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Klaviersuche in Sibirien  

Gebunden: Zsolnay (Hanser Literaturverlage); ISBN 978-3-532-07205-3

Taschenbuch: Piper; EAN 978-3-492-31287-5

Sibirien wird meistens mit klirrender Kälte, mit einem Verbannungsort für politische Gegner, mit Gulag-Zwangsarbeit und vielleicht noch – im positiven Sinne – mit der das Land durchquerenden transsibirischen Eisenbahn assoziiert, sicher aber nicht mit Klavieren. Doch genau diesen Instrumenten und ihrer Bedeutung in dem riesigen russischen Gebiet zwischen Ural und Pazifik widmet sich die britische Reiseschriftstellerin Sophy Roberts in ihrem Debütbuch Sibiriens vergessene Klaviere.

Die Idee dazu kam ihr nach einer Begegnung mit der Pianistin Odgerel Sampilnorov: Die Mongolin, vom Baikalsee stammend und im italienischen Perugia ausgebildet, benötigte ein geeignetes Instrument, um in ihrer Heimat musizieren zu können. Für Sophy Roberts war es ein Anliegen, die Künstlerin bei der Beschaffung zu unterstützen und gleichzeitig der Beginn ihrer Mission, Klaviere – von deren Existenz sie oft durch Hörensagen erfuhr – aufzuspüren und alles Wissenswerte zu Herkunft, Hintergrund und den Besitzern zu erforschen: quasi ein kulturhistorischer, epochenübergreifender Streifzug im Kontext der russischen Geschichte, verquickt mit Stadtbeschreibungen und Naturschilderungen.

Dafür reiste sie quer durch das Land: keine Hürde war ihr zu schwer, keine Gegend zu entlegen.

Faktenreich erzählt sie, wie das Klavierspiel durch Katharina die Große am Zarenhofe eingeführt wurde, wie der Ire John Field um 1800 in den Salons der oberen Gesellschaft einen wahren Kult damit entfachte, den Franz Liszt bei seiner Tournee durch die Nation noch übertraf – und der auch in das dünnbesiedelte Sibirien durch die zunehmende „Kolonisierung“ überschwappte.

So ließ ein russischer Admiral 1817 als Dank dafür, dass sich der Gouverneur von Kamtschatka, Pjotr Rikord, erfolgreich für seine Freilassung aus japanischer Gefangenschaft eingesetzt hatte, dessen Frau ein Klavier als Geschenk übergeben. Der Transport aus St. Petersburg dauerte gut acht Monate. Als in Sibirien Strafkolonien eingerichtet wurden, brachten auch die Verbannten Musikkultur im europäischen Stil mit, die Klavierkunst eingeschlossen. 1826 folgte Maria Wolkonski, Ehefrau eines prominenten Dekabristen, ihrem Mann ins Exil nach Irkutsk und brachte auf einem Schlitten ihr Clavichord mit. Sie engagierte sich sozial, ließ einen Konzertsaal errichten und etablierte Musikunterricht in Schulen. Bekanntermaßen weniger glücklich endete das Schicksal der Zarenfamilie, die 1917 nach der Oktoberrevolution erst ins Exil nach Tobolsk, dann nach Jekaterinburg geschickt wurde. Privilegien hatte sie keine mehr, doch stand ihr bis kurz vor ihrer Hinrichtung ein Flügel zur Verfügung. In den Bereich der Legende dürfte allerdings die skurrile Geschichte über den Leichnam des Günstlings Rasputin fallen. Der soll nach seiner Exhumierung durch Bolschewisten in einem alten Klavier transportiert worden sein, um in einem Wald verbrannt zu werden.

Von der Vergangenheit in die Gegenwart: die Suche nach Instrumenten geht für Sophy Roberts einher mit dem Interesse für die Menschen dahinter, deren Lebensumstände sie in persönlichen Begegnungen kennenlernt. Eine wichtige Quelle an Informationen ist der Klavierlehrer Waleri Krawtschenko von der Halbinsel Kamtschatka. Er organisiert Konzerte fernab der Städte in wilder Landschaft und sagt: „Musik, Natur – für deren Wirkung gibt es keine Grenzen“. Im Altai-Gebirge trifft die Autorin den ehemaligen Aero-Flot-Navigator Leonid Kaloschin, der 41 gesammelte Klaviere in abgeschiedene Bergdörfer zur musischen Bildung der Kinder lieferte. Im südostsibirischen Chabarowsk lernt sie Nina Alexandrowna kennen, die durch Wissensdrang und die Liebe zum Klavierspiel Glück in ihrem entbehrungsreichen Leben fand. Dass das Piano, das ihr eine Tante schenkte, quer durchs Land per Bahn befördert wurde und dann nicht durch die Tür ihrer Wohnung passte, ist eine von vielen Anekdoten, die das Buch so lebendig machen.

Am seinem Ende schließt sich der Kreis. Durch die Vermittlung von Sophy Roberts und eines befreundeten Dokumentarfilmers erhält Odgerel Sampilnorov einen Grotrian-Steinweg. Er ist eine Gabe der Klavierstimmer-Familie Lomatschenko aus Nowosibirsk. Ihre Ausführungen zu den Charakteristika, zu Klang und Bauweise von Exemplaren solch bedeutender Firmen, wie Bechstein oder Ibach, sind ein weiterer Baustein in dieser vielschichtigen, mit Empathie und Herzblut geschriebenen musikalischen Sibirien-Annäherung. Die Lektüre ist gerade in diesen Zeiten so bereichernd wie anregend und deshalb unbedingt zu empfehlen.

[Karin Coper, August 2022]