Schlagwort-Archive: Poldowski

Im Garten der Gefühle

Im folgenden Beitrag stellt Karin Coper drei im Laufe dieses Jahres erschienene CDs vor, die einen Eindruck davon vermitteln, auf welch verschiedene Weise englischsprachige Dichtung Komponisten des 20. Jahrhunderts zu Liedkompositionen angeregt hat. Das Duo Dalùna widmet sich Zyklen von Roger Quilter, Benjamin Britten und Michael Head. Jodie Devos und Nicolas Krüger haben ein Programm mit Liedern englischer und nichtenglischer Komponisten auf Texte englischer Dichter zusammengestellt. Die erste Gesamteinspielung der Lieder des irischen Komponisten John F. Larchet wurde von Musikerinnen und Musikern um den Pianisten Niall Kinsella vorgelegt. (d. Red.)

A Song in the Woods

Prospero, PROSP 0015; EAN: 0 630835 523841

„Sieh, die Berge küssen den Himmel. …Und die Strahlen des Mondes küssen das Meer: Doch was sind all diese Küsse wert, wenn Du mich nicht küsst?“ Diese Zeilen stammen aus dem Gedicht Love’s Philosophy, das der Romantiker Percy Bysshe Shelley 1819 publizierte. Den englischen Komponisten Roger Quilter inspirierte das Poem 1905 zu einer ekstatischen Hymne und sie stimmt perfekt ein auf eine musikalische Reise, die das Schweizer Duo Dalùna in seinem Album A Song in the wood unternimmt. Sie führt durch die Natur Großbritanniens und ist ein im übertragenen Sinn metaphorischer Gang durch Seelenlandschaften, Liebesglück und -leid. Für diese Exkursion konzentrieren sich der Tenor Remy Burnens und die Pianistin Clémence Hirt auf Stücke von vier Komponisten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich formal, thematisch und durch die Rückbesinnung auf musikalische Traditionen ähneln. Quilters Zyklus To Julia, der auf autobiographisch getönten, im 17. Jahrhundert verankerten Liebesverse des dichtenden Theologen Robert Herrick basiert, besteht aus melodiösen Miniaturen, unterbrochen von zwei rein instrumentalen Einschüben. In Benjamin Brittens erstem Vokalzyklus On This Island aus dem Jahr 1937 verbinden sich Einflüsse von Henry Purcell, dem er sich besonders verbunden fühlte, mit volksliedhafter Einfachheit. Von Melancholie durchzogen ist hingegen Michael Heads im ersten Weltkrieg entstandener Zyklus Over the Rim of the Moon. In den betont einfach strukturierten Gesängen spiegelt sich die Trauer über den Tod der Geliebten wider. Remy Burnens trägt die Lieder mit klarem, resonanzreichem Tenor vor, forciert nur manchmal in den Höhen. Seine Artikulation indes ist vortrefflich und auch die gestalterische Einheit von Musik und Text gelungen: ob schwärmerisch bei To Julia, dynamisch nuanciert in A Blackbird Singing, schlicht im A-cappella-Solo The Singer oder jubelnd in Let the Florid Music Praise! Durch ihr feinfühliges Klavierspiel unterstreicht Clémence Hirt die Stimmungen, dazu ist sie eine eigenständige Partnerin im musikalischen Zwiegespräch zwischen Gesang und Instrument, selbst wenn der Pianopart sich nur aufs Wesentliche beschränkt. Die schöne Aufnahme wird durch ein optisch ausgesprochen ansprechend gestaltetes Booklet komplettiert. Es ist mit Naturimpressionen illustriert, bietet eine kluge Einführung und alle Textabdrucke.

And Love said…

Alpha Classics, ALPHA668; EAN: 3 760014 196683

Als einen persönlich gefärbten Streifzug durch englischsprachige Vokalwelten, der auch Lieder von nicht-britischen Komponisten einbezieht, bezeichnet Jodie Devos ihr neues Album And Love said… Ganz anders als in ihrem Debüt-Recital, in dem sie in Offenbach-Arien ihre Virtuosität herausstellte, zeigt sich die belgische Sopranistin im zweiten intimer, introspektiver – aber nicht weniger überzeugend. Das abwechslungsreiche Programm, das thematisch um die Liebe kreist und mit zwei Überschneidungen zu einem Vergleich mit A Song in the Wood einlädt, nimmt Bezug auf Stationen ihres Werdegangs. Beispielsweise Brittens On This Island, mit dem sie den zweiten Preis des renommierten Gesangswettbewerbs Concours International Reine Elisabeth gewann. Oder Ivor Gurneys Spring aus den Five Elizabethan Songs, mit dem sie in London die Aufnahmeprüfung bestand. Auch die zwei Oscar-Wilde-Vertonungen, die Patrick Leterme speziell für die stimmlichen Möglichkeiten ihres bis in stratosphärische Höhen reichenden Soprans komponierte, haben einen biographischen Hintergrund. Der Belgier war Pianist bei ihrem ersten Wettbewerb und verschaffte ihr das professionelle Bühnendebüt. Mit zwei impressionistisch anmutenden Liedern von Regine Wieniawski geht die Sängerin zurück zu ihren Wurzeln und erinnert an eine vergessene Landsfrau, die Anfang des 20. Jahrhunderts unter dem Pseudonym Poldowski ihre Werke veröffentlichte, weil sie unabhängig von ihrem Vater, dem polnischen Stargeiger Henryk Wieniawski, anerkannt werden wollte.

Die Stücke sind stilistisch vielfältig, doch Jodie Devos kennt keine technischen und interpretatorischen Grenzen und ihr Sopran, dem manchmal ein reizvolles Vibrato eigen ist, kann organisch zwischen purer Reinheit und schillernden Farben wechseln. Sie beherrscht die Kunst der feinsten Schattierungen, Übergänge und dynamischen Finessen. Zart fließend und beseelt ist ihr Vortrag von Darius Milhauds beiden Liebesliedern, voller Emphase Frank Bridges Love went a-riding und Roger Quilters Love’s Philosophy. Sie hat ein Gefühl für das spanische Kolorit und den lässigen Jazz in William Waltons Dreiteiler Faҫade und am Ende demonstriert sie, wie ein Popstück mit einer Opernstimme Wirkung erzielen kann: Freddie Mercurys You take my breath away singt sie ganz zurückgenommen bis zum fast verlöschenden Schluss, einfach wunderschön. Dabei wird die Sängerin vom Pianisten Nicolas Krüger kongenial unterstützt. Wie sich die beiden die Bälle zuspielen und zusammen subtilste Klänge zaubern, zeugt von gleichberechtigter Partnerschaft und gehört zu den vielen Vorzügen dieses Recitals.

John Francis Larchet: Sämtliche Lieder

Champs Hill Records, CHRCD151; EAN: 5 060212 591586

Ein Ausflug nach Irland rundet die Erkundung englischsprachigen Liedguts ab. Dabei geht es nicht um traditionellen Irish Folk, mit der die Musik des Inselstaats meist gleichgesetzt wird, sondern um klassische Vokalschöpfungen. Im Zentrum steht der 1884 geborene Komponist John F. Larchet, ein hierzulande Unbekannter, im Musikleben der irischen Republik aber eine Schlüsselfigur. Zum einen belebte er als künstlerischer Direktor des Dubliner Abbey Theatre zwischen 1908 und 1935 mit seinen Bühnenmusiken viele historische Dramen des Landes. Zum anderen prägte er als Musikprofessor zwei Generationen Studierender an der Royal Irish Academy of Music und am University College Dublin, eine Position, die er fast 40 Jahre innehatte. Und nicht zuletzt stammt von ihm die Bearbeitung der Nationalhymne, die bis heute offiziell gespielt wird.

Obwohl er gegenüber den Novitäten seiner Schülerschaft ein stets aufgeschlossener Lehrer war, blieb er stilistisch selbst konservativ. Überhaupt machte er sich vorwiegend durch Arrangements von überlieferten und folkloristischen Weisen einen Namen. Sein ureigenes Schaffen ist hingegen nicht sehr umfangreich und besteht hauptsächlich aus Vokalmusik. Darunter sind siebzehn Originallieder, in der Mehrzahl schlichte, nostalgisch getönte Melodien, manche folkloristisch inspiriert, andere kunstvoller gesetzt. Dank der Initiative des Pianisten Niall Kinsella, der sich mit Larchets Oeuvre seit Studienzeiten beschäftigt, sind diese Complete Songs & Airs, so der Titel des Albums, nun erstmals in ihrer Gesamtheit aufgenommen worden, kombiniert mit zwei jeweils sechsteiligen Irish Airs für Geige und Klavier. Kinsella ist mit seiner kundigen wie empfindsamen Begleitung fraglos die Seele des Projekts und er hat sich mit der Mezzosopranistin Raphaela Mangan und dem Bariton Gavan Ring ein irischstämmiges Gesangsduo ins Boot geholt, das Authentizität und stilsicheres Einfühlungsvermögen für die heimatlichen Songs mitbringt.

Den Auftakt der Einspielung bildet übrigens Larchets Vertonung des eingangs zitierten Shelley-Gedichts. The Philosophy of Love heißt die Arie, und ähnlich wie Quilters Version handelt es sich um eine leidenschaftliche Liebeserklärung mit feuriger Klavierbegleitung. Womit sich der Kreis schließt.

[Karin Coper, November 2021]

Der Musik die Dämonen austreiben

Gutman Records, CD191; EAN: 8 719325 404012

Um César Francks groß angelegte Violinsonate in A-Dur errichtet die niederländische Violinistin Merel Vercammen gemeinsam mit der Pianistin Dina Ivanova das Programm ihrer CD „Symbiosis“. Neben Francks Meilenstein hören wir die D-Moll-Sonate von Irene Regina Wieniawska, die ihre Werke unter dem Pseudonym Poldowski herausgab, sowie „Sprookjes: Musical Tales for Violin and Piano“ der niederländischen Komponistin Mathilde Wantenaar.

Über manche Werke herrschen Dämonen, die sich auf die Aufführungsweise auswirken. Bei diesen Dämonen handelt es sich um mechanisch oder technisch überhöhte Anforderungen, die in den Musikern bereits vor der Erschließung gewisse Angst vor den Werken schüren. Viele Musiker überspielen die Angst durch mechanische Perfektion und rasende Tempi, missbrauchen die Herausforderungen zur Selbstdarstellung und vernachlässigen im Umkehrschluss die wahre Musik, die in den Werken enthalten ist. Auf diese Weise hören wir manche Werke fast ausschließlich als rasende Technikorgien ohne tatsächlichen Inhalt und bestaunen vielleicht die raschen Finger, erleben aber nicht die Musik. Beispiele hierfür sind unter anderem Paganinis Capricen, Listzs Mephistowalzer, Prokofieffs Solokonzerte, Ravels Gaspard de la Nuit und Miroirs oder eben Francks Violinsonate.

Merel Vercammen und Dina Ivanova treiben die Dämonen aus. Sie lassen sich nicht beschränken durch die technischen Hürden oder auf Selbstdarstellung, sondern erforschen die Musik von innen heraus. Dabei halten sie den emotionalen und den analytischen Aspekt in der Waage, werden also weder von den Emotionen überwältigt, noch von der Theorie abstumpft; sie verstehen die Sonate. Die Beziehungen zwischen jedem Ton werden erspürt, wodurch sie den Hörer sogar durch die großen Flächen der Recitativo-Fantasia hindurch sicher geleiten, ohne die Spannung einbrechen zu lassen. Das berüchtigte Allegro erklingt gelassen und behält dennoch die vorwärtstreibende Energie. Selten vernimmt man das Hauptthema im Klavier so herausgemeißelt und ausgestaltet wie bei Dina Ivanova, die allgemein die einzelnen Stimmen in eine funktionierende Hierarchie stellt, so dass sich alles am rechten Platz der Wahrnehmung befindet. Der erste Satz strahlt innige Ruhe aus, während das Finale in tänzerischer Beschwingtheit glänzt und eine scherzhafte Note erhält. So ergibt sich ein beinahe narratives Element, das den Hörer vom fragend getragenen Ausgangspunkt aus über Turbulenzen und Meditationen bis hin zu einem Ziel führt, das eigentlich gerade in der Unvereinbarkeit liegt.

Die Komponistin Mathilde Wantenaar und ihre Sprookjes lernte Merel Vercammen durch einen Kompositionswettbewerb kennen, in dem sie das Werk aufführte, welches schließlich sogar den Jury- wie den Publikumspreis gewann. Die drei kurzen Stücke stehen in einem postromantischen und bildhaften Stil, der den Hörer unmittelbar anspricht und seine Fantasie anregt.

Eine großartige Repertoire-Entdeckung gelang den Musikerinnen mit der Violinsonate d-Moll von Irene Regina Wieniawska, der Tochter von Henryk Wieniawski. Da sie weder vom Namen ihres Vaters, noch von dem ihres Ehemanns profitieren wollte, publizierte sie ihre Werke unter dem Pseudonym Poldowski. Die dreisätzige Violinsonate präsentiert einen französischen Stil, der in der Tradition ihres Vaters und Francks steht, aber auch neue Elemente von unter anderem Debussy einfließen lässt und eine eigene Note offenbart, die ich bislang aber noch nicht einordnen kann. Gerade der Klavierpart ist hoch virtuos und verleiht der Musik etwas Flirrendes und zugleich Filigranes. Vercammen und Ivanova halten fest zusammen bei allen Werken der CD, bündeln ihre technischen und musikalischen Vorstellungen, wodurch sie etwas Gemeinsames erschaffen. Ivanova bleibt dynamisch eine Stufe unter Vercammen, holt aber wichtige Themen und Figuren in den Vordergrund, lässt also die Violine sich entfalten, ohne selbst dabei klanglich zu verschwinden.

Da ich weder Poldowski noch Wantenaar zuvor gehört habe, lässt sich kein Vergleich ziehen; die Aufnahme von Francks Sonate gehört in jedem Fall zu den stimmigsten und reflektiertesten, zudem stringentesten und musikalischsten, welche die letzten Jahre erschienen sind.

[Oliver Fraenzke, Juli 2019]