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Julian Andersons »Exiles« und ein phänomenaler Schostakowitsch unter Manfred Honeck

Am 30./31. März und 1. April 2023 konzertierten Chor- und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Manfred Honeck in der Münchner Isarphilharmonie. Gespielt wurden die Kantate „Exiles“ des britischen Komponisten Julian Anderson (Sopransolo: Julia Bullock) sowie Dmitri Schostakowitschs 5. Symphonie d-Moll op. 47. Unser Rezensent besuchte das erste Konzert am Donnerstag.

© BR/ Astrid Ackermann

Ein Konzertprogramm an drei Abenden nur aus Werken des 20. bzw. 21. Jahrhunderts: Das klappt nun beim BR auch wieder mit den Abos in der Isarphilharmonie – und wie! Vor der Pause spielt das BRSO unter Manfred Honeck samt Chor (Einstudierung: Peter Dijkstra) die eigentlich in München als Uraufführung für Januar 2022 geplante Kantate »Exiles« des Briten Julian Anderson (* 1967). Wegen Corona fiel dieser Termin leider aus, das Stück wurde dann in Berlin aus der Taufe gehoben, und man darf froh sein, dass es jetzt mit absoluten Spitzenkräften doch noch hier zu hören ist. Anderson studierte bei John Lambert, Alexander Goehr, später auch beim französischen Spektralisten Tristan Murail, was großen Einfluss auf die außerordentliche Farbigkeit seiner Orchestersprache hat.

Die etwa 40-minütige Kantate besteht aus fünf Sätzen, von denen nur der zweite und fünfte von der kompletten Besetzung vorgetragen werden. Der knappe erste – für Sopransolo und Orchester – handelt vom inneren „Exil“ des marokkanisch-französischen Komponistenkollegen Ahmed Essyad während der Corona-Lockdowns, vertont dessen prosaischen Email-„Notruf“, der aber ohne Weiteres für die damalige Erstarrung gerade der Kulturszene insgesamt stehen darf. Die US-amerikanische Sängerin Julia Bullock zeigt von Beginn an eine ungemein eindringliche, glaubwürdige Bühnen- und Stimmpräsenz, gewinnt sofort das Publikum, das gerne die ganze Zeit an ihren Lippen hängt. Sie vermag die musikalische Bedeutung des höchst anspruchsvollen Gesangsparts weit über den Text hinaus mit hinreißender Empathie herüberzubringen, auch wenn sie trotz gewaltigen Stimmvolumens und -umfangs stellenweise gegen ein doch riesiges Orchester ziemlich ankämpfen muss. Der relativ weit hinten und oberhalb des Orchesters platzierte Chor des BR hat es in dieser Hinsicht allerdings sogar schwerer – bekannte Einschränkungen des HP 8.

Anderson erweitert dann seine Beschäftigung mit der Vokabel Exil weit über die allen noch präsente Isolation der Corona-Wirren hinaus: auf die Verfolgung des Volkes Israel, Befindlichkeiten während des Exils oder auf dem Weg dorthin. Im zweiten Satz werden hebräische Psalmtexte mit Versen des rumänischen Komponisten Horatio Radulescu – ebenfalls ein Protagonist des Spektralismus im Umfeld Gérard Griseys – verknüpft. Dabei erreicht Manfred Honeck eine fast makellose Synchronisation der Stimmen mit dem übrigen, dichten Geschehen. Dies demonstriert – von beinahe tonalen Passagen über teils aleatorische Klangflächen bis zu die Hörer in einen wohligen Schauer einhüllenden, spektralen Supernovae – erneut Andersons fantastische Orchestrierungskunst. Gerade bei leisen, zugleich komplexen Abschnitten – auch im dritten Satz (doppelchörig a cappella), der die Rettung vieler jüdischer Künstler durch den Diplomaten Varian Fry in Erinnerung ruft – behält Honeck den Überblick, modelliert sicher den Klang und stellt sowohl dessen Härten als auch die oft unfassbaren Schönheiten völlig überzeugend heraus. Bei der Behandlung des Chors merkt man, wie der anwesende Komponist an beste britische Traditionen – von Benjamin Britten bis Jonathan Harvey – anschließt und recht ökonomisch erstaunliche Feinheiten aus den Stimmen herauskitzelt, was der BR-Chor souverän meistert.

Der vierte Satz, diesmal rein instrumental unter Einbeziehung obertonreicher musique concrète vom Soundtrack, schildert die tragische Flucht des später berühmten Musikwissenschaftlers Harry Halbreich vor den Nazis 1942 in die Schweiz. Großartig schließlich der letzte Teil, in dem Psalm 108 mit Apollinaire und Vítězslav Nezvals herrlichem Gedicht Sbohem a šáteček – teils tschechisch, teil englisch – kombiniert wird! Hier gäbe es allerdings den einzigen Kritikpunkt an Andersens Komposition: Die teilweise engmaschige musikalische Vernetzung von gleich drei oder vier Sprachen – Nezval ist schon alleine kaum adäquat ins Englische oder Deutsche zu übersetzen; warum nicht einfach nur beim Original bleiben? – macht dem Hörer das Verständnis unnötig schwer. Dennoch ist das Münchner Publikum, nicht zuletzt wegen der grandiosen Leistung aller Sänger, zu Recht komplett begeistert. Andersons Werk hätte weitere beeindruckende Schätze parat: zum Beispiel Heaven is Shy of Earth

Lässt sich das noch toppen? Antwort: Ja, denn Honecks Darbietung von Schostakowitschs 5. Symphonie von 1937 sollte sich am Donnerstag als wirklich maßstabsetzend erweisen. Hier kommen mehrere glückliche Umstände in idealer Weise zusammen. Das BRSO kennt über Mariss Jansons seinen Schostakowitsch sehr gut, und Honeck hat mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra, dessen Chef er seit bald 15 Jahren ist, für eine Einspielung dieses Werks von 2013 schon einen Grammy erhalten. Der Dirigent bleibt seinem Konzept treu, das sich im Detail merklich von dem Jansons unterscheidet: Honeck wählt hier ungewöhnlich zurückhaltende Tempi, bis auf den letzten Satz. Er erzeugt, vor allem durch Pianissimos ohnegleichen, die in dieser Tonqualität nur Spitzenorchester hinkriegen, enorme dynamische Kontraste – emotional immer tragfähig. Das beginnt mit der großen Steigerung des Kopfsatzes, die nach trügerischer Ruhe total unter die Haut geht. Die Nähe zu Gustav Mahler wird in beiden Mittelsätzen bewusst zelebriert, wobei die unterschwellig stets karikierende Art des russischen Komponisten im Allegretto wunderbar schräg wirkt. Das Largo verströmt eine Ruhe, wie sie der Rezensent dort noch nie so intensiv empfunden hat: gnadenlose Erhabenheit der Natur. Und Honecks Lieblingsstelle, die einsamen Holzbläsersoli über sibirisch frostigen Streichertremoli, wird so zum ergreifenden Höhepunkt der gesamten Symphonie. Das monströs martialische Finale gelingt mit ironisch überpointiertem Schluss schlicht phänomenal, danach folgt selten einmütiger, minutenlanger tosender Applaus für Orchester und Dirigent.

[Martin Blaumeiser, 1. April 2023]

Seong-Jin Cho mit „Rach 3” beim BRSO

Seong-Jin Cho, James Gaffigan, BRSO · © Astrid Ackermann für BR

Der Sieger des Warschauer Chopin-Wettbewerbs von 2015, Seong-Jin Cho, versuchte sich am 3. und 4. November 2022 in der Isarphilharmonie an Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 3 d-moll op. 30. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielte unter James Gaffigan, der relativ kurzfristig für den erkrankten Zubin Mehta einsprang, danach noch Richard Strauss‘ Tondichtung Also sprach Zarathustra. Unser Rezensent besuchte das Konzert am Donnerstag, 3. 11. 2022.

Da selbst der Bayerische Rundfunk über einen Schwund bei den Abonnenten seiner Symphoniekonzerte klagt: Ja, dafür dass ein absoluter Shooting-Star – der junge Koreaner Seong-Jin Cho – hier ein echtes Kultstück vortragen soll, schmerzt es, dass die Isarphilharmonie nicht bis auf den letzten Platz ausverkauft, allerdings immerhin zu schätzungsweise 90% gefüllt ist. Zu bedenken ist hierbei jedoch, dass der angekündigte Dirigent des Abends – kein Geringerer als Maestro Zubin Mehta – kurzfristig krankheitsbedingt abgesagt hatte und durch James Gaffigan, designierter Generalmusikdirektor der Komischen Oper Berlin, ersetzt werden musste. Dafür sieht man viele junge, asiatische Gesichter, die offenkundig nicht alle Abonnenten sind, jedoch wohl Karten extra wegen Cho erworben haben.

Auch der Rezensent gehört seit Chos Sieg beim Warschauer Chopin-Wettbewerb 2015 zu dessen Fangemeinde, hat jedoch den ersten Auftritt des koreanischen Pianisten beim BRSO – als Einspringer für Lang Lang – vor knapp vier Jahren verpasst. Auf Deutsche Grammophon glänzte Cho bislang natürlich mit Chopin sowie mit Mozart und einer beeindruckenden Einspielung von Liszts Sonate h-Moll. Doch bei Rachmaninows 3. Klavierkonzert, das nicht nur technisch nochmal ein ganz anderes Kaliber darstellt, soll sich zeigen, dass der 28-Jährige durchaus noch entwicklungsfähig ist.

Das Thema des ersten Satzes – das Orchester ist von Beginn an zu laut – nimmt Cho zunächst bewusst schlicht: Man darf keinesfalls gleich die große folgende Entwicklung „verraten“. Das zweite Thema ist leicht marschmäßig, dabei zugleich kokett. Dies spielt Cho leider ohne jeden Charme; erst beim „Nachfassen“ entwickelt Rachmaninow daraus eine verträumte Kantilene, wo der Koreaner endlich in seinem Element ist: Singen auf dem Flügel, damit kann er überzeugen. Selbstverständlich ist Cho dem als Markstein pianistischer Gemeinheiten berühmt-berüchtigten „Rach 3“ technisch gewachsen: Alles greift er traumhaft sicher, die schnellen Passagen sind vom Tempo her meist schon am Limit. Ob er merkt, dass er vom Orchester ständig dynamisch zugedeckt wird? Anders ist kaum zu erklären, wie er – und dies widerspricht geradezu seinem sonst durchgehend feinen, hochdifferenzierten Anschlag – dann zunehmend vor allem eine Reihe von Bass-Oktaven bzw. -akkorden derart brachial und teils musikalisch unmotiviert reindrischt, dass es keine Freude mehr ist. Die fette Kadenz – mit etwas zu viel Pedal – gelingt ihm gut, bei den beidhändigen Akkordkaskaden meißelt er gekonnt zwei Klangterrassen heraus. Die folgenden Dialoge mit den Holzbläsern sind himmlisch. Bei der verkürzten Reprise/Coda nimmt das Orchester die Dynamik anscheinend selbst in die Hand – was funktioniert; der Schluss bleibt, wie gefordert, unnachgiebig.

Die Darbietung des zweiten Satzes ist am stimmigsten: Gleich mit der Orchestereinleitung erschließt Gaffigan das elegische Thema – tolles Oboensolo! – klanglich engagiert und emotional spannend, ohne ins Sentimentale abzugleiten. Cho hält sich an diese Vorgabe, selbst da, wo Rachmaninow richtig pathetisch aufdreht. Das Poco più mosso (nach Zif. [32]) mit seinen gefürchteten Repetitionen ist brillant, aber das hat man schon spritziger, verrückter gehört. Doch dann nimmt das Übel seinen Lauf: Bereits die Überleitung zum Finale wirkt zu brutal und übertrieben, was sich leider so fortsetzt. Der dritte Satz wird deutlich zu rasch genommen; die andauernde, mörderische Orgie von Achteltriolen in einem schnellen Alla breve gerät so zur Farce, bei der alle Details verschwimmen. Die merkwürdige „kavallereske“ Passage (Più mosso vor Zif. [43]) – zugegebenermaßen einer von Rachmaninows vielleicht schwächsten Einfällen überhaupt – wird keineswegs besser, wenn man über sie hinweg rast; die spätere Parallelstelle ist zudem alles andere als perfekt zusammen. Selbst das hübsche Scherzando danach wirkt überhastet, die Schlussapotheose unehrlich und ermüdend – was für ein Krampf! Das erinnert ein wenig an die – in allen drei Sätzen – katastrophale Münchner Aufführung von Yuja Wang 2011 mit dem Royal Philharmonic Orchestra und einem völlig überforderten Charles Dutoit. Immerhin: Wang hat daraus gelernt und ihr „Rach 3“ mittlerweile enorm kultiviert. Fazit: Cho zeigt sehr schöne Ansätze, besitzt die nötige „Pranke“. Die ersten beiden Sätze kann man gerne so verkaufen, das Finale ist jedoch noch völlig unausgegoren. Und eine hochkarätige Aufführung dieses geliebten Monstrums klappt nur mit einem viel aktiver eingreifenden Dirigenten: Erst kürzlich beim ARD-Wettbewerb hat das BRSO mit dem 4. Konzert bewiesen, was da möglich wäre.

Natürlich darf man dankbar sein, überhaupt kurzfristig einen Einspringer für ein so schwieriges Programm zu bekommen. Gaffigan leistet dies beim BRSO nun schon zum zweiten Mal. Bei Strauss‘ Also sprach Zarathustra hört man leider, dass er keinesfalls auf Augenhöhe mit Zubin Mehta agiert. Zwar versteht der Amerikaner, wie die Dramaturgie dieser Tondichtung funktioniert; er weiß genau, wie er etwa auf einen Höhepunkt – davon gibt es hier einige – zusteuert, welches die richtigen Tempi sind. Was fehlt, ist vor allem eine genauere Führung der Feindynamik, der klanglichen Staffelung innerhalb des riesigen Orchesterapparats. Anfangs vermisst man eine echte Orgel. Zwar sind die elektronischen Konzertorgeln von ihrer Charakteristik her mittlerweile nah am Original. Als Bassfundament des bekannten „Universum“-Themas scheitern sie unweigerlich an den Lautsprechern, die da lediglich heiße Luft blubbern. Bei den „Hinterweltlern“ müsste man sofort die vielfach geteilten Streicher, aber ebenso das Holz sorgfältiger austarieren. Gaffigan bleibt in seinem Bewegungsrepertoire erschreckend pauschal. Mit der linken Hand dirigiert er über weite Strecken parallel, gibt viele Einsätze ohne zu anzuzeigen, „wie“ und vor allem „wie laut“ zu spielen ist. Sein Grundambitus ist zu groß, um dynamische Abstufungen schnell zu provozieren. Etwa zu den Bässen oder zum Schlagzeug entsteht kaum Kontakt. So fehlt der Fuge („Von der Wissenschaft“) einerseits das Geheimnisvolle, andererseits die ironische Überzeichnung; auch mangelt es bald an Klarheit. Herr Barakhovsky spielt sein Violinsolo im Tanzlied hinreißend süffig, danach gerät der Abschnitt jedoch – erneut mangels Differenzierung – zu billiger Schrammelmusik. Und spätestens, wo es dann auf „Ganze“ geht – noch vor dem Glockeneinsatz – klingt alles wie ein einziger Brei. Schade, dass bei einem dem Orchester so vertrauten Werk heute nur Mittelmaß zu hören ist. Das Publikum zeigt sich dennoch beeindruckt.

[Martin Blaumeiser, 4. November 2022]

Antonio Pappanos erster Auftritt in der Isarphilharmonie

Sir Antonio Pappano trat an drei Abenden (17.–19.2.2022) zum ersten Mal mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in der neuen Isarphilharmonie auf. Auf dem Programm standen Dvořáks Othello-Ouvertüre op. 93, Liszts Klavierkonzert Nr. 1 Es-Dur mit Yuja Wang sowie Nielsens 4. Symphonie „Das Unauslöschliche“. Die Rezension bezieht sich auf das dritte Konzert vom Samstag, 19.2.2022.

Yuja Wang und Sir Antonio Pappano; Konzertfoto vom 17.2.2022 © Astrid Ackermann

Wohl aus organisatorischen Gründen hatte sich der Bayerische Rundfunk entschieden, nach einer erneuten, coronabedingten Zwangspause bis Ende Februar bei 50% Saalauslastung – erlaubt wären bereits 75% – zu bleiben. Unter dieser Prämisse schienen die Konzerte mit Antonio Pappano ihr Publikum gefunden zu haben – vielleicht gerade wegen der chinesischen Starpianistin Yuja Wang, die zwar in München schon öfter mit den Philharmonikern zu hören war, tatsächlich beim BRSO mit diesem Programm debütierte.

Der charmante, irgendwie immer noch jugendlich erscheinende Musikdirektor des Royal Opera House (Covent Garden) in London beginnt mit der mittlerweile selten aufgeführten, knapp viertelstündigen Konzertouvertüre Othello von Antonín Dvořák– nicht nur von der Länge her fast eine symphonische Dichtung. Pappano ist musikalisch ein Ästhet; handwerklich – auch er dirigiert neuerdings ohne Taktstock – sowieso. So erklingt bei ihm der Beginn weich und innig, dabei immer hochpräzise. Für den Rezensenten ist dies der zweite Besuch in der Isarphilharmonie – diesmal eher im Zentrum (Reihe 10) des Geschehens. Die Streicher wirken hier einerseits homogener, dabei zugleich körperlicher als am Rosenheimer Platz. Dass Solostellen ebenso unmittelbar ankommen, kann man später am Abend bei Nielsen hören. Dvořák hat den Bezug zum Shakespeare-Drama erst nachträglich gewählt; ursprünglich sollten die drei Ouvertüren opp. 91–93 eine Naturtrilogie bilden. Der Hörer darf daher keinerlei bildhafte Assoziationen, etwa zum Meer, Venedig oder dergleichen erwarten. Zum von den Holzbläsern herrlich vorgetragenen „Natur-Motiv“ stehen kontrastierend scharfkantige Streichereinwürfe für – hier durch Othello personifizierte – zerstörerische Kräfte, die dann das Hauptmotiv des Allegro con brio in Sonatenform generieren. Viele Ideen der Ouvertüre finden sich wenig später in der 9. Symphonie – so der Paukenwirbel unmittelbar vor dem schnellen Teil – und in Rusalka wieder. Die Steigerungswellen geraten Pappano stets sehr natürlich, durchaus energisch, aber eben ohne jeden zusätzlichen „Drücker“; beim fulminanten Schluss legt er nicht derartig den Turbo ein wie Kubelik in seiner Aufnahme. Dennoch dürfte die Dynamik gerade bei Decrescendi noch differenzierter sein.

Yuja Wang – heute im knallroten Kleid und nach der Laser-OP erstmals ohne Brille – spielt Franz Liszts Klavierkonzert Nr. 1 die ganze Zeit quasi mit geschlossenen Augen; ihrer perfekten Treffsicherheit tut das keinen Abbruch. Wie man mit derart hohen Pumps die Pedale so kultiviert bedienen kann, bleibt hingegen dem männlichen Publikum völlig schleierhaft. Mit ihren absolut überragenden technischen Fähigkeiten ist Liszt für die Pianistin kein großes Ding. Wie gestaltet sie nun dieses Standardkonzert? Dezidiert und mit geradezu männlicher Wucht und Riesen-Dynamik erscheint bereits die Fortsetzung des Hauptthemas wie ein direkter Schlagabtausch mit dem Orchester – den Wang bei seiner Wiederkehr vor dem Allegro marziale animato nochmals steigern kann. Wo immer möglich agiert sie jedoch gesanglich, klanglich dabei etwas zu trocken. Aber leider wird auch einiges regelrecht verschenkt, wodurch der ganze erste Abschnitt wie eine Einleitung wirkt: aber zu was? Überzeugend gelingt Wang das große Solo im Quasi Adagio, als sei es improvisiert – ganz im Sinne Liszts; kontrastierend dazu die Recitativo-Einwürfe als Realitäts-Schock. Dass von der oft belächelten Triangel im Scherzo-Abschnitt, obwohl von Pappano vorne in den Streichern platziert, wenig zu hören ist, irritiert ziemlich, mag aber der Sitzposition des Rezensenten direkt hinter dem geöffneten Klavierdeckel geschuldet sein. Der Dirigent hat hier nicht mehr zu tun, als sensibel zu begleiten; das ginge durchaus präziser. Das Orchester läuft bei Yuja Wang zum Glück nie Gefahr, sie zuzudecken. Die heutige Darbietung bleibt so eine Shownummer, die den Hörer zwar packt, es jedoch an echter Tiefe fehlen lässt. Dass es bei Liszt zudem verstörend dunkle Seiten gibt, hat z.B. Martha Argerich regelmäßig gezeigt; davon will Yuja Wang – noch? – nichts wissen. Frenetischer Applaus für die Pianistin, die sich mit zwei aberwitzigen Zugaben bedankt.

Carl Nielsens (1865–1931) 4. Symphonie ist ein in Deutschland leider immer noch unterschätztes Meisterwerk. Der Däne begann mit der Komposition bereits kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, und der Titel Das Unauslöschliche – gemeint ist der Überlebenswille der Natur und des Menschen – stand wohl ebenfalls sofort fest. In der Einführung wies Antonio Pappano bei seinem empathischen Plädoyer für das Stück auf Gemeinsamkeiten mit Liszt – etwa die Integration der Viersätzigkeit in eine große Bogenform – sowie Mahler (Naturmystik) hin. Natürlich ist diese Musik bereits „moderner“ als die des gleichaltrigen Jean Sibelius, allerdings geht Maestro Pappano der unmittelbare, bewusst chaotische Beginn der Symphonie ganz schön in die Hose. Zwar trifft der Hörer hier auf gegenstrebige Materialien; so ungeordnet wie hier ist das aber keineswegs gedacht; bereits ab Ziffer [2] könnte die Musik strukturierter erklingen als an diesem Abend. Das eigentliche Hauptthema des ganzen Werkes – wie bei Dvořák ein „Naturmotiv“ zunächst im Holz – kommt dadurch fast wie aus einer anderen Welt. Immer wieder fordert Pappano vom Orchester – beim kleinsten Detail ist er bei den entsprechenden Spielern – höchste Emotionalität; und das Orchester liefert! Ein Kabinettstückchen für die Holzbläser ist das idyllische Poco allegretto; die von harten Akzenten gestörte, breite Streicherlinie des Poco adagio quasi andante geht in der Isarphilharmonie durch Mark und Bein. Wer die Symphonie bereits kennt, wartet freilich auf das phänomenale Paukenduell im Finale – ein absolutes Novum der zeitgenössischen Symphonik. Ob hier wirklich – in Stereo! – realistisch an Artilleriefeuer erinnert werden soll, oder die Musik mahnend die emotionalen Schrecken des Krieges reflektiert: Diese Stelle wird jedem Hörer auch optisch im Gedächtnis bleiben; für die beiden Pauker des BRSO natürlich eine Paradenummer. Am Ende siegt das Naturthema als triumphale Hymne. Pappano hat sich samt dem ihm bis an die energetischen Grenzen folgenden Orchester ziemlich verausgabt und Nielsens großartige Symphonie dem begeisterten Publikum eine Spur zu direkt nahegebracht. Nach Stenhammar mit Blomstedt – der Nielsen noch um einiges besser draufhätte – ein weiterer Beweis für die Qualität nordischer Musik. Da gibt’s noch mehr!

[Martin Blaumeiser, 20. Februar 2022]

Meisterschaft jenseits des Mammonglanzes

Jakub Hrůša dirigiert das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in Meisterwerken der klassischen Moderne: Kabeláč , Britten, Schostakowitsch.

Photo © by Astrid Ackermann

Um mit einem der überflüssigsten Oberbürgermeister der Republik zu sprechen – also in routiniert clever vernebelnder Ignoranz –, gibt uns die Interimsspielstätte der Münchner Orchesterkultur, die technokratisch klotzige Isarphilharmonie mit ihrem kubisch-industriellen Flair, ihren die Lauschfelder trennenden Drahtgeländern, bei denen nur der Stacheldraht vergessen wurde, ihrem perfekt unschönen, ausruh-feindlichen Foyerbereich eine „leise Vorahnung“ dessen, dass es für München wohl auch künftig, bei allem Mammonglanz, akustisch nicht wirklich besser kommen wird. In dem so gar nicht schmucken, aber auch das Auge nicht verstörenden Saal klingt das Orchester sehr durchsichtig, man hört – jedenfalls links außen im hinteren Drittel des ansteigenden „Parketts“ – alles Leise sehr deutlich, alle Register des Orchesters kommen gut an. Wenn es dann aber laut wird, mutiert der vorher nicht gerade auratisch erfüllende Klang ins Brutale, und auch die Durchsichtigkeit ist nun – trotz exzellentem Dirigenten und Orchester – nicht mehr optimal gegeben. Eben wieder so eine gesichtslose, letztlich unbefriedigende Akustik, wie sie heute anhand von Modellrechnungen – und längst nicht mehr aus intuitiv umgesetzter Empirie tatsächlichen Hörens – mit überwiegend billigen Materialien von musikfernen Saalplanern mit großem Logistikaufwand ohne Geistbeteiligung umgesetzt werden. Aber auch da kann es natürlich – wenngleich unter recht ungünstigen Bedingungen, also der vorgegebenen Schwächen eingedenk – zu ausgezeichneten Konzerten kommen.

Ein solches gab das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks am 28. und 29. Oktober unter der Leitung des amtierenden Bamberger Generalmusikdirektors Jakub Hrůša. Dieser jetzt 41jährige Dirigent zählt seit einiger Zeit zu den besten seines Fachs, und dies in vieler Hinsicht: gute Ohren, ausgezeichnete, natürliche und präzise Geste, echte körperliche und geistige Verbindung mit den Musikern, gutes Raumgefühl fürs Orchester, guter musikalischer Geschmack, Sinn für die Dramaturgie der Form und Klangbalance, hohe Wachsamkeit in der Aufführung – vieles lässt sich da aufzählen, und wer skeptisch ist, höre einfach die CD mit Suks Asrael-Symphonie, die wahrhaft exemplarisch dargestellt wurde.

Diesmal gab es zum Einstieg ein anderes, viel weniger bekanntes tschechisches Werk, aus der frühen sozialistisch geprägten Epoche: die 1953–57 entstandene Passacaglia für großes Orchester Mysterium der Zeit op. 31 vom Symphoniker Miloslav Kabeláč (1908–1979), einst unter Karel Ančerl uraufgeführt, und nun von Hrůša außer Landes gebracht. Er dirigiert das sehr langatmig aufgebaute, vor allem in den ersten Minuten äußerst heikle Stück souverän und mit offenkundiger Anteilnahme, und das Orchester folgt ihm – der ja vielleicht in einigen Jahren auch sein Chef werden könnte – willig und mit Biss. Diese hier gut 26minütige Komposition in einem Satz ist vom Ansatz gewaltig, eine große Architektur, die vom raunenden Beginnen zu einer mächtigen Auftürmung expandiert und im Pianissimo endet. Es ist mehr konstruiert – und darin von beeindruckender Meisterschaft der Berechnung der steigernden Kräfte, der weitschauenden Disposition der Orchestration – als spontan empfunden. Ein sich einprägendes Thema von melodisch fesselnder Gestalt wird nicht vorgestellt, und es ist insgesamt Musik, die im Detail sehr imponiert, ohne durch ihr Wachsen organisch zu fesseln. Jedenfalls ist es erfreulich, dieses gewaltig auftretende Stück nun auch live hören zu können, also nicht nur im (akustisch virtuellen) Raum von produzierten Aufnahmen, sondern in den tatsächlich sich ergebenden Klangverhältnissen, und unter Hrůša ist es mit einem so vortrefflichen Orchester in sehr guten Händen.

Photo © by Astrid Ackermann

Danach spielte Isabelle Faust technisch extrem eindrucksvoll und makellos Benjamin Brittens frühes, einziges, hochoriginelles und im Finale wahrlich ergreifendes Violinkonzert op. 15. Dieses Werk ist für Dirigent und Orchester alles andere als einfach, vieles klingt in den ersten beiden Sätzen, als wäre es eigentlich fürs Klavier erfunden und dann aufs Orchester übertragen worden – dies in sehr kunstvoller und fantasiereicher Weise –, wodurch manche motivischen Gestalten wirken, als würde man sie riesenhaft unter einem Mikroskop betrachten. Man kann in der hier besprochenen Aufführung von außergewöhnlich gelungenem Zusammenwirken berichten, und Aufführungen, die Solist und Orchester noch geschlossener im Ausdruck erscheinen lassen, sind jedenfalls äußerst selten zu erwarten.

Zum Schluss Dmitrij Schostakowitschs Erste Symphonie, dieses rundum geniale Frühwerk mit seinen erschreckenden und verblüffenden Perspektivwechseln und unvermittelten Einsichten, dabei wunderbar zusammenhängend in den vier Sätzen wie auch – kontrastmächtig – als Ganzes. Wie Brittens staunenswert eigenständiges Konzert – nur generationsbedingt deutlich früher – ist diese noch während Schostakowitschs Studienzeit entstandene Symphonie eines der fulminantesten Orchesterwerke der Zwischenkriegsepoche, und das in beiden Fällen in einer Tonsprache, die abseits selbstgerecht antimusikalischer Dogmen die unerschöpflichen Weiten der freien Tonalität erkundet. Natürlich sind – vor allem im Zusammenwirken der Trompeten mit den mächtigen Orchestertutti-Entladungen – die Einflüsse Skriabins und seines Poème de l’extase unüberhörbar, aber welch besseres Vorbild, welch aufrüttelnderen eigentümlichen Ausgangspunkt hätte es denn für einen gewandten Individualisten wie Schostakowitsch geben können?

Auch hier ist Hrůšas Dirigat fulminant, souverän und höchst musikalisch, und selbstverständlich spielt das Orchester auf ausnehmend hohem Niveau. Wäre mehr Vorbereitungszeit gewesen, so hätte man sich den Fragen der musikalischen Räumlichkeit – also der dynamischen Kontinuität der Einsätze unterschiedlich kraftvoller Instrumente – eingehender widmen können, die Sologeige hätte noch eine klarere Empfindung dafür gewinnen können, dass sie ihren Part an die Bläser übergibt und damit vielleicht ein wenig keuscher mit dem Vibrato umgeht, der Solocellist wäre wohl bezüglich der dynamischen Entfaltung der vom Komponisten gewünschten niederen Lautstärkegrade bewusster verpflichtet geblieben, und manches hätte – ohne an Urwüchsigkeit, Kraft und Schreckenspotential einzubüßen – weniger ruppig und gewöhnlich, dabei balancierter, bewusster in der Gestaltung sein können. Doch dies scheint mir, in Anbetracht der hohen Grundqualität, schlicht eine Frage der verfügbaren Zeit zu sein.

Das Konzert war ein großer Publikumserfolg, und die Münchner dürfen sich schon freuen auf Hrůšas nächstes Gastspiel – möge er in der Isarmetropole nun auch mit den Klassikern vorkommen und dem wenig feinschmeckerischen Publikum auf jeden Fall weitere in dieser an sich so erfolgssatten, geistig innovationsmatten Stadt unbekannte Entdeckungen präsentieren.

[Christoph Schlüren, Oktober 2021]