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Brucknertage St. Florian: früher Bruckner und später Kropfreiter in mustergültigen Aufführungen

Im Rahmen der Brucknertage dirigierte Rémy Ballot in der Basilika des Stiftes St. Florian das Altomonte-Orchester und die St. Florianer Chorakademie in Aufführungen des 146. Psalms und der Symphonie d-Moll, der „Annullierten“. Das Ballot-Quartett und Martin Nöbauer, Klavier, spielten auf Schloss Tillysburg Bruckners Streichquartett, das Streichquartett Nr. 3 von Augustinus Franz Kropfreiter und das Klavierquintett von César Franck. Die Aufführung der Ersten Symphonie Bruckners von den Brucknertagen 2022 ist bei Gramola auf CD erschienen.

Stift St. Florian

Viel Gutes gibt es aus St. Florian von den diesjährigen Brucknertagen zu berichten. Da wäre zunächst die Meldung, dass eine weitere Folge von Rémy Ballots Bruckner-Zyklus auf CD herausgekommen ist: Mit der Aufführung der Ersten Symphonie durch das Altomonte-Orchester St. Florian, von der auf diesen Seiten vor einem Jahr berichtet wurde, liegen nun bei Gramola alle nummerierten Symphonien Bruckners unter Ballots Leitung vor. Zwar gibt Gramola als offizielles Veröffentlichungsdatum den 13. Oktober 2023 an, doch kann man die Neuerscheinung bereits im St. Florianer Stiftsladen erwerben:

Gramola 99283; EAN: 9 003643

Meinen Kommentar von 2022 zusammenfassend, möchte ich an dieser Stelle nur betonen, dass diese Aufnahme der Wiener Fassung Maßstäbe hinsichtlich der Darstellung des organischen Zusammenhangs setzt und sie deshalb jedem empfehlen, der sich für Bruckners Erste interessiert.

Auf dem Programm der beiden diesjährigen Symphoniekonzerte am 18. und 19. August standen die annullierte d-Moll-Symphonie von 1869 (fälschlich „Nullte“ genannt) und der 146. Psalm für Soloquartett, Chor und Orchester, ein bislang viel zu wenig beachtetes Meisterstück aus Bruckners „vorsymphonischer“ Zeit, das entweder am Ende der St. Florianer oder zu Beginn der Linzer Jahre, höchstwahrscheinlich vor 1858 entstanden ist. Erneut dirigierte Rémy Ballot das Altomonte-Orchester St. Florian. Als Chor stand diesmal die St. Florianer Chorakademie zur Verfügung (Einstudierung durch Edgar Wolf und Martin Zeller). Die Soli sangen, wie bereits 2022, Regina Riel (Sopran), Gerda Lischka (Alt), Markus Miesenberger (Tenor) und Michael Wagner (Bass).

Die Aufführung der Symphonie war eine Premiere, denn zum ersten Mal wurde aus der kritischen Neuausgabe des Werkes gespielt, die der amerikanische Musikwissenschaftler und Kontrabassist David Chapman im Rahmen der Neuen Anton Bruckner Gesamtausgabe vorgelegt hat. Chapman selbst hielt im Rahmen eines Symposiums einen Einführungsvortrag zur Quellenlage des Werkes und ging, wie auch Christa Brüstle und Markus Neuwirth in ihren Beiträgen, der Frage nach der korrekten chronologischen Einordnung in Bruckners Schaffen nach. Bekanntlich halten sich bis in die heutige Zeit Gerüchte, die auf falschen Annahmen aus der Frühzeit der Bruckner-Forschung beruhen, nach denen das Werk vor der Ersten Symphonie entstanden und 1869 lediglich einer Revision unterzogen worden sei. Die Referenten widerlegten diese Annahme schlüssig und zeigten, dass Bruckner die Symphonie wenige Jahre lang als seine Nr. 2 betrachtete, sie aber spätestens zurückzog, als er die heute als Zweite gezählte Symphonie vollendet hatte.

(Auf dem Symposium fiel übrigens einmal wieder das von Carl Dahlhaus in einer höchst unglücklichen Stunde geprägte Wort von der „toten Zeit der Symphonie“, die sich zwischen Schumanns Dritter [1850] und Brahmsens Erster [1876] erstreckt habe, mithin also auch alle Symphonien Bruckners bis einschließlich der Fünften umfasse. Zwar distanzierten sich die Symposiumsteilnehmer von diesem Begriff, doch feierte er im Programmheft der Symphoniekonzerte nicht nur fröhliche Urständ, die angebliche „tote Zeit“ wurde gar noch ausgedehnt. Man las dort nämlich: „Bekanntlich ist die Kompositionsgattung der Symphonie nach dem ‚Koloss‘ der IX. Beethoven in den Hintergrund verdrängt. Lediglich Brahms [dessen Erste Symphonie ein Jahr nach Bruckners Fünfter fertig wurde], Schuman [sic!, gemeint ist natürlich nicht William] und Mendelssohn widmen sich ihr.“ Was hätte Dahlhaus angesichts einer solch lustigen Zusammenfassung seiner Idee wohl gesagt?)

Natürlich hat die Streichung aus dem offiziellen Werkbestand der Rezeption der d-Moll-Symphonie nicht gut getan. Zwar wurde sie seit ihrer Uraufführung unter Franz Moißl 1924 in Klosterneuburg und der Erstveröffentlichung der Partitur durch Joseph Venantius von Wöss regelmäßig gespielt und seit den 50er Jahren dann auch für die Platte aufgenommen, die Literatur neigt jedoch dazu, in dem Werk Fehler und Schwächen zu finden. Das fing bei Rudolf Louis und Alfred Orel an, die die „Annullierte“ für ganz misslungen hielten und ihr gar Bruckners Studiensymphonie in f-Moll vorzogen. Auch die Fürsprecher der d-Moll-Symphonie schränken ihr Lob oft ein, sind sich aber untereinander nicht einig, welche Sätze sie besser, welche schlechter finden sollen. So ließ Moißl einige Monate vor der eigentlichen Premiere bereits das Scherzo und das Finale öffentlich spielen, weil er meinte, diese seien den ersten beiden Sätzen deutlich überlegen und würden für einen besseren ersten Eindruck sorgen. Robert Haas, der Leiter der ersten Gesamtausgabe meinte dagegen, dass es womöglich die Unausgegorenheit des letzten Satzes gewesen sei, die Bruckner davon habe absehen lassen, mit dem Werk an die Öffentlichkeit zu gehen. Robert Simpson, der große Symphoniker, dem wir das wertvolle Buch The Essence of Bruckner verdanken, hebt in ebendiesem Buch den ersten Satz als meisterliches Stück ohne Fehl und Tadel hervor und nennt die übrigen Sätze weniger bedeutend, aber hörenswert. Er hat dann an zahlreichen Einfällen auch aus diesen Sätzen sichtlich seine Freude. Für den ihn wenig überzeugenden Mittelteil des Andantes macht er Bruckners Freund Moritz von Mayfeld verantwortlich, dessen Ratschlag sich der Komponist hier angeblich gebeugt habe. Als Beispiel für eine besonders positive Sicht auf die d-Moll-Symphonie sei der schlesische Fugenmeister Gerhard Strecke genannt, welcher in seiner Autobiographie (in dem bei Laumann erschienenen Band Zeitgenössische Schlesische Komponisten) schreibt, Bruckner wäre vielleicht noch bedeutender, hätte er „die kontrapunktische Linie aus der Nullten, der I. und der V. Sinfonie konsequent verfolgt“ – das mit Fugati reichlich gespickte Finale der „Annullierten“ dürfte die Hauptursache dieses Lobes sein.

Was tut man angesichts so vieler verschiedener Meinungen? Man hört ihnen zu, macht sich aber von der Sache ein eigenes Bild! Dazu boten die Konzerte in der Stiftsbasilika eine Gelegenheit, die man nicht anders denn als optimal bezeichnen kann. Den örtlichen Bedingungen wurde hier mit echter künstlerischer Umsicht Trotz geboten, denn ein idealer Raum für Orchesteraufführungen ist diese Kirchenhalle nicht. Gute Konzerte müssen ihr abgerungen werden. Man hat mit einem langen Nachhall zu rechnen, der beständig droht, die Konturen des Erklingenden zu verwischen; dabei füllt der Klang die Kirche kaum einmal recht aus und wirkt dadurch tendenziell mager. Wahrlich, dieser Raum fordert die Musiker und bestraft jeden Fehler! Anders gesagt: Er wirkt erzieherisch – man muss nur die Winke verstehen! Richtig genutzt, wird diese Kirche zu einer Brutstätte orchestraler Vortragskultur. Da der Hall jeder hastigen, gehetzten Aufführung sofort den Untergang bereitet, lernt man hier, sich Zeit zu lassen und dem Klang nachzuspüren. Dem Verschwimmen kann man nur durch klare Artikulation und sichere Phrasierung gegensteuern, wozu genaue Kenntnis der harmonischen Verhältnisse, der kontrapunktischen Strukturen und der Entwicklung des musikalischen Verlaufs nötig ist. Solche Deutlichkeit in der Darstellung wird dann auch helfen, die Musik durchs ganze Kirchenschiff zu den Hörern zu geleiten. Je polyphoner die Musik ist, desto kultivierter muss sie vorgetragen werden. Jede Leichtsinnigkeit rächt sich hier.

Rémy Ballot probt mit dem Altomonte-Orchester in der Stiftsbasilika

Es war nun interessant zu sehen, wie Rémy Ballot mit den klanglichen Gegebenheiten umging. Der Verfasser dieser Zeilen hatte zwei Tage vor dem ersten der beiden Symphoniekonzerte die Gelegenheit, einer Probe zuzuhören, bei der der Dirigent mit dem Orchester die Ecksätze der Symphonie durchging. Der Kopfsatz, der in der Aufführung später rund 18 Minuten dauerte, wurde zu Probenbeginn bis zum Repriseneintritt einmal durchgespielt, danach widmete man sich anderthalb Stunden lang jedem einzelnen Abschnitt des Satzes, um die Feinheiten abzustimmen. Ballot ließ dabei das Orchester gruppenweise Linie gegen Linie spielen und setzte den Gesamtklang aus den einzelnen Stimmen zusammen. So wurde das Gefühl der Musiker für die Rolle ihrer jeweiligen Stimme im Zusammenhang des Ganzen beständig gestärkt, namentlich wenn sich ein melodischer Faden von einer Stimme zur nächsten zieht. Die einzelnen Sektionen hörten schließlich aufeinander wie die Mitglieder eines Kammerensembles. Indem Ballot ihnen die Struktur des Tonsatzes verdeutlichte, schuf er einen Klang, der sich durch Achtsamkeit auszeichnet: Hauptstimmen treten deutlich als solche hervor, nehmen aber auf Nebenstimmen Rücksicht, sodass diese stets durchklingen, das Bassfundament ist als Stütze des Geschehens durchweg präsent. Beim Aufbau der großen Brucknerschen Steigerungen unterstützen sich die Klanggruppen gegenseitig, sie versuchen nicht, einander zu übertönen, es entsteht mithin auch in den stärksten Tutti-Momenten nie der Eindruck von Lärm. Der Kirchenraum wird durch plastisches Musizieren gefüllt, nicht durch brutale Lautstärke.

Hört man dann das Ergebnis dieser Probenarbeit im Zusammenhang, so fällt auf, wie sicher der Verlauf der Musik realisiert wird. Ballot weiß in jedem Augenblick, an welcher Stelle der Entwicklung er mit seinen Musikern gerade angelangt ist: wann lokale Höhepunkte anzusteuern, wann Ruhephasen geboten sind, schließlich wie die Hauptklimax eines Satzes als solche darzustellen ist. So erscheint im ersten Satz der d-Moll-Symphonie der choralartige Schlussteil der Exposition deutlich als das Ziel, auf das sich die gesamte vorherige Musik zubewegt hat. Die Durchführung wächst ohne Hast aus der Ruhe am Ende der Exposition heraus, und bei aller Kraft, die sich in den großen Crescendi sammelt, die folgen, so bleibt doch immer noch genügend Energie, in der Coda einen Sturm zusammenzubrauen, um ihn in den letzten Takten voll zu entfesseln. Durch solchen formbewussten Vortrag gewann besonders der langsame Satz, den die meisten Kommentatoren am wenigsten günstig beurteilen. Die heikelste Passage ist hier fraglos der Durchführungsteil, der lange an einem knappen rhythmischen Motiv vom Expositionsende festhält und dieses ausgiebig sequenziert. Das kann kurzatmig und mühsam wirken. Wenn aber die Harmoniefortschreitungen mit so viel Verständnis und solcher Liebe zum Detail dargestellt werden, wie hier unter Ballots Leitung geschehen, so weiß ich nicht, welche Schwäche man dem Satz noch nachsagen könnte. Er ist doch ein wunderbares, inspiriertes Stück Musik! Ausdrücklich danken muss man Ballot auch dafür, dass er die Achteltriolen der Einleitung des Finales im gleichen Tempo hat spielen lassen wie die 3/4-Takte des Scherzos – und damit einen satzübergreifenden Zusammenhang realisiert hat, der, wie der Großteil der Einspielungen dieser Symphonie beweist, den meisten Dirigenten entgeht. (Bruckner gibt durch das D-Dur zu Beginn des Finales, das wie ein Nachklang des Scherzo-Schlussakkords wirkt, einen weiteren Wink!) Das Finale wurde dann ein Fest für Kontrapunktfreunde, denn man konnte den vielen Engführungen, denen das Hauptthema unterworfen wird, perfekt folgen. Gegen Ende tat Ballot gut daran, die durchführungsartige Sektion in der Reprise des Seitensatzes nicht zu überhetzen, sodass die einzelnen Wendungen der rasanten Achtel- und Achteltriolenketten präzise ausmusiziert wurden und die Spannung über den ganzen chaotisch-cholerischen Abschnitt hinweg eher noch zunahm. Dies kam der etwas kurz geratenen D-Dur-Periode am Schluss zugute, die hier einmal nicht wie der angeklebte, konventionelle Jubel erschien, als der sie unter weniger begabten Händen herauszukommen pflegt, sondern wie der wirkungsvolle Zielpunkt einer symphonischen Entwicklung. Insgesamt betrachtet zeigte sich, dass die Symphonie einen heimlichen Helden hat: den Choral, der in diesem Werk zum ersten Mal im symphonischen Schaffen Bruckners unverhüllt das Wort ergreift und sich beinahe wie eine Berliozsche Idée fixe durch die Symphonie zieht. Den entsprechenden Stellen im ersten, zweiten und vierten Satz wurde mit viel Sinn für die vokale Herkunft dieser Musizierform Rechnung getragen. Das Orchester sang als instrumentaler Chor.

Auch einen wirklichen Chor weiß Ballot zu starken Leistungen anzuspornen, wie die der Symphonie vorangehende Aufführung des 146. Psalms bewies. Die überwiegend aus Laien zusammengesetzte St. Florianer Chorakademie leistete sehr tüchtige Arbeit, namentlich in den als Doppelchor angelegten Abschnitten des Werkes, in welchen die Wechselgesänge plastisch herauskamen. Der Dirigent achtete sorgsam darauf, dass das Orchester den Chor nirgends übertönte, und versäumte doch nirgends, die Feinheiten der Instrumentation, die auch dieses vor allen selbstständigen Orchesterwerken Bruckners entstandene Stück bereits reichlich enthält, zur Geltung zu bringen. Ballots Fähigkeit, mit langem Atem musizieren zu lassen, kam insbesondere der Schlussfuge zugute, einem recht ausgedehnten Stück über ein liedhaft-eingängiges „Alleluja“-Thema, das kaum von Zwischenspielen unterbrochen und kontrapunktischen Kunststücken nur ansatzweise unterzogen wird. Die Solostimmen überzeugten wieder mit der vom letzten Jahr her bekannten Qualität. Hervorgehoben seien ein dreistimmiger Abschnitt, der Regina Riel (Sopran), Gerda Lischka (Alt) und Markus Miesenberger (Tenor) völlig ausgewogen gelang, sowie das kurze Bass-Solo, das Michael Wagner mit majestätischer Würde vortrug. Allgemein muss man für eine so schöne Aufführung dieser im Konzertleben sehr vernachlässigten, längsten Brucknerschen Psalmvertonung dankbar sein, denn das halbstündige Werk ist viel mehr als ein bloßes historisches Dokument aus Bruckners Frühzeit. Es ist eine Meisterleistung eigenen Rechts: Voller markanter Themen und abwechslungsreicher Harmoniefolgen, farbig instrumentiert, handwerklich souverän gearbeitet, enthält der Psalm im Keim bereits nahezu alles, was später auch für den Symphoniker Bruckner typisch wird. Die instrumentalen Eröffnungstakte des langsamen Anfangssatzes erscheinen aus der Rückschau wie Vorboten späterer Adagios. Der dunkle, wuchtige Klang, mit welchem der junge Komponist das erwähnte Bass-Solo untermalt, wird in zahlreichen blechbläserdominierten Stellen der Brucknerschen Symphonien seine Nachfolger finden. Hört man dieses Werk, so wird klar, dass Richard Wagner, dessen Werke er erst später kennen lernte, vor allem insofern für Bruckner ein Vorbild war, als dass er an seinem Beispiel lernen konnte, Mut zu sich selbst zu haben, zu den eigenen kühnen Einfällen zu stehen und sich nicht mit hergebrachten Regeln zu begnügen. Natürlich hat Bruckner sich dann von Wagners Kühnheiten auch zu eigenen inspirieren lassen, aber die Grundlage, auf der er unter Wagners Einfluss weiterarbeitete, hatte er selbst gelegt, und der 146. Psalm legt davon beredtes Zeugnis ab.

Die Grabstätte Augustinus Franz Kropfreiters (Bildmitte) befindet sich gegenüber der Stiftskirche auf dem Friedhof der Stiftsangehörigen. Im Vordergrund ist das Grab des Komponisten, Organisten und Regens Chori Franz Xaver Müller zu sehen.

Zwei Tage vor dem ersten der chorsymphonischen Konzerte fand am 16. August auf Schloss Tillysburg, das St. Florian gegenüber auf der anderen Seite des Ipfbachtals liegt, ein Kammerkonzert statt, womit zum ersten Mal im Rahmen der Brucknertage außerhalb St. Florians musiziert wurde. Das Schloss war eine glückliche Wahl, denn es verfügt über einen geräumigen Konzertsaal mit guter Akustik. In diesem steht ein Flügel der Firma Heitzmann aus dem Jahr 1863, auf welchem mit großer Wahrscheinlichkeit bereits Anton Bruckner gespielt hat, der das Schloss regelmäßig aufsuchte, um dort Klavierunterricht zu erteilen. Dieser Flügel erklang nun in dem Klavierquintett von César Franck, dem Bruckner bekanntlich 1869 auf seiner Konzertreise nach Nancy und Paris begegnete, und der über Bruckners Fähigkeiten als Orgelimprovisator des Lobes voll war. Diesem Werk gingen zwei Streichquartette voran: das einzige Streichquartett Bruckners, das er 1862 komponierte und (viel zu bescheiden) nie anders denn als bloße Studienarbeit betrachtete, und das Dritte Streichquartett von Augustinus Franz Kropfreiter, dem langjährigen St. Florianer Organisten und Regens Chori, dessen 20. Todestag wir im September begehen und der nach Bruckner zweifellos die bedeutendste Persönlichkeit in der Musikgeschichte des Stiftes ist. Es spielte das Ballot Quartett, bestehend aus Rémy Ballot und seiner Ehefrau Iris an den Violinen, Stephanie Kropfreiter, der Großnichte des Komponisten, an der Viola, und Jörgen Fog am Violoncello. Am historischen Flügel war der junge Pianist Martin Nöbauer zu hören, der im April dieses Jahres den Internationalen Klavierwettbewerb Classic on Danube gewonnen hat. Die Aufführungen überzeugten durch die gleiche Sorgfalt, durch die sich auch die Orchesteraufführungen auszeichneten (Iris Ballot, Stephanie Kropfreiter und Jörgen Fog spielten unter Rémy Ballots Leitung im Altomonte-Orchester). Jedes Mitglied des Quartetts ist eine hochkultivierte Musikerpersönlichkeit, die auf ihre Mitspieler zu hören versteht und gleichermaßen vermag, die Führung zu übernehmen, zu begleiten und sich in einen Tutti-Klang einzuordnen. Man bekommt von diesem Ensemble keinen manierierten Einheitsklang geboten, wie man ihn von Formationen hört, die sich pauschal entweder auf einen quasi-orchestralen oder auf einen fein ziselierten Vortrag festlegen. Die Spielweise dieses Quartetts orientiert sich an den jeweiligen Gegebenheiten des Tonsatzes, der mit großem Einfühlungsvermögen dargestellt wird. Auch Martin Nöbauer erwies sich im Franck-Quintett als hervorragend begabter Kammermusikspieler, der sich nicht zu Ungunsten der Streicher in den Vordergrund spielt, sondern mit ihnen beständig interagiert, sodass Klavier und Streichquartett hier in schöner Einigkeit zueinander fanden. Was das Programm des Abends betrifft, so sah man natürlich der Aufführung des Kropfreiter-Quartetts mit der größten Neugier entgegen, denn dieses noch recht junge Werk (es entstand 2001 als eine der letzten Arbeiten des Komponisten) liegt bislang in keiner Aufnahme vor und hat noch keine weite Verbreitung gefunden. Verdient hätte es beides! Augustinus Franz Kropfreiter war zweifellos ein Künstler von ausgesprochener Eigenart. Er liebte starke Kontraste und kontrapunktische Strukturen, sodass es nicht Wunder nimmt, dass das Dritte Quartett allen vier Instrumenten lohnende Aufgaben bietet. Die Harmonik ist mit scharfen Dissonanzen reichlich gewürzt, dennoch steht alles auf solidem tonalem Fundament. Die vier Sätze sind knapp gefasst, das ganze Werk dauert nur ungefähr eine Viertelstunde. An der Spitze steht ein zwischen langsamen und raschen Tempi mehrfach wechselnder Satz, wobei die raschen Abschnitte fugiert gestaltet sind. Der langsame Satz beginnt mit einem Bratschensolo, findet dann zu dichter Polyphonie und endet mit einem Trio der drei Oberstimmen, dem sich erst im letzten Ton das Violoncello wieder hinzugesellt. Das Scherzo zeigt Kropfreiters humoristische Begabung: Im Verlauf des Satzes beschleicht den Hörer immer stärker das Gefühl, dass sich in dieser Musik ein bestimmtes Lied versteckt. Dann ist es soweit: Der „Liebe Augustin“ erscheint einen kurzen Moment lang nahezu notengetreu und verschwindet umgehend wieder in den raschen Figurationen. Kropfreiter hat sich, durch das Lied selbstironisch auf seinen eigenen Namen anspielend, oft Scherze dieser Art erlaubt. Das Quartett schließt mit einem lebhaften, ruppigen Finale. Das Ballot-Quartett wird bald ein weiteres Streichquartett Kropfreiters zur Aufführung bringen. Eine intensivere Pflege dieser Musik wäre in der Tat sehr zu wünschen.

[Norbert Florian Schuck, August 2023]

Künstlerische Faszination für ein Instrument

Interview mit dem Pianisten Mathias Weber, dem künstlerischen Leiter des Hamburger Érard Festivals

Von 23. 10. bis 30. 10 findet in Hamburgs Laeiszhalle das 6. Érard-Festival statt. Die aktuelle Festivalausgabe ehrt den frankobelgischen Komponisten César Franck anlässlich seines 200. Geburtstags. Dafür konnte die Érard-Gesellschaft jenen orginalen Érard-Flügel nach Hamburg holen, auf dem Franck viele seiner Werke komponiert hat – unter anderem auch sein f-Moll Klavierquintett, das in Hamburg in gleich zwei Fassungen zur Aufführung kommt. Das in Hamburg stattfindende deutsch-französische Érard-Festival, veranstaltet von der durch Stephanie Weber ins Leben gerufene Érard-Gesellschaft, ist die wohl bedeutendste Institution im deutschsprachigen Raum, die das Kulturgut dieser legendären französischen Flügel lebendig hält. Mathias Weber, Pianist und künstlerischer Leiter des Festivals schöpft aus dem linearen und feinen Klangcharakter dieser Instrumente immer wieder neues künstlerisches Potenzial für kammermusikalische Begegnungen.

The New Listener: Warum haben Sie César Franck ins Zentrum des Érard Festivals gesetzt?

Mathias Weber: Das ist vor allem dem glücklichen Umstand geschuldet, dass wir den Original-Flügel von César Franck zur Verfügung gestellt bekamen. Mehr noch: Auf diesem Érard-Flügel hat César Franck sein f-Moll Klavierquintett, welches in der Laeiszhalle zur Aufführung kommen wird, komponiert. Und auch Franz Liszt, dessen Klavierkonzert Nr. 2 unter anderem auf dem Programm steht, ist ja „der“ Érard-Künstler schlechthin. Beide Komponisten sind durch den Klang dieses Instruments originär beeinflusst worden.

Bei den ersten beiden Konzerten steht César Francks Klavierquintett f-Moll gleich zweimal auf dem Programm – einmal im Original zusammen mit dem Schumann Quartett und danach im viel größer besetztem Format mit dem Oldenburgischen Staatsorchester.

Genau. Dem Original steht eine von mir kreierte Orchesterversion gegenüber. Mich interessierte hier das Spiel mit den Rollenverteilungen. Durchaus wird in der Orchesterversion dem Klavier einiges „weggenommen“ und an ein ganzes Orchester weitergegeben. Deswegen ist diese neue Fassung von mir kein Klavierkonzert im üblichen Sinne. Das Klavier agiert eher wie ein obligates Soloinstrument. Ich habe das Stück so bearbeitet, dass es eben nicht genuin klaviermäßig ist, sondern stattdessen mehr Gleichberechtigung entsteht. Das kommt auch äußerlich dadurch zum Ausdruck, dass der Dirigent bei dieser Aufführung vor dem Klavier steht.

Wie sind Sie vorgegangen bei dieser Neufassung?

Nach einer meiner Aufführungen des Franck-Quintetts kommentierte ein Musikerkollege: Das klingt ja wie ein Orchester, was mich dazu brachte, das Quintett zunächst für ein solches zu bearbeiten. Aber dadurch fehlte wieder etwas. Vor allem wurde mir klar, dass das rein figurative Element des Klaviersatzes nur im Orchester allein nicht darstellbar ist. Also habe ich das Quintett von Franck zu einer „Sinfonie für Orchester und Klavier“ weiterentwickelt.

Welche Rolle spielt Franz Liszt im Programm?

Mit Franz Liszts Klavierkonzert A-Dur und der sinfonischen Dichtung Les Préludes wollen wir auf die Verwandtschaft César Francks mit Franz Liszt anspielen.

Welche Aspekte standen für César Franck im Vordergrund, wenn er sich an Franz Liszt orientierte?

Der Klavierpart bei César Franck ist ja auffallend beweglich, so dass hier eine Inspiration durch Franz Liszt nahe liegt. Aber trotz solcher Einflüsse hat César Franck etwas ganz eigenständiges daraus gemacht. Durch die fantasievolle Verwendung eines Grundgedankens konnte sowohl bei Liszt als auch bei Franck eine monumentale Großform entstehen.

Am 30. Oktober spielen Sie zusammen mit dem Ensemble Acht – auf dem Programm stehen zwei Septette von Ludwig van Beethoven und Nepomuk Hummel. Worauf können wir uns hier freuen?

Hummels Septett d-Moll op. 74 ist von Franz Liszt herausgegeben worden und man kann es zu den bedeutendsten Stücken der Kammermusik nach Beethoven rechnen. Es ist ein sehr dramatisches, viersätziges Stück. Man könnte den Charakter dieser Musik als „janusköpfig“ oder doppelbödig bezeichnen. Formal ist es eigentlich ein Klavierkonzert und trotzdem zugleich ein Kammermusik-Stück. Die Besetzung „sechs Instrumente plus Klavier“ geht ja schon ins Orchestrale. Daher ist der Klaviersatz auch sehr konzertmäßig. Aber trotzdem ist es kein Klavierkonzert, da die anderen Instrumente thematisch viel zu sagen haben. Vom Ausdruckscharakter her steht diese Musik auf einer Schwelle zwischen den Zeiten. Ich sehe hier eine Symbiose von Mozart´scher Leichtigkeit und dämonischer Romantik. Durchaus stand hier auch E. T. A. Hoffmann Pate. Zugleich bezieht sich die Komposition in ihrem dritten Satz auf Beethovens vierten Satz seines Es-Dur Septetts. Hier einen Vergleich zu ziehen, ist doppelt lehrreich: Beethoven bleibt in seiner Komposition in der Form drin, wo Hummel sie stärker aufbricht – allein das macht die Gegenüberstellung dieser beiden Werke in einem Konzert zu einem spannenden Stück musikalischer Zeitgeschichte.

Welchen Austausch gab es zwischen Beethoven und Hummel?

Hummel war ein Freund von Beethoven und die beiden haben sich sehr geschätzt. Angeblich hat sich Beethoven auch für Hummels Frau interessiert. Das fand Hummel aber nicht so nett und wollte deswegen nicht auf Beethovens Beerdigung spielen. Aber Hummels Frau hat trotzdem darauf bestanden, dass er es tue.

Was macht Ihre persönliche Faszination für die Flügel aus dem Hause Érard aus?

Meine Leidenschaft für den Érard-Flügel resultiert aus einer gewissen Verrücktheit. Aber ich habe hier den perfekten Klang für mich gefunden.

Gab es dafür ein Erweckungserlebnis?

Ja, es war wie eine Offenbarung, als ich zum ersten Mal diesen Klang gehört habe. Ich bin in einem Klaviergeschäft eher zufällig darauf gestoßen. Ich wusste schon, dass die Érard-Flügel interessant sind. Auch Richard Wagner hatte so einen und deswegen dürften sie wohl nicht ganz so schlecht sein. Als ich nun in diesem Klaviergeschäft war, habe ich einen Érard aus dem Jahr 1858 zum ersten Mal bewusst gehört. Der war noch nicht mal richtig restauriert. Aber ich habe ihn gespielt und gedacht, das ist es! Ich habe noch diverse andere Instrumente demonstriert bekommen, aber bin immer wieder zum Érard zurück gegangen.

Man sagt, dass Érard-Flügel durch die Technik der „doppelten Repetition“ die ersten modernen Flügel sind. Was macht dieses Prinzip aus?

Man konnte dadurch einfach viel schneller spielen. Der entscheidende Unterschied ist, dass der Hammer nicht mehr komplett zurückfällt, sondern auf halber Strecke gehalten wird. Die ganze moderne Spielweise, die sich seit Liszt und Mendelssohn etabliert hat, wäre ohne die doppelte Repetition nicht denkbar. Auch jeder moderne Flügel hat sie heute noch.

Wo hingegen zeigt sich die Überlegenheit des Érard-Flügels?

Steinway hat als erster Klavierbauer die tiefen Saiten überkreuz gespannt, womit er eine Revolution vollzogen hat. Das führte zu deutlich mehr Wucht in den Bässen. Der Reiz des Érard besteht darin, dass hier die Saiten weiterhin linear, also überall nebeneinander gespannt sind. Dadurch klingt der Érard viel klarer und genau diese Klarheit und Linearität macht meine künstlerische Faszination für dieses Instrument aus. Mit einem „Kreuzsaiter“ kann man polyphone Bass-Führungen längst nicht so differenziert abbilden. Alles ist immer eine Frage des Standpunktes. Rachmaninoff wird auf einem modernen Konzertflügel immer eine viel mächtigere Wirkung entfalten als auf einem Érard. Aber Ravel klingt wiederum auf einem Érard umso faszinierender.

[Das Interview führte Stefan Pieper]

Das Palazzetto Bru Zane ehrt Camille Saint-Saëns und César Franck

Camille Saint-Saëns: Phryné

Bru Zane, BZ 1047; EAN: 8 055776 01002 1

César Franck: Sämtliche Lieder und Duette

Bru Zane, BZ 2003; EAN: 8 055776 01003 8

Für Musikinteressierte mit Faible fürs französische Repertoire ist das Palazzetto Bru Zane eine Fundgrube sondergleichen. Versteckt in einer kleinen Gasse nahe der imposanten Kirche San Rocco, belebt das in Venedig ansässige Musikzentrum das kompositorische Erbe zwischen 1780 und 1920. Die Pharmaunternehmerin Nicole Bru entdeckte das verfallene Gebäude, das früher als Sommerhaus der Adelsfamilie Zane diente, ließ es wiederherstellen und funktionierte es als Sitz für die von ihr finanzierte Stiftung um. Heute ist dort ein Stamm von 15 Mitarbeitenden administrativ beschäftigt, während in Paris der künstlerische Leiter Alexandre Dratwicki mit einer fünfköpfigen Crew die Forschungen vorantreibt. Hundertvierzig Jahre Musik wollen gesichtet und aufgearbeitet werden, bevor sie in Publikationen, Konferenzen, Konzerten und Bühnenproduktionen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Hinzu kommt ein eigenes Label, das in einer feinen, verschwenderisch ausgestatteten CD-Buch-Reihe überwiegend Opern und Operetten, aber auch Porträts von kaum bekannten Komponistinnen und Komponisten produziert. Oft geben Jubiläen den Impuls zur näheren Auseinandersetzung, 2021 galt sie Camille Saint-Saëns anlässlich seines 100. Todestags. Alexandre Dratwicki und sein Team konzentrierten sich dabei auf die – vom Repertoirehit Samson et Dalila abgesehen – vergessenen Opern des in jeder Gattung versierten Vielschreibers. Belebt wurde etwa das Künstlerdrama Le Timbre d’Argent, die Renaissancetragödie Proserpine und das Römerspektakel Les Barbares. In die Antike, die für den 1835 geborenen Komponisten zeitlebens eine Quelle der Inspiration bedeutete, führt auch die gerade auf CD erschienene Oper Phryné aus dem Jahr 1893. Sie spielt im alten Griechenland und erzählt davon, wie ein als Tugendwächter auftretender Würdenträger die Kurtisane Phryné zu verführen sucht. Sie aber ist bereits mit dessen armen Neffen liiert und stellt den Alten in aller Öffentlichkeit bloß. Um sich aus der Affäre zu ziehen, sieht er sich gezwungen, dem Verwandten sein halbes Vermögen zu vermachen. Phryné ist das einzige heitere unter Saint-Saëns‘ Bühnenwerken und war wohl deshalb neben Samson am erfolgreichsten. Durchzogen vom Geist einer Operette besitzen die Melodien Esprit, Anmut und im Chorfinale des ersten Aktes eine mitreißende Rasanz. Die Aufnahme, die statt der originalen Dialoge die nachkomponierten Rezitative von André Messager benutzt, bietet mit Hervé Niquet einen Könner im französischen Fach auf, der so vital wie elegant dirigiert und die orchestralen Valeurs mit ihren aparten Bläsereinsätzen auskostet. Florie Valiquette singt eine verführerische Phryné mit kokett geträllerten Koloraturen, Cyrille Dubois schwärmt für sie in seiner Arie mit tenoraler Geschmeidigkeit und Thomas Dolié gibt dem Onkel gestandene Buffokonturen. Mit Phryné endet die Saint-Saëns-Reihe vorläufig, doch ist als Nachschlag die wegen der Pandemie verschobene Einspielung der Griechentragödie Déjanire geplant.

Aktuell aber gilt es den 200. Geburtstag von César Franck zu feiern. Der musikalische Werdegang des 1822 in der belgischen Stadt Liège geborenen und 1890 nach einem Unfall in Paris gestorbenen Komponisten, weist einige Gemeinsamkeiten zu Saint-Saëns auf. Beide galten als Klavierwunderkinder, waren renommierte Organisten und verschrieben sich als Gründungsmitglieder der „Societé Nationale de Musique“ der Pflege der französischen Musik. Stilistisch aber entfremdeten sie sich voneinander. Ein Beispiel dafür ist die Uraufführung von Francks Klavierquintett 1880, das Saint-Saëns gewidmet werden sollte. Der übernahm zwar den Pianopart, schlug die Zueignung aber aus, weil er den ungewohnten Klängen nichts abgewinnen konnte. Doch jene Synthese von französischen und deutschen Elementen, von Wagner-Einflüssen und romanischer Emotionalität trug entscheidend zur Entwicklung der französischen Musik bei und wurde durch Francks illustre Schülerschar, die sogenannte „bande à Franck“, fortgeführt. Denn auch das war César Franck: ein undogmatischer Lehrer, hochverehrt von seinen Studenten, zu denen Ernest Chausson, Henri Duparc, Vincent d’Indy und Claude Debussy zählten.

Ungeachtet seiner musikhistorischen Bedeutung ist nur wenig aus Francks umfangreichen Schaffen ins Repertoire eingegangen: neben den Orgelwerken sind es die Symphonischen Variationen für Klavier und Orchester, die Sinfonie in d-Moll und die Violinsonate. Das will das Palazzetto Bru Zane ändern. Mit einem sich bis zum Sommer hinein erstreckenden Festival begibt es sich auf eine Entdeckungsreise in „The World of César Franck“. Eingeläutet wird sie in Venedig mit zwei intelligent konzipierten Kammermusik-Programmen – fein aufeinander abgestimmt und dennoch kontrastreich durch die Kombination von Franck-Meisterwerken mit bislang unterschätzten weiblichen Kompositionen. Das Eröffnungskonzert, das im Festsaal des Palazetto stattfindet, konfrontiert das Klaviertrio Nr. 1 in fis-Moll – das erste der als Opus 1 bezeichneten drei Trios concertant, die der 17-Jährige 1839 am Konservatorium begonnen hatte – mit Pauline Viardots eher konventionellem Duo für Geige und Klavier und drei so bewegten wie geistvollen Miniaturen von Lili Boulanger. Bestritten wird es von der jungen Geigerin Anna Agafia und dem Cellisten Ari Evan unter der Anleitung des renommierten Pianisten Frank Braley, die als Trio-Formation debütieren, dabei aber noch auf der Suche nach der rechten Balance sind – bedingt wohl auch wegen einer Verletzung Evans.

Der folgende Abend, diesmal in der prächtigen Scuola Grande San Giovanni Evangelista, präsentiert das bereits arrivierte Quatuor Hanson und den Klaviersolisten Ismaël Margain, dessen traumwandlerisches, sich gegenseitig befruchtendes Zusammenspiel vor emotionaler Hochspannung vibriert. Vorgetragen wird Francks bereits erwähntes Klavierquintett f-Moll, bestehend aus drei leitmotivisch miteinander verknüpften Sätzen mit süffigen Themen, kühn oszillierenden Harmonien und sinfonisch dichten Steigerungen. Die sich anschließende Grande Fantaisie-Quintette komponierte eine heute völlig Unbekannte: Rita Strohl, Jahrgang 1865, machte durch spirituell durchdrungene Werke von sich reden, geriet aber nach ihrem Tod 1941 in Vergessenheit. Ihr Ensemblestück ist eine weniger komplexe Variante der Gattung, bemerkenswert aber wegen der melodischen Dominanz des Klaviers im Kontrast zum Streicher-Unisono.

Wie geht es in den nächsten Monaten weiter in der Welt von César Franck? In Venedig stehen Kammermusikkonzerte im Zentrum, während in Paris großdimensionierte Orchesterwerke erklingen. Dort erlebt auch die zwischen 1879 und 1885 entstandene, zu Francks Lebzeiten nie aufgeführte Oper Hulda – ein blutrünstiges Drama um Rache und Verrat, das im frühmittelalterlichen Norwegen spielt – ihre konzertante Premiere mit Folgeaufführungen in Brüssel und Liège.

Schon jetzt aber kann man sich in César Francks Vokalkosmos vertiefen: beim Hören der gerade erschienenen Doppel-CD mit sämtlichen Klavierliedern und -duetten. Sie spielten keine Hauptrolle in seinem Oeuvre, begleiteten ihn aber mit Unterbrechung während der gesamten, rund 50-jährigen Schaffensphase. Daraus resultiert die Bandbreite der von Franck verwendeten Formen, die später in der typischen französischen „Mélodie“ gipfelten, perfektioniert durch Franck-Schüler wie Chausson und Duparc. Vom Charakter her dominieren gefühlvolle, atmosphärisch dunkle Lieder, wechselnd im Gewand von Romanzen, Strophengesängen, Balladen und – als Besonderheit – von kleinformatigen patriotischen Kantaten.

Mit Véronique Gens, Tassis Christoyannis und dem Pianisten Jeff Cohen sind drei Stützen aus dem Stammensemble des Palazzetto Bru Zane an dem Projekt beteiligt. Der griechische Bariton hat sich schon seit längerem als französischer Lied-Spezialist etabliert, etwa mit Kollektionen von Édouard Lalo, Benjamin Godard und Reynaldo Hahn. Durch variantenreiche Dynamik, wechselndes Kolorit der Stimmungen und plastische Artikulation lotet er den Charakter der Stücke aus, beispielhaft etwa in La Vase brisé mit einer ganzen Palette von Pianoschattierungen. Sechs Duette runden die Anthologie ab. Es sind getragene Duos mit religiösem Hintergrund, in denen die Stimmen meist parallel geführt werden. Véronique Gens, ist für diesen kleinen Zyklus eine Luxusbesetzung. „Gott hat mich mit einer einzigen Gnade beschenkt, nämlich der Verbindung zu Cesar Franck“. Diesen Ausspruch von Henri Duparc aus dem Jahr 1903 zitiert das Palazzetto Bru Zane in seiner Festival-Vorschau. Solche Verbindung selbst herzustellen, dazu bieten die vielfältigen Veranstaltungen reichlich Gelegenheit.

Karin Coper [April 2022]

Verdienstvoll engagierter César Franck mit Längen

Naxos 8.573955; EAN: 7 4731339557 6

Von César Francks späten symphonischen Dichtungen findet nur „Le Chasseur maudit“ ab und zu in die Konzertsäle. Jean-Luc Tingaud hat nun auf Naxos außerdem „Les Éolides“ und – als eine der ganz wenigen vollständigen Aufnahmen – „Psyché“ mit dem Royal Scottish National Orchestra neu eingespielt. Man spürt dabei sowohl die unverkennbaren Stärken als auch manche Schwäche dieser Musik. 

Der aus Lüttich stammende César Franck (1822-1890) begann – was einigermaßen unbekannt geblieben ist – quasi als Wunderkind am Klavier, wovon einige erstaunliche, frühe Klavierwerke („Ballade“) zeugen. Er studierte schon mit 15 am Pariser Conservatoire, u.a. bei Reicha, und war dann für gut 40 Jahre vor allem als Organist und Lehrer (etwa von D’Indy und Chausson) aktiv. Abgesehen von seinen Orgelwerken blieb er als Komponist weitgehend unbeachtet; erst in den 1880er Jahren brachten ihn jedoch einige unbestrittene Meisterwerke – vor allem die Symphonie d-moll und die Violinsonate A-Dur – noch zu unverhofftem Weltruhm.

Zu den ambitionierten Orchesterwerken dieser produktiven Spätphase gehören drei symphonische Dichtungen, die hier vom Royal Scottish National Orchestra, das sich schon insbesondere durch die Gesamtaufnahme der Symphonien Albert Roussels unter Stéphane Denève als feinfühliger Klangkörper für französisches Repertoire empfohlen hat, auf einer CD präsentiert werden. Besonders erwähnen muss man die Tatsache, dass uns Naxos damit eine der ganz wenigen vollständigen Aufnahmen von Psyché gönnt: Die letzte liegt nun bereits 25 Jahre zurück (unter Tadaaki Otaka, Chandos), davor muss man schon bis in die 1960er suchen (Jean Fournet). Die komplette Version mit Chor wird von den meisten Dirigenten verschmäht: Man begnügt sich mit den vier instrumentalen Hauptsätzen – so Ashkenazy (Decca) oder Armin Jordan (Erato) –, und selbst diese werden nicht selten gekürzt (Barenboim, DG). Dafür gibt es selbstverständlich Gründe: Das komplette Stück hat mit über 45 Minuten tatsächlich seine Längen, besonders der anfängliche Abschnitt Le Sommeil de Psyché kommt nicht wirklich in die Gänge – und auch Jean-Luc Tingaud hat zu kämpfen, da musikalische Stringenz hereinzubringen. Immerhin lässt – nicht nur hier – der Klangsinn von Dirigent und Orchester aufhorchen. Die Aufnahmetechnik kann ebenfalls total überzeugen: angenehmes Klangbild, Dynamik und Durchsichtigkeit werden der großen Besetzung gerecht. Die Verbindung von quasi wagnerischen Panoramen mit bereits aufblitzenden Vorboten des Impressionismus kommt nicht zuletzt dadurch gut heraus. Tingaud bleibt aber bei den doch erotischen Anklängen – die D’Indy energisch bestritten hat – eher zurückhaltend.

In die Vollen gehen darf der Dirigent natürlich beim berühmten Chasseur maudit: Der Graf, der es wagt, am heiligen Sonntag der Jagd zu frönen, und dadurch in einem Höllenritt der Verdammnis anheimfällt, steht in bester Tradition der symphonischen Dichtungen Liszts. Starke Kontraste, orchestrale Virtuosität und Wucht entfalten beim Hörer ihre Wirkung. Obwohl Tingaud auch dabei ein wenig flotter ist als die Konkurrenz, wirkt die wilde Jagd fast zu kultiviert, weniger bedrohlich als etwa bei Riccardo Muti (EMI) oder François-Xavier Roth (Cypres) – trotzdem macht das Stück aber Spaß. Weniger problematisch ist Les Éolides (1875) – neben zarten Wagner-Anklängen gibt es hier Passagen, die zehn Jahre später Saint-Saëns in seiner Orgelsymphonie inspiriert haben dürften. Tingaud gelingt eine luftige, gediegene Darbietung, wie sie unter den üblichen, stressigen Probenbedingungen solcher Produktionen kaum besser möglich ist – da ist der Franzose längst ein erfahrener Routinier. Insgesamt ist diese Zusammenstellung somit momentan auf CD eigentlich konkurrenzlos.

[Martin Blaumeiser, September 2020]

Der Musik die Dämonen austreiben

Gutman Records, CD191; EAN: 8 719325 404012

Um César Francks groß angelegte Violinsonate in A-Dur errichtet die niederländische Violinistin Merel Vercammen gemeinsam mit der Pianistin Dina Ivanova das Programm ihrer CD „Symbiosis“. Neben Francks Meilenstein hören wir die D-Moll-Sonate von Irene Regina Wieniawska, die ihre Werke unter dem Pseudonym Poldowski herausgab, sowie „Sprookjes: Musical Tales for Violin and Piano“ der niederländischen Komponistin Mathilde Wantenaar.

Über manche Werke herrschen Dämonen, die sich auf die Aufführungsweise auswirken. Bei diesen Dämonen handelt es sich um mechanisch oder technisch überhöhte Anforderungen, die in den Musikern bereits vor der Erschließung gewisse Angst vor den Werken schüren. Viele Musiker überspielen die Angst durch mechanische Perfektion und rasende Tempi, missbrauchen die Herausforderungen zur Selbstdarstellung und vernachlässigen im Umkehrschluss die wahre Musik, die in den Werken enthalten ist. Auf diese Weise hören wir manche Werke fast ausschließlich als rasende Technikorgien ohne tatsächlichen Inhalt und bestaunen vielleicht die raschen Finger, erleben aber nicht die Musik. Beispiele hierfür sind unter anderem Paganinis Capricen, Listzs Mephistowalzer, Prokofieffs Solokonzerte, Ravels Gaspard de la Nuit und Miroirs oder eben Francks Violinsonate.

Merel Vercammen und Dina Ivanova treiben die Dämonen aus. Sie lassen sich nicht beschränken durch die technischen Hürden oder auf Selbstdarstellung, sondern erforschen die Musik von innen heraus. Dabei halten sie den emotionalen und den analytischen Aspekt in der Waage, werden also weder von den Emotionen überwältigt, noch von der Theorie abstumpft; sie verstehen die Sonate. Die Beziehungen zwischen jedem Ton werden erspürt, wodurch sie den Hörer sogar durch die großen Flächen der Recitativo-Fantasia hindurch sicher geleiten, ohne die Spannung einbrechen zu lassen. Das berüchtigte Allegro erklingt gelassen und behält dennoch die vorwärtstreibende Energie. Selten vernimmt man das Hauptthema im Klavier so herausgemeißelt und ausgestaltet wie bei Dina Ivanova, die allgemein die einzelnen Stimmen in eine funktionierende Hierarchie stellt, so dass sich alles am rechten Platz der Wahrnehmung befindet. Der erste Satz strahlt innige Ruhe aus, während das Finale in tänzerischer Beschwingtheit glänzt und eine scherzhafte Note erhält. So ergibt sich ein beinahe narratives Element, das den Hörer vom fragend getragenen Ausgangspunkt aus über Turbulenzen und Meditationen bis hin zu einem Ziel führt, das eigentlich gerade in der Unvereinbarkeit liegt.

Die Komponistin Mathilde Wantenaar und ihre Sprookjes lernte Merel Vercammen durch einen Kompositionswettbewerb kennen, in dem sie das Werk aufführte, welches schließlich sogar den Jury- wie den Publikumspreis gewann. Die drei kurzen Stücke stehen in einem postromantischen und bildhaften Stil, der den Hörer unmittelbar anspricht und seine Fantasie anregt.

Eine großartige Repertoire-Entdeckung gelang den Musikerinnen mit der Violinsonate d-Moll von Irene Regina Wieniawska, der Tochter von Henryk Wieniawski. Da sie weder vom Namen ihres Vaters, noch von dem ihres Ehemanns profitieren wollte, publizierte sie ihre Werke unter dem Pseudonym Poldowski. Die dreisätzige Violinsonate präsentiert einen französischen Stil, der in der Tradition ihres Vaters und Francks steht, aber auch neue Elemente von unter anderem Debussy einfließen lässt und eine eigene Note offenbart, die ich bislang aber noch nicht einordnen kann. Gerade der Klavierpart ist hoch virtuos und verleiht der Musik etwas Flirrendes und zugleich Filigranes. Vercammen und Ivanova halten fest zusammen bei allen Werken der CD, bündeln ihre technischen und musikalischen Vorstellungen, wodurch sie etwas Gemeinsames erschaffen. Ivanova bleibt dynamisch eine Stufe unter Vercammen, holt aber wichtige Themen und Figuren in den Vordergrund, lässt also die Violine sich entfalten, ohne selbst dabei klanglich zu verschwinden.

Da ich weder Poldowski noch Wantenaar zuvor gehört habe, lässt sich kein Vergleich ziehen; die Aufnahme von Francks Sonate gehört in jedem Fall zu den stimmigsten und reflektiertesten, zudem stringentesten und musikalischsten, welche die letzten Jahre erschienen sind.

[Oliver Fraenzke, Juli 2019]

Anspruchsvolle Musik statt Salon-Romantik

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 267; EAN: 4 260052 382677

Gemeinsam mit der Pianistin Iryna Krasnovska spielt die Flötistin Sofia de Salis Arrangements bekannter Werke des 19. Jahrhunderts. Auf dem Programm steht die Sonate a-Moll für Arpeggione und Klavier D 821 (Arr. Konrad Hünteler) von Franz Schubert sowie dessen Ständchen aus Schwanengesang (Arr. Sofia de Salis) und zwei Klavierwalzer (Arr. Tatiana Smirnova), nämlich der Atzenbrugger Tanz Nr. 3 D-Dur D 265 Nr. 29 und Valse sentimentale A-Dur D 779 Nr. 13. Den Mittelpunkt der CD bildet die große Violinsonate A-Dur op. 120 von César Franck (Arr. Douglas Woodfull-Harris). Außerdem hören wir noch Robert Schumanns drei Romanzen für Oboe und Klavier op. 94 (Arr. Jacques Larocque).

Der optische Eindruck dieser CD mag so gar nicht zum musikalischen Inhalt passen. In grünem Kleid steht die Flötistin Sofia de Salis in einem reich verzierten Schloss, auf dem Cover sehen wir sie vor dem Fenster mit Blick auf Berge und einen See. Dazu kommt der schnulzige Titel „Shades of Love“. Es fehlt nur noch sanft-melancholische Musik voller Kitsch und Klischee, und der Eindruck wäre perfekt – doch statt dessen bekommen wir hoch anspruchsvolle Musik inklusive zweier großformatigen Sonaten von Schubert und Franck!

Der Querflöte ist im 19. Jahrhundert nur spärlich bedeutsame Literatur zuteil geworden, wenn man von Schubert und Hummel absieht; erst in der französischen Musik um die Jahrhundertwende blühte das Instrument als Solist voll auf (dieser Musik widmete Sofia de Salis ihr erstes Album). So ist es durchaus legitim, dass sich Flötisten an Werken für andere Besetzungen bedienen und diese für ihr Instrument umdeuten. Oft liest man über solche Bearbeitungen, die Flöte könne dem Charakter des Originals durch gewisse dynamische und phrasierungstechnische Einschränkungen nicht gerecht werden. Doch wer verlangt das? Viel eher sollten wir uns den prächtigen Facetten hingeben, welche ausschließlich eine Flöte aus den Werken herausholen kann; so hören wir die Werke einmal in ganz neuer Beleuchtung.

Sofia de Salis erleben wir hier als phantasievolle Flötistin, die auf eine besondere Farbenpracht in ihrem Spiel Wert legt. In den Arrangements versucht sie, die Charakteristika der Originalinstrumente auf die Flöte zu übertragen und kann dabei in Francks Sonate sogar die Robustheit der Violine gegenüber ihrem Instrument übernehmen, weiß jedoch auch um die Vorzüge ihrer Flöte und gestaltet manche Linien noch sanglicher und feiner, als wir sie vom Original her kennen. Abgesehen kleinerer Ausbrüche in übermäßige Freiheit bei den kleinen Solo-Einwürfen der Schubert-Sonate und im Recitativo der Franck-Sonate verzichtet de Salis darauf, sich in der Musik zu verträumen.

Die klangliche Abstimmung zu ihrer Partnerin Iryna Krasnovsky funktioniert leider trotz der hervorragenden Aufnahmetechnik der SACD überhaupt nicht. In der Arpeggione-Sonate Schuberts geht das Klavier vollkommen unter: Ich vermisse das Wechselspiel des Sechzehntelnoten-Motivs im Kopfsatz und die thematischen Einwürfe des Klaviers im Finale, allgemein die harmonische Stütze, die bei Schubert so dringend notwendig ist. Bei dieser Sonate finde ich im Übrigen auch schade, dass die Musiker das Adagio viel zu schnell nehmen und auch aus dem Allegretto-Finale ein Allegro machen, statt dass sie die Musik atmen lassen und die Ruhe auskosten. Bei Franck ist klanglich das Gegenteil der Fall, hier übertönt das Klavier mitunter die Flöte. Selbst bei einem Geigenpartner muss der Pianist darauf achten, nicht zu sehr zu donnern, umso mehr bei einer Flöte. Doch Iryna Krasnovska beachtet ihre Mitstreiterin wenig, schenkt dem Wechselspiel zwischen Klavier und Flöte keine Aufmerksamkeit und kann selbst die eigenen Stimmen nicht stimmig zusammenfügen, wodurch viele thematischen Motive untergehen, vor allem im berüchtigten zweiten Satz. Die Pianistin scheint zu sehr mit den technischen Herausforderungen beschäftigt zu sein, um anderes zu bemerken. Erst im Finale dieser Sonate finden de Salis und Krasnovska klanglich zusammen und musizieren gemeinsam. Die restlichen Werke der CD sind dankbarer für das Zusammenspiel und musikalisch leichter zu durchdringen, entsprechend stimmigere Resultate hören wir. Im abschließenden „Ständchen“ bemerken wir vielleicht sogar einen kleinen Rückbezug auf den Titel der CD.

[Oliver Fraenzke, Mai 2019]

Lebenswerke, Lebenslinien

Rubicon RCD1007; EAN: 5 065002 149060

Lea und Esther Birringer spielen auf ihrer CD „Lifelines“ Werke aus unterschiedlichsten Lebensabschnitten dreier Komponisten der Romantik: Die frühe Violinsonate F-Dur op. 8 von Edvard Grieg, die zwei späten Elegien Franz Liszts und die groß angelegte Violinsonate von César Franck.

Edvard Grieg stand eine vielversprechende Karriere bevor, als er seine Violinsonate F-Dur op. 8 beinahe zeitgleich mit der Klaviersonate e-Moll op. 7 schrieb. Er hatte seine Studien in Leipzig abgeschlossen, lernte bei dem zur damaligen Zeit hochgeschätzten Dänen Niels W. Gade, von welchem er eifrigen Zuspruch für seine Werke erhielt, und wurde von seinem großen Idol, dem Violinisten und Nationalromantiker Ole Bull, gefördert, der in ihm die Idee weckte, in einem „echten nordischen Stil“ zu komponieren, was bereits in den beiden frühen Sonaten und noch stärker im nachfolgenden Op. 13 zum Vorschein kommt.

Antipoden zu diesem Werk sind die beiden späten Elegien von Franz Liszt, nüchterne und abgeklärte Werke, die nichts von seiner früheren Virtuosität erahnen lassen. Besonders die erste Elegie thematisiert den Tod, ihr Titel lautet „Schlummerlied im Grabe“. Die Zärtlichkeit eines Wiegenliedes vereint sich mit trister Isolation und Todnähe. Es handelt sich um einen tönenden Nachruf der Comtesse Marie von Moukhanoff-Kalergis, während die zweite Elegie vermutlich durch einen Artikel seiner späteren Biografin Lina Ramann über die erste Elegie veranlasst und ihr gewidmet wurde.

Auch die Violinsonate von César Franck ist ein Spätwerk, wurde allerdings – was den Kreis schließt – dem jungen Geiger Eugène Ysaÿe anlässlich seiner Hochzeit auf den Leib geschrieben. Der Virtuose behielt das Werk für über vierzig Jahre durchgehend in seinem Repertoire und verbreitete den Ruf César Francks auf internationaler Ebene, was bis heute nachwirkt. Noch immer zählt Francks Violinsonate zu den an häufigsten gespielten Sonaten des späten 19. Jahrhunderts, ist vor allem aufgrund ihres horrend schwierigen Klavierparts berüchtigt – in der Ausführung leider viel zu oft auf Kosten der musikalischen Struktur, deren Anforderungen die rein mechanisch-technischen noch einmal wesentlich übersteigt.

Zu diesen ausschließlich auf die makellosen Töne fixierten Musikern gehören die Schwestern Lea und Esther Birringer glücklicherweise nicht, sie suchen einen persönlichen und menschlichen Zugang zu diesen drei Komponisten. Am glücklichsten ist dabei die Begegnung mit der jugendlich glühenden Sonate Griegs, deren Lebenslust und -freude vom ersten Ton an deutlich wird. Wie die ersten Sonnenstrahlen des Tages funkelt die Eröffnung, der gemächliche Aufbau geschieht vollkommen natürlich und ungezwungen. Magisch wirkt auch der Mittelsatz, ein durch und durch norwegisches Cantabile, nicht unähnlich dem Wächterlied aus den Lyrischen Stücken op. 12. Liszt klingt reif und distanziert, doch nicht weniger ausdrucksstark und auch bedrückend. Aus Francks Sonate schließlich holen die Birringer-Schwestern viel heraus, wenngleich die Dynamik gerade im Piano- und Pianissimobereich noch differenzierter und feinfühliger verwirklicht sein dürfte, um die introvertierten Aspekte deutlicher zum Vorschein zu bringen. Die kurzen thematischen Phrasen sind sehr detailgetreu darzustellen, jedes Mal erscheinen diese in neuem Licht, was nur durch minutiös durchdachte Dynamik realisierbar wird.

[Oliver Fraenzke, Februar 2018]

Unerschöpfliche Frische

Das Duo Violeta Barrena und Ottavia Maria Maceratini spielt am 20. Oktober 2017 zum zweiten Mal gemeinsam im Münchner Freien Musikzentrum. Auf dem Programm stehen die c-Moll-Sonate Op. 30 Nr. 2 für Violine und Klavier von Ludwig van Beethoven, vier Sätze aus der E-Dur-Partita BWV 1006 (ohne Loure und Menuett) von Johann Sebastian Bach sowie die Sonate A-Dur von César Franck.

Einmal mehr wird das „Münchner Wohnzimmer erstklassiger Musik“ Schauplatz für ein absolutes Klassik-Highlight. Nach ihrem Duo-Debut im Februar sind Ottavia Maria Maceratini und Violeta Barrena zurück auf der kleinen Bühne und spielen drei in jeder Hinsicht herausfordernde Werke.

Das Programm beginnt mit Beethovens c-Moll-Violinsonate, ein reifes Werk mit unerhörten Klüften harmonischer Fortschreitung und bemerkenswerten melodischen Wanderungen zwischen den Stimmen. Gerade der erste Satz brodelt regelrecht unter den Fingern der beiden Musikerinnen, unentwegt werfen sie sich gegenseitig die Themen zu und dies in größter Gelassenheit und Freude am Entstehenden. Welch gegensätzliche Welt der zweite Satz zu eröffnen vermag, und wie subtil Barrena und Maceratini darauf eingehen! – bis hin zum unvermittelten Wechsel zu den raschen letzten beiden Sätzen.

Um der oft führenden Position des Klaviers bei Beethoven und Franck entgegenzuwirken, spielt Violeta Barrena (aufgrund des langen Programms nur) vier Sätze aus Bachs Partita für Violine Solo E-Dur BWV 1006: Präludium, Gavotte, Bourrée und Gigue. In himmlischen Glanz erstrahlt das Präludium, beinahe fidelhaft-volkstümlich tönen die beiden dargebotenen Mittelsätze und freudig virtuos endet die Gigue. Barrena demonstriert auf erstklassige Weise, wie Mehrstimmigkeit auf einem Melodieinstrument funktioniert. Gerne hätten wir das gesamte Werk gehört, die Überlänge der ersten Konzerthälfte hätten wir freudig in Kauf genommen!

Nach wie vor berüchtigt ist César Francks einzige Violinsonate, der die Pianisten mit Ehrfurcht entgegentreten und die meist zu einer sprudelnden Zurschaustellung virtuoser Fähigkeiten degradiert wird. Anders am heutigen Tag: Selten wird die impressionistische Neigung Francks so deutlich wie in diesem Konzert, die Sonate erhält große innere Ruhe und Zartheit. Maceratini entlockt dem Flügel solch sanfte Klänge, wie es wohl keiner diesem alten und nicht gerade erstklassigen Instrument zugetraut hätte. Die ausladenden Figuren bereiten einen breiten Klangteppich für Barrena, um sich voll zu entfalten – eine Gelegenheit, die fesselnd ausgenutzt wird. Der zweite Satz überrumpelt nicht und beginnt auch nicht zu poltern, sondern glüht von innen her, wühlt auf und bleibt doch stets im Zaum gehalten. Wahrlich sprechend gelingt der dritte Satz, die Recitativo-Fantasie, vor allem für die „singende Geige“ eine beträchtliche Herausforderung. Glorreich endet die Sonate durch das triumphierende Finale, das in den kanonischen Imitationen Melodieführung des Klaviers und abgehörtes Zusammenspiel verlangt und heute sogar einmal verwirklicht.

Als Zugabe gibt es Astor Piazzollas Libertango, so rasch wie ich ihn noch nie zuvor gehört habe, was auf eine ganz eigene Art doch stimmig gelingt, und sein Oblivion, wieder zurückführend in die meditative Ruhe.

Die durchgehende Frische ist das, was den heutigen Abend besonders ausmacht und die Stücke so unverbraucht und neuartig erklingen lässt. Sie rührt von kleinen, aber merklichen Experimenten, wie sie so beinahe nie gewagt werden und dem ganzen eine eigene Note verleihen. Sei es eine ungewöhnliche Phrasierung, eine Fokussierung auf eine Unterstimme oder ein Detail im Tempo, sie ziehen sich durch den ganzen Abend. Und meist gehen sie auf, verleihen dem Werk gleich einem zärtlichen Duft eine eigentümliche Besonderheit.

Es bleibt zu hoffen, noch wesentlich mehr von diesem Duo zu hören, das so gut zusammenwirkt, als hätten sie seit Ewigkeiten gemeinsame Bühnenerfahrung. Die Harmonie überträgt sich auf den Hörer, es kann von einem wahrhaften Erlebnis gesprochen werden.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2017]

Unverbrauchte Frische

Rebekka Hartmann und Margarita Oganesjan spielen am 28. Oktober 2016 im Konzertsaal des Freien Musikzentrums München Quatre Pièces de Clavecin von Jean-Philippe Rameau in neuer Instrumentierung von Eugène Ysaÿe, die zehnte Violinsonate von Ludwig van Beethoven G-Dur Op. 96 sowie die Sonate A-Dur von César Franck.

Das Freie Musikzentrum München ist in Insider-Kreisen schon längere Zeit zu einer Art Wohnzimmer für qualitativ hochwertige klassische Konzerte avanciert. So wird auch heute wieder in familiärer Runde ein beeindruckendes Konzertprogramm mit herausfordernden Werken von herausragenden Musikern dargeboten: Rebekka Hartmann und Margarita Oganesjan spielen Werke von Rameau (in Bearbeitung von Ysaÿe), Beethoven und Franck.

Die beiden jungen Musikerinnen legen sich kein barockes Korsett an in den von Ysaÿe für Violine und Klavier instrumentierten Quatre Pièces de Clavecin, die ursprünglich der Feder Jean-Philippe Rameaus entstammen. Mit funkensprühender Lebendigkeit und hinreißendem tänzerischen Frohmut erhalten die vier Stücke eine glänzende Leichtigkeit. Erstaunlich zurückhaltend und innig hingegen wird der Kopfsatz von Beethovens viersätziger G-Dur-Violinsonate Op. 96 genommen, hier bezaubern aufrichtige Empfindung und verhaltene Zartheit. Vor allem im zweiten Satz scheint es beinahe, als würde die Zeit stillstehen, bis einen das fidele Scherzo wieder in eine vollkommen andere Welt katapultiert. Nach der Pause gibt es noch die berühmt-berüchtigte Violinsonate César Francks in A-Dur, ein wahrlich monströses Werk, welches die meisten Ausführenden vor strukturell schier unlösbare Aufgaben stellt. Vom ersten Moment an brodelt es förmlich, wenn Margarita Oganesjan ihr nebelverhangenes Klaviervorspiel beginnt, und wenn Rebekka Hartmann zum ersten Strich ansetzt. Es beginnt eine fesselnde Reise, die den Hörer durch harmonisch dicht verzweigte Passagen führt, durch virtuose – doch zugleich nie rein äußerliche – Lawinen von unbändiger Energie und durch einfühlsame Kantilenen in selten erreichter Schönheit. Auch hier verliert der Hörer jegliches Gefühl von Dauer und ist direkt überrascht, wenn nach gut dreißig Minuten „schon“ das Ende erreicht ist.

Zweimal bisher durfte ich, schon vor längerer Zeit, die beiden Solistinnen gemeinsam erleben und war dort bereits beeindruckt von ihrem fabelhaft abgestimmten Zusammenspiel und ihren musikalischen Fähigkeiten. Doch ihre heutige Darbietung ist noch einmal eine Steigerung gegenüber allem bisher gehörten: Die Musikerinnen spielen nicht nur zusammen, sie atmen zusammen, fühlen zusammen und denken scheinbar auch zusammen – alles ist in einer unzertrennbaren Einheit, die Übergänge zwischen den Instrumenten geschehen so unmittelbar fließend, dass die Umbruchsstelle oft kaum erkennbar ist, an welcher der Wechsel gerade stattfand. Rebekka Hartmann führt dem Vibrato wieder seine ursprüngliche Rolle zu: Als stärkstes Mittel des Ausdrucks mit entsprechend sparsamer Verwendung und nicht als omnipräsentes Obligo für jeden Ton. Ihr Spiel zeichnet sich durch lebendiges Gefühl und geschmeidigen Ausdruck aus, der sich von jeder Mechanisierung befreit hat und nun ungezwungene Bahnen wandeln kann. Margarita Oganesjan spielt mit einem markanten und doch orchestralen, warmen Anschlag, dem auch eine gewisse Weichheit nicht fehlt. Und flexibler als je zuvor passt sie sich jedem von der Musik verlangten Ausdruck an, singt geigerisch in den Kantilenen, perlt spielerisch in den virtuosen Passagen und mischt durch genauestes Hören ihre Akkorde präzise ab. Das Resultat dieses Zusammenspiels ist eine unverbraucht frische Darbietung von drei unterschiedlichen Werken aus verschiedensten Epochen. Diese würden zweifelsohne mehr Hörer verlangen als die wenigen Anwesenden, die den ohnehin kleinen Konzertsaal des Freien Musikzentrums nicht einmal zur Hälfte füllten.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2016]

Maeckel auf der Probe

„Liszt plus“ lautet der Titel des Konzerts von Professor Gregor Weichert am Nachmittag des 3. April 2016 im Johannissaal des Schloss Nymphenburg in München. Das Konzert der Reihe „Klavierspielkunst – Stationen der Musikgeschichte“, veranstaltet von Jürgen Plich, enthält Werke von Liszt, nämlich zwei Legenden, Die Zelle in Nonnenwerth und die Polonaise aus dem Stanislaus-Oratorium, sowie von Louis Vierne Le glas und von César Franck Prélude, Choral et Fugue. Zwei Intermezzi von Johannes Brahms, dessen Todestag begangen wird, bilden die Zugabe.

Vor einiger Zeit besprach ich für The New Listener das Buch „Das organische Klavierspiel“ von O. V. Maeckel, eine in Vergessenheit geratene Methode eines zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirkenden und damals hoch angesehenen Klavierpädagogen, der versuchte, die noch nie in Worte gefasste Methode der großen Klaviervirtuosen wie Franz Liszt zu entschlüsseln und authentisch zu unterrichten. Herausgeber des im Staccato-Verlag erschienenen Reprint ist Gregor Weichert, emeritierter Professor in Münster, der selber nach Maeckels Methode spielt und lehrt. So lasse ich mir natürlich die Chance nicht nehmen, seinem Konzert im Münchner Schloss Nymphenburg beizuwohnen und die praktische Umsetzung von Maeckels Methode unter die Lupe zu nehmen.

Wie auch der Pädagoge des frühen 20. Jahrhunderts ist Weichert ein großer Anhänger von Franz Liszt und Erforscher auch von dessen geistig-spiritueller Seite. Da verwundert nicht, dass sowohl Liszt als auch das Religiöse das Konzertprogramm einem roten Faden gleich durchziehen. Zwei Legenden von großen Heiligen, die Zelle in Nonnenwerth, und eine Polonaise aus dem lediglich als Klavierparticell vorliegenden Stanislaus-Oratorium des Chopin-Freundes machen den ersten Teil des Recitals aus, Francks Prélude, Choral et Fugue sowie das Totengeläut, Le glas, des für seine Orgelsymphonien berühmten Franck- und Widor-Schülers Louis Vierne den zweiten. Kurze Moderationen Weicherts vermitteln leger und gekonnt sein fundiertes Wissen und tiefes Verständnis der gespielten Werke.

Der Klang verzaubert und erstaunt gleichermaßen von der ersten Sekunde an: Professor Gregor Weichert entlockt dem Broadwook & Sons Full Concert Grand von 1896 einmalige Schattierungen und einen sauberen, klaren und vollendet abgerundeten Ton. Tatsächlich manifestiert sein Spiel nach der Klaviermethode von O. V. Maeckel eine ganz eigene Art des Anschlags, der ein unerwartetes Hörerlebnis hervorruft. Besonders auffällig sind hierbei die weittragenden Gesangslinien (die 3. Spielart nach Maeckel) sowie die genauestens durchbalancierten Akkorde (wovon Maeckels zweites Kapitel handelt). Zu keiner Zeit scheint sich Weichert sonderlich anzustrengen, er geht nur mit dem nötigen Druck in die Tasten hinein, wodurch niemals Härte entsteht, alles geschieht aus der Entspanntheit der Muskeln und aus der natürlichen Schwerkraftenergie heraus.

Darüber hinaus ist für das Spiel von Gregor Weichert innere Ruhe und Gelassenheit bezeichnend, aus welcher heraus die Musik entstehen kann. Locker und entspannt nimmt Weichert selbst die virtuosesten Passagen und lässt sie in aller Einfachheit entstehen, ohne isolierte, nachdrückliche Effekte nötig zu haben.

Ein Stück, das noch besonders hervorgehoben werden sollte, ist die Polonaise aus dem Stanislaus-Oratorium von Franz Liszt. Welch eine fortschrittliche harmonische Kraft in diesem Stück liegt, das ist wirklich faszinierend – niemals hätte man bei solch einer Musik an Franz Liszt gedacht, viel eher an einen späteren Neuerer. Besonders manche scheinbar falschen Noten stechen hervor, die im Gesamtkontext jedoch einen Sinn ergeben und nur punktuell fast wie „Blue Notes“ wirken. Nicht weniger beachtlich sind aber auch die restlichen Werke: die beiden programmbeladenen Legenden, Viernes düsteres und stimmungsgeschwängertes Le glas, welches wohl niemanden kalt lassen kann – vor allem nicht in solch einer reflektierten Darbietung -, und die chromatisch schillernde Virtuosität der Musik von César Franck, die rein musikalischen Zwecken dient. Unfassbar fesselnd geraten insbesondere die beiden Intermezzi von Johannes Brahms, welche es als Zugabe gibt, wie gewohnt in innerer Lockerheit und meditativer Ruhe – und umso stärker mit echt empfundenem Gefühl und Reife der Gestaltung.

So leitet Weichert direkt über in den nächsten Klaviernachmittag, der am 8. Mai mit seinem ehemaligen Schüler und nunmehr Kollegen sowie Veranstalter Jürgen Plich stattfinden wird. Bei „Brahms plus“ gibt es dessen dritte Sonate sowie die 3 Phantasiestücke Op. 111 von Robert Schumann. Auf dieses Konzert bin ich sehr gespannt.

[Oliver Fraenzke, April 2016]