Alle Beiträge von Karin Coper

Auf der Suche nach dem Glück

Capriccio, C5506; EAN: 0845221055060

Rundfunkchor und Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin haben unter der Leitung von Steffen Tast Engelbert Humperdincks Schauspielmusik zu Maurice Maeterlincks Weihnachtsmärchen Der Blaue Vogel eingespielt. Als Erzähler ist Juri Tetzlaff zu hören.

Die ultimative Weihnachtsoper für die Familie ist zweifelsohne Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel. Bei Jung und Alt gleichermaßen beliebt, ist sie zur Adventszeit nicht aus dem Spielplan deutschsprachiger Bühnen weg zu denken. Doch wer weiß schon, dass der 1854 geborene Komponist weitere märchenhafte, für Kinder geeignete Stoffe vertonte und Sammlungen volkstümlicher Lieder herausgab. Beispielsweise die Oper Dornröschen oder das Krippenspiel Bübchens Weihnachtstraum und auch die Schauspielmusik zu Maurice Maeterlincks Der blaue Vogel, um die es hier geht. 1911 hatte das Drama in Wien Premiere, ein Jahr später brachte es das Deutsche Theater Berlin heraus. Regie führte Max Reinhardt, der mit Humperdinck am gleichen Ort schon bei drei seiner Shakespeare-Inszenierungen und Aristophanes‘ Lysistrata zusammengearbeitet hatte. Die Aufführung wurde zum Publikumsrenner, aus kulturpolitischen Gründen jedoch bald aus dem Repertoire genommen. Die Musik geriet darüber in Vergessenheit, zumal Rechtsstreitigkeiten zwischen Maeterlincks und Humperdincks Verlag einen Druck verhinderten. So schlummerte die Partiturhandschrift in einer Bibliothek, bis sie der Dirigent und Geiger Steffen Tast aufspürte und die Orchesterstimmen herstellte. Zu guter Letzt entstand in Kooperation zwischen dem Deutschlandfunk Kultur und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) eine von Tast geleitete CD-Einspielung für das Label Capriccio.

Der blaue Vogel symbolisiert das Glück, das nicht zu greifen, aber manchmal näher ist, als gedacht. Das erfahren die Geschwister Mytyl und Tyltyl bei der Suche nach dem Tier, das allein die Schwermut einer Feentochter heilen kann. Auf der Reise durch fantastische Welten begegnen sie wunderlichen Figuren und lebendig gewordenen Gegenständen, das Federvieh jedoch finden sie nicht. Am Ende erkennen sie: alles war nur ein Traum. Den Vogel aber gibt es wirklich, es ist eine Stubentaube, die zu Hause von Tyltyl gehalten wird und das Mädchen – real die Nachbarin – gesund macht. Die Musik verbindet, für Humperdinck typisch, eingängige Melodik und spätromantische Üppigkeit. Nach einer sanft fließenden Ouvertüre, deren Hauptmotiv im Verlauf stetig wieder aufgegriffen wird, illustrieren schillernde Orchesterfarben das Geschehen. Es sind manchmal nur sinfonische Miniaturen, doch prägnant und stimmungsvoll instrumentiert: ein Flötensolo kennzeichnet etwa den Vogel, eine süße Geigenmelodie die Großeltern. Es gibt einen Sternenreigen im Walzerrhythmus, wuchtige Glocken und der Chor „O du fröhliche“ verbreiten Weihnachtsatmosphäre. Die kommt auch beim Anhören der Aufnahme auf. Der Rundfunkchor Berlin, das RSB und Steffen Tast als Spiritus rector schwelgen in so poetischen wie festlichen Klängen, dazu erzählt der KiKA-Moderator Juri Tetzlaff die von ihm und Tast zeitgemäß und kindgerecht aufpolierte Geschichte. Das macht der versierte Sprecher vorzüglich: variabel im Tonfall und pointiert charakterisierend, dabei aber nie übertreibend. Eine Bonus-CD enthält die als Sieben symphonische Bilder bezeichnete reine Musik Humperdincks. Der blaue Vogel verdient einen Platz unterm Christbaum. Denn wo kann man während der Festtage besser diesem Märchen lauschen.

[Karin Coper, Dezember 2023]

Feminine Noten

In der kommenden Saison wird das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin in jedem Konzert das Stück einer Komponistin aufführen. Bahnbrechende Programmplanung oder Quotenregelung? Wer solch Regulativ kritisch sieht – wie die Pianistin Elena Bashkirova, die kürzlich in einem Interview mit der FAZ meinte, dass gute Musik gespielt werden soll, weil sie gut, nicht weil sie von Frauen ist – berücksichtigt nicht, dass diese nie die gleichen Chancen hatten. Der Weg zu einem Bewusstsein, dass Qualität nicht an das Geschlecht gebunden ist, ist noch nicht abgeschlossen, das Interesse an Komponistinnen aber merkbar gewachsen. Es schlägt sich auch auf dem CD- und Buchmarkt nieder. Die nachfolgende Auswahl gibt einen kleinen Einblick in die Flut von Veröffentlichungen der letzten Zeit.

Barbara Beuys: Emilie Mayer. Europas größte Komponistin. Eine Spurensuche

Dittrich Verlag; ISBN: 978-3-947373-69-7

Beginnen wir bei Emilie Mayer. 1812 im mecklenburgischen Friedland geboren, geht sie nach dem Selbstmord des Vaters zu ihren Brüdern nach Stettin. Dort wird Carl Loewe, der heute für seine Balladen bekannte Musikdirektor, ihr Lehrer. Er erkennt ihr Talent und fördert sie, woraufhin sie sich über Konventionen und Vorurteile hinwegsetzt: sie wird Komponistin. Dabei beschränkt sie sich nicht auf kleine Formen, wie viele ihrer Kolleginnen, sondern kreiert neben Kammer- und Klaviermusik auch acht Sinfonien. In jeder Hinsicht selbstständig, publiziert sie ihre Werke auf eigene Kosten und organisiert Konzerte, das erste 1850 im Berliner Königlichen Schauspielhaus. „Ganz von weiblicher Hand ins Leben gerufen“, sei es „ein Unicum“, wie die Vossische Zeitung 1850 meldet. Es bekommt großen Zuspruch und erhält gute Kritiken aber auch abfällige Resonanz, die sich mehr auf ihr Geschlecht bezieht und sich an der Ansicht des Philosophen Friedrich Schlegel orientiert: „Das Weib gebiert Menschen, der Mann das Kunstwerk.“ Mayer, die zwischen der Hauptstadt und Stettin pendelt, hat sich zu Lebzeiten gegen männliche Dominanz behauptet, doch nach ihrem Tod 1883 gerät sie schnell in Vergessenheit. Erst Ende des letzten Jahrhunderts werden die Musikerin und ihr Werk wiederentdeckt. 2021 erhält sie ein Ehrengrab in Berlin, danach erscheint die erste Biographie. „Eine Spurensuche“ nennt sie die Autorin Barbara Beuys im Untertitel, er spielt an auf die spärliche Quellenlage. Doch Beuys macht aus der Not eine Tugend. Sie entwirft rund um die fragmentarisch verbürgten Lebensstationen Emilie Mayers ein vielschichtiges, um kleine Porträts von Zeitgenossen angereichertes Gesellschaftspanorama, das das kulturelle Umfeld ebenso einbezieht wie die damalige Situation der Frauen und deren Emanzipationsbestrebungen.

Compositrices. New Light on French Romantic Women Composers (8 CDs)

Bru Zane, BZ 2006; EAN: 8055776010090

Die Willenskraft der Deutschen, alle Herausforderungen im Alleingang zu überwinden, brauchte die etwas ältere Französin Louise Farrenc nicht. Sie beginnt ihre Karriere als Pianistin und gründet mit ihrem Ehemann, dem Flötisten Aristide Farrenc, einen Musikverlag, in dem ihre Werke gedruckt werden. Mit ihren Kompositionen Symphonien, Klavier- und Kammermusik etabliert sie sich bald auf den Pariser Konzertbühnen. Als sie eine Klavierprofessur am Konservatorium erhält, jedoch mit einem geringeren Gehalt als ihre Kollegen, kämpft sie um Gleichberechtigung und erreicht tatsächlich eine Angleichung. 

Louise Farrenc ist eine von 21 Compositrices, denen das Forschungskollektiv des Palazzetto Bru Zane eine ganze Box geschenkt hat. Vor dem Hören der acht prall gefüllten CDs lernen wir sie beim Lesen des vorzüglichen Booklets näher kennen: Musikerinnen, die vom Anfang des 19. bis ins 20. Jahrhundert hinein wirkten, damals eine gewisse Popularität genossen, heute aber bis auf wenige Ausnahmen kaum dem Namen nach bekannt sind. Die Rede ist beispielsweise von der 1764 geborenen Pianistin Hélène de Montgeroult und der Harfenistin Henriette Renié, Jahrgang 1875, die beide als Interpretinnen und Pädagoginnen Ansehen genossen, daneben komponierten und Lehrwerke für ihre Instrumente hinterließen. Oder von Marie Jaëll und Charlotte Sohy, die von ihren Gatten unterstützt und mit ihnen künstlerische Partnerschaften eingingen im Gegensatz zu vielen Kolleginnen, deren Kreativität durch häusliche Verpflichtungen und gesellschaftliche Zwänge eingeschränkt war. Von der Außenseiterin Rita Strohl, geboren 1865, die mit spirituell durchdrungenen Werken von sich reden machte. Und nicht zuletzt von Mel Bonis, die statt ihres Taufnamens Mélanie die neutrale Verkürzung benutzte, in der Hoffnung, bessere Chancen bei der Verbreitung ihrer Werke zu haben. Auf familiäre Hilfe konnte sie nicht bauen. Belastet durch ein uneheliches Kind und gedrängt zur Heirat mit einem verwitweten Industriellen, musste sie ihr Leben lang um künstlerische Anerkennung kämpfen. Trotzdem war ihre Produktivität beeindruckend, ihr Œuvre umfasst 300 Werke unterschiedlichster Prägung. Eine Auswahl zieht sich wie ein roter Faden durch die Anthologie, die allerdings nicht chronologisch oder nach Komponistinnen angeordnet ist. Jede CD steht für ein imaginäres, programmatisch die ganze stilistische und formale Bandbreite abdeckendes Konzert: Sinfonisches trifft auf Kammermusik, Vokalkantate auf Mélodies, Solo- auf vierhändige Klaviermusik.

Ein Beispiel: Die erste Silberscheibe beginnt mit einem in raffinierten Klangfarben schillernden Tongemälde von Mel Bonis, das thematisch um mythologische Frauen kreist. Dann erklingt eine Sonate für Cello und Klavier von Henriette Renié, die auf César Franck hinweist und anschließend führt ein Bouquet mit Liedern verschiedener Komponistinnen hinein in die feminine Vokalwelt u. a. maritime Miniaturen von Hedwige Chrétiens, Salonstücke von Cecile Chaminade und überschwängliche, fast opernhafte Gesänge von Charlotte Sohy. Interpretiert werden sie vom Tenor Cyrille Dubois und dem Pianisten Tristan Raës. Dabei gelingt dem langjährig vertrauten Duo große Liedkunst: eine perfekte Balance zwischen Stimme und Instrument, verbunden mit gestalterischer und dynamischer Subtilität. Auch die anderen Mitwirkenden sind stilistisch erfahrene Spitzenkräfte: Leo Hussain und das Orchestre national du Capitole de Toulouse sind darunter, das Piano-Duo Alessandra Ammara und Roberto Prosseda, der Cellist Victor Julien-Laferrière und die Sopranistin Anaïs Constans.

Nadia und Lili Boulanger: Les heures claires (3 CDs)

harmonia mundi, HMM 902356.58; EAN: 3149020946268

Die Compositrices bieten einen Querschnitt durch die feminine französische Musikgeschichte, der dazu anregt, tiefer in die Materie einzutauchen. Damit sind wir bei den Schwestern Nadia und Lili Boulanger, die in der Anthologie mit Nadias bombastischer Kantate La Sirène und drei Violinduos von Lili vertreten sind. Zur intensiveren Beschäftigung mit ihnen laden ihre kompletten Mélodies ein, die unter dem Titel Les heures claires bei Harmonia mundi herausgekommen sind. Das Booklet der Kassette beschreibt detailliert das Leben und Wirken der beiden fast symbiotisch miteinander verbundenen Künstlerinnen. Lili, die Jüngere, galt als Ausnahmetalent, errang als erste Frau 1913 den Prix de Rome, während Nadia 1908 den zweiten Platz erhielt. Nach Lilis frühem Tod mit nur 24 Jahren entschied sich die Ältere, nicht mehr zu komponieren. Sie wandte sich dem Dirigieren und Unterrichten zu und avancierte zu einer hoch angesehenen Pädagogin, die es bis zur Leiterin des Conservatoire Américain in Fontainebleau brachte. Die drei CDs führen ein in beider vokalen Kosmos, ergänzt um einige Stücke für Geige, Cello und Klavier. Im Mittelpunkt stehen zwei Zyklen, Nadias Les heures claires, den sie gemeinsam mit ihrem künstlerischen und privaten Partner Raoul Pugno kreierte, und Lilis Clairières dans le ciel. Beide greifen Strömungen ihrer Zeit auf, mal mit spätromantischem Überschwang, mal in impressionistischen Harmonien schillernd, Lili auch einmal Wagners Tristan zitierend. Viele Lieder sind melancholisch grundiert, eines sticht besonders hervor: Dans l’immense tristesse, das letzte, von Lili kurz vor ihrem Tod vollendete, erschüttert durch die Kargheit der Mittel. Interpretiert wird dieser Abschied von Lucile Richardot, die dabei ihren reichen, wandlungsfähigen Mezzo ganz zurücknimmt. Sie trägt zusammen mit der äußerst nuanciert spielenden Pianistin Anne de Fornel den Löwenanteil der Edition, in Teilen verstärkt durch Stéphane Degout und Raquel Camarinha, die er durch erlesene Klangkultur, sie durch zarte Soprangespinste Boulangers vokale Kostbarkeiten ebenso ins schönste Licht rücken.

Bruno Monsaingeon: Ich denke in Tönen. Gespräche mit Nadia Boulanger

Berenberg Verlag; ISBN: 978-3-949203-50-3

Näher lernt man Nadia Boulanger in dem Band Ich denke in Tönen kennen. Darin sind Gespräche zwischen ihr und dem Dokumentarfilmer Bruno Monsaingeon aufgezeichnet. Sie beinhalten biographische Skizzen, Reflexionen über ihre pädagogische Arbeit und Unterrichtsmethoden, ihre musikalischen Vorlieben sowie Erinnerungen an für sie wichtige Personen: etwa an den Lehrer Fauré, den Freund Igor Stravinsky, an Interpreten und Schüler, die sie prägte. Viele Berühmtheiten sind darunter: Aaron Copland, Leonard Bernstein, Phil Glass, um nur einen Bruchteil zu nennen. Einige von ihnen kommen auch selbst zu Wort: Leonard Bernstein oder Yehudi Menuhin zollen ihr gleichermaßen Verehrung, Respekt und Bewunderung. Mit Wärme gedenkt die manchmal streng Urteilende dem jung verstorbenen Pianisten Dinu Lipatti und vor allem Lili, die für die große Schwester zeitlebens präsent bleibt. Ihrer Meinung nach ist sie „die erste wirklich bedeutende Komponistin der Geschichte“. Ein Zeitschriftenartikel des Lyrikers Paul Valéry beendet das Buch. Er fasst zusammen, was diese „Grand Dame“ der Musik ausmachte: „Nadia dirigierte. Man hätte meinen können, sie atme das, was sie hörte, und existiere nur – und könne nur existieren in der Welt der Klänge“.

Matthias Henke: Emmy Rubensohn. Musikmäzenin/Music Patron (18841961)

Hentrich & Hentrich; ISBN: 978-3-95565-523-5

Aus dem Rahmen der Komponistinnen fällt Emmy Rubensohn. Denn die aus einer jüdischen Familie stammende, 1884 geborene Leipzigerin ist weder professionelle Tonschöpferin noch Ausführende. Und doch passt sie zu ihnen, weil auch sie für Musik brennt. Als Zuschauerin und hinter den Kulissen. Dort agiert sie als Mäzenin, Konzertmanagerin und Netzwerkerin. Und sie betreibt einen Salon Domäne des weiblichen Bürgertums , anknüpfend an historische Vorbilder wie Rahel Varnhagen. Berühmte Künstler gehen bei ihr ein und aus, davon zeugt ein Gäste- und Erinnerungsbuch, das sie seit ihrer Heirat mit dem Fabrikantin Ernst Rubensohn 1907 führt. Die Dirigenten Arthur Nikisch und Wilhelm Furtwängler sind darunter, die Primadonna Lilli Lehmann, der Maler Oskar Kokoschka und der Komponist Ernst Krenek. Er wohnt während seiner Kasseler Zeit bei dem Ehepaar, es ist der Beginn einer lebenslangen Freundschaft. Als die Nationalsozialisten an die Macht kommen, gehört Emmy zu den Gründungsmitgliedern des jüdischen Kulturvereins Kassel. 1940 emigriert sie mit ihrem Mann nach Shanghai, 1947 in die USA. Hier setzt sie bis zu ihrem Tod 1961 ihr förderndes Engagement für Musik und Kunst fort, gewinnt in Alma Mahler-Werfel eine Freundin und steht den Dirigenten Dimitri Mitropoulos und Joseph Rosenstock zur Seite. 2021 wird sie in ihrer Heimatstadt mit der Ausstellung Vorhang auf für Emmy Rubensohn! Musikmäzenin aus Leipzig gewürdigt, zunächst im Gewandhaus, momentan im Grassi-Museum. Vom Musikwissenschaftler Matthias Henke kuratiert, hat der Verlag Hentrich & Hentrich den üppig ausgestatteten, zweisprachigen Katalog herausgegeben. Die informativen Texte, zahlreichen Fotos und Dokumente machen ihn zu einer kulturhistorischen Fundgrube. Ans Licht kam die bisher kaum bekannte Vita von Emmy Rubensohn nach einer Spurensuche, wie Henke seine aufwendigen Recherchen bezeichnet. Womit sich der Kreis schließt.

[Karin Coper, September 2023]

Zum Auschwitz-Gedenktag

Anlässlich des Gedenktages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 stellt Karin Coper Aufnahmen zweier Werke vor, die den Holocaust thematisieren: Mieczysław Weinbergs Oper Die Passagierin und Mischa Spolianskys Symphonie in fünf Sätzen. (D. Red.)

Capriccio, C5455; EAN: 845221054551

„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“, dieser Satz von Theodor W. Adorno ist der am häufigsten zitierte aus seinem 1955 veröffentlichten philosophischen Text Kulturkritik und Gesellschaft. Da war die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Holocaust noch ein Tabu. Das hat sich im Laufe der Zeit geändert, ob im Film oder Theater, in Literatur oder Musik. Selbst in der Oper ist das vermeintlich nicht Singbare angekommen. Beispiele dafür sind Sophies Choice von Nicholas Maw, Das Frauenorchester von Auschwitz von Stefan Heucke und – ganz aktuell – die gerade in Hof aufgeführte Helena Citrónová des thailändischen Komponisten Somtow Sucharitkul. Keine jedoch ist so eindringlich geraten wie Die Passagierin von Mieczysław Weinberg. Das liegt einerseits am Libretto, das auf dem eigene Erlebnisse verarbeitenden Hörspiel und Roman der Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz – im Leben wie im Stück Nummer 7566 – beruht. Zum anderen an der 1968 entstandenen Komposition, über die der Weinbergfreund und -förderer Dmitri Schostakowitsch 1974 im Vorwort zum Klavierauszug schrieb: „Ich werde nicht müde, mich für die Oper… zu begeistern. Dreimal habe ich sie schon gehört, die Partitur studiert, und jedes Mal verstand ich die Schönheit und Größe dieser Musik besser. Ein in Form und Stil meisterhaft vollendetes Werk.“ Aufgeführt wurde es trotz Schostakowitschs Empfehlung in der Sowjetunion nur konzertant. Erst 2010 erlebt es bei den Bregenzer Festspielen seine posthume szenische Premiere. Sie markierte nicht nur den Beginn einer nachhaltigen europaweiten Rehabilitation der Oper, sondern auch jene von Weinberg, dem zu Lebzeiten die Anerkennung weitgehend verwehrt wurde – trotz eines imponierenden Werkkatalogs, darunter 22 Symphonien, 17 Streichquartette und 7 Opern. Viele dieser Kompositionen drehen sich um Krieg und seine Folgen, sie sind geprägt von Weinbergs eigener, von antisemitischem Terror geprägter Biographie. Als Einziger der Familie konnte der 1919 in Warschau geborene jüdische Künstler vor den Nazis in die Sowjetunion fliehen, war aber auch in seiner neuen Heimat Ressentiments ausgesetzt. In Die Passagierin begegnet die ehemalige KZ-Aufseherin Lisa während einer Schiffsfahrt lange nach Ende des Weltkriegs einer Frau, die sie an die Gefangene Marta erinnert. Die Szenen auf dem Ozeanriesen wechseln ab mit Rückblenden aus dem Lagerleben; erschütternd etwa, wenn die inhaftierten Frauen in ihrer jeweiligen Muttersprache – polnisch, französisch, deutsch, englisch und hebräisch – Gebete, Volkslieder oder Klagen singen. Dicht gewebt ist die mit Chören, Soli, Duetten und Ensemble formal traditionelle Partitur, mal sparsam instrumentiert, mal expressiv ausbrechend, mal lyrisch zärtlich. Es gibt Einsprengsel aus der Unterhaltungsmusik, wie die von der Schiffskapelle gespielten Modetänze oder den Lieblingswalzer des Kommandanten, und auch der Klassik, etwa von Bach und Schubert. Welche Relevanz die Oper inzwischen bekommen hat, zeigt sich daran, dass bereits die dritte DVD erschienen ist: der von Teodor Currentzis dirigierte Mitschnitt aus Bregenz, die russische Premiere in Jekaterinburg und – als jüngste Veröffentlichung – die Verfilmung der Grazer Produktion 2021, die auch als CD erhältlich ist. Sie beweist, dass die Musik auch ohne Szene gefangen nimmt. Unter der konzentrierten Leitung von Roland Kluttig lässt sich das Ensemble mit spürbarer Intensität auf seine Rollen ein: Dshamilja Kaiser als sich gegen die Vergangenheit aufbäumende Aufseherin Lisa, Will Hartmann als ihr immer mehr verunsicherter Ehemann, Nadja Stefanoff als unbeugsame Marta und Markus Butter als ihr mutiger Geliebter. (Capriccio)

Toccata Classics, TOCC 0626; EAN: 5060113446268

Eine ganz andere Form für die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Holocaust wählte Mischa Spoliansky. 1969, ein Jahr nach Die Passagierin vollendete er seine Symphony in Five Movements, an der er über zwanzig Jahre lang, von 1941 an, gearbeitet hatte. Sie ist ein Solitär im Schaffen des Komponisten, der mit seinen Revuen, Schlagern, Kabarett- und Filmliedern zu den ganz Großen der Unterhaltungsmusik der „Goldenen Zwanziger“ zählt. Aufgrund seiner jüdischen Wurzeln musste er wie so viele Leidensgenossen emigrieren und ging ins englische Exil. Die fünf Sätze der Sinfonie haben jeweils einen Titel mit vermutlich biographischem Bezug. Nummer vier heißt „Of Weeping“. Das ausladende Lamento reflektiert die Shoah, die darin versteckte deutsche Nationalhymne in Moll mag Ausdruck der Trauer über die verlorene Heimat sein. Das dieses monumentale, fast einstündige Werk nun erstmals auf CD zu hören ist, ist dem Dirigenten Paul Mann zu danken. Er dirigiert das auf hohem Niveau spielende lettische Liepāja Symphony Orchestra mit nicht nachlassender Spannung. Fans vom „typischen“ Spoliansky kommen aber auch auf ihre Kosten: Die bei Toccata Classics erschienene CD enthält die schmissige Ouvertüre zum letzten Bühnenwerk My Husband and I und den äußerst effektvolle Konzert-Boogie.

Karin Coper [Januar 2023]

Klaviersuche in Sibirien  

Gebunden: Zsolnay (Hanser Literaturverlage); ISBN 978-3-532-07205-3

Taschenbuch: Piper; EAN 978-3-492-31287-5

Sibirien wird meistens mit klirrender Kälte, mit einem Verbannungsort für politische Gegner, mit Gulag-Zwangsarbeit und vielleicht noch – im positiven Sinne – mit der das Land durchquerenden transsibirischen Eisenbahn assoziiert, sicher aber nicht mit Klavieren. Doch genau diesen Instrumenten und ihrer Bedeutung in dem riesigen russischen Gebiet zwischen Ural und Pazifik widmet sich die britische Reiseschriftstellerin Sophy Roberts in ihrem Debütbuch Sibiriens vergessene Klaviere.

Die Idee dazu kam ihr nach einer Begegnung mit der Pianistin Odgerel Sampilnorov: Die Mongolin, vom Baikalsee stammend und im italienischen Perugia ausgebildet, benötigte ein geeignetes Instrument, um in ihrer Heimat musizieren zu können. Für Sophy Roberts war es ein Anliegen, die Künstlerin bei der Beschaffung zu unterstützen und gleichzeitig der Beginn ihrer Mission, Klaviere – von deren Existenz sie oft durch Hörensagen erfuhr – aufzuspüren und alles Wissenswerte zu Herkunft, Hintergrund und den Besitzern zu erforschen: quasi ein kulturhistorischer, epochenübergreifender Streifzug im Kontext der russischen Geschichte, verquickt mit Stadtbeschreibungen und Naturschilderungen.

Dafür reiste sie quer durch das Land: keine Hürde war ihr zu schwer, keine Gegend zu entlegen.

Faktenreich erzählt sie, wie das Klavierspiel durch Katharina die Große am Zarenhofe eingeführt wurde, wie der Ire John Field um 1800 in den Salons der oberen Gesellschaft einen wahren Kult damit entfachte, den Franz Liszt bei seiner Tournee durch die Nation noch übertraf – und der auch in das dünnbesiedelte Sibirien durch die zunehmende „Kolonisierung“ überschwappte.

So ließ ein russischer Admiral 1817 als Dank dafür, dass sich der Gouverneur von Kamtschatka, Pjotr Rikord, erfolgreich für seine Freilassung aus japanischer Gefangenschaft eingesetzt hatte, dessen Frau ein Klavier als Geschenk übergeben. Der Transport aus St. Petersburg dauerte gut acht Monate. Als in Sibirien Strafkolonien eingerichtet wurden, brachten auch die Verbannten Musikkultur im europäischen Stil mit, die Klavierkunst eingeschlossen. 1826 folgte Maria Wolkonski, Ehefrau eines prominenten Dekabristen, ihrem Mann ins Exil nach Irkutsk und brachte auf einem Schlitten ihr Clavichord mit. Sie engagierte sich sozial, ließ einen Konzertsaal errichten und etablierte Musikunterricht in Schulen. Bekanntermaßen weniger glücklich endete das Schicksal der Zarenfamilie, die 1917 nach der Oktoberrevolution erst ins Exil nach Tobolsk, dann nach Jekaterinburg geschickt wurde. Privilegien hatte sie keine mehr, doch stand ihr bis kurz vor ihrer Hinrichtung ein Flügel zur Verfügung. In den Bereich der Legende dürfte allerdings die skurrile Geschichte über den Leichnam des Günstlings Rasputin fallen. Der soll nach seiner Exhumierung durch Bolschewisten in einem alten Klavier transportiert worden sein, um in einem Wald verbrannt zu werden.

Von der Vergangenheit in die Gegenwart: die Suche nach Instrumenten geht für Sophy Roberts einher mit dem Interesse für die Menschen dahinter, deren Lebensumstände sie in persönlichen Begegnungen kennenlernt. Eine wichtige Quelle an Informationen ist der Klavierlehrer Waleri Krawtschenko von der Halbinsel Kamtschatka. Er organisiert Konzerte fernab der Städte in wilder Landschaft und sagt: „Musik, Natur – für deren Wirkung gibt es keine Grenzen“. Im Altai-Gebirge trifft die Autorin den ehemaligen Aero-Flot-Navigator Leonid Kaloschin, der 41 gesammelte Klaviere in abgeschiedene Bergdörfer zur musischen Bildung der Kinder lieferte. Im südostsibirischen Chabarowsk lernt sie Nina Alexandrowna kennen, die durch Wissensdrang und die Liebe zum Klavierspiel Glück in ihrem entbehrungsreichen Leben fand. Dass das Piano, das ihr eine Tante schenkte, quer durchs Land per Bahn befördert wurde und dann nicht durch die Tür ihrer Wohnung passte, ist eine von vielen Anekdoten, die das Buch so lebendig machen.

Am seinem Ende schließt sich der Kreis. Durch die Vermittlung von Sophy Roberts und eines befreundeten Dokumentarfilmers erhält Odgerel Sampilnorov einen Grotrian-Steinweg. Er ist eine Gabe der Klavierstimmer-Familie Lomatschenko aus Nowosibirsk. Ihre Ausführungen zu den Charakteristika, zu Klang und Bauweise von Exemplaren solch bedeutender Firmen, wie Bechstein oder Ibach, sind ein weiterer Baustein in dieser vielschichtigen, mit Empathie und Herzblut geschriebenen musikalischen Sibirien-Annäherung. Die Lektüre ist gerade in diesen Zeiten so bereichernd wie anregend und deshalb unbedingt zu empfehlen.

[Karin Coper, August 2022]

Das Palazzetto Bru Zane ehrt Camille Saint-Saëns und César Franck

Camille Saint-Saëns: Phryné

Bru Zane, BZ 1047; EAN: 8 055776 01002 1

César Franck: Sämtliche Lieder und Duette

Bru Zane, BZ 2003; EAN: 8 055776 01003 8

Für Musikinteressierte mit Faible fürs französische Repertoire ist das Palazzetto Bru Zane eine Fundgrube sondergleichen. Versteckt in einer kleinen Gasse nahe der imposanten Kirche San Rocco, belebt das in Venedig ansässige Musikzentrum das kompositorische Erbe zwischen 1780 und 1920. Die Pharmaunternehmerin Nicole Bru entdeckte das verfallene Gebäude, das früher als Sommerhaus der Adelsfamilie Zane diente, ließ es wiederherstellen und funktionierte es als Sitz für die von ihr finanzierte Stiftung um. Heute ist dort ein Stamm von 15 Mitarbeitenden administrativ beschäftigt, während in Paris der künstlerische Leiter Alexandre Dratwicki mit einer fünfköpfigen Crew die Forschungen vorantreibt. Hundertvierzig Jahre Musik wollen gesichtet und aufgearbeitet werden, bevor sie in Publikationen, Konferenzen, Konzerten und Bühnenproduktionen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Hinzu kommt ein eigenes Label, das in einer feinen, verschwenderisch ausgestatteten CD-Buch-Reihe überwiegend Opern und Operetten, aber auch Porträts von kaum bekannten Komponistinnen und Komponisten produziert. Oft geben Jubiläen den Impuls zur näheren Auseinandersetzung, 2021 galt sie Camille Saint-Saëns anlässlich seines 100. Todestags. Alexandre Dratwicki und sein Team konzentrierten sich dabei auf die – vom Repertoirehit Samson et Dalila abgesehen – vergessenen Opern des in jeder Gattung versierten Vielschreibers. Belebt wurde etwa das Künstlerdrama Le Timbre d’Argent, die Renaissancetragödie Proserpine und das Römerspektakel Les Barbares. In die Antike, die für den 1835 geborenen Komponisten zeitlebens eine Quelle der Inspiration bedeutete, führt auch die gerade auf CD erschienene Oper Phryné aus dem Jahr 1893. Sie spielt im alten Griechenland und erzählt davon, wie ein als Tugendwächter auftretender Würdenträger die Kurtisane Phryné zu verführen sucht. Sie aber ist bereits mit dessen armen Neffen liiert und stellt den Alten in aller Öffentlichkeit bloß. Um sich aus der Affäre zu ziehen, sieht er sich gezwungen, dem Verwandten sein halbes Vermögen zu vermachen. Phryné ist das einzige heitere unter Saint-Saëns‘ Bühnenwerken und war wohl deshalb neben Samson am erfolgreichsten. Durchzogen vom Geist einer Operette besitzen die Melodien Esprit, Anmut und im Chorfinale des ersten Aktes eine mitreißende Rasanz. Die Aufnahme, die statt der originalen Dialoge die nachkomponierten Rezitative von André Messager benutzt, bietet mit Hervé Niquet einen Könner im französischen Fach auf, der so vital wie elegant dirigiert und die orchestralen Valeurs mit ihren aparten Bläsereinsätzen auskostet. Florie Valiquette singt eine verführerische Phryné mit kokett geträllerten Koloraturen, Cyrille Dubois schwärmt für sie in seiner Arie mit tenoraler Geschmeidigkeit und Thomas Dolié gibt dem Onkel gestandene Buffokonturen. Mit Phryné endet die Saint-Saëns-Reihe vorläufig, doch ist als Nachschlag die wegen der Pandemie verschobene Einspielung der Griechentragödie Déjanire geplant.

Aktuell aber gilt es den 200. Geburtstag von César Franck zu feiern. Der musikalische Werdegang des 1822 in der belgischen Stadt Liège geborenen und 1890 nach einem Unfall in Paris gestorbenen Komponisten, weist einige Gemeinsamkeiten zu Saint-Saëns auf. Beide galten als Klavierwunderkinder, waren renommierte Organisten und verschrieben sich als Gründungsmitglieder der „Societé Nationale de Musique“ der Pflege der französischen Musik. Stilistisch aber entfremdeten sie sich voneinander. Ein Beispiel dafür ist die Uraufführung von Francks Klavierquintett 1880, das Saint-Saëns gewidmet werden sollte. Der übernahm zwar den Pianopart, schlug die Zueignung aber aus, weil er den ungewohnten Klängen nichts abgewinnen konnte. Doch jene Synthese von französischen und deutschen Elementen, von Wagner-Einflüssen und romanischer Emotionalität trug entscheidend zur Entwicklung der französischen Musik bei und wurde durch Francks illustre Schülerschar, die sogenannte „bande à Franck“, fortgeführt. Denn auch das war César Franck: ein undogmatischer Lehrer, hochverehrt von seinen Studenten, zu denen Ernest Chausson, Henri Duparc, Vincent d’Indy und Claude Debussy zählten.

Ungeachtet seiner musikhistorischen Bedeutung ist nur wenig aus Francks umfangreichen Schaffen ins Repertoire eingegangen: neben den Orgelwerken sind es die Symphonischen Variationen für Klavier und Orchester, die Sinfonie in d-Moll und die Violinsonate. Das will das Palazzetto Bru Zane ändern. Mit einem sich bis zum Sommer hinein erstreckenden Festival begibt es sich auf eine Entdeckungsreise in „The World of César Franck“. Eingeläutet wird sie in Venedig mit zwei intelligent konzipierten Kammermusik-Programmen – fein aufeinander abgestimmt und dennoch kontrastreich durch die Kombination von Franck-Meisterwerken mit bislang unterschätzten weiblichen Kompositionen. Das Eröffnungskonzert, das im Festsaal des Palazetto stattfindet, konfrontiert das Klaviertrio Nr. 1 in fis-Moll – das erste der als Opus 1 bezeichneten drei Trios concertant, die der 17-Jährige 1839 am Konservatorium begonnen hatte – mit Pauline Viardots eher konventionellem Duo für Geige und Klavier und drei so bewegten wie geistvollen Miniaturen von Lili Boulanger. Bestritten wird es von der jungen Geigerin Anna Agafia und dem Cellisten Ari Evan unter der Anleitung des renommierten Pianisten Frank Braley, die als Trio-Formation debütieren, dabei aber noch auf der Suche nach der rechten Balance sind – bedingt wohl auch wegen einer Verletzung Evans.

Der folgende Abend, diesmal in der prächtigen Scuola Grande San Giovanni Evangelista, präsentiert das bereits arrivierte Quatuor Hanson und den Klaviersolisten Ismaël Margain, dessen traumwandlerisches, sich gegenseitig befruchtendes Zusammenspiel vor emotionaler Hochspannung vibriert. Vorgetragen wird Francks bereits erwähntes Klavierquintett f-Moll, bestehend aus drei leitmotivisch miteinander verknüpften Sätzen mit süffigen Themen, kühn oszillierenden Harmonien und sinfonisch dichten Steigerungen. Die sich anschließende Grande Fantaisie-Quintette komponierte eine heute völlig Unbekannte: Rita Strohl, Jahrgang 1865, machte durch spirituell durchdrungene Werke von sich reden, geriet aber nach ihrem Tod 1941 in Vergessenheit. Ihr Ensemblestück ist eine weniger komplexe Variante der Gattung, bemerkenswert aber wegen der melodischen Dominanz des Klaviers im Kontrast zum Streicher-Unisono.

Wie geht es in den nächsten Monaten weiter in der Welt von César Franck? In Venedig stehen Kammermusikkonzerte im Zentrum, während in Paris großdimensionierte Orchesterwerke erklingen. Dort erlebt auch die zwischen 1879 und 1885 entstandene, zu Francks Lebzeiten nie aufgeführte Oper Hulda – ein blutrünstiges Drama um Rache und Verrat, das im frühmittelalterlichen Norwegen spielt – ihre konzertante Premiere mit Folgeaufführungen in Brüssel und Liège.

Schon jetzt aber kann man sich in César Francks Vokalkosmos vertiefen: beim Hören der gerade erschienenen Doppel-CD mit sämtlichen Klavierliedern und -duetten. Sie spielten keine Hauptrolle in seinem Oeuvre, begleiteten ihn aber mit Unterbrechung während der gesamten, rund 50-jährigen Schaffensphase. Daraus resultiert die Bandbreite der von Franck verwendeten Formen, die später in der typischen französischen „Mélodie“ gipfelten, perfektioniert durch Franck-Schüler wie Chausson und Duparc. Vom Charakter her dominieren gefühlvolle, atmosphärisch dunkle Lieder, wechselnd im Gewand von Romanzen, Strophengesängen, Balladen und – als Besonderheit – von kleinformatigen patriotischen Kantaten.

Mit Véronique Gens, Tassis Christoyannis und dem Pianisten Jeff Cohen sind drei Stützen aus dem Stammensemble des Palazzetto Bru Zane an dem Projekt beteiligt. Der griechische Bariton hat sich schon seit längerem als französischer Lied-Spezialist etabliert, etwa mit Kollektionen von Édouard Lalo, Benjamin Godard und Reynaldo Hahn. Durch variantenreiche Dynamik, wechselndes Kolorit der Stimmungen und plastische Artikulation lotet er den Charakter der Stücke aus, beispielhaft etwa in La Vase brisé mit einer ganzen Palette von Pianoschattierungen. Sechs Duette runden die Anthologie ab. Es sind getragene Duos mit religiösem Hintergrund, in denen die Stimmen meist parallel geführt werden. Véronique Gens, ist für diesen kleinen Zyklus eine Luxusbesetzung. „Gott hat mich mit einer einzigen Gnade beschenkt, nämlich der Verbindung zu Cesar Franck“. Diesen Ausspruch von Henri Duparc aus dem Jahr 1903 zitiert das Palazzetto Bru Zane in seiner Festival-Vorschau. Solche Verbindung selbst herzustellen, dazu bieten die vielfältigen Veranstaltungen reichlich Gelegenheit.

Karin Coper [April 2022]

Des Kaisers liebste Oper

Chateau de Versailles Spectacles, CVS044; EAN: 3 770011 431533 (1 CD & 1 DVD)

Der Querschnitt aus Giulietta e Romeo in der Vertonung von Niccolò Antonio Zingarelli ist ein Schmuckstück innerhalb der Kollektion Chateau de Versailles Spectacles. Es singen Franco Fagioli (Countertenor), Adèle Charvet (Mezzosopran) und Philippe Talbot (Tenor). Stefan Plewniak dirigiert das Orchestre de l’Opéra Royal.

Auf dem Cover der CD-Schatulle mit Ausschnitten aus Niccolò Antonio Zingarellis Oper Giulietta e Romeo prangt der Übertitel „L’Opera de Napoléon“. Dahinter steckt ein klares Signal: hier geht es nicht nur um die Musik, sondern auch um den historischen Hintergrund. Denn Napoleon Bonaparte war Liebhaber der schönen Künste und sein 200. Todestag Anlass für die Beschäftigung mit dieser bisher kaum wahrgenommenen Seite. Aufschluss darüber gibt das verschwenderisch ausgestattete Booklet, das dem im Schlosstheater von Versailles eingespielten Opernquerschnitt beiliegt. Giulietta e Romeo war eines der favorisierten Stücke des französischen Kaisers, seine Vorliebe durchaus auch privater Natur. Das lag an der Primadonna Giuseppina Grassini, der Uraufführungssängerin der Giulietta, mit der Bonaparte eine kurze, aber intensive Liaison verband. Gemeinsam mit dem ebenfalls gefeierten Kastraten Girolamo Crescentini hob die Mezzosopranistin Zingarellis Shakespeare-Adaption 1796 an der Mailänder Scala aus der Taufe und läutete damit den Siegeszug der Oper ein. Er hielt bis in die 1830er Jahre an und wurde durch die heute ungleich bekanntere Vertonung I Capuleti e i Montecchi seines Schülers Vincenzo Bellini abgelöst, eines der melodienseligen Melodramen des frühromantischen Belcantos.

Für Niccolò Antonio Zingarelli, der von 1752 bis 1837 lebte, bedeutete der Wandel des musikalischen Geschmacks einen Einschnitt, auf den er mit einem Rückzug von der Oper reagierte und sich stattdessen vor allem geistlicher Musik zuwandte. Giulietta e Romeo ist stilistisch ein Ausläufer der spätbarocken Opera seria, charakteristisch auch durch die für einen Kastraten geschriebene Hauptrolle, doch weniger pathosbehaftet und reizvoll durch die zahlreichen Bläsereinsätze.

Die eingespielte Auswahl beschränkt sich auf die Szenen von Romeo, Giulietta und deren Vater Everardo, zuzüglich der Ouvertüre und des Chorfinales des 1. Aktes. Stefan Plewniak dirigiert das auf historischen Instrumenten emphatisch aufspielende Orchestre de l’Opéra Royal mit einem Furor, der jedem Akzent Beachtung schenkt, dabei jedoch nie die große Linie außer Acht lässt. Er atmet mit Mitwirkenden spürbar mit, ist ihnen aufmerksamster Begleiter.

Die Partie des Romeo ist ein Vehikel für die Kunst von Franco Fagioli, der bereits 2016 in Salzburg für das Stück warb. Er gleitet mit seinem Countertenor bruchlos durch drei Oktaven, von der Tiefe bis in Extremhöhen. Vokale Phantasie beweist er in den schwerelosen Trillern und Verzierungen, mit denen er die langsamen Kantilenen anreichert, expressive Ausdruckskraft in den Rezitativen und der umfangreichen Grabszene. Adèle Charvet, deren Mezzosopran mitunter zu einem leichten Vibrato neigt, ist eine in Agilität und Stilsicherheit ebenbürtige Giulietta. Höhepunkte sind die Duette, in denen sich die beiden Stimmen in schönster Homogenität verbinden. Dritter im Bunde ist Philippe Talbot, der sowohl den Vater Capulet als auch Giuliettas Verlobten Teobaldo singt und vor allem in der Rachearie virilen Tenorgesang mit souveränen Koloratur-Affekten bietet.

Die Oper gibt es im Doppelpack: als CD und als DVD des abgefilmten Konzertes mit Blick auf den prächtigen Zuschauerraum. Inbegriffen ist ein Bonus-Track mit Romeos Grabesarie, die Fagioli plakativ vor dem Krönungsgemälde Le Sacre de Napoléon singt. Was uns zur Historie zurückführt. Denn wenige Jahre später fiel Zingarelli in Ungnade, weil er sich aus patriotischen Gründen weigerte, zur Geburt des Kaisersohns 1811 ein Te Deum zu dirigieren. Zur Strafe wurde der Komponist verhaftet, doch kurz danach auf höchste Anordnung freigelassen und mit einer üppigen Pension getröstet. Die damit verbundene Hoffnung Napoléons, Zingarelli in Frankreich zu halten, erfüllte sich nicht. Er ging nach Neapel und wurde dort hochgeschätzter Leiter des Konservatoriums.

[Karin Coper, Januar 2022]

Im Garten der Gefühle

Im folgenden Beitrag stellt Karin Coper drei im Laufe dieses Jahres erschienene CDs vor, die einen Eindruck davon vermitteln, auf welch verschiedene Weise englischsprachige Dichtung Komponisten des 20. Jahrhunderts zu Liedkompositionen angeregt hat. Das Duo Dalùna widmet sich Zyklen von Roger Quilter, Benjamin Britten und Michael Head. Jodie Devos und Nicolas Krüger haben ein Programm mit Liedern englischer und nichtenglischer Komponisten auf Texte englischer Dichter zusammengestellt. Die erste Gesamteinspielung der Lieder des irischen Komponisten John F. Larchet wurde von Musikerinnen und Musikern um den Pianisten Niall Kinsella vorgelegt. (d. Red.)

A Song in the Woods

Prospero, PROSP 0015; EAN: 0 630835 523841

„Sieh, die Berge küssen den Himmel. …Und die Strahlen des Mondes küssen das Meer: Doch was sind all diese Küsse wert, wenn Du mich nicht küsst?“ Diese Zeilen stammen aus dem Gedicht Love’s Philosophy, das der Romantiker Percy Bysshe Shelley 1819 publizierte. Den englischen Komponisten Roger Quilter inspirierte das Poem 1905 zu einer ekstatischen Hymne und sie stimmt perfekt ein auf eine musikalische Reise, die das Schweizer Duo Dalùna in seinem Album A Song in the wood unternimmt. Sie führt durch die Natur Großbritanniens und ist ein im übertragenen Sinn metaphorischer Gang durch Seelenlandschaften, Liebesglück und -leid. Für diese Exkursion konzentrieren sich der Tenor Remy Burnens und die Pianistin Clémence Hirt auf Stücke von vier Komponisten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich formal, thematisch und durch die Rückbesinnung auf musikalische Traditionen ähneln. Quilters Zyklus To Julia, der auf autobiographisch getönten, im 17. Jahrhundert verankerten Liebesverse des dichtenden Theologen Robert Herrick basiert, besteht aus melodiösen Miniaturen, unterbrochen von zwei rein instrumentalen Einschüben. In Benjamin Brittens erstem Vokalzyklus On This Island aus dem Jahr 1937 verbinden sich Einflüsse von Henry Purcell, dem er sich besonders verbunden fühlte, mit volksliedhafter Einfachheit. Von Melancholie durchzogen ist hingegen Michael Heads im ersten Weltkrieg entstandener Zyklus Over the Rim of the Moon. In den betont einfach strukturierten Gesängen spiegelt sich die Trauer über den Tod der Geliebten wider. Remy Burnens trägt die Lieder mit klarem, resonanzreichem Tenor vor, forciert nur manchmal in den Höhen. Seine Artikulation indes ist vortrefflich und auch die gestalterische Einheit von Musik und Text gelungen: ob schwärmerisch bei To Julia, dynamisch nuanciert in A Blackbird Singing, schlicht im A-cappella-Solo The Singer oder jubelnd in Let the Florid Music Praise! Durch ihr feinfühliges Klavierspiel unterstreicht Clémence Hirt die Stimmungen, dazu ist sie eine eigenständige Partnerin im musikalischen Zwiegespräch zwischen Gesang und Instrument, selbst wenn der Pianopart sich nur aufs Wesentliche beschränkt. Die schöne Aufnahme wird durch ein optisch ausgesprochen ansprechend gestaltetes Booklet komplettiert. Es ist mit Naturimpressionen illustriert, bietet eine kluge Einführung und alle Textabdrucke.

And Love said…

Alpha Classics, ALPHA668; EAN: 3 760014 196683

Als einen persönlich gefärbten Streifzug durch englischsprachige Vokalwelten, der auch Lieder von nicht-britischen Komponisten einbezieht, bezeichnet Jodie Devos ihr neues Album And Love said… Ganz anders als in ihrem Debüt-Recital, in dem sie in Offenbach-Arien ihre Virtuosität herausstellte, zeigt sich die belgische Sopranistin im zweiten intimer, introspektiver – aber nicht weniger überzeugend. Das abwechslungsreiche Programm, das thematisch um die Liebe kreist und mit zwei Überschneidungen zu einem Vergleich mit A Song in the Wood einlädt, nimmt Bezug auf Stationen ihres Werdegangs. Beispielsweise Brittens On This Island, mit dem sie den zweiten Preis des renommierten Gesangswettbewerbs Concours International Reine Elisabeth gewann. Oder Ivor Gurneys Spring aus den Five Elizabethan Songs, mit dem sie in London die Aufnahmeprüfung bestand. Auch die zwei Oscar-Wilde-Vertonungen, die Patrick Leterme speziell für die stimmlichen Möglichkeiten ihres bis in stratosphärische Höhen reichenden Soprans komponierte, haben einen biographischen Hintergrund. Der Belgier war Pianist bei ihrem ersten Wettbewerb und verschaffte ihr das professionelle Bühnendebüt. Mit zwei impressionistisch anmutenden Liedern von Regine Wieniawski geht die Sängerin zurück zu ihren Wurzeln und erinnert an eine vergessene Landsfrau, die Anfang des 20. Jahrhunderts unter dem Pseudonym Poldowski ihre Werke veröffentlichte, weil sie unabhängig von ihrem Vater, dem polnischen Stargeiger Henryk Wieniawski, anerkannt werden wollte.

Die Stücke sind stilistisch vielfältig, doch Jodie Devos kennt keine technischen und interpretatorischen Grenzen und ihr Sopran, dem manchmal ein reizvolles Vibrato eigen ist, kann organisch zwischen purer Reinheit und schillernden Farben wechseln. Sie beherrscht die Kunst der feinsten Schattierungen, Übergänge und dynamischen Finessen. Zart fließend und beseelt ist ihr Vortrag von Darius Milhauds beiden Liebesliedern, voller Emphase Frank Bridges Love went a-riding und Roger Quilters Love’s Philosophy. Sie hat ein Gefühl für das spanische Kolorit und den lässigen Jazz in William Waltons Dreiteiler Faҫade und am Ende demonstriert sie, wie ein Popstück mit einer Opernstimme Wirkung erzielen kann: Freddie Mercurys You take my breath away singt sie ganz zurückgenommen bis zum fast verlöschenden Schluss, einfach wunderschön. Dabei wird die Sängerin vom Pianisten Nicolas Krüger kongenial unterstützt. Wie sich die beiden die Bälle zuspielen und zusammen subtilste Klänge zaubern, zeugt von gleichberechtigter Partnerschaft und gehört zu den vielen Vorzügen dieses Recitals.

John Francis Larchet: Sämtliche Lieder

Champs Hill Records, CHRCD151; EAN: 5 060212 591586

Ein Ausflug nach Irland rundet die Erkundung englischsprachigen Liedguts ab. Dabei geht es nicht um traditionellen Irish Folk, mit der die Musik des Inselstaats meist gleichgesetzt wird, sondern um klassische Vokalschöpfungen. Im Zentrum steht der 1884 geborene Komponist John F. Larchet, ein hierzulande Unbekannter, im Musikleben der irischen Republik aber eine Schlüsselfigur. Zum einen belebte er als künstlerischer Direktor des Dubliner Abbey Theatre zwischen 1908 und 1935 mit seinen Bühnenmusiken viele historische Dramen des Landes. Zum anderen prägte er als Musikprofessor zwei Generationen Studierender an der Royal Irish Academy of Music und am University College Dublin, eine Position, die er fast 40 Jahre innehatte. Und nicht zuletzt stammt von ihm die Bearbeitung der Nationalhymne, die bis heute offiziell gespielt wird.

Obwohl er gegenüber den Novitäten seiner Schülerschaft ein stets aufgeschlossener Lehrer war, blieb er stilistisch selbst konservativ. Überhaupt machte er sich vorwiegend durch Arrangements von überlieferten und folkloristischen Weisen einen Namen. Sein ureigenes Schaffen ist hingegen nicht sehr umfangreich und besteht hauptsächlich aus Vokalmusik. Darunter sind siebzehn Originallieder, in der Mehrzahl schlichte, nostalgisch getönte Melodien, manche folkloristisch inspiriert, andere kunstvoller gesetzt. Dank der Initiative des Pianisten Niall Kinsella, der sich mit Larchets Oeuvre seit Studienzeiten beschäftigt, sind diese Complete Songs & Airs, so der Titel des Albums, nun erstmals in ihrer Gesamtheit aufgenommen worden, kombiniert mit zwei jeweils sechsteiligen Irish Airs für Geige und Klavier. Kinsella ist mit seiner kundigen wie empfindsamen Begleitung fraglos die Seele des Projekts und er hat sich mit der Mezzosopranistin Raphaela Mangan und dem Bariton Gavan Ring ein irischstämmiges Gesangsduo ins Boot geholt, das Authentizität und stilsicheres Einfühlungsvermögen für die heimatlichen Songs mitbringt.

Den Auftakt der Einspielung bildet übrigens Larchets Vertonung des eingangs zitierten Shelley-Gedichts. The Philosophy of Love heißt die Arie, und ähnlich wie Quilters Version handelt es sich um eine leidenschaftliche Liebeserklärung mit feuriger Klavierbegleitung. Womit sich der Kreis schließt.

[Karin Coper, November 2021]

Gegen das Vergessen -Verfolgte Komponisten in den Niederlanden: Biographien und CDs

Hentrich & Hentrich; ISBN 978-3-95565-379-8 

In einem bei Hentrich & Hentrich erschienenen Kurzbiographien-Band erinnern Carine Alders und Eleonore Pameijer an Komponistinnen und Komponisten aus den Niederlanden, die während des Zweiten Weltkriegs verfolgt und ausgegrenzt wurden. Das Buch steht in enger Verbindung mit einer bereits 2015 von Etcetera veröffentlichten 10-CD-Edition.

Verfemt, verfolgt, ins Exil getrieben, deportiert, ermordet: Von diesem Schicksal waren unzählige vorwiegend jüdische Kunstschaffende während des Nationalsozialistischen Regimes betroffen. Ihre Karriere wurde abrupt beendet und nur wenigen gelang es, in der Emigration eine neue Existenz aufzubauen oder nach dem zweiten Weltkrieg an frühere Erfolge anzuknüpfen. Die meisten gerieten in vollständige Vergessenheit. Erst in den 80er Jahren begann dank privater Initiativen, Forschungsprojekten und dem wachsenden Interesse von Musikwissenschaft und Dramaturgie die allmähliche Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Schaffen dieser Künstlergeneration. Eine Renaissance ihrer Werke läutete exemplarisch die Decca-Edition „Entartete Musik“ ein, beispielhaft sind auch die Aktivitäten des Berliner Vereins Musica reanimata oder des Wiener exil.arte Zentrums.

Ähnlich konzipiert ist die in Amsterdam ansässige Leo Smit-Stiftung. Schwerpunktmäßig widmet sie sich niederländischen Komponistinnen und Komponisten, die nach der Besatzung durch die Deutschen 1940 Repressalien aller Art ausgesetzt waren und deren Werke nicht mehr aufgeführt werden durften. Initiiert wurde sie 1996 von der Flötistin Eleonore Pameijer, nachdem sie auf Musik von Smit gestoßen war und ihre Stärke erkannt hatte. Mittlerweile integriert sie seine Stücke regelmäßig in ihre Konzertprogramme. Damit erfüllt sie eines der Ziele der Stiftung: verschüttete musikalische Schätze zu bergen, um sie ins heutige Repertoire einzubinden. Viel Arbeit steckt dahinter:  Nachlässe müssen gesichtet werden, aufgefundene, teils nur handgeschriebene Partituren eingerichtet werden.

Einen umfassenden Überblick über die bisherigen Forschungen gibt der Sammelband Verfolgte Komponisten in den Niederlanden, der 2015 von Pameijer zusammen mit der Musikwissenschaftlerin Carine Alders herausgegeben und kürzlich in deutscher Übersetzung im Hentrich & Hentrich Verlag erschienen ist. Er vereint Biographien von 34 Musikschaffenden – darunter fünf Frauen –, rekonstruiert durch Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Profession, teilweise auch durch Verwandte. Diese Schilderungen, denen jeweils ein Foto vorangestellt ist, bringen zerstörte Lebensläufe ans Licht, erzählen von individuellen Schicksalen und dem künstlerischen Vermächtnis der Einzelnen, öffnen aber auch den Blick für das niederländische Musikleben, gesellschaftliche Querverbindungen und Zusammenhänge.

Aus der Gesamtheit ragt Leo Smit hervor, Namensgeber der Stiftung und innerhalb der „Jüdischen Miniaturen“ desselben Verlags mit der Biographie Unerhörtes Talent von Klaus Bertisch ausführlicher gewürdigt (ISBN 978-3-95565-070-4). Bereits seine ersten Orchesterstücke, die er während des Studiums komponierte, wurden vom Concertgebouw aufgeführt. Mitte der 20er Jahre zog er nach Paris und lernte dort die französische Musikeravantgarde kennen, deren Einflüsse fortan sein weiteres Schaffen – einiges für größeres Orchester, vorwiegend aber Kammermusiken in verschieden Besetzungen – prägte. Als er nach fast 10 Jahren 1937 nach Holland zurückkehrte, hatte sich die politische Lage bereits verschärft, so dass sich sein Wirkungskreis bald auf jüdische Institutionen beschränkte. Sein letztes und heute bekanntestes Werk, eine Sonate für Flöte und Klavier, vollendete er nur einige Tage vor der Deportation ins Vernichtungslager Sobibor, wo er Ende 1943 ermordet wurde.

Dieses Schicksal teilte Smit mit seinem begabten Schüler Dick Kattenburg. Er kam mit nur 24 Jahren in Auschwitz um, genauso wie der Synagogalkomponist und Chorleiter Simon Gokkes und das pianistische Wunderkind Mischa Hillesum. Dessen Schwester Etty hinterließ Tagebücher, die zu den bedeutendsten holländischen Zeugnissen der Besatzungszeit gehören.

Das Glück, zu überleben, hatten nur wenige. Beispielsweise Sem Dresden, Direktor des Konservatoriums in Den Haag, bedeutender Lehrer und einer der Leitfiguren des holländischen Musiklebens, der untertauchen konnte. Oder der deutsche Komponist und Pazifist Wilhelm Rettich, den eine frühere Klavierschülerin versteckte. Er gehört, wie auch die ungarischen Musiker Géza Frid und Zoltán Székely zur Gruppe jüdischer Tonkünstler anderer Nationalität, die hofften, in den bis 1940 neutralen Niederlanden, Schutz zu finden.

Andere gingen aktiv in den Widerstand: Marius Flothuis, vor und nach dem Krieg künstlerischer Direktor des Amsterdamer Concertgebouw, half untergetauchten Juden und wurde selbst interniert, Leo Kok, künstlerisch mehrfach begabt und politisch seit jungen Jahren aktiv, schloss sich der französischen Résistance an.

Auch Rosy Wertheim, die sich schon als junge Frau für sozial Schwache engagiert hatte, widersetzte sich den Anordnungen der Besatzung. Sie organisierte illegale Konzerte mit verbotener Musik, musste dann aber selbst untertauchen. Wertheims Biographie ist für ihre Zeit besonders bemerkenswert. Sie war eine der ersten Komponistinnen ihres Landes und lebte zeitweise in New York, Wien und Paris, wo sie einen Künstlersalon unterhielt, in dem führende Musiker ein- und ausgingen.

Forbidden Music in World War II (10 CD)

Etcetera, KTC 1530; Ean: 8711801015309

Im Anhang der Biographien, von denen hier nur ein Bruchteil skizziert werden kann, befinden sich Auflistungen der verwendeten Quellen und der erstaunlich umfangreichen Diskographie. Aus diesen Tondokumenten, die überwiegend bei kleineren Labels erschienen sind, stellte die holländische Firma Etcetera eine Kompilation zusammen. Sie heißt Forbidden Music in World War II und ist das quasi unverzichtbare musikalische Pendant zur Lektüre. Die Box enthält zehn prall gefüllte CD’s mit Musik von einem Großteil der im Buch Porträtierten. Die Bandbreite der zwischen 1900 und 1967 entstandenen Kompositionen reicht von großbesetzter Sinfonik über Solokonzerte bis zu Kunstliedern. Meist aber sind es kammermusikalische Werke in verschiedenen Kombinationen, angepasst an die Bedingungen unter denen sie entstanden. Was ihnen gemein ist: sie spiegeln die Vielfalt der damaligen zeitgenössischen Strömungen wider.

Dominierend ist der Blick nach Frankreich, zumal von denjenigen, die einige Zeit dort lebten und durch erste Hand inspiriert wurden. In Leo Smits farbschillernden Ballettmusik Schemselnihar sind die Impressionisten, Debussy und Ravel, allgegenwärtig, in Rosy Wertheims Streichquartett steht die auf Vereinfachung und Klarheit zielende Groupe de Six Pate und Leo Kok komponierte den Gesangszyklus Sept Mélodies Retrouvées im Stil der Mélodie francaise.

Zur Unterhaltungsmusik fühlte sich Dick Kattenburg hingezogen. Seine Kammermusik ist durchpulst von Jazzelementen und Tanzrhythmen, etwa in der Sonate für Flöte und Klavier mit ihrer Melodik, den süffigen Harmonien und dem Tangorhythmus im Mittelsatz. Andererseits setzte er sich musikalisch mit seinen Wurzeln auseinander. Lebensfreude in dunkler Zeit versprühen seine auf hebräische Melodien basierenden Palästinensischen Lieder.

Lex van Delden hingegen knüpfte in manchen Orchesterstücken an neoklassizistische Traditionen à la Strawinsky an, scheinbar unberührt von avantgardistischen Tendenzen. Der Komponist, der sich nach dem Krieg für die Belange niederländischer Musikschaffender einsetzte, erhielt selbst besondere Wertschätzung, als in den 60er Jahren einige seiner sinfonischen Werke vom Concertgebouw Orchester unter so bedeutenden Dirigenten wie Bernard Haitink, Eugen Jochum und George Szell aufgeführt wurden. Die erhaltenen Life-Mitschnitte sind ein bedeutender Teil der Anthologie.

Noch viel mehr gibt es zu entdecken in dieser schier unerschöpflichen musikalischen Fundgrube, nur einiges kann als Kostprobe erwähnt werden: Die aufs Wesentliche komprimierte Klavier-Sonate und das Streichquartett von Nico Richter, die sich in Richtung Wiener Schule orientieren und in ihrer Kürze an Anton von Webern erinnern; die freche Modern Times Sonata für Geige und Klavier von Ignace Lilien, die den Geist der 20er Jahre einfängt und mit seinem sozialkritischen Gesangszyklus Mietskaserne kontrastiert; eine spätromantische Konzertouvertüre und ein Nonett von Jan van Gilse; die fast gleichzeitig in den 50er Jahren entstandenen duftigen Dialoge für Harfe und Flöte von Theo Smit Sibinga und Marius Flothuis; effektvolle, klangfarbenreiche Solokonzerte für Flöte bzw. Klavier und Kammerorchester von Henriëtte Bosmans; französische Chansons von Marjo Tal, von ihr selbst vorgetragen.

Den Großteil der Einspielungen bestreitet ein Stamm von Musizierenden. An erster Stelle muss die Flötistin Eleonore Pameijer genannt werden. Sie hat sich mit Leib und Seele der Rehabilitation dieser Werke verschrieben und wirbt für sie mit ihrer ganzen spieltechnischen und interpretatorischen Kompetenz. Einher geht dieses Engagement mit der Partnerschaft zu einer Reihe von hochkarätigen Instrumentalisten und Instrumentalistinnen, die in unterschiedlichen Formationen aufeinandertreffen. Zu ihnen gehören die Sopranistin Irene Maessen, die Geigerin Marijke van Kooten, die Cellistin Doris Hochscheid, die Harfenistin Erika Waardenburg und die Pianisten Frans van Ruth und Marcel Worms. Ihre Vertrautheit beim Zusammenspiel ist stets spürbar, aber auch das Wissen um feine Abstimmungen, kluge Strukturierung, Klangfarben und Phrasierung.

Abgeschlossen ist der Wiedererweckungsprozess noch lange nicht. Doch sukzessive werden Lücken geschlossen und der Öffentlichkeit präsentiert. Ja, „Musik muss erklingen“. In dieser bemerkenswerten Anthologie tut sie es auf beispielhafte Weise.

Karin Coper [Juli 2021]