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Ein Musizieren von edelster Art: Beth Levin spielt Mozart, Tiessen und Schubert in Wien

Am 22. März 2024 beendete Beth Levin mit einem Konzert im Bank Austria Salon des Alten Rathauses zu Wien ihre Mitteleuropa-Tournee, die sie am 12. des Monats nach Berlin und am 19. nach München geführt hatte (zum Berliner Konzert siehe den Bericht von Sara Blatt). Das Programm war in Wien dasselbe wie bei den Auftritten in Deutschland. Es begann mit Wolfgang Amadé Mozarts Sonate a-Moll KV 310 und endete mit Franz Schuberts Sonate G-Dur D 894. Ähnlich wie auf den Alben, die die Pianistin für Aldilà Records (Inward Voice, Hammerklavier live) und Navona Records (Personae, Bright Circle) eingespielt hat, kombinierte sie eine Repertoire-Erweiterung mit den beiden Klassikern. Allerdings handelte es sich dieses Mal – anders als bei den auf den genannten CDs zu hörenden Werken von Anders Eliasson und David Del Tredici – nicht um zeitgenössische Musik, sondern um ein lange verschollenes, erst vor kurzer Zeit wiederentdecktes Werk: Die Fünf Klavierstücke op. 21 von Heinz Tiessen entstanden 1915 und wurden im folgenden Jahr durch Tiessens Schüler Eduard Erdmann erstmals öffentlich gespielt. Was dann mit ihnen geschah, ist unklar. Wahrscheinlich verschwand das Manuskript durch unglückliche Umstände aus dem Gesichtskreis des Komponisten, sodass er annehmen musste, es sei verloren. Er vergab die Opuszahl 21 neu und wies sie dem Rondo G-Dur, der Orchesterfassung des Finales seines Amsel-Septetts op. 20, zu. Nur Die Amsel, das vierte Stück des ursprünglichen op. 21, tauchte noch einmal auf: 1923 erschien als Nr. 2 der Drei Klavierstücke op. 31 eine Neufassung, die sich so deutlich von der ursprünglichen Gestalt unterscheidet, dass man geneigt ist, eine Rekonstruktion aus dem Gedächtnis anzunehmen. Letztlich kamen die Klavierstücke op. 21 im Jahr 2019 wieder zum Vorschein. Der Sammler und Verleger Tobias Bröker hatte das Manuskript aus einem Nachlass erworben, es mit einem Notenschreibprogramm transkribiert und auf seiner Internet-Seite zum kostenlosen Herunterladen bereitgestellt.

Aufbauend auf der Harmonik des mittleren Richard Strauss und des frühen Arnold Schönberg fand Heinz Tiessen in den 1910er Jahren zu einem expressiven Kompositionsstil, der sich weitgehend abseits herkömmlicher Kadenzformeln bewegt, jedoch an der Tonalität als Zusammenhang stiftendem Grundgestaltungsmittel konsequent festhält. Die Klavierstücke op. 21 gehören zu den ersten Werken des Komponisten, in denen diese Ausdrucksweise zu voller Reife entwickelt erscheint. Hinter dem neutralen Titel verbirgt sich eine Satzfolge, deren einzelne Nummern durchaus als zusammengehörige Teile eines Ganzen erscheinen. Der erste Satz ist entsprechend als „Vorspiel“, der letzte als „Finale“ bezeichnet. Mit seinen wuchtigen Eingangs- und Schlussakkorden und den registerartigen Klangabstufungen wirkt das Vorspiel wie ein Orgelpräludium. Die an zweiter Stelle stehend Elegie und das ihr folgende Intermezzo sind bei langsamem Grundtempo von wellenartigen Bewegungen durchzogen. Die Harmonien flackern unruhig wie Mondlicht auf nächtlichem Meere. Anzunehmen, dass der gebürtige Königsberger Tiessen bei der Komposition dieser Stücke an die Ostsee dachte, erscheint nicht abwegig, da er in seiner kurz zuvor entstandenen Natur-Trilogie op. 18, einer dreisätzigen Tondichtung für Klavier, ganz ähnliche Stimmungen in Töne gefasst hat. Im vierten Stück, der bereits erwähnten Amsel, verarbeitet der Komponist originale Amselrufe zu einer schalkhaften, kapriziösen Musik, die sich deutlich von der Schwerblütigkeit der ersten drei Stücke abhebt. Das Finale ist der ausgedehnteste Satz des Werkes. Die Vortragsanweisung „Leidenschaftlich bewegt“ bedeutet nicht zwangsläufig „schnell“. Es ist kein agiles Finale nach Art klassischer Sonaten, sondern gleicht in seinem Duktus, wie auch im zweimaligen Wechsel emphatisch aufbrausender mit bedächtiger, ruhigerer Musik einer Rede in Tönen. Bekenntnishaft schließt sie im dreifachen Forte.

Eduard Erdmann hat einst das Klavier eine „unmögliche Maschine“ genannt, „zusammengesetzt aus Elfenbein, Holz, Filz, Draht und Stahl“, auf der „kein echtes Legato, kein Gesang“ möglich sei. Es gehört zu jenen Instrumenten, deren Klangerzeugung derjenigen der menschlichen Stimme am wenigsten verwandt ist. Mithin fordert es den Spieler durch seine Beschaffenheit dazu heraus, den Klang durch sein Spiel zu transzendieren, im wahrsten Sinne des Wortes „übersteigend“ zu musizieren. Die deklamatorische Melodik der Stücke Tiessens verlangt nach einen langem Atem, ihr orchestral anmutender Tonsatz nach einer feinen Abstufung der Tongebung. Um die Harmonik mit ihren alterierten Akkorden und abrupten Gegenüberstellungen entfernt verwandter Klänge adäquat darzustellen, braucht es einen wachen Sinn für tonale Beziehungen im Großen wie im Kleinen. Die Musik verlangt mithin nach Kantabilität, Farbigkeit und Spannung. Beth Levin ist definitiv die richtige Musikerin, den Stücken dazu zu verhelfen und ihnen neues Leben einzuhauchen.

Levins Spiel besitzt generell einen Zug ins Große, nicht nur hinsichtlich der tendenziell eher breiten Tempi, sondern auch im Bezug auf den Klangfarbenreichtum, den sie hervorzubringen in der Lage ist. Die „unmögliche Maschine“ verwandelt sich unter ihren Händen tatsächlich dergestalt, dass man von einem imaginären Orchester oder Chor sprechen möchte – und, mit Robert Schumann, von den Klavierstücken als „verschleierten Symphonien“. Es ist, als würde der mechanische Aspekt des Klavierspiels – das Ingangsetzen einer Hebel- und Hammerschlagapparatur durch das Drücken von Tasten – gänzlich aus dem Sinn geraten, als entstünde der Klang ganz direkt, wie aus einer menschlichen Kehle. Die Töne, die Beth Levin dem Klavier entlockt, haben die Präsenz scharf profilierter Charaktere, denen gegenüber man gar nicht anders kann als aufmerksam zu lauschen, gebannt von ihrer Persönlichkeit. So spielen heißt wahrlich auf dem Klavier singen!

Davon profitiert nicht nur das seit mehreren Generationen ungehörte Werk Tiessens. Auch Mozart und Schubert erklingen hier in einer Intensität, wie man sie selten zu hören bekommt. Mozarts a-Moll-Sonate entwickelt eine dämonische Energie sondergleichen, die alle Überlegungen, ob ein solches Spiel auch „historisch korrekt“ sei, gegenstandslos macht. Levin wirft die Frage, ob man sich in solch hemmende Gedanken begeben sollte oder nicht, gar nicht erst auf, sondern widmet sich hingebungsvoll der Darstellung der scharfen Kontraste, die das Stück durchziehen. Nicht weniger imponiert die tiefe Ruhe, aus der heraus sie Schuberts große G-Dur-Sonate sich entfalten lässt, um dann in der Durchführung des ersten Satzes ein zerklüftetes Hochgebirge aus Klängen zu errichten. Die abgründigen, tieftraurigen Seiten dieser Musik, verdeutlicht in abrupten Wechseln der harmonischen Richtung oder des Tongeschlechts, bringt sie trefflich zur Geltung, aber auch Schuberts musikantisches Element kommt nicht zu kurz. Im Finale der Sonate hört man gelegentlich die Gitarre durch, andere Abschnitte dieses Satzes klingen durch fein gegeneinander abgesetzte Außen- und Mittelstimmen wie Kammermusik.

Levins Tempi mögen verhältnismäßig langsam sein, aber es handelt sich nicht um Langsamkeit um der Langsamkeit willen, sondern um kluge Disposition: Die Pianistin will nach Möglichkeit alle klingenden Phänomene zur Geltung bringen und lässt sich folglich etwas mehr Zeit. Man merkt: Jeder einzelne Moment im Verlauf einer Komposition ist ihr wichtig, nichts soll unterbelichtet bleiben, alles genau so dargestellt werden, wie es seiner Funktion im Zusammenhang des Ganzen entspricht. Die Versenkung in die Feinheiten der Musik führt mitunter zu deutlich spürbaren Temposchwankungen. Aber auch diese wirken nicht willkürlich, sondern entstehen durch intensives Erleben der Harmonik während des Spiels. Levin musiziert mit einem Wagemut, der an Wilhelm Furtwängler erinnert – auch er ein Musiker, der sich vom Moment mitreißen lassen konnte und doch stets die Übersicht behielt. Wie im Falle des großen Dirigenten haben Beth Levins Beschleunigungen und Verlangsamungen immer ihre Grundlage in der musikalischen Struktur. Stets weiß die Pianistin, wohin sie will, welche Richtung die Musik nimmt. Alles folgt aufeinander in bezwingender Logik. Darum sind ihre breiten Tempi auch viel spannungsvoller als die rascheren mancher ihrer Kollegen. Zu ihrer Dynamik ist noch hinzuzufügen, dass sie laute Stellen wirklich liebt, denn diese klingen bei ihr nie grobschlächtig lärmend. Im Gegenteil wendet sie auf dieselben die gleiche Sorgfalt an wie auf die leisen, vernachlässigt auch bei höchster physischer Kraftentfaltung die Phrasierung nicht und lässt es selbst im härtesten Marcato nicht am Sinn für vokale Linearität fehlen. Gerade an solchen Stellen wird deutlich, dass wir es mit einem Musizieren von edelster Art zu tun haben.

Angesichts dieses Konzerts kann man nur hoffen, diese außergewöhnliche US-amerikanische Pianistin, eine der ganz großen Musikerinnen unserer Zeit, bald wieder einmal im deutschsprachigen Raum willkommen heißen zu können.

[Norbert Florian Schuck, März 2024]

Anmerkung (1. April 2024): Im Falle der Klavierstücke Tiessens spricht nichts dafür, dass der Komponist – wie der Herausgeber Tobias Bröker für möglich hält – das Opus zurückgezogen hätte. Tiessen hat selbst den unveröffentlichten Werken aus seiner Jugendzeit ihre Opuszahl belassen. Man kann also davon ausgehen, dass die Neubesetzung der Opuszahl 21 nicht aus freien Stücken, sondern aus einer Not heraus erfolgte: Nämlich, dass die Klavierstücke op. 21 für Tiessen unauffindbar waren und er nicht mehr damit rechnete, die im Werkverzeichnis klaffende Lücke durch den Fund des Manuskripts zu schließen. (N.F. Schuck)

Busonis Größe – ein Artikel von Heinrich Pfitzner

Der nachfolgende Artikel ist ein historisches Dokument, das hier zum ersten Mal in deutscher Sprache veröffentlicht wird. Er entstammt der US-amerikanischen Zeitschrift The Midwestern Magazine, in deren April-Ausgabe des Jahres 1911 er erschienen ist (S. 101f.). Anlass war ein Konzert Ferruccio Busonis in Des Moines, der Hauptstadt des Bundesstaates Iowa. Heinrich Pfitzner, der Autor des Artikels, war der ältere Bruder Hans Pfitzners. Er wurde 1867 in Moskau geboren, wuchs in Frankfurt am Main auf, wo er an Dr. Hoch’s Konservatorium studierte, und lebte seit 1891 in den Vereinigten Staaten, nur unterbrochen von kurzen Lehrtätigkeiten in Koblenz 1893 und am Stern’schen Konservatorium in Berlin von 1898 bis 1901. Er erwarb sich in Amerika den Ruf eines vortrefflichen Pianisten und Musikpädagogen, arbeitete teils als Professor an verschiedenen Bildungseinrichtungen, teils als selbstständiger Klavierlehrer und gründete 1907 in Des Moines ein eigenes Konservatorium. Seine Spur verliert sich 1935 in Tupelo, Mississippi. Spätestens 1940 muss er gestorben sein, da im US-Zensus dieses Jahres seine Ehefrau als verwitwet geführt wird. Heinrich Pfitzners Artikel über Busonis Größe dokumentiert nicht nur den überwältigenden Eindruck, den dieser große Musiker auf einen „Mann vom Fach“ ausgeübt hat, sondern fasst in Kürze grundlegende Bedingungen musikalischer Darbietungskunst zusammen. Er ist ein zeitloses Dokument und sei als solches nun der Leserschaft deutscher Zunge erstmals präsentiert. (D. Red.)

Alle veröffentlichten Berichte über Busoni beschreiben ihn übereinstimmend als größten Interpreten der Gegenwart, wenn nicht aller Zeiten; aber seit ich ihn am 6. März [1911] zum ersten Mal gehört habe, kann ich nicht umhin festzustellen, dass der grundlegende und krönende Faktor seiner Überlegenheit nie erwähnt worden ist. Und gerade dieser eine Punkt ist von äußerster Wichtigkeit – nicht nur, um dem Künstler gerecht zu werden, sondern auch im Interesse der Kunstwelt. Es ist ganz richtig, dass Busonis technische Fertigkeit sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht wunderbar und wohl unerreicht ist; wobei ich hinzufügen möchte, dass seine Technik sich besonders durch das erfolgreich angewandte Prinzip auszeichnet, „auf den Punkt zu kommen“, dass sie von einem „Zielbewusstseins“ durchdrungen ist, das sich in einer meisterhaften Sparsamkeit der Kräfte und in einer völligen Abwesenheit all jener schauspielerischen Manierismen äußert, denen sich so viele der besten Darsteller hingeben. Es ist auch wahr, dass diese großartige Technik gekrönt wird (denn die Tonerzeugung ist nichts anderes als das Endergebnis – die Blüte – der Technik) durch die vollkommenste Modulation des Anschlags; das bedeutet die Fähigkeit, mit gleicher Vollkommenheit jede Art von Ton zu erzeugen, sowohl in Bezug auf die Farbe als auch auf die Stärke; ganz zu schweigen von bestimmten einzigartigen Tricks des Pedalspiels, die eine gründliche Kenntnis des Klaviers als Mechanismus zeigen, aber nichts mit Talent, Genie oder sogar Technik zu tun haben. Ferner ist es auch wahr, dass Busoni sogar in Bezug auf die musikalische Phrasierung ein Altmeister ist, der, wie von vielen Kritikern erwähnt wurde, „das Klavier zum Sprechen bringen kann“ und „musikalische Beredsamkeit besitzt“ wie kein anderer; in welcher Hinsicht niemand außer ihm selbst (nach dem, was ich durch Lektüre und mündliche Überlieferung weiß) mit Liszt persönlich verglichen werden kann. Nicht zuletzt ist es wahr, dass seine bloße Persönlichkeit jeden als die eines wahren Genies beeindruckt; wozu ich noch hinzufügen darf, dass bei all seiner beherrschenden Präsenz eine herzergreifende Aufrichtigkeit und Einfachheit an ihm ist, die das Kennzeichen wahrer Größe ist; und dass diese Eigenschaften ihn wie keinen anderen befähigen, seine Zuhörer alles über die Tatsache vergessen zu lassen, dass da ein Mensch am Klavier sitzt. Alle diese Eigenschaften, in solcher Vollkommenheit und Kombination, genügen gewiss, um Busoni zu einem phänomenalen Künstler zu machen; aber sie machen ihn noch nicht zu dem wirklich unvergleichlichen Busoni, der er ist; denn er besitzt noch eine andere und viel bedeutendere Eigenschaft, die ihm seine überragende Stellung auf diesem Gebiet verschafft; und das ist: seine einzigartige Gabe der konzentrierten genialen Auffassung, verbunden mit der Kraft, diese in die Tat umzusetzen. Das bedeutet: Busoni begreift eine musikalische Komposition in ihrer Gesamtheit, als eine Einheit („platonische Idee“ wäre zur Charakterisierung gewissermaßen der geeignetste Begriff), und er behandelt sie dementsprechend; jedes Teilchen der Komposition, vom größten Bestandteil bis hinunter zum einzelnen Ton, erhält seinen passenden Platz im Rahmen des Tonbildes; keinem von ihnen wird auch nur ein Quäntchen mehr oder weniger Bedeutung zugemessen, als es vom Standpunkt der perfekten Proportion und der eigentümlichen Konzeption der gesamten Komposition aus zulässig ist. Das Ergebnis ist eine unvergleichliche Wirkung auf den Zuhörer, sie sei bewusst oder unbewusst. Am Ende der Wiedergabe erschließt sich ihm die Komposition in ihrer Gesamtheit, die ihr zugrunde liegende Idee in toto; so wie man ein Bild sehen würde, von dem ein Schleier allmählich weggezogen wurde, bis es ganz freigelegt ist; oder, um ein vielleicht beredteres Gleichnis zu gebrauchen: während der Wiedergabe steigt man unablässig einen Berghang hinauf, und am letzten Ton steht man auf dem Gipfel des Berges und überschaut – mit einem Blick zurück – aus der Vogelperspektive die gesamte Strecke, die man zurückgelegt hat. Es ist diese Fähigkeit des konzentrierten, genialen Erfassens einer Komposition als Einheit, verbunden mit der Kraft, sie zur Geltung zu bringen, was Busoni wirklich unvergleichlich macht, denn gerade diese besondere Eigenschaft (und nicht die bloße Meisterschaft in Technik, Anschlag, Schattierung und Phrasierung, von Pedaltricks ganz zu schweigen) ist sein hervorstechendes Merkmal und zugleich der höchste Wert des ausführenden Künstlers. Die Kultivierung und Ausnutzung dieser Qualität bedeutet nichts weniger als den höchsten Triumph der Kunst der Wiedergabe und eine Demonstration ihrer einzig wahren Theorie – was sie auch sein muss, denn sie steht in vollkommener Übereinstimmung mit dem Wesen der Kunst, des Genies und der genialen Schöpfung, wie diese schon von den größten Denkern der Menschheit beschrieben worden sind: Platon, Kant und Schopenhauer.

[Heinrich Pfitzner, April 1911]

Klaviersuche in Sibirien  

Gebunden: Zsolnay (Hanser Literaturverlage); ISBN 978-3-532-07205-3

Taschenbuch: Piper; EAN 978-3-492-31287-5

Sibirien wird meistens mit klirrender Kälte, mit einem Verbannungsort für politische Gegner, mit Gulag-Zwangsarbeit und vielleicht noch – im positiven Sinne – mit der das Land durchquerenden transsibirischen Eisenbahn assoziiert, sicher aber nicht mit Klavieren. Doch genau diesen Instrumenten und ihrer Bedeutung in dem riesigen russischen Gebiet zwischen Ural und Pazifik widmet sich die britische Reiseschriftstellerin Sophy Roberts in ihrem Debütbuch Sibiriens vergessene Klaviere.

Die Idee dazu kam ihr nach einer Begegnung mit der Pianistin Odgerel Sampilnorov: Die Mongolin, vom Baikalsee stammend und im italienischen Perugia ausgebildet, benötigte ein geeignetes Instrument, um in ihrer Heimat musizieren zu können. Für Sophy Roberts war es ein Anliegen, die Künstlerin bei der Beschaffung zu unterstützen und gleichzeitig der Beginn ihrer Mission, Klaviere – von deren Existenz sie oft durch Hörensagen erfuhr – aufzuspüren und alles Wissenswerte zu Herkunft, Hintergrund und den Besitzern zu erforschen: quasi ein kulturhistorischer, epochenübergreifender Streifzug im Kontext der russischen Geschichte, verquickt mit Stadtbeschreibungen und Naturschilderungen.

Dafür reiste sie quer durch das Land: keine Hürde war ihr zu schwer, keine Gegend zu entlegen.

Faktenreich erzählt sie, wie das Klavierspiel durch Katharina die Große am Zarenhofe eingeführt wurde, wie der Ire John Field um 1800 in den Salons der oberen Gesellschaft einen wahren Kult damit entfachte, den Franz Liszt bei seiner Tournee durch die Nation noch übertraf – und der auch in das dünnbesiedelte Sibirien durch die zunehmende „Kolonisierung“ überschwappte.

So ließ ein russischer Admiral 1817 als Dank dafür, dass sich der Gouverneur von Kamtschatka, Pjotr Rikord, erfolgreich für seine Freilassung aus japanischer Gefangenschaft eingesetzt hatte, dessen Frau ein Klavier als Geschenk übergeben. Der Transport aus St. Petersburg dauerte gut acht Monate. Als in Sibirien Strafkolonien eingerichtet wurden, brachten auch die Verbannten Musikkultur im europäischen Stil mit, die Klavierkunst eingeschlossen. 1826 folgte Maria Wolkonski, Ehefrau eines prominenten Dekabristen, ihrem Mann ins Exil nach Irkutsk und brachte auf einem Schlitten ihr Clavichord mit. Sie engagierte sich sozial, ließ einen Konzertsaal errichten und etablierte Musikunterricht in Schulen. Bekanntermaßen weniger glücklich endete das Schicksal der Zarenfamilie, die 1917 nach der Oktoberrevolution erst ins Exil nach Tobolsk, dann nach Jekaterinburg geschickt wurde. Privilegien hatte sie keine mehr, doch stand ihr bis kurz vor ihrer Hinrichtung ein Flügel zur Verfügung. In den Bereich der Legende dürfte allerdings die skurrile Geschichte über den Leichnam des Günstlings Rasputin fallen. Der soll nach seiner Exhumierung durch Bolschewisten in einem alten Klavier transportiert worden sein, um in einem Wald verbrannt zu werden.

Von der Vergangenheit in die Gegenwart: die Suche nach Instrumenten geht für Sophy Roberts einher mit dem Interesse für die Menschen dahinter, deren Lebensumstände sie in persönlichen Begegnungen kennenlernt. Eine wichtige Quelle an Informationen ist der Klavierlehrer Waleri Krawtschenko von der Halbinsel Kamtschatka. Er organisiert Konzerte fernab der Städte in wilder Landschaft und sagt: „Musik, Natur – für deren Wirkung gibt es keine Grenzen“. Im Altai-Gebirge trifft die Autorin den ehemaligen Aero-Flot-Navigator Leonid Kaloschin, der 41 gesammelte Klaviere in abgeschiedene Bergdörfer zur musischen Bildung der Kinder lieferte. Im südostsibirischen Chabarowsk lernt sie Nina Alexandrowna kennen, die durch Wissensdrang und die Liebe zum Klavierspiel Glück in ihrem entbehrungsreichen Leben fand. Dass das Piano, das ihr eine Tante schenkte, quer durchs Land per Bahn befördert wurde und dann nicht durch die Tür ihrer Wohnung passte, ist eine von vielen Anekdoten, die das Buch so lebendig machen.

Am seinem Ende schließt sich der Kreis. Durch die Vermittlung von Sophy Roberts und eines befreundeten Dokumentarfilmers erhält Odgerel Sampilnorov einen Grotrian-Steinweg. Er ist eine Gabe der Klavierstimmer-Familie Lomatschenko aus Nowosibirsk. Ihre Ausführungen zu den Charakteristika, zu Klang und Bauweise von Exemplaren solch bedeutender Firmen, wie Bechstein oder Ibach, sind ein weiterer Baustein in dieser vielschichtigen, mit Empathie und Herzblut geschriebenen musikalischen Sibirien-Annäherung. Die Lektüre ist gerade in diesen Zeiten so bereichernd wie anregend und deshalb unbedingt zu empfehlen.

[Karin Coper, August 2022]

Ein überlauter Schrei der Begeisterung

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Eine vollkommen neue Methode versprach Otto Viktor Maeckel 1938 mit seinem Buch „Das organische Klavierspiel“, welche er nach jahrelanger Unterrichtserfahrung hier niederschrieb. Zu einer Überarbeitung kam es nie, da Maeckel bereits im Jahr darauf verstarb und somit nicht auf Kritik oder eventuell selbst festgestellte Defizite eingehen konnte. Der STACCATO-Verlag gibt nun den Reprint des Werkes des mittlerweile in Vergessenheit geratenen Pädagogen heraus, versehen mit einem Vorwort und kritischen Anmerkungen des Klavierprofessors Gregor Weichert.

Sein ganzes Leben verbrachte O. V. Maeckel mit der Suche nach der „perfekten“ Methode der Klaviertechnik, wie sie laut dem Autor alle großen Pianisten – allen voran Franz Liszt – von Natur aus anwenden, aber nicht in der Lage sind, diese zu beschreiben und somit zu lehren. Ziel soll sein, mit möglichst wenig Kraftaufwand und unter völligem Verzicht auf unnötige Energievergeudung das Klavierspiel zu verbessern und die Technik vollkommen werden zu lassen. Dazu soll der kürzeste, schnellste und natürlich auch einfachste Weg gewählt werden. In der festen Ansicht, schließlich erfolgreich die perfekte Technik entschlüsselt zu haben, bot Otto Viktor Maeckel vierwöchige Kurse an, in denen er seinen Schülern die Grundlagen der Methode in intensivem Training darlegte. Nach diesen vier Wochen sollten die wichtigen Aspekte verinnerlicht sein und die Schüler sie von selbst ausbauen und vertiefen können. 1938 schließlich, nach etlichen Jahren der Unterweisung in seiner Methode, ließ er sich darauf ein, diese auch schriftlich zu fixieren.

O. V. Maeckel gliedert seine Schule in acht Kapitel: Alle Möglichkeiten des einstimmigen Spieles auf dem Klavier; der gleichzeitige Anschlag mehrerer Tasten auf dem Klavier; Triller, Tremolo und Sprünge; die Anwendung der Pedale; die geteilte Hand; das polyphone Spiel; der Unternormalton; das virtuose Klavierspiel.

Der eigentliche Kern der Methode liegt allerdings bereits vollständig im ersten Kapitel vor, der Rest lässt sich vollständig von selbst aus dem einstimmigen Spiel erschließen (vor allem, da es immer wieder mit den selben Anschlagsarten erklärt und weitergeführt wird) oder ist nicht sonderlich neuartig, ja nicht einmal relevant oder wissenswert. Im entscheidenden ersten Kapitel erläutert Maeckel nach einigen Freiübungen ohne Klavier drei Anschlagsarten, die die zentrale Aussage der Methode sind: der „Normalton“, ein ausschließlich durch die natürliche Schwere der von der Gravitationskraft nach unten gezogenen Hand erzeugter Ton; die „schnelle Fingerbewegung“ aus dem Knöchelgelenk; und der „singende Ton“, welcher durch eine Beschleunigung des Fingers während des Anschlags den Dämpfer früher als gewohnt heben lässt und somit die Obertöne früher mitklingen lässt, was wiederum für einen klangschöneren und sanglicheren Ton sorgen soll.

Als zentrale Grundlage für diese Methode sieht der Autor vor allem, wie etliche Male betont, den „federleichten Arm“ an, womit er sich deutlich vom Gewichtsspiel distanziert. Statt sich zu verkrampfen und Kraft anzuwenden, soll nur die genannte „schwere Hand“ eingesetzt werden, so dass der Ruhepunkt der Fingerspitze eigentlich der unterste Punkt der Taste ist; Die Kraftaufwendung betrifft lediglich das Obenhalten der Hand über den Tasten, von wo aus beim Anschlag die Natürlichkeit der Gravitation den Finger sinken lässt. All dies erklärt Maeckel möglichst wissenschaftlich begründet und immer wieder auf die Physik verweisend, stets auf einen sicheren Beweis aus. Auch wenn einige seiner Wissenschaftsbezüge recht vage erscheinen und auch nicht immer richtig sind, ist doch ein Großteil recht sinnvoll und lässt die Methode gut mitvollziehbar erscheinen. Alles in allem ist der Aufbau recht stringent, wodurch das jeweilige Kernthema aus dem Vorherigen erklärbar und logisch ist.

Der Grund dafür, warum die an sich wahrhaft lesenswerte und spannende Methode sich bis heute niemals durchsetzen konnte, ist die Hybris O. V. Maeckels, die ihn immer und immer wieder aufs Neue dazu bringt, zu betonen, wie toll und neuartig seine Methode ist und dass alle anderen Methoden doch komplett unnatürlich und falsch seien. Zu lange wird belegt, warum die eigene Schule so fantastisch ist, und dass auch Liszt allen Augenzeugenberichten nach eigentlich nur diese wiedergefundene Methode angewandt haben kann. Weichert schreibt darauf allerdings versöhnend eingehend in seinem Beschluss über das Buch sehr trefflich, man müsse damit Nachsehen haben, denn Maeckel geriet nach 32 Jahren der Suche sein „Heureka“ eben ein wenig überlaut.

Die Methode an sich zu bewerten, fällt – wie wohl verständlich sein dürfte – schwer. Natürlich war es mir nicht möglich, in der Zeit seit Erhalt des Buchs die gesamte Methodik selbst zu erproben, auch wenn ich mich recht zeitintensiv an den drei Hauptanschlagsarten versucht habe. Diejenigen Quellen, die sich intensiv mit „Das organische Klavierspiel“ auseinandergesetzt haben, also sowohl seine Schüler (nach eigenen Aussagen Maeckels) als auch 1938 sein Verleger Franz Hanemann und der Neuherausgeber Gregor Weichert, sind allesamt überzeugt davon. Und auch ich würde mich nach meinen bisherigen Studien davon keineswegs distanzieren. Zwar sollte der Pianist diese Methode nicht als alleingeltendes Heiligtum ansehen und jede nicht in dem Buch beschriebene Technik a priori verteufeln, aber gerade die Grundlagen sind nicht zu widerlegen, und die drei Hauptanschlagsarten sind das bewusste Erlernen und Anwenden wert. Besonders überzeugen kann die Annahme, dass die heruntergedrückte Taste der Ruhepunkt ist und das Niederschlagen selbst nicht der Moment des Kraftaufwands ist. Bei Beachtung dessen erhält der Musiker automatisch ein deutlicheres Gespür dafür, wie viel Energie überhaupt anzuwenden sei, und verbraucht diese nicht unnötig, was sowohl dem Spiel an sich als auch dem Körper und Geist des Spielers nur zu Gute kommen kann. In wie weit auch der „singende Ton“ perfektionierbar ist, lässt sich schwer sagen, doch ist die Technik tatsächlich gut anwendbar, um entsprechenden Passagen einen runden und vollen Ton zu verleihen.

Sowohl Vorwort als auch Bemerkungen zu „Das organische Klavierspiel“ von Gregor Weichert sind kurz, prägnant und wohlüberlegt geschrieben. Sofort wird Weigerts intensive Beschäftigung mit vorliegendem Werk bemerkbar, und seine kritische Auseinandersetzung damit. Er nickt nicht alles einfach ab, sondern gibt an entsprechenden Stellen nützliche Kommentare hinzu und ist sich auch im Beschluss ganz genau im Klaren, welche Aspekte besonders nützlich und welche eher vernachlässigbar sind.

Weder die Kurse O. V. Maeckels noch sein 1938 erschienenes Buch schafften es, seiner Methode bleibende Bekanntheit zu verschaffen – vielleicht gelingt es nun mit dieser Reprint-Ausgabe. Wert wäre, zumindest einmal davon bewusst Kenntnis genommen zu haben und sich die wesentlichen Aspekte nicht nur durch den Kopf gehen zu lassen.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2015]