Das letzte Konzert der musica viva Saison 24/25 am 23. Mai brachte Claude Viviers spätes Ensemblestück „Et je reverrai cette ville étrange“, Helmut Lachenmanns „Klangschatten – mein Saitenspiel“ und Rebecca Saunders‘ Klavierkonzert„To An Utterance“ mit einem überragenden Nicolas Hodges. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks leitete Matthias Hermann.
Nicht ganz so gut besucht wie die Veranstaltungen zuvor, hatte das letzte Konzert der musica viva Saison 24/25 im Herkulessaal doch ein paar Schmankerl parat, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Zweifellos war der gebürtige Kanadier Claude Vivier (1948–83) ein höchst unkonventioneller Künstler, der – zeitweise Schüler von Karlheinz Stockhausen – avantgardistische Moden oder Darmstädter Prämissen mutig über den Haufen warf und bald einem ganz eigenen Stil vertraute, der seinem Primat der Melodie in aufregender Weise Raum gab und damit auch seinen Hörern oft zu mystischer Versenkung verhalf.
Als Dirigenten hat man den Lachenmann-Schüler Matthias Hermann eingeladen, der vor zwei Jahren bei der Neufassung von My Melodies für den bereits erkrankten Peter Eötvös eingesprungen war (siehe unsere Kritik). Für Viviers Et je reverrai cette ville étrange von 1982 muss er kunstvoll verschnörkelte Monodien, die von sieben Solisten des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks meist quasi im Unisono – im ersten und da capo im letzten der sechs Abschnitte mal in Terzen – vorgetragen und von fernöstlichem Schlagwerk fast rituell untermalt werden, klanglich fein abstimmen. Dies gelingt z. B. bei einigen sehr hübschen Mixturen äußerst ansprechend, aber etliche Stellen könnten präziser zusammen sein.
Man könnte Hermann auch mangelnde Präzision bei den zunächst zeitlich recht vereinzelten, harten Knalleffekten, vor allem Bartók-Pizzicati, in Helmut Lachenmanns (*1935) Klangschatten – mein Saitenspiel (1972) vorwerfen – zumindest da, wo sie tatsächlich punktgenau zusammen sein sollten. Zum Glück werden diese für die 48 solistisch agierenden Streicher schnell vom Komponisten mit zunehmenden Unschärfen versehen, bis in der Mitte des Stücks alles flächiger wird, was sofort eine ungeahnte Sogwirkung erzeugt und erstaunlich farbig und fantastisch klingt. Die drei Klaviere wirken hier entgegen ihrer Natur meist wie klangverlängernde Echokammern, aber keinesfalls solistisch – trotzdem großes Lob für Yukiko Sugawara, Tomoko Hemmi und Alexander Waite, die sich wie die enorm konzentrierten Streicher des BRSO natürlich mit allen erdenklichen, ungewöhnlichen Spieltechniken auseinandersetzen müssen. Faszinierend etwa, wie gegen Schluss einige der Cellistinnen ein instabiles Bassfundament auf dem mit Bogen gestrichenen Saitenhalter erzeugen. Hermanns Timing und sein Überblick über die gesamte Vielfalt der Geräuschentwicklung kann jedenfalls überzeugen. Zu Recht erfährt das Stück, das heutzutage natürlich niemanden mehr zu provozieren vermag, allgemeine Zustimmung.
Für ihr Klavierkonzert To An Utterance (2020) mit nicht nur im Schlagzeug riesiger Orchesterbesetzung musste sich die britische Komponistin Rebecca Saunders – Ernst von Siemens Musikpreisträgerin 2019 – schon etwas Besonderes ausdenken, um dem Solisten ein klangliches Gegengewicht zu ermöglichen. Jede Menge Cluster, vor allem jedoch allgegenwärtige Glissandi, oft über die gesamte Tastatur und in teils derart atemberaubender Geschwindigkeit und Dynamik, dass man fast glaubt, einem Player Piano von Conlon Nancarrow zuzuhören. Was hier die Hände von Nicolas Hodges – durch fingerfreie Handschuhe vor Abschürfungen geschützt – leisten, geht weit über das hinaus, was etwa Stockhausen in seinem berüchtigten Klavierstück X fordert, gerade auch an emotionaler Energie. Die geht hier tatsächlich meist vom Klavier aus; das grandios instrumentierte Orchester der lange auf kammermusikalische Besetzungen spezialisierten Komponistin – immer spannungsvoll, dabei wie der drohende Abgrund für den hyperaktiven Pianisten – nimmt dessen Anregungen auf und transformiert dessen häufig als Haltepunkt genutzten Resonanzraum zu wilden und schönen Klängen: z. B. enorm differenzierten Streicherflageoletts, die dann noch mit Akkordeon in höchster Lage bekrönt werden. Das an sich sehr gelungene Werk zerfasert formal allerdings durch zu schnelle Wechsel zwischen ungezähmter Brutalität und deutlich gemäßigterem Material – gibt es da eine Anspielung auf Tristan? – und bringt dramaturgisch daher nicht nur den Pianisten im Sinne der weniger geläufigen Bedeutung des Titels bis „zum bitteren Ende“. Hodges ist mit seiner phänomenalen Technik und unermüdlichen Präsenz einmal mehr ein Erlebnis im Herkulessaal, und Orchester und Dirigent fühlen sich in Saunders‘ kalkulierter Klangorgie sichtlich wohl: tosender Applaus.
Der 150. Geburtstag Franz Schmidts, der im vergangenen Jahr begangen wurde, bot den Anlass zu einer Anzahl höchst erfreulicher CD-Veröffentlichungen. Neben der bereits Ende 2023 erschienenen Gesamteinspielung der Symphonien durch das BBC National Orchestra of Wales unter Jonathan Berman (siehe dazu auch unser Interview mit dem Dirigenten) und der erstmals auf CD herausgekommenen Aufnahme der Oper Fredigundis sind hier besonders die Leistungen zweier Musiker hervorzuheben, die sich auf den Tasten von Klavier und Orgel für Franz Schmidt eingesetzt haben: Andreas Jetter, der die zwei ersten Folgen seiner Gesamtaufnahme der Schmidtschen Orgelwerke vorlegte, und Karl-Andreas Kolly, der dem Komponisten ein Klavieralbum widmete.
Andreas Jetter: Königsfanfaren und Silberglanz
Vol. 1 Königsfanfaren
Ambiente Audio, ACD-2047; EAN: 4029897020478
Vol. 2 Silberglanz
Ambiente Audio, ACD-2049; EAN: 4029897020492
Als Orgelkomponist ist Schmidt wiederholt missverstanden worden, da man ihn aufgrund seiner Kritik an bestimmten Tendenzen des damaligen Orgelbaus – er lehnte beispielsweise eine „Überladung“ mit Registern ebenso ab wie Jalousieschweller zur Erzeugung stufenloser Crescendi und berief sich auf Silbermann als Ideal – für einen Parteigänger der „Orgelbewegung“ hielt. So hat es Organisten gegeben, die seinen Werken ein dünnes, hartes Klangbild verliehen und beim Vortrag betont zackig artikulierten – sprich: die Musik „antiromantisch“ auffassten. Nun steckt in Schmidt tatsächlich mehr von einem „barocken“ Komponisten als in vielen seiner Zeitgenossen. Äußerlich schlägt sich das bereits an seiner Vorliebe für Fugen nieder, zu welchen sich innerhalb der Orgelwerke verschiedene weitere Formen barocken Ursprungs – Chaconne, Toccata, Choralvorspiel – hinzugesellen. Auch lässt sich bei ihm eine starke emotionale Ausgeglichenheit feststellen, die namentlich in seiner vorletzten Schaffensphase Ende der 1920er Jahre zu einer Musik führt, von der man mit Conrad Ferdinand Meyer sagen kann: Sie „strömt und ruht“. Diese geistige Verwandtschaft mit der vorromantischen Musik – die er mit Zeitgenossen wie Felix Draeseke, Felix Woyrsch und Gerhard Strecke teilt – sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Schmidts Klangvorstellungen sich deutlich von den asketischen Idealen neobarocker Antiromantiker abhoben. Er selbst, der viele Jahre als Cellist bei den Wiener Philharmonikern mitspielte, sagte einmal, dass er in seinem Inneren stets symphonische Musik höre. Und das Instrument, auf dem die meisten seiner Orgelwerke mit ausdrücklicher Billigung des Komponisten uraufgeführt wurden, war die Rieger-Orgel des Musikvereinssaals in Wien. Es liegt also keinesfalls fern, Schmidts Orgelmusik auf Instrumenten wiederzugeben, die eine orchestral anmutende Klangfülle verbreiten. Freilich darf die Orgel kein „brüllendes Ungeheuer“ (Schmidt) sein, sollte auf die speziellen Forderungen, die Schmidt an seine Spieler stellt – er hat sie in verschiedenen Texten dargelegt – , Rücksicht genommen werden.
Andreas Jetter hat für seine Einspielungen der Orgelwerke Schmidts mit der 1927/28 errichteten Behmann-Orgel der Kirche St. Martin in Dornbirn ein Instrument gewählt, dass man zur Wiedergabe dieser Musik als geradezu ideal bezeichnen kann. Es handelt sich um eine romantisch-symphonische Orgel, deren Disposition allerdings deutliche Einflüsse der Elsässer Orgelreform zeigt, mit welcher Schmidts Ansichten im Bezug auf den Orgelbau im Wesentlichen übereinstimmten. Sie gestattet einen opulenten, warmen, vielfältig abgestuften Klang durch trennscharf voneinander abgehobene Register, was der Darstellung der Schmidtschen Polyphonie mit ihrer mitunter komplizierten Chromatik sehr zugute kommt.
Mit seiner Gesamtaufnahme der Orgelkompositionen Schmidts, die bei Ambiente Audio erscheint, ist Jetter jetzt bei der Hälfte angekommen. Die beiden vorliegenden Alben Königsfanfaren und Silberglanz geben jeweils eine gute Vorstellung von der Vielseitigkeit des Komponisten. Königsfanfaren kombiniert die beiden großen Variationswerke, die Variationen und Fuge über ein eigenes Thema D-Dur (über die Königsfanfaren aus der Oper Fredigundis) und die Chaconne cis-Moll, mit den kürzesten Orgelstücken Schmidts, den Vier kleinen Choralvorspielen. Silberglanz (der Titel spielt auf die Orgel des Franziskanerklosters in Preßburg/Bratislava an, die Schmidts Klangideal nachhaltig beeinflusste) vereint die in Ausmaß und Charakter sehr unterschiedlichen Präludien und Fugen in Es-Dur und A-Dur mit der Toccata C-Dur und dem großen Choralvorspiel über Der Heiland ist erstanden.
Einige dieser Werke stellen bereits durch ihre gewaltige Ausdehnung immense Ansprüche an die Organisten. So sind Präludium und Fuge Es-Dur mit 36 Minuten Aufführungsdauer etwa anderthalbmal so lang wie die längsten entsprechenden Werke Max Regers und knapp dreimal so lang wie diejenigen Johann Sebastian Bachs. Davon entfallen 20 Minuten auf die Fuge allein. Das Präludium ist ein symphonisches Allegro, vergleichbar dem Kopfsatz von Schmidts Zweiter Symphonie. Die halbstündige Chaconne gliedert sich in vier große Abschnitte, die jeweils in einer Kirchentonart stehen (äolisch, lydisch, dorisch und ionisch), stellt also eine Art Orgelsymphonie in Variationenform dar. Der Choral Der Heiland ist erstanden wird im entsprechenden Choralvorspiel nicht nur einmal präsentiert, sondern erscheint in dorischem Modus, in „normalem“ Moll, schließlich in Dur, dabei auf verschiedene Weise kontrapunktisch bearbeitet: in asketischer Zweistimmigkeit, als Versettenfuge, in dialogischem Satz zwischen Oberstimme und Pedal, imitatorisch im Pedal unter rauschenden Figurationen der Manuale…
Gerade in diesen groß dimensionierten Kompositionen zeigt sich Jetters Meisterschaft im Umgang mit Schmidts Musik. Seine Aufführungen entwickelt er aus den Gegebenheiten des Raumes. Er musiziert mit der Akustik der Kirche, nicht gegen sie, und erzeugt durch kluge Nutzung des Nachhalls spannungsvolle, „sprechende“ Generalpausen, welche sich besonders in der zerklüfteten Struktur des Es-Dur-Präludiums bewähren. Mit den Besonderheiten der Harmonik Schmidts, die oft das Ergebnis des Gegeneinanders chromatischer Linien ist, ist er wohlvertraut, sodass er die großen Spannungsbögen der Musik optimal nachvollziehen und gestalten kann. Hervorheben möchte ich namentlich die introvertierten Abschnitte, wenn sich die Musik immer mehr in die Stille zurückzuziehen scheint. Jetter nimmt seine Hörer bis in die verborgensten Winkel des Schmidtschen Kosmos mit, behält aber bei allem Sinn für die schönen Einzelheiten stets die Übersicht über das Ganze und zeigt, wie kurzweilig und vielschichtig diese monumental ausladenden Werke sind.
Jetters Kunst, den gewaltigen Gebläseapparat einer Orgel durch geschmeidige Artikulation wirklich zum Singen bringen, ist natürlich dort besonders am Platze, wo ausdrücklich ein vokaler Tonfall erwartet wird, nämlich in den Choralvorspielen, aber auch dem weihnachtlich getönten A-Dur-Präludium mit seiner pastoral wiegenden Melodik. Die C-Dur-Toccata ist unter seinen Händen weniger ein flottes Virtuosenstück als viel mehr ein in kraftvollen Wogen dahinfließender, silbrig glänzender Klangstrom.
Karl-Andreas Kolly: Franz Schmidt. The Piano Album
Capriccio, C5526; EAN: 845221055268
Mehr als drei Viertel der Spielzeit von Karl-Andreas Kollys bei Capriccio erschienener CD Franz Schmidt. The Piano Album entfallen auf Werke, die auch auf Jetters Königsfanfaren zu hören sind. Der Grund liegt schlicht und einfach darin, dass Franz Schmidt, obwohl als einer der großen Pianisten seiner Zeit anerkannt, nur sehr wenige Originalkompositionen für Klavier hinterlassen hat. Für ihn, der von der Orgel fasziniert war und innerlich immer ein Orchester hörte, besaß der sich rasch verflüchtigende Klavierklang wenig Reiz. Dass Schmidt überhaupt für das Instrument komponierte (und das auf dem von ihm gewohnten hohen Niveau!), lag vor allem an seiner Bekanntschaft mit Pianisten Paul Wittgenstein, der wiederholt Werke bei ihm bestellte: zwei konzertante Kompositionen mit Orchester, drei Kammermusikwerke in Quintettbesetzung und schließlich, kurz vor Schmidts Tod, eine Solo-Toccata, die wie ein Gruß über die Jahrhunderte hinweg an Altmeister Sweelinck klingt. Da Wittgenstein durch eine Verwundung im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte, sind alle diese Werke Schmidts der linken Hand allein zugedacht. Die einzige originale Komposition, die Schmidt für Klavier zu zwei Händen schrieb, ist eine vierminütige Romanze, die als privates Geschenk für seinen Trauzeugen zu Lebzeiten unveröffentlicht blieb: ein kleines Juwel, das Schmidts harmonische Kunstfertigkeit auf wenigen Takten zusammenfasst und in den Glockenklängen des Mittelteils den französischen Impressionisten auffallend nahekommt. Aufgrund dieser in quantitativer Hinsicht mageren Ausbeute, entschied sich Karl-Andreas Kolly, der bereits Schmidts Klavierkonzerte eingespielt hat, drei Orgelwerke des Komponisten für Klavier zu bearbeiten, um ihm zum 150. Geburtstag ein Solo-Album widmen zu können. So wird der Großteil der CD von den Transkriptionen der Chaconne, der Fredigundis-Variationen und des Choralvorspiels über O, wie selig seid ihr doch, ihr Frommen eingenommen.
Ich frage mich, was Schmidt wohl dazu gesagt hätte, hätte er Kollys Darbietungen seiner Orgelmusik auf dem Klavier hören können. Meines Erachtens hat der Pianist die selbstgestellte Aufgabe glänzend gelöst und es geschafft, die Werke den Bedingungen des Klaviers optimal anzupassen. Namentlich die Chaconne klingt, als wäre sie nie für ein anderes Instrument geschrieben gewesen. Die fehlende Möglichkeit der Registrierung kompensiert Kolly mit sehr abwechslungsreicher Artikulation und feiner Abstufung der Dynamik. Das rasche Entschwinden des Klavierklangs lässt ihn deutlich schnellere Tempi wählen als Andreas Jetter: Mit der Chaconne ist er in gut 23 Minuten, mit den Variationen über die Königsfanfaren in knapp 20 Minuten fertig. Auf der Orgel der Dornbirner Kirche wären das überhetzte Zeitmaße, für die Darbietung auf dem Klavier sind sie jedoch genau richtig, um den feierlichen, würdevollen Grundcharakter der Kompositionen hervortreten zu lassen. In der Nachzeichnung der melodischen Linien, der sorgfältigen Phrasierung und dem Streben, dem Tasteninstrument größtmögliche Kantabilität zu verleihen, überzeugt Kolly nicht minder als Jetter, sodass es ein Vergnügen ist, die betreffenden Werke in den Aufnahmen beider Musiker vergleichend anzuhören.
Zwei wahre Meister sind hier für Franz Schmidt auf den Tasten tätig gewesen, deren Einspielungen uneingeschränkt zu empfehlen sind. Im Falle Andreas Jetters darf man auf die noch ausstehenden Folgen seiner Gesamtaufnahme gespannt sein.
Bei der Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2025 an den Chefdirigenten des BRSO, Sir Simon Rattle, wurden wie üblich auch die diesjährigen Förderpreisträger geehrt: für Komposition Ashkan Behzadi, Bastien David und Kristine Tjøgersen. Die Preise für Ensembles gingen an collective lovemusic aus Strasbourg bzw.das Tacet(i) Ensemble aus Bangkok. Drei Stücke der Nachwuchskomponisten wurden vom Riot Ensemble unter Leitung von Aaron Holloway-Nahum vorgestellt. Für Arnold Schönbergs Kammersymphonie Nr. 1 E-Dur op. 9 dirigierte Simon Rattle 15 Mitglieder des BRSO.
Auch die diesjährige Preisverleihung der Ernst von Siemens Musikstiftung fand im Münchner Herkulessaal statt, erneut moderiert von Annekatrin Hentschel vom Bayerischen Rundfunk. Offensichtlich hatte man aus der für die Anwesenden fast unerträglichen Überlänge der Veranstaltung im vorigen Jahr gelernt und kam mit perfekt durchorganisierten 130 Minuten aus, so dass die Gäste beim anschließenden Empfang nicht schon todmüde waren. Die Vorsitzende des Stiftungsrats, Tabea Zimmermann, durfte trotzdem stolz eine noch nie dagewesene Summe von gut 4 Mio. € eingesetzter Fördermittel für diverse Projekte in mittlerweile über 30 Ländern verkünden. Und sie schien ebenfalls erleichtert über die – vorerst – abgewendete geplante GEMA-Reform mit absehbar katastrophalen Folgen für den Bereich der klassischen Musik. Die kurzen Porträtfilme über die Förderpreisträger Komposition bzw. Ensemble von Johannes List konnten nach den etwas infantilen Ausrutschern nun wieder an das gewohnte Niveau von vor 2024 anknüpfen. Sie machten Lust auf die geförderten Ensembles collective lovemusic aus Straßburg bzw. Tacet(i) aus Bangkok – von Neuer Musik aus Südostasien hört man bei uns ja so gut wie nie etwas – und trugen nicht unwesentlich zum Verständnis der dann folgenden Live-Beiträge mit Musik der jungen Komponisten bei. Insgesamt hatte man sich für den Nachwuchs – falls diese Bezeichnung bei teils schon über 40-jährigen Künstlern überhaupt noch angemessen ist – mehr Zeit genommen als für den Hauptpreisträger, aber zum Glück die Rituale der Preisverleihung etwas eingedampft.
Die Stücke der Förderpreisträger Komposition wurden vom kleinen, in den Niederlanden ansässigen Riot Ensemble unter Leitung von Aaron Holloway-Nahum dargeboten: Bei Carnivalesque (iii) (2014/17) des gebürtigen Iraners Ashkan Behzadi (*1983), der später in Montreal und New York ausgebildet wurde, wo er nun lebt und selbst an der Manhattan School of Music lehrt, durften die Musiker noch weitgehend auf zumindest halbwegs vertraute Spielweisen zurückgreifen: unterschiedliche Texturen mit spannenden Kontrasten, kaleidoskopartig und dennoch verbunden, handwerklich kunstvoll ausgearbeitet. Nur warum die Musik kurz vor Schluss beinahe auf der Stelle trat, verstand man beim ersten Hören überhaupt nicht.
Die Musik des Franzosen Bastien David (*1990), der u. a. bei José Manuel López López und Gérard Pesson studierte, ist hinsichtlich der Klangerzeugung dagegen völlig kompromisslos: In Six chansons laissées sans voix (2020) werden stimmliche Lautäußerungen ganz ungewöhnlich auf Instrumente übertragen: Bogen auf Holzlamellen, – allenfalls hier erkennt man Tonhöhen – Reiben eines Luftballons mit einem feuchten Schwamm, Ziehen einer Angelschnur über eine Harfensaite etc. Dies wirkte vor allem erst einmal hübsch perkussiv, und man fühlte sich an afrikanische Musik erinnert, aber dann vermittelte sich über dieser Basis leider so gut wie nichts: Den Rezensenten langweilte diese erschreckend dünne Substanz recht bald. Vor ein paar Jahren hat David ein kreisförmiges Metallophon mit 216 im Abstand von jeweils einem Zwölftelton gestimmten Lamellen erfunden. Sowas ist eigentlich ebenfalls ein alter Hut: Man denke an das Instrumentarium eines Harry Partch und das in diesem Zusammenhang von Dean Drummond entwickelte Zoomoozophone…
Die Norwegerin Kristine Tjøgersen – zunächst Klarinettistin, erst relativ spät in Linz bei Carola Bauckholt zur Komponistin ausgebildet – vertraut ebenfalls kaum noch traditioneller Handhabung ihres fantasiereichen Instrumentariums: So wird in ihrem preisgekrönten Klavierkonzert keine einzige Taste gedrückt. Sie entdeckt ihre Klangwelten und die zur Produktion nötigen Utensilien vielmehr in der Natur, sei dies unmittelbar im Wald oder in Forschungsergebnissen von Biologen – so wie den Unterwasseraufnahmen singender Fische am Great Barrier Reef, die sie zu Seafloor Dawn Chorus (2018, rev. 2025) inspiriert haben und die sie für dieses Stück quasi transkribiert hat. Auch wenn dies keine simple Mimesis darstellt, beeindruckte Tjøgersens Musik durch Natürlichkeit, fassliche Schönheit und vermittelte durchaus etwas von der – hier sei der altmodische Begriff erlaubt – Erhabenheit der Schöpfung, die es zu bewahren gilt. Der dahinterstehende Aufruf zum politischen Handeln erinnerte den Rezensenten – nicht nur wegen des Titels – an Liza Lims „Extinction Events and Dawn Chorus“; tatsächlich entstand Tjøgersens Werk jedoch gleichzeitig und rief im Herkulessaal allgemeine Bewunderung hervor.
Den diesjährigen Hauptpreisträger Sir Simon Rattle muss man an dieser Stelle sicherlich nicht mehr vorstellen. Kaum ein Dirigent hat sich schon in ganz jungen Jahren so energisch für die Aufführung zeitgenössischer Musik eingesetzt wie er und ist mittlerweile von seinem Repertoire her derart breit aufgestellt. Und wenn man beobachtet, wie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks nach dem Tod Mariss Jansons‘ und der nachfolgenden, lähmenden Pandemie seit seinem Amtsantritt erst vor zwei Jahren wieder zu einem der am hinreißendsten musizierenden Klangkörper weltweit aufgeblüht ist, ist dies allein schon Hochachtung wert, verbunden mit der Hoffnung, dass er München als Dirigent noch möglichst lange erhalten bleiben möge. Die warmherzige Laudatio hielt der Bariton Sir Willard White, Rattles Weggefährte seit fast 45 Jahren – und mit solch wunderbarer Stimme, die als Porgy oder Wotan wohl jedermann zutiefst bewegt, geriet dessen Verneigung vor einem großen Künstler umso eindringlicher und glaubwürdiger.
Simon Rattle selbst wollte sich in seinen Dankesworten bewusst kurz halten und lieber musizieren, und so soll hier lediglich darauf hingewiesen werden, dass Sir Simon das Preisgeld für ein ins BRSO eingebettetes Ensemble mit historischen Instrumenten einsetzen möchte – man darf gespannt sein. Zum Ausklang der Veranstaltung hatte Rattle dann Arnold Schönbergs Kammersymphonie Nr. 1 E-Dur op. 9 ausgewählt, ein schon historisch geradezu ideales Vorzeigestück für 15 Instrumentalisten, und erwähnte mit Respekt, dass sein anwesender Lehrer John Carewe diese schon seit 70 Jahren draufhat. Rattle leitete das Schönberg-Stück natürlich auswendig und mit feinster handwerklicher Virtuosität. Seine Solisten aus dem BRSO folgten dem energischen und bis ins Detail stimmigen Konzept mit Freude und Engagement, und so wurde aus einem recht komplexen, etwas sperrigen Werk ein emotional vielschichtiges und begeisterndes Erlebnis, für das sich der Saal mit starkem Beifall bedankte.
Im Konzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks am 15. Mai 2025 erklangen in der Isarphilharmonie unter Leitung der exzellent vorbereiteten Simone Young drei Meilensteine der Neuen Wiener Schule: Anton Weberns „Fünf Stücke für Orchester op. 10“, Alban Bergs „Drei Orchesterstücke op. 6“ und Alexander Zemlinskys „Lyrische Symphonie“ – mit der Sopranistin Maria Bengtsson sowie dem Bariton Michael Volle.
Christopher Mann nennt in seiner Einführung mit der schon dabei gut aufgelegten australischen Dirigentin Simone Young sogleich den Namen, der über allen folgenden Darbietungen schwebt: Arnold Schönberg. Als Schüler und späterer Schwager Alexander Zemlinskys (1871–1942) gilt er ja als Begründer der Zweiten Wiener Schule; und er war wiederum Lehrer von Anton Webern (1883–1945) und Alban Berg (1885–1935). Die drei Werke des Abends entstanden innerhalb von nur 12 Jahren – zwischen 1911 und 1923 – und sind relativ selten zu hören: Weberns Fünf Stücke für Orchester op. 10 wegen ihrer minimalistischen Besetzung kaum in Programmen mit großen Klangkörpern, Bergs Drei Orchesterstücke op. 6 genau umgekehrt wegen des geforderten Riesenapparats, und Zemlinskys Lyrische Symphonie hat an diesem Donnerstag gar ihre Erstaufführung beim BRSO.
Weberns Orchesterminiaturen op. 10 (1911/13) sind quasi ein Gegenentwurf zu seinen großbesetzten 6 Orchesterstücken op. 6, die wiederum Vorbild für Berg waren. Von den gut 20 Instrumenten – darunter allerdings Exoten wie Mandoline, Celesta oder Röhrenglocken – erklingen oft nur wenige gleichzeitig. Der klangliche Reichtum und die Konzentration des Ausdrucks der insgesamt (!) nur etwa fünf Minuten dauernden Stücke verlangt von den Musikern höchste Präzision und in einem so großen Saal extrem gutes Aufeinander-Hören. Simone Young – u. a. zehn Jahre GMD an der Hamburgischen Staatsoper – zeigt, nur hier ohne Taktstock, alles genauestens an, insbesondere die sehr delikat auf den Raum abzustimmende Dynamik. Die erstaunlich phantasievollen, knappen musikalischen Gesten werden so zu echten Kabinettstückchen. Einfach grandios, wie man in der Isarphilharmonie etwa am Schluss des dritten Stücks die große Trommel im ppp mehr über den Solarplexus als über das Gehör wahrzunehmen glaubt. Aber verglichen mit dem, was danach kommt, ist dies natürlich nur ein Appetizer.
Bergs Drei Orchesterstücke op. 6 – vollendet unmittelbar bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs – warten nun mit einem Orchester auf, das selbst Mahlersche Dimensionen zu sprengen scheint. Sie sind vielleicht der Inbegriff des musikalischen Expressionismus, von ihrer emotionalen Intensität wie von der strukturellen Komplexität her, die keine „Füllstimmen“ kennt: Alles hat thematisch-motivisches Gewicht und stellt Dirigenten bei der Herstellung einer dynamischen Balance, die sowohl die Details hörbar macht, zugleich die Schichtungen von Haupt- und Nebenstimmen verständlich abbildet, vor bis dato völlig unbekannte Probleme. Zudem sind schon die rein instrumentalen Anforderungen an sämtliche Spieler exorbitant: Die 1. Posaune z. B. beginnt direkt mit einem hohen es“. Rhythmisch wird es ebenfalls dicht, obwohl keine Orgie an Taktwechseln notiert ist, wie etwa in Strawinskys Sacre. Frau Young koordiniert dies alles nicht nur perfekt, sondern geht auch emotional mit, ohne je übers Ziel hinauszuschießen: zutiefst beeindruckend. Alles bleibt klar, sieht immer geschmeidig aus, und mit der linken Hand gibt die Dirigentin nicht nur alle wichtigen Einsätze, sondern klug disponierend stets sehr deutliche dynamische Impulse. Die instrumentale Virtuosität und Empathie der Musiker des BRSO wird dem in jeder Weise gerecht. Vom anfangs noch wie in Schleier gehüllten Präludium über den unwirklichen Reigen streift der Zuhörer fast wie ein Voyeur in einem von Wänden unbehinderten Flug quer durch verschiedenste morbide Tanzböden, wo Walzer- und Ländler-Fetzen nur momentweise und perspektivisch verzerrt erscheinen, dabei längst keine fin-de-siècle Hochstimmung mehr aufkommen mag. Der Marsch schließlich wird zum reinen, gewalttätigen Horrortrip: wie eine Vision der noch ungeahnten Gräuel des beginnenden Krieges. Und hier darf der mörderische Holzhammer aus Mahlers Sechster tatsächlich dreimal aktiv werden – bis zum bitteren Ende. Wie kultiviert und farbig das dann trotzdem klingt, ist an diesem Abend schon ein kleines Wunder, das sofort erste Bravorufe provoziert.
Vor gut einem Jahr litt das Münchner Rundfunkorchester bei Zemlinskys Lyrischer Symphonie – wir berichteten – unter Sänger-Absagen und unglücklichem Timing: nur einen Tag nach dem Jubiläumskonzert des BRSO. Dieses konnte nun unter optimalen Bedingungen seine erste Bekanntschaft mit dem lange unterschätzten Stück machen, das erst seit den 1980er Jahren als gleichrangig zu Mahlers Lied von der Erde anerkannt wird. Liegt die Gemeinsamkeit in der Verwendung asiatischer Dichtung, – hier des Bengalen Rabindranath Tagore – zielt Mahlers Vertonung mehr auf Weltschmerz, Zemlinskys imaginäre Liebesgeschichte hingegen auf ein wenig stereotype psychologische Innenwelten von Mann und Frau, jedoch als Individuen. Zemlinsky ging indes nicht den Weg Schönbergs und seiner Schüler in die Zwölftontechnik mit. Das BRSO unter Simone Young bringt den orchestralen Farbreichtum der tonalen, harmonisch zwischen Modalität und sensibler Chromatik pendelnden Partitur, an faszinierend schönen Details noch über Mahler oder Berg hinausgehend, in voller Pracht zur Geltung. Dabei trägt der große symphonische Bogen über das gesamte Werk. Ausdruck, Tempi, sehr differenzierte, bewusste Agogik und Balance stimmen auf den Punkt. Das übertrifft die gute Aufführung des Rundfunkorchesters dann doch nochmals spürbar.
Michael Volle erfasst als Heldenbariton ohne Sentimentalität und Pathos, aber mit Bestimmtheit und guter Textverständlichkeit, die Vorgaben des Komponisten exakt: Bis zum Schluss „ist der tiefernste, sehnsüchtige, doch unsinnliche [!] Ton des ersten Gesanges festzuhalten.“ Die Ausdruckswelten der Frau sind vielschichtiger und extremer. Dafür reicht der von Zemlinsky angedachte jugendlich-dramatische Sopran der jungen Schwedin Maria Bengtsson nicht ganz aus. Bei „Mutter, der junge Prinz…“ fehlt ihr schlicht das stimmliche Fundament und die Genauigkeit der Artikulation, um über das schillernde Orchester herüberzukommen. Hierzu bräuchte es wohl doch eine Strauss-Stimme, die eher Salome oder die Kaiserin als die Marschallin beherrscht. Da dem Rezensenten Michael Volles Stimme von Opern- und Konzertbühne gut vertraut ist, und dessen Timbre hier ebenso heller wirkt als „normal“, mag daran freilich die Akustik des HP8 mal wieder eine gewisse Mitschuld haben. Im musikhistorisch nachwirkenden vierten Gesang „Sprich zu mir, Geliebter“ wird sowohl der Sopranpart als auch das Violinsolo besonders zärtlich und mit Wärme gestaltet, vielleicht ein wenig zu passiv und verhalten. Das ist jedoch anscheinend das Konzept der Dirigentin, die bei der umsichtigen Begleitung der Gesangssolisten ihre lange Opernerfahrung gekonnt einbringt. Absolut ergreifend gelingt Bengtsson dann ihr letzter Gesang „Vollende denn das letzte Lied“ mit seinen bereits nicht mehr tonalen, eiskalten Linien, wo sie glaubwürdig voll aus sich herausgeht. Die nächtlichen Klangfarben des einsamen Endes in ihrer fantastischen Instrumentation – die letzte Partiturseite ist ein Wunderwerk – gelangen mit der großen Streicherbesetzung wirklich zauberhaft ans Publikum.
Insgesamt ein selbst für BRSO-Verhältnisse außergewöhnlich gelungener Abend, der mit begeistertem Applaus für alle Ausführenden honoriert wird. Diejenigen Abonnenten, die dem Konzert – wegen des vermeintlich anstrengenden Repertoires? – ferngeblieben waren, haben da leider eine Weltklasse-Leistung verpasst.