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Simon Rattle eröffnet mit Žuraj und Berio die neue Saison der musica viva

Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks starteten die neue musica viva Saison am Freitag, 13. Oktober 2023, erstmals in der Münchner Isarphilharmonie und unter der Leitung ihres neuen Chefdirigenten Sir Simon Rattle. Auf dem Programm standen die Uraufführung von Automatones des slowenischen Komponisten Vito Žuraj sowie Luciano Berios großangelegtes Meisterwerk „Coro“.

Sir Simon Rattle, Photo © Astrid Ackermann/BR

Nachdem sich der vor knapp vier Jahren verstorbene Mariss Jansons von den Symphoniekonzerten der musica viva erstaunlich zurückgehalten hatte, ließ es sich Sir Simon Rattle nicht nehmen, auch hierbei die Saison höchstpersönlich zu eröffnen. Damit bekundete er zudem seinen Willen, eine alte Tradition der Chefdirigenten beim Bayerischen Rundfunk weiterzuführen und sich für diese in der Neue-Musik-Szene nach wie vor einmalige Veranstaltungsreihe weiterhin ganz besonders zu engagieren. Dafür hatte man letzten Freitag – wohl nicht nur wegen der offenkundigen Unmöglichkeit, im gewohnten Herkulessaal die von Berios „Coro“ geforderte, besondere Sitzordnung zu realisieren – gewagt, erstmals die Isarphilharmonie zu bespielen. Was die Besucherzahlen betrifft, ging dies voll auf: Der HP8 war zwar nicht ausverkauft, jedoch kam schätzungsweise mehr Publikum als der Herkulessaal überhaupt hätte fassen können.

Vor dem eigentlichen Konzert, um 19:20 Uhr, durften im Foyer 24 Zwölftklässlerinnen des Münchner Max-Josef-Stifts unter der Leitung von Dietmar Wiesner ihre kollaborative Komposition Coro 2.0 zu Gehör bringen, Ergebnis eines u. a. von Cathy Milliken und Lucie Wohlgenannt aufwändig vorbereiteten musica viva-Education-Projektes. Hierbei entstand ein knapp 12-minütiges Stück, das sich zwar an Methoden und Prozesse von Berios Coro anlehnt, etwa ebenso Volksliedmaterialien einbezieht, aber als Musik- und Textcollage ganz eigenständig erarbeitet wurde. Schade, dass diese ansprechende Darbietung von Teilen des gerade hereinströmenden Publikums quasi ignoriert wurde und im Umgebungslärm beinahe unterging. Zeitpunkt und Ort waren somit leider ziemlich unvorteilhaft gewählt.

Die Anregung zu Vito Žurajs (*1979) großbesetzter, 25-minütiger Auftragskomposition Automatones findet sich in der aus der griechischen Mythologie weniger bekannten Geschichte über von Hephaistos und Dädalus erschaffene, belebte Metallstatuen von Tieren, Menschen und Monstern, die angeblich sogar fühlen und denken konnten. Unabhängig davon, wie diese antiken Illusionen im Detail gedacht gewesen sein mögen, bedient sich der Slowene Žuraj geschickt ausgeklügeltster Klangillusionen, sowohl aus harmonischer wie rhythmischer Sicht: Melodisch-harmonisch werkelt da etwa die berühmte Shepard-Skala, die dem Hörer eine unendlich auf- oder absteigende Linie vorgaukelt, und gleichermaßen trifft man auf rhythmische Strukturen, die nur scheinbar immer weiter beschleunigen bzw. ritardieren. Ein passender Vergleich aus der bildenden Kunst wären da Maurits C. Eschers bekannte Grafiken von „unmöglichen“ Geometrien. Dazu kommt eine enorm abwechslungsreiche, zugleich divergente Orchestrierung, selbstbewusst irgendwie zusammengehalten von Klavier, Akkordeon, Horn und Harfe – letztere durch Skordatur schon verfremdet.

Žuraj, der auch Musikinformatik studiert hat, nutzt bei der detaillierten Ausarbeitung seiner komplexen Klangwelten durchaus die Unterstützung eigener Computeralgorithmen, gibt aber nie das Heft menschlicher Entscheidung aus der Hand. Schmunzeln durfte man über witzige Seitenhiebe in Richtung der derzeit allgegenwärtigen Diskussion um künstliche Intelligenz, so in zwei Passagen, wo die Blechbläser nur ihre Mundstücke benutzten. Rattle und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielten diese instrumental höchst virtuose Musik mit Präzision und sichtlichem Vergnügen. Freilich wurde hier keine Geschichte wie z. B. in Paul Dukas‘ Vertonung von Goethes Zauberlehrling erzählt, und die genannten wiedererkennbaren Effekte ermüdeten auf Dauer, wo substanzielle musikalische Aussagen fehlten. Das Publikum nahm diese Uraufführung dann auch eher erheitert zur Kenntnis.

Von ganz anderem Kaliber erwies sich naturgemäß Luciano Berios (1925–2003) Coro von 1975–77, neben der berühmteren Sinfonia eines der Hauptwerke des großen Italieners. Das Stück für 40 Sänger und 44 Instrumentalisten verlangt eine exakt festgelegte, gemischte Sitzordnung, so dass jedem Sänger des Chors des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung: Peter Dijkstra und Max Hanft) ein bestimmtes Instrument zugeordnet ist, und sich diese bereits lokal sehr kommunikativen Paarungen als echte Duos bald bis ins Tutti erweitern. Dies geht also von solistisch tätigen Einzelstimmen – das Riesenwerk beginnt relativ harmlos wie ein schlichtes Kunstlied mit reiner Klavierbegleitung (sensibel und ausdrucksstark: Lukas Maria Kuen) – über Ensemblegruppen bis hin zur oft in gewaltigen, tatsächlich 40-stimmigen Clustern ausbrechenden Klangtotalen, insbesondere bei den immer wieder eingestreuten Zeilen Venid a ver… („Kommt zu sehen das Blut auf den Straßen“) des chilenischen Dichters Pablo Neruda.

Kontrastierend zur gewaltigen Anklage Nerudas stammen die übrigen Texte („documenti populari“, Berio) aus über den gesamten Globus verteilten Volksdichtungen, allerdings – abgesehen vom Hebräischen – jeweils in die fünf wichtigsten westeuropäischen Sprachen übersetzt. Diese handeln ganz elementar und mit fast ritueller Kraft von Liebe, Arbeit und Bedrohung. Den rituellen Bezug schöpfte Berio nicht zuletzt aus besonderen Techniken musikalischen Zusammenspiels („Klangmaschine“) der zentralafrikanischen Banda Linda – und gerade diese bildeten in der Interpretation Simon Rattles den Kitt, der verhinderte, dass das Ganze auch nur für einen Moment ins Episodische zu zerfallen drohte.

Bei der letzten Münchner Aufführung von „Coro“ – 2017 mit dem MusicÆterna Choir und dem Mahler Chamber Orchestra – hatte Teodor Currentzis ganz auf die Schockwirkung großer Gegensätze vertraut, wohingegen Rattles Sichtweise erfolgreich versuchte, die unterschiedlichen Ebenen zu verbinden – für Berio alles Aspekte menschlicher Existenz. Chor – mit meist hervorragender Textverständlichkeit – und Orchester formten dabei berührende, stimmungsvolle Mischklänge, die sich kontinuierlich transformierten. Ebenso agierten die Chorsolisten klangschön, temperamentvoll, aber emotional nie überhitzt, und die Tutti-Ausbrüche gingen umso mehr unter die Haut. Bei Rattle – der das nun 52-minütige Stück deutlich schneller dirigierte als noch 2010 in Berlin – hatte dann selbst der Schluss (Neruda!) wenig Desolates, eher betroffene Erhabenheit, bei allem Ernst immer noch mit einem Funken Hoffnung. Für die fabelhafte Leistung aller Beteiligten gab es verdient langanhaltenden Beifall. Rattles Fähigkeit, wirklich schwieriges Repertoire dem Publikum ohne Überforderung zu vermitteln, bleibt bewundernswert.

[Martin Blaumeiser, Oktober 2023]

Konsequent durchdachte Mahler 6 mit Simon Rattle

Nach seinem offiziellen Einstand als neuer Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks mit Haydns Schöpfung hatten sich die Musiker unter Sir Simon Rattle für die zweite Konzertreihe (28., 29. & 30. September 2023) in der Isarphilharmonie Gustav Mahlers Symphonie Nr. 6 a-Moll vorgenommen. Dazu gab es noch – als gemeinsames Auftragswerk vom BRSO, dem Orchestre de Paris und dem San Francisco Symphony Orchestra – das Orchesterstück »Latest« der inzwischen 97-jährigen französischen Komponistin Betsy Jolas. Der Rezensent besuchte die zweite Aufführung am Freitag, 29. 9. 2023.

Sir Simon Rattle und das BRSO in Mahlers Symphonie Nr. 6 (Foto vom 28.9.23), © BR/ Astrid Ackermann

Was für ein Statement: Gleich zu Beginn einer „normalen“ Abo-Reihe – und nicht etwa in der musica viva – die deutsche Erstaufführung eines 2021 entstandenen Auftragswerks einer Komponistin (!) zu bringen, macht deutlich, dass Sir Simon Rattle die Zeichen der Zeit erkannt hat und sie programmatisch umzusetzen gedenkt. Die Französin Betsy Jolas (*1926) wurde nach ersten Studien in den USA während der Flucht vor den Nazis dann – wieder in Paris – Schülerin u. a. von Darius Milhaud und Olivier Messiaen, später quasi dessen Nachfolgerin am Conservatoire. Längst hochdekoriert, bereits 1953 auch als junge Dirigentin, ist die Komponistin in Deutschland trotzdem allenfalls einem kleinen Kreis engagierter Pianisten bekannt gewesen, insbesondere wegen ihrer höchst individuellen Auseinandersetzung mit dem Serialismus – eindrucksvoll im Klavierwerk „B for Sonata“ (1973). Ihr knapp 14-minütiges Orchesterstück Latest zeigt erneut, dass Komponieren für die nach wie vor temperamentvolle Pariserin immer gleichzeitig eine Einbeziehung der Musikgeschichte zumindest des gesamten 20. Jahrhunderts bedeutet. Anfangs evozieren feine Schlagzeugeffekte zauberhafte, an Anton Webern gemahnende Melodiefragmente in den Streichern – klanglich zersplitterter Serialismus. Und obwohl strukturell erkennbar an Schönberg angeknüpft wird, erleben die Zuhörer ein atmosphärisch dichtes Spiel auch mit Räumlichkeit und wirklich faszinierende Instrumentationskunst, in der ein Geist der Freiheit anstatt formaler Strenge regiert. Den abschließenden Ausruf «Ô» aller Orchestermusiker nimmt das Publikum vergnüglich wohl als „Was? Schon zu Ende?“ wahr – mehr als nur freundlicher Beifall.

Mahlers Sechste Symphonie trägt nicht umsonst den Beinamen Tragische: Simon Rattle versteht es jedoch gleichermaßen, positive und hoffnungsvolle Elemente überzeugend ins rechte Licht zu rücken. Er dirigiert das Riesenwerk auswendig, ist all seinen Musikern stets völlig zugewandt. Bereits an der Tatsache, dass er dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ungewöhnlich deutlich vorausdirigiert, erkennt man, welch enormes Vertrauensverhältnis hier schon jetzt herrscht. Und Rattle zeigt bei diesem Werk einfach alles, geht emotional sichtbar mit. Wer dabei freilich totalen Exhibitionismus à la Leonard Bernstein erwartet, liegt völlig daneben. Der Dirigent betont die gerade bei der Sechsten vorhandene Kontinuität klassischer symphonischer Traditionen, die bei der Viersätzigkeit anfängt und bei Strukturelementen der einzelnen Sätze längst nicht aufhört. Rattle hatte kürzlich in einem Interview bemerkt, dass er gerne innerhalb einer Aufführungsreihe mal unterschiedliche Tempi ausprobiert und Spontaneität durchaus Raum geben mag.

Das spürt man bereits bei der Wiederholung der Exposition des Kopfsatzes, die keineswegs ein Abziehbild des ersten Durchgangs ist, stellenweise eine Spur ruhiger genommen wird. Der dominierende Marsch – insgesamt weicher als bei anderen Interpreten – wirkt streng, energisch, aber noch nicht wirklich bedrohlich. Nicht nur beim Seitenthema gelingt Rattle eine schlüssige Agogik, im Piano reichen minimale Gesten aus. Die traumwandlerische Naturepisode mit den fernen Kuhglocken mündet schließlich in einen berückenden Erlösungsmoment der Solo-Violine. In der architektonisch klar modellierten Durchführung integriert Rattle spezielle „mahlerische“ Klangfarben, ohne sie hervorzuheben; die Steigerung vor der Reprise bleibt eher unaufdringlich. Hingegen lassen die später vorhandenen, fast bitonalen Reibungen – das harmonische Verständnis aller Musiker ist herausragend – sofort aufhorchen, die Tragik wird dennoch lediglich angedeutet.

Das von Rattle an zweite Stelle gesetzte Andante – hierbei folgt er Mahlers eigenen Aufführungen, nicht dem Erstdruck – demonstriert selbstbewusste Schönheit, mehr vorstädtische Nachtszenerie denn Hinterweltler-Idylle. Schon das Englischhorn-Solo ist innig, ohne jede Trägheit; Rattles Tempi bleiben über den ganzen Satz äußerst flüssig. Das bewusste Vermeiden jeglicher Schwelgerei erweist sich dann im Verlauf doch als etwas glattpoliert, der Streicher-Zusammenbruch gerät so künstlich. Wenn Mahlers Melodielinien große Intervalle beinhalten, fehlt die typische Stimmung des fin de siècle, was manche Zuhörer verärgern dürfte, dem Rezensenten allerdings so ausdrücklich gefällt. Mit der rhythmischen Unerbittlichkeit des ersten Satzes kippt dann im Scherzo – Rattle schließt danach das gewaltige, gut halbstündige Finale zudem quasi attacca an – die Stimmung an der richtigen Stelle. Das Tempo ist wiederum flott, die Situation ernst von Beginn, und die zwischendurch aufblitzenden, zärtlicheren Momente können sich nicht mehr durchsetzen. Alles wird schließlich zu einer Fratze im Zerrspiegel, wobei völlig offenbleibt, wohin das führen soll.

Schon das Anfangsmotiv des Finales wirkt wie ein schneidender Schmerz aus einem nebulösen Albtraum heraus. Der in der Symphonie auffällig genutzte Wechsel zwischen Dur und Moll wird nun zum zentralen Element. Schon der erste Bläserchoral erklingt stumpf; es bleibt ungemütlich. Rattles Übersicht zeigt sich besonders in einem erstaunlich geschickten Tempoaufbau: Die selbst während dieses – nicht nur verbatim durch die beiden berühmten Holzhammerschläge demonstrierten – niederschmetternden Überlebenskampfs weiterhin vorhandenen „Positiv“-Abschnitte kommen herüber wie im Flow. Umso erschreckender dann die immer gewalttätigeren Abbrüche. Man muss sich klarmachen, dass der zweite Hammerschlag (von ursprünglich dreien) gerade mal ungefähr in der Satzmitte erscheint. Dahinter liegt also noch eine gewaltige Strecke, deren Aufbau zwingend zu gestalten eine echte Herausforderung ist. Trotz des mehrfachen, fast unerträglichen Aufbäumens schafft Rattle dazu mit seinem Orchester ein immer durchsichtiges Klangbild: Gegen die akustischen Unzulänglichkeiten der Isarphilharmonie helfen kleinere Retuschen wie die Verwendung von bis zu vier Beckenpaaren. Die Empathie, mit der hier musiziert wird, bleibt absolut mitreißend. Die trügerische Beruhigung vor dem Schluss führt zu einem letzten Fortissimo-Ausbruch – wie eine mitleidlose Exekution. Nach einer zu Recht hochgelobten Darbietung der Neunten vor knapp zwei Jahren demonstriert Simon Rattle ein weiteres Mal, dass Gustav Mahler mit dem BRSO momentan kaum zu übertreffen ist: nicht enden wollende Begeisterung mit standing ovations im Publikum.

[Martin Blaumeiser, 1. Oktober 2023]

Simon Rattles Wechselbad der Gefühle

(c) Stefanie Loos

Wie schon in den letzten drei Jahren blieb auch das Münchner räsonanz Stifterkonzert 2019 seinem Konzept treu, nicht allerneueste Kompositionen vorzustellen – daran herrscht ja in der Hauptreihe der musica viva kein Mangel –, sondern solche Werke, die in den vergangenen Jahrzehnten einen Status quasi „von Bedeutung“ erlangt haben und in München bislang nicht oder selten zu hören waren. Zum ersten Mal unter seinem neuen Chefdirigenten Sir Simon Rattle war am 2.5.2019 das London Symphony Orchestra in der Philharmonie zu Gast – nicht zuletzt kam man damit der erwartungsgemäß hohen Kartennachfrage entgegen. Das Programm widmete sich drei Komponisten, für deren Werk sich Rattle von Beginn seiner Karriere an immer begeistern konnte: Mark-Anthony Turnage (*1960), Harrison Birtwistle (*1934) und John Adams (*1947).

Man kann ja über die Akustik der Philharmonie im Gasteig denken, was man will. Dass zumindest einige Gastdirigenten damit überhaupt nicht zurechtkommen konnten, ist hingegen eine Tatsache. Über die Jahre haben sich für mich einige Lieblingsplätze herauskristallisiert, von denen ich mir jedenfalls einbilde, dort ein einigermaßen durchsichtiges und „gerechtes“ Klangbild serviert zu bekommen. Meine Karte für Donnerstag führt mich allerdings just in einen Block, den ich bislang zum no go erklärt hätte. Und obwohl Sir Simon die Philharmonie lange gemieden hat, scheint er in diesem vom Münchner Publikum heißerwarteten Konzert keinerlei Probleme mit dem Raum zu haben. In der Pause machen allerdings auch einige Leute ihrem Ärger Luft, die sich mit der – verglichen mit den Münchner Philharmonikern – gänzlich anderen Aufstellung keineswegs anfreunden möchten und glauben, nur die Kontrabässe zu hören, deren Pulte sich bei Rattle direkt rechts entlang des Podiums reihen.

Musikalisch ist das Konzert dann ein wirkliches Highlight. Simon Rattle scheint es zu genießen, gleich drei höchst anspruchsvolle Werke von noch lebenden Komponisten präsentieren zu dürfen, die ihm offensichtlich sehr ans Herz gewachsen sind. Der jüngste, der Brite Mark-Anthony Turnage, dessen internationaler Durchbruch u.a. dem Erfolg seiner Kammeroper Greek bei der ersten Münchner Biennale 1988 zu verdanken ist, war unmittelbar danach vier Jahre lang Composer in Association beim City of Birmingham Symphony Orchestra – mit Rattle als Chefdirigent. Dort lernte er, auch mit einem großen Orchesterapparat virtuos umzugehen. Die ursprüngliche Version von Dispelling the Fears als Schlussnummer des großen Zyklus Blood on the Floor für Jazz Quartett und Ensemble steht allerdings deutlich klarer für Turnage-typische klangliche Eigenheiten als die dann doch etwas künstlich aufgeblähte Konzertfassung für zwei Trompeten und volles Symphonieorchester (1994-95). Die beiden Solisten Philip Cobb und Gábor Tarkövi bewältigen ihre bis zum halbwegs versöhnlichen Schluss antagonistisch angelegten Partien grandios, besonders das Spiel mit – scheinbar – unterschiedlichen Distanzen; wo’s jazzig wird, ist das wirklich berührend und erinnert an B. A. Zimmermanns Trompetenkonzert Nobody knows de trouble I see. Insgesamt ist aber schon dieses Werk eher ein Nachtstück, düster wie ein Film Noir, dessen unberechenbarer Untergrund jenseits von Gut und Böse von Rattle faszinierend zelebriert wird. Jeder noch so kleine Effekt „sitzt“ punktgenau und evoziert eine Klangwelt voller Empathie.

Ganz klar als langsames, immerhin halbstündiges Nocturne erweist sich Harrison Birtwistles The Shadow of Night (2001). Das Stück ist natürlich ungleich komplexer als Turnage, aber beim genauen Hinhören nicht unbedingt schwerer verständlich. Man trifft, ähnlich wie in Bartóks Nachtmusiken, auf eine Welt freier, scheinbar unkontrollierbarer Natur – auch hier mit eingestreuten Vogelrufen der Holzbläser –, die im Sinne von Melancholie der Seele Raum für Selbstreflexion gibt. Dabei bezieht sich der Komponist auf Motive bei Dowland, Dürer und Chapman. Rattles Dirigat bleibt immer sehr klar, präzise und energisch, aber zugleich von entwaffnender Lockerheit. Der dramaturgisch logische Aufbau der Riesenpartitur mit den für Altmeister Birtwistle so unverkennbaren Steigerungswellen und einzelnen instrumentalen Glanzlichtern – auch wieder oft die Trompeten –, wirkt minutiös geplant und erschließt sich musikalisch fast bruchlos. Die Homogenität des Streicherklangs der Londoner ist überragend, macht das Geschehen weicher und stimmungsvoller, als man es bei den ebenso vorhandenen, üblichen Härten Birtwistles erwarten möchte. Dieses Stück lässt den Rezipienten keine Sekunde los, die Anspannung geht an die Grenzen des Ertragbaren, wenn man die ganzen einmaligen, fein erarbeiteten klanglichen Finessen (Schlagzeug!) an sich heranlässt.

Dass dies Teile des Publikums – in diesem Konzert sitzen nicht nur die allseits bekannten Gesichter, auf die man bei den musica viva Orchesterkonzerten im Herkulessaal trifft – überfordert hat, die möglicherweise nur wegen Rattle gekommen sind, zeigt sich an den leicht gelichteten Reihen nach der Pause. Schade – denn gerade jetzt wird ein Stück dargeboten, das man ohne rot zu werden als „Orchesterkracher“ bezeichnen darf. John Adams‘ Harmonielehre bedient sich gnadenlos, aber auch mit unvergleichlicher Intelligenz in der Musikgeschichte. Schon hier (1985) bilden die der amerikanischen minimal music entlehnten Pattern eben doch weitaus geschickter und kunstvoller gestrickte klangliche Netze als bei Philip Glass & Co. Und sie sind auch nur ein Aspekt von Adams‘ Musik, die nicht nur ihrem typischen West-Coast-Klang frönt, sondern tatsächlich eine Auseinandersetzung mit der Entwicklung der freilich immer noch tonalen Harmonik ist – bis auf das auf den Kopf gestellte Zitat aus Mahlers Zehnter. Aber auch Wagner und Debussy tauchen in diesem Klangmeer auf, indem sowohl das Adams-erfahrene LSO wie auch das Publikum vierzig Minuten lang genüsslich baden darf. Und selbst von Schönberg, gegen den eigentlich der Titel polemisieren soll, hat Adams gelernt, wie man à la Gurrelieder Bläsergruppen homogenisiert. Auf das hochpräzise Zusammenspiel seines Orchesters – das schnell gefährlich ermüden kann – darf sich Rattle fast blind verlassen; seine Klangregie ist aber schon einmalig: Absolut zwingend, wie er die manchmal langsamen und stetigen wie auch die abrupten harmonischen Farbwechsel durch hochdifferenzierte Dynamik unterfüttert, den hyperaktiven Apparat im Fortissimo bis zur Extase hochpumpt, im Mittelsatz (The Amfortas Wound) zu tiefstem Ernst und schmerzlichem Aufschrei konzentrieren kann. Diesem Sog kann sich wirklich niemand im Saal entziehen: Der Schlussapplaus gerät zum Triumph für Sir Simon und sein Londoner Orchester, das sich bei diesem Münchner Konzert anscheinend sichtlich wohl fühlt.  

[Martin Blaumeiser, 5.5.2019]