von Astor Piazolla keine Wünsche offen lässt.

Fazit des Abends: Hier ließ sich eine junge Künstlerin auf die spezifischen Schwingungen an diesem exklusiv anmutenden Ort ein. Hinzu kommt, dass ein aufgeschlossenes Publikum die Aufbruchsstimmung der Programm-Macher dieser neuen Spielstätte spürbar teilt.

Weitere Infos unter: www.kunstsignal.de

Diese Kammermusik ist dreidimensional!

Nathanael Carré geht seinen eigenen Weg, wenn er seine Lieblingstücke für das Ensemble Nuanz neu arrangiert

Der Flötist Nathanael Carré holt unverbrauchtes, seltenes Repertoire aus der Versenkung und taucht scheinbar bekanntes in leuchtende Farben eines virtuosen Neuarrangements. So hat er aus den Klavierparts der Kompositionen von Gabriel Fauré, Jean Francaix, Jacques Ibert, aber auch selten gespielten Stücken von Georges Hüe, Paul Taffanel, André Jolivet oder Francois Borne etwas neues gemacht, nämlich kunstvoll differenzierte Orchestrierungen für das hellhörig aufspielende, von ihm im Jahr 2015 gegründete Ensemble Nuanz. Vereint sind hier die beiden Geiger Evgeny Popov und Alexander Jussow, Jan Melichar und Robin Porta an den Violen, der Cellist Jan Pas sowie Stefan Koch-Roos am Kontrabass.

Carrés profunden Erfahrungen als Orchestermusiker und Dirigent ist zu verdanken, dass er die einstigen Klavierparts in wirkungsvolle orchestrale Dimensionen hinein ausgeweitet hat. Alleinstellungsmerkmale finden, Klischeevorstellungen konterkarieren: Das ist die Devise des jungen Franzosen, der gerne mal das Spezialistentum von Wettbewerbsjurys fröhlich ignoriert und sich stattdessen über Crowdfunding-Kampagnen des Publikumserfolges und über seine Unabhängigkeit versichert. Auch über eine aufgeklärte künstlerische Haltung sprach er mit Stefan Pieper.

Herr Carré, Sie haben gerade ein sehr ungewöhnliches Video veröffentlicht. Sie öffnen Ihren Flötenkoffer und entnehmen ihm Farbe und Pinsel, beginnen zu malen. Welche Farben wollen Sie mit dem Repertoire dieser CD kreieren?

Das Ziel war, zu zeigen, dass die Palette französischer Musik viel breiter als Debussy und Ravel ist. Hier gibt es doch so viele Klischees, die dringend überwunden werden müssen. Ich musste sogar die Erfahrung machen, dass selbst manche Wettbewerbsjury von Klischees dominiert ist: Als ich dort mal die Sonate von Poulenc spielte, wurde mein Spiel abqualifiziert, der dritte Satz höre sich „unschön“ und wie Straßenmusik an. Aber genau darum geht es doch hier! Nicht alles, was aus Frankreich kommt, klingt wie Daphne oder Syrinx. Viele Menschen glauben, französische Musik ist wie Chanel Nr 5. Georges Hüe kennt doch auch kaum jemand, aber es ist eine berückende Musik. Oder betrachten wir André Jolivets „Fantaisie Caprice“ – dieses Stück baut auf einer modalen Skala auf, die von der balinesischen und afrikanischen Musik dominiert ist.

Sämtliche Stücke der neuen CD sind im Original bzw. ihrer Ursprungsversion für Soloflöte und Klavier geschrieben. Was für neue Aspekte wollen Sie aus den Kompositionen heraus holen, wenn Sie sie einem Streichensemble auf den Leib geschrieben haben?

Ich wollte den Rahmen ausweiten. Sechs Streichinstrumente erzeugen viel mehr Dynamik. Entsprechend entfaltet sich das Stimmengeflecht der Kompositionen noch weiter. Außerdem wird das Gefüge reicher, weil auf einmal sechs Menschen ihre ganze Sichtweise in die Sache einbringen.  Alles wird transparenter und damit einfacher, die Musik als Ganzes zu verstehen. Die Linien werden weiter ausdifferenziert. Jeder kann musikalisch seine Phrase gestalten und ein größeres Ganzes kreieren, wo jede Stimme ihre Kraft hat. Mein Dank gilt nicht zuletzt meiner Frau, die mich zur Verwirklichung der Idee dieses französische Repertoire neu zu arrangieren ermutigt hat!

Herr Carré, kann es sein, dass Sie in der schnöden Konnotation des Klavierparts als Begleitung eine Diskriminierung sehen?

Musik wird erst lebendig, wenn man aus einer rigiden Rolle heraustritt. Wenn ich verantwortungsvoll musiziere, dann fokussiere ich mich ja auch nicht auf meine eigene Solostimme, sondern konzentriere mich vor allem auf meinen Gegenpart. Schon meine Mutter, bei der ich die ersten musikalischen Gehversuche machte, hat mich immer aufgefordert, bei Lernen eines Stückes auf den Klavierpart zu hören. Wer dieses Prinzip wirklich ernst nimmt, kann viel tiefer in die Musik eintauchen. Umso mehr wird das Ganze erfahrbar und es gelingt, den Sinn des Komponisten weiterleben und sprechen zu lassen.

Also ist Musizieren für Sie vor allem eine Kunst des Zuhörens?

Ich möchte mit meiner Energie und Persönlichkeit alles entfalten, was in der Musik enthalten ist. Musizieren hat immer etwas mit höchster Aufmerksamkeit zu tun und ist ein Spiel mit der Energie der anderen Musikern und des Publikums. So kann jedes Konzert einzigartig werden. Durch diese Symbiose können tiefe Emotionen erreicht werden.

Wie wird Ihr eigenes Spiel durch die erweiterte Besetzung beeinflusst? Was ist anders, als wenn Sie mit einem Klavier zusammen musizieren?

Diese Neuarrangements sind eine sehr komplexe Kammermusik geworden. Jede Stimme ist anders. Es gibt keine Wiederholungen. Ebenso muss ich kräftiger spielen, wenn ich sechs Instrumenten gegenüber stehe. Außerdem muss ich dirigieren phasenweise. So etwas braucht im Konzert deutlich mehr Energie. Meine Aufmerksamkeit ist überall gefordert. Diese Kammermusik ist dreidimensional.

Der Klassikmarkt ist übersättigt mit viel Standard-Repertoire, das sich wiederholt. Wenn Sie hier etwas neues anbieten, ist es schwer, sich damit öffentlich durchzusetzen?

Ich habe mich immer sehr frei gefühlt und es geht mir einfach nur darum, etwas Gutes und Interessantes anzubieten. Es muss nicht unbedingt bekannt sein dafür. Für meine Debüt-CD habe ich zum Glück ein Label gefunden, dass sehr offen für ungewöhnliche, zugleich hochqualitative Projekte ist. Das Publikum war bisher sehr begeistert. Warum soll ich etwas aufnehmen, was schon viele andere aufgenommen haben? Wenn es um Standardrepertoire geht, kaufen die Leute doch von vornherein die Einspielung mit dem prominenteren Namen. Da konzentriere ich mich lieber auf eigene Projekte, die mir Spaß machen und finde meine eigene Richtung. Nur so kann ich eine echte künstlerische Persönlichkeit entwickeln. Dieses Projekt liegt mir auch besonders am Herzen, und ich wollte davon eine Spur in der Musikwelt hinterlassen.

Es wird ja überall getönt, dass die CD tot ist. Warum produzieren Sie und alle Ihre Kollegen weiterhin so viele CDs?

Allein, weil es ohne CD schwer ist, Konzerte zu bekommen. Man muss einfach eine CD machen! Sie ist und bleibt ein Türöffner.

Welche Rolle haben Wettbewerbe für Ihre Karriere gespielt?

Als Student hatte ich den Wunsch, internationale Wettbewerbe zu machen. Sie werden als einfache Autobahn zum Erfolg angesehen. Wer einen Wettbewerb gewinnt, bekommt ein paar Konzerte und kann oft kostenlos eine CD aufnehmen. Ich selbst bin aber kein Wettbewerbstyp – mein Profil deckte oft nicht die Vorlieben der ganzen Jury ab. Deswegen musste ich einen anderen Weg finden: So habe ich eine Stelle im Orchester bekommen und mich weiter als Künstler entwickelt. Das hat meine Kreativität und Unabhängigkeit gestärkt.

Sie gehen aktuell einen sehr modernen Weg, um sich über Crowdfunding ein Feedback über den eigenen Publikumserfolg einzuholen. Wie kam es dazu?

Das hatte erstmal rein praktische Gründe. Für dieses Projekt brauchte ich eine finanzielle Unterstützung. Es ist auch eine interessante Möglichkeit, das Interesse an meinem Projekt zu prüfen – obwohl ich schon sehr sicher über den Wert meiner Arbeit war. Aber ich bin sehr dankbar, dass mich so viele Leute übers Netz und darüber hinaus privat unterstützt haben.

Das Grundprinzip ist ja einfach: Es geht darum, Menschen zu überzeugen. Keine Spezialisten-Jury, sondern ein Publikum.

Ich habe mich immer um eine gute Vernetzung mit vielen Menschen bemüht. Und gerade, weil ein  Crowdfunding viel Netzöffentlichkeit herstellt, ist es ein guter Weg, an mehr junges Publikum heran zu kommen. Das Prinzip einer solchen Präsentation ist es, ein konkretes „Produkt“ anzubieten und dafür Begeisterung zu wecken. Natürlich ist es wichtig, mit künstlerischer Qualität zu begeistern und nicht mit kommerzielle Methoden.

Was muss ein gutes Produkt ausmachen?

Wir leben in einer Zeit, in der neue Erfahrungen wichtig sind. In jeder Werbung werden diese „neuen Erfahrungen“ ja auch versprochen. Man muss aber zugleich etwas hervor bringen, was qualitativ hervorragend ist. Das ist dringend nötig, um der klassischen Musik ein neues Publikum zu bringen. Ich begegne immer wieder Menschen, die keinen speziellen Bezug zur Musik haben, aber doch sehr neugierig sind. Es geht darum, auch den Nicht-Spezialisten etwas zu bieten, was deren Erwartungen übertrifft.

Welche persönlichen Ideale verbergen sich dahinter?

Es gibt in unserer Gesellschaft viele menschliche und geistige Einsamkeit. Die Musik, live erlebt, hat die Kapazität, Menschen zu sammeln und in eine andere Sphäre zu bringen. Eine Sphäre, die weit von Materialismus und menschlichen Sorgen entfernt ist. Jeder Mensch hat das tiefe Bedürfnis, etwas mit anderen Menschen zu erleben und teilzunehmen. 

Was ist Ihr Zukunftsplan?

Die Arbeit mit größeren Kammerensembles, aber auch Orchestern fasziniert mich sehr. Deswegen  studiere ich aktuell auch das Dirigieren. Vor allem möchte ich jetzt mit meinem Ensemble Nuanz und diesem Programm und später mit anderem Repertoire möglichst viele Konzerte spielen. Ich wünsche mir, dass ein breites Publikum diese wunderbare Musik erleben kann!

CD:  Palette; Nathanae Carré, Ensebmle Nuanz – ARS Produktion 2019

Interview geführt von Stefan Pieper, September 2019

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