Archiv für den Monat: Februar 2018

Die erste schwedischsprachige Symphonie

cpo 555 043-2; EAN: 7 61203 50432 9

Die erste CD der Gesamteinspielung aller fünf Symphonien des Schweden Hugo Alfvén von Łukasz Borowicz und dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin für cpo umfasst die Erste Symphonie op. 7 in f-Moll, Midsommarvaka op. 19 und Drapa op. 27.

Einer der wenigen international einigermaßen bekannten Komponisten aus Schweden ist Hugo Alfvén, der vor allem durch seine Erste Schwedische Rhapsodie mit dem Titel Midsommarvaka op. 19 für Furore sorgte. Im Laufe seines achtundachtzigjährigen Lebens schuf Alfvén über 300 Werke, zumeist für große Besetzungen. Nach einer kleinen Anzahl von Klavierminiaturen und Kammermusikwerken trumpfte der Komponist 1896 (gerade einmal 24jährig) unerwartet mit einem ersten Orchesterwerk auf und wagte sich damit sogleich an die im Gefolge Beethoven nach wie vor ehrfurchtsvoll behandelte Großform der Symphonie. Ein Jahr später wurde diese Erste unter Conrad Nordqvist uraufgeführt, erschien allerdings erst 1951 nach zwei Revisionen im Druck. Die Symphonie gibt ein Bild auf einen weltoffenen, selbstbewussten und intuitiven Komponisten frei, der bereits über beachtliche technische Mittel verfügt, welche er jedoch nie dem innermusikalischen Gehalt vorzieht. Bereits diese frühe Symphonie stellt persönliche Aussage und Tonsprache unter Beweis, so dass er sie selbst später als „erste schwedischsprachige Symphonie“ bezeichnete, da sie im Gegensatz zu früheren Gattungsbeiträgen des Landes Anklänge an Volksmusik nicht verleugnet. Wichtiger Einfluss hierzu war zweifelsohne Svendsen, dessen Norwegische Rhapsodien und andere Werke folklorenaher Art seinerzeit populär waren. Interessanterweise kommt auch ein ganz unerwarteter Einfluss aus Böhmen zum Vorschein: Der Scherzo-Satz erinnert merklich an Dvořák; und das charakteristische und namensgebende Harfensolo im etwa zehn Jahre später entstandenen Drapa lässt erstaunliche Parallelen zu Smetanas Má vlast erkennen.

Weichheit und Flexibilität der Linie charakterisieren die Darbietung des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin unter Łukasz Borowicz. Der Klang ist voll und dicht, wobei eine stetige expressive Untergründigkeit mitschwingt. Phänomenal ist die sukzessive Zuspitzung und Wandlung ins Groteske der schwedischen Themen in Midsommarvaka. Lediglich der Siciliano-Rhythmus im ansonsten so schwungvollen Scherzo aus der Symphonie wurde ins Unpräzise aufgeweicht (eine der heikelsten Herausforderungen überhaupt für ein Symphonieorchester, womit sogar ein Solo-Musiker zu kämpfen hat). Abgesehen davon ist die Symphonie frisch und lebendig dargeboten und kommt in all ihrem schillernden Farbenreichtum zur Geltung, so dass wir gespannt sein dürfen auf die Fortsetzung dieser Reihe.

[Oliver Fraenzke, Februar 2018]

Wunderlich, wie wunderlich

Fritz Wunderlich: Musik vor Bach; Operetten-Arien; Schlager aus den 50ern

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SWR Music, SWR 19051 / SWR 19038 / SWR 19029; EAN: 7 47313 90518 8 / 7 47313 90388 7 / 7 47313 90298 9

Wir hören Fritz Wunderlich in drei Einspielungen, welche die Vielfalt seiner Stimme auf unterschiedlichste Weise präsentieren: Auf der CD „Musik vor Bach“ finden sich Werke von Ludwig Senfl (1486-1543), Arnt von Aich (1510), Paul Hofhaimer (1459-1537), Heinrich Isaac (1450-1517), Erasmus Lapicida (ca.1450-1547), Adam Rener (1482-1520), Adam von Fulda (ca. 1445-1505), Alessandro Grandi (ca.1575/80-1630), Heinrich Schütz (1585-1672), Johann Rosenmüller (1619-1684), Christoph Graupner (1683-1760), Dietrich Buxtehude (1637-1707) und Johann Philipp Krieger (1649-1735); eine CD mit „Operetten-Arien“ beinhaltet Arien von Franz Lehár (1870-1948), Emmerich Kálmán (1882-1953), Leo Fall ( 1873-1925), Jean Gilbert (1879-1942), Hans May (1886-1958), Ralph Erwin ( 1896-1945), Robert Stolz (1880-1975), Walter Triebel (1908-1951), Nico Dostal (1895-1981), Richard Tauber (1891-1948), Charles Emmerich Kálmán (1929-2015); eine dritte präsentiert verschiedene „Schlager aus den 50ern“.

Mein erstes Erlebnis mit Fritz Wunderlich: 1962 (?) im Münchner Prinzregententheater, „Die Entführung aus dem Serail“ mit Fritz Wunderlich als Belmonte! Glücklicherweise gibt es diese Aufführung inzwischen auch als Konserve zum Nachhören und sich daran Freuen.

Aber das, was derzeit aus den Archiven des SWR auf CD neu erscheint, ist gelinde gesagt eine Sensation: Dass Fritz Wunderlich  Bach, Mozart usw. gesungen hat, ist allbekannt, aber dass er – vor allem in seiner Anfangszeit in Freiburg, das damals ein Zentrum für Alte Musik war, allerdings noch nicht historisch-hysterisch „verbrämt“ – auch Stücke von Ludwig Senfl, Heinrich Schütz, Johann Rosenmüller und anderen vorbachischen Zeitgenossen gesungen, und vor allem wie er das gesungen hat, ist eine Entdeckung ersten Ranges. Schon damals hatte die Stimme jenen „wunderlichen“ Glanz, jene mühelose Höhe bis hin zum Falsett, und vor allem hatte er diese unglaubliche Musikalität in sich, die alle seine Aufnahmen wieder und wieder zeigen und beweisen. Ob als Solist begleitet von einem Streichquartett – wie bei den Lieder von Senfl und Zeitgenossen – oder als Mitglied eines Gesangs-Ensembles, immer wieder besticht seine Fähigkeit, sich dem Gesamtklang einzufügen, ohne seine stimmliche Individualität zu verleugnen oder über Gebühr zu betonen. Auch die makellose Textverständlichkeit – bei ach so vielen Sängerinnen und Sängern ein unverzeihliches Manko – ist bei Fritz Wunderlich natürliches Merkmal, bei aller Stimmschönheit ist sie stets dabei, wenn sich Musik und Poesie geschwisterlich vereinen. Erst dann, und das zeigen diese drei CDs mit Musik vor Bach, Operetten-Arien und deutschen Schlagern der 1950er Jahre. ist das Gipfel-Erlebnis möglich in dem Sinne, in welchem Hans Gal in seinem Buch über „Schubert und die Melodie“ spricht.

Und dann ist es auch völlig gleichgültig, ob Fritz Wunderlich Klassisches oder  „Unklassisches“ wie Operetten oder Schlager singt. Es gibt eben nur zwei Arten von Musik, und zwar nicht E-Musik und U-Musik – eine völlig blödsinnige Unterscheidung meines Erachtens –, sondern gute und schlechte Musik. Und wenn solch ein Ur-Musiker und Ur-Musikant, wie Fritz Wunderlich einer war, der übrigens auf einigen Takes auch selbst Trompete spielt und ursprünglich Horn studierte vor seiner Gesangsausbildung, wenn so einer sich an Lieder von alten Komponisten, Kompositionen mit vorbachischer geistlicher Musik, Operetten von Lehár, Kálmán und anderen oder gar an damals so populäre Schlager macht, dann werden diese zu Diamanten und es ist ein Vergnügen, sich all diese Überspielungen alter SWR-Mitschnitte wieder und wieder zu Gemüte zu führen – zumal so besonnen und bedacht „restauriert“ von zwei Könnerinnen bzw. Könnern, nämlich Gabriele Starke und Boris Kellenbenz, denen dafür unser spezieller Dank gebührt..

[Ulrich Hermann, Februar 2018]

 

Kleinmeisterlich

Toccata Classics, TOCC 0373; EAN: 5 060113 443731

Auf der zweiten der geplanten drei CDs mit der gesamten Orchestermusik von Henry Cotter Nixon hören wir das Präludium zur romantischen Operette The Witch of Esgair, das Concert-Stück op. 14 für Klavier und Orchester, das Scherzo Op. 16 mit dem Titel May Day, Dance of the Sea Nymphes: Pizzicato for Strings und die Concert Overture No. 2: Anima et Fide. Es spielt das Kodály Philharmonic Orchestra unter Paul Mann, am Klavier agiert Ian Hobson.

Toccata Classics brachte uns bereits eine Vielzahl großer Entdeckungen, von Reicha und Juon bis Hopekirk, Rosner und Tabakov, Tansman, Englund und Stankovych, um nur wenige all der bedeutenden Komponisten zu nennen, welche das Label im Katalog führt. Bei so einer großen Auswahl unbekannter Musik ist es nun doch verzeihlich, auch einmal einen Fehlgriff zu machen, was bedauerlicherweise mit der Gesamteinspielung der Orchestermusik von Henry Cotter Nixon (1842 – 1907) geschieht. Der Sohn des Komponisten Henry George Nixon ist in dem Sinne kein schlechter Komponist, lediglich kleinmeisterlich und absolut austauschbar. Er besitzt durchaus Charme in seinen kleinen Stücken leichteren Charakters, verliert sich allerdings in längeren Formen schnell im Irgendwo. Nixon konnte seinerzeit sicherlich in seinem örtlichen Umfeld einige Leute begeistern, nur sind wir heute durch die Möglichkeiten der Musikaufzeichnung und -wiedergabe nicht mehr auf regionale Kleinmeister angewiesen und können stets alle Größen in unser Wohnzimmer holen.

Es ist vor allem das thematische Material, das Nixon in seinem Komponieren beschränkte: Den Themen fehlt es an Prägnanz und Wiedererkennungswert, wodurch es uninteressant ist, die Arbeit mit diesen hörend nachzuvollziehen. Harmonisch bleibt die Musik stark an die Grundfunktionalitäten der herkömmlichen Muster gebunden, somit kann auch die Harmonik nicht über thematische Schwächen hinweghelfen. Besonders im Concert-Stück kommt derart Langeweile auf, hohle Virtuosität ohne erkennbare übergeordnete Struktur verwässert die Großform. Hörenswert sind vor allem die Stücke leichteren, operettenhaften Charakters wie die Ouvertüre zu The Witch of Esgair, ein Themen-Potpourri, oder die Pizzicato Dance of the Sea Nymphs, eine Schöpfung von beinahe Strauß’schem Witz und Prägnanz mit dem – meines Erachtens – bezauberndsten Themas dieser CD.

Die Musiker bemühen sich, der Musik Leben und Farbenvielfalt zu entlocken, und so schaffen sie schöne Momente. Schwer hat es vor allem Ian Hobson, der sich in dieser Musik lediglich von seiner fingerfertigen Seite zeigen kann, ohne lyrische Qualitäten unter Beweis stellen zu können. Doch was von ihm zu hören ist, gefällt. Paul Mann allerdings ist begeistert vom Komponisten, und diese Zuneigung ist hörbar – und in seinem Text im Booklet auch ablesbar.

[Oliver Fraenzke, Februar 2018]

[Rezensionen im Vergleich] Was für ein Mann!

Gordon Sherwood  (1929-2013): Piano Works Volume I
Masha Dimitrieva, Piano; Sonus Eterna

Sonus Eterna, 37423; EAN: 4 260398 610045

Wenn ein Komponist sogar ein Leben als Bettler in Paris auf sich nimmt, um der allgemeinen Betriebsamkeit des Musikbetriebes zu entfliehen und um dafür andererseits genügend Zeit (und das wenige Geld, was er zum Überleben benötigt) zu haben für sein Hauptziel, nämlich das Komponieren, dann kann man sich vorstellen, dass da etwas ganz Besonderes in Erscheinung tritt: Ein Mensch, der auch in seinen Kompositionen kompromisslos ist, nicht nach Aufführungen schielt, seine Beziehung zu seiner Frau in den Wind schießt und als Weltreisender komponiert, wo immer es geht, sei es sesshaft, wenigstens für eine Weile, sei es unterwegs im Zug auf den Knien.
Das die russische Pianistin Masha Dimitrieva nach dem Anschauen des legendären Fernsehfilms über Sherwood ‚Der Bettler von Paris’ (nachzusehen auf YouTube) nicht nur seine Adresse herausfand, sondern ihn und seine Musik zu einem ihrer Standbeine zu machen bereit war– sogar ein eigenes Label gründete sie in diesem Zusammenhang –, veranlasste Sherwoood zu einem ihr gewidmeten Klavierkonzert, das 2004 uraufgeführt wurde.
Auf dieser CD sind einige seiner vielen Klavierkompositionen zu hören, die sofort unmittelbar ansprechen. Sherwood sollte zwar nach dem Wunsch des Vaters eine Karriere beim US-Militär anstreben, doch er weigerte sich, wurde stattdessen Musiker, dessen erste Symphonie großen Beifall erhielt und seinen Lebensweg endgültig vorzeichnete: Unstet bis chaotisch, in vielen Ländern – und deren Musik – zu Hause, ein rastloser Wanderer, der ausgerechnet in Bayern in der Herzogsägmühle seine letzte Wohn- und Arbeitsmöglichkeit fand.
Seine Musik verwendete alles, was ihm wert schien, vom Blues seiner amerikanischen Heimat bis zu Anklängen indischer oder orientalischer Musik, natürlich polyphon geschult an Meistern wie Bach.
Heute ist Masha Dimitrieva die beste Sachwalterin für Sherwoods Musik, alle Möglichkeiten stehen ihr zur Verfügung, um auch die vertracktesten rhythmischen Boogie-Woogie-Kanons zum mühelosen Spiel zu machen, wie alle anderen Stücke auch. Der Steinway-Flügel ist das Instrument dafür, direkt, aber nicht nervend aufgenommen.
Das ausführliche Booklet gibt sowohl über Sherwood und seine Kompositionen als auch über Masha Dimitrieva erschöpfend Auskunft.
Wir dürfen gespannt sein, was an Entdeckungen der Musik dieses genialen „Bettelmusikanten“ noch auf uns wartet.

[Ulrich Hermann, Januar 2018]

[Rezension im Vergleich] Weltbürger und Bettler

Sonus Eterna, 37423; EAN: 4 260398 610045

Masha Dimitrieva spielt ausgewählte Klavierwerke von Gordon Sherwood für Sonus Eterna: Dance Suite op. 67, Sonata quasi una fantasia op. 78, Four Sonatinas op. 27, Sonata for Ariana op. 77 sowie eine Auswahl aus Boogie Canonicus op. 50.

Das Leben von Gordon Sherwood könnte abenteuerlicher, wechselhafter und filmreifer gar nicht gewesen sein. Als Kind erlebte der 1929 geborene Sherwood in einer US-Kadettenanstalt gewaltige Traumata durch Mobbing und Unterdrückung, blühte dann allerdings in dem gegen den Willen seines Vaters eingeschlagenen Musikerberuf voll auf und bewegte sich, unter den Fittichen von Aaron Copland, schnurstracks in Richtung einer internationalen Karriere. Für Studien in Hamburg bei Philipp Jarnach gab er diese allerdings auf, begab sich nach einem weiteren Aufenthalt in den USA nach Rom, wo er seine Studien bei Goffredo Petrassi fortsetzte. Über Kairo und Griechenland ging es mit seiner Frau Ruth, die er in der Hamburger Zeit kennengelernt hatte, nach Nairobi. 1968 brach er dort alles ab, wurde zum dauerhaft Weltreisenden, verdiente sein Geld über lange Phasen als Bettler. Seine letzten Jahre verbrachte Gordon Sherwood größtenteils in Deutschland, hauptsächlich dank Masha Dimitrieva, die inspiriert durch den Film „Der Bettler von Paris“ von Erdmann Wingert und Heiner Silvester Kontakt zum Komponisten suchte und ihn durch ihr Spiel wie durch ihre Persönlichkeit überzeugte, sogar ein Klavierkonzert für sie zu schreiben. Im Mai 2013 verstarb Gordon Sherwood in Oberbayern, hinterließ 143 vollendete und zahllose Skizzen gebliebene Werke.

Gordon Sherwood einem Stil zuzuordnen oder selbst, aus seiner Musik einen Personalstil herauszuarbeiten, gestaltet sich als schier aussichtslose Aufgabe. Charakteristisch für ihn ist lediglich, dass seinen Schaffen keinen verfestigten Stil aufweist. Sherwood war Weltbürger und entsprechend ließ er allen Einflüssen ihren Platz in seinem Schaffen: amerikanische, französische, italienische, deutsche, nah- und fernöstliche Musik, Jazz, Boogie und Blues, Pop und Rock, Volksmusik und beinahe alles andere, was sich wo auch immer musikalisch finden lässt. Als Neuerer verstand sich Sherwood ebenso wenig wie als Traditionalist, er beschritt schlicht und einfach den Weg, der sich für ihn richtig anfühlte. Konventionen, Kompositionsschulen und normative Einengungen ließen ihn dabei kalt. So ließe sich seine Musik vor allem als eines beschreiben: als natürlich und ungezwungen. Auf diese Weise schafft es seine Musik, den Menschen an sich anzusprechen und in sein Innerstes vorzudringen. Vielen dürfte seine Musik zugänglich sein, viele wird sie ansprechen, sofern sie diese erst einmal kennenlernen. Zugleich, das Wissen von drei herausragenden Lehrern im Hinterkopf, auf handwerklich meisterhaftem Niveau gesetzt und stimmungstragend konzipiert, befinden sich diese Werke in ausgeglichener Position zwischen dem einfachen, dem musikalisch gebildeten und dem vollkommen ahnungslosen Hörer.

Überragend ist die musikalische Leistung der aus Russland stammenden wahldeutschen Pianistin Masha Dimitrieva, einstiger Schülerin des legendären Conrad Hansen. Beseelt und lebendig durchschreitet sie all die so grundverschiedenen Stücke dieser CD, von den melancholischen Sonaten über die aufgeweckte Tanzsuite und die teils orientalisch und indisch durchtränkten Sonatinen bis hin zu den swingenden und rockenden, kanonisch vertrackten Boogies. Adäquat zu den Stücken besticht sie mit innerer Ausgewogenheit und Ruhe. Jedem Stück verleiht Masha Dimitrieva das, was dieses spezifisch für eine gelungene Ausführung verlangt, was einen weit geöffneten und vielseitig geprägten Geist voraussetzt. Masha Dimitrievas Spiel erblüht in Feinheit und Liebe zum Detail, was selbst über die unvorteilhafte Aufnahmetechnik locker hinweghilft. In großen Phrasen fließt sie in der Musik und die Musik in ihr, wobei sie stets den Kontext der geschlossenen Form im Visier behält und den Hörer sicher vom ersten bis zum letzten Ton zu geleiten weiß.

[Oliver Fraenzke, Januar 2018]

Dieses Licht leuchtet, aber blendet nicht!

Hauchzarte, sphärische Flagoletts in höchster Tonhöhe stehen am Anfang von „Distant Light“, jenem 1997 von Pēteris Vasks geschaffenen Stück für Solovioline und Orchester. Auch wenn sein Schöpfer, der 1946 in Lettland geborene Komponist es als Solokonzert bezeichnet – ist es nicht doch eher ein Rezitativ? Oder eine Meditation? Als Bekenntnis zur Humanität will es sein Schöpfer allemal verstanden wissen – ebenso wie das im Jahr 2006 uraufgeführte, ebenfalls einsätzige Stück „Vox amoris“. Der junge schweizerische Geiger Sebastian Bohren geht in einer neuen Aufnahme der spirituell-meditativen Botschaft dieser Stücke auf den Grund – und konnte sich dabei auf das Georgische Kammerorchester Ingolstadt sowie auf die Chaarts Chamber Artists bestens verlassen!

„Vox Amoris“ und „Distant Light“ treffen einen Nerv – und sind daher seit ihrer Entstehung bei Publikum und Interpreten viel gefragt. Im Vergleich mit anderen, bereits vorhandenen und – nicht weniger gehaltvollen – Deutungen gelingt es Sebastian Bohren, hier  weitere, bereichernde Perspektive aufzuzeigen.

Wo manche das Melos in romantisierender Klanglichkeit verdichten und andere den tragischen Gestus durch betont dunkle Färbungen und eine gewisse „drängende“ Tongebung auf der Violine hervorheben, da lässt Sebastian Bohrens Spiel deutlich mehr Luft zum Atmen, was den expansiven Linien in diesen Stücken extrem zugute kommt. Weit öffnen sich hier Klanglandschaften, in denen sich Expression und Emphase ganz wie von selbst entwickeln. Vasks Tonsprache übt sich ohnehin in einer klugen Ökonomie, was die Melodik oft eingängig und durchaus auch mal etwas cineastisch wirken lässt. Wer hier feinfühlig hineinhört, kann sehr viel unmittelbaren, oft zart berührenden Ausdruck hervorbringen. Diesem Ideal kommt Sebastian Bohrens Spiel auf der Violine bestens nahe. Er macht nie zu viel Druck auf den Seiten. Der Ton funkelt und strahlt in allen Registern. Klug ist der Einsatz von oft sehr reduziertem, dann wieder ruhig pulsierendem und vor allem nie nervös wirkendem Vibrato. Und genau dieser Sinn für sensibles Maß geht im besten Sinne auf die beiden Orchester über.

„Distant Light“ ist das extrovertierte, dramatischere Stücke von beiden. Auf die elegische Einleitung folgt ein rhythmisch bewegter Mittelteil, der dramatische Eruptionen bis hin zu clusterhaften Verdichtungen freisetzt. In den kolossalen Solokadenzen lebt eine klare, aufgeräumte Rhetorik, dass es nie zur circensischen Demonstration von Virtuosität ausartet.  Am Ende steigt die Melodie wieder in den Himmel hinauf – durch ähnliche Flagoletts ganz hoch oben wie am Anfang. Das Licht, was hier leuchtet, blendet nie!

„Vox Amoris“ ist eine Hymne des lettischen Komponisten auf die Liebe. Es folgt einer ähnlichen Dramaturgie, aber mit weniger stark auftrumpfender Geste. Wärmende Emotionalität    ist hier alles. Hier wird Bohren Spiel eins mit den Chaarts Chamber Artists, mit denen er schon seit Jahren produktiv zusammenarbeitet – und die in der vorliegenden Aufnahme mit entsprechend intuitiven Gespür auf jede noch so feine Regung der Volovioline reagieren! Zu „Vox Amoris“ hat Sebastian Bohren übrigens eine besondere Beziehung, da er sich schon zu Beginn seiner  Karriere intensiv mit diesem Werk auseinander gesetzt hatte.

Und da aller guten Dinge drei sind, wurde dieser Aufnahme noch eine sinnvolle Ergänzung hinzugefügt –  nämlich das in einer fast seelenverwandten Ausdruckswelt daherkommende Stück „Chiaroscuro“ von Gya Kancheli.  Hier wird der Hörer wieder in eine stärker expandierende Dramatik hinein gezogen. Auch hier erhebt sich Bohrens selbstbewusstes Spiel wie ein Monolog, der sich und niemandem mehr zu beweisen braucht. Die Steigerung mitten im Stück ist die wuchtigste, heftigste von allen dreien, erzeugt durch ein perkussives Gewitter der Schlaginstrumente und eine temporären Sprengung jeder Tonalität.

Fazit: Sebastian Bohren und das Georgische Kammerorchester Ingolstadt sowie die Chaarts Chamber Artists demonstrieren anhand der unkonventionellen Musik von Peteris Vasks und Gya Kancheli einen hellsichtigen Weg, um über jede formalisierte Solokonzert-Konvention hinaus zu wachsen. Das wird noch dadurch unterstrichen, dass hier bewusst auf einen Dirigenten verzichtet wurde. So wird das Orchester zur konzentrischen Umgebung für einen jungen Ausnahme-Solisten.

Die Steigerung wäre jetzt noch, diese Konstellation in einer Surround-Aufnahme noch plastischer erfahrbar zu machen.

[Stefan Pieper, Januar 2018]

Eigentlich ein wunderbar geistreiches Spiel

Havergal Brians Symphonien-Zyklus auf Tonträger komplettiert

Havergal Brian: Symphonien Nr. 8, 21 und 26; New Russia State Symphony Orchestra, Alexander Walker

Naxos CD 8.573752 (EAN: 747313375271)

Diese CD ist ein Paukenschlag außer Hörweite des Mainstreams. Mit der Aufnahme der 1966 im Alter von 90 Jahren komponierten 26. Symphonie (es sollten noch sechs weitere folgen!) sind nunmehr sämtliche 32 Symphonien von Havergal Brian (1876-1972) auf kommerziellen Tonträgern erschienen. Brian ist natürlich aus mehreren Gründen ein Unikum. Mit seiner im Alter von mehr als 50 Jahren vollendeten ersten Symphonie, der legendären ‚Gothic Symphony’, schuf er ein Richard Strauss gewidmetes Mammutwerk, das bezüglich Größe der Besetzung und Gesamtdauer ins Guinness-Buch der Rekorde einging. Seine 1949 komponierte einsätzige Achte Symphonie, die auf vorliegender CD auch enthalten ist, wurde per Zufall im BBC-Archiv von Robert Simpson (der sich zu jener Zeit selbst anschickte, einer der führenden Symphoniker der Nachkriegszeit zu werden) entdeckt, und Simpson traute seinen Augen nicht. Er versprach daraufhin dem Komponisten, jede weitere Symphonie, die er vollende, als verantwortlicher Produzent zur Aufführung zu bringen, und so war die Achte 1954 die erste Symphonie, die Brian, nunmehr bald achtzig Jahre alt, zu hören bekam. Von Simpson und der allgemein frappierten Resonanz ermutigt, komponierte Brian tatsächlich noch 21 weitere Symphonien im Alter von über 80 Jahren. Und so ist er eben auch bezüglich der Anzahl vollendeter Symphonien zum Rekordhalter unter jenen Komponisten geworden, bei welchen zugleich auch von so etwas wie symphonischer Substanz die Rede sein kann (dass uns Leif Segerstam vielleicht noch mit 500 ‚Symphonien’ beglücken mag, steht auf einem anderen Blatt – orchestrale Improvisationen wäre da wohl der einleuchtendere Titel…).

Hier also gibt es, gespielt vom Neuen Russischen Staatlichen Symphonieorchester in Moskau unter der Leitung von Alexander Walker, zunächst jene schicksalhafte Achte zu hören, die nicht nur mit einem unerhörten Tonfall gefangen nimmt, sondern auch mit einer zugleich äußerst freien und auf die kurze Strecke eventuell zusammenhangslos scheinenden Formentwicklung, deren unmittelbarstes Merkmal komplette Unvorhersehbarkeit ist (das erste Markenzeichen Havergal Brians schlechthin – alles ist ein Abenteuer, sei es in überwältigenderen oder harmloser auftretenden Varianten). Doch mit konzentriertem Hören wird man feststellen können, wie hier alles aufeinander bezogen ist, wie die Musik mit einer fast schon beispiellosen Courage Risse, Zerklüftungen, Fragmentierungen, Befremdlichkeiten in den Raum stellt, und diese getrennt scheinenden Welten untereinander aus der Distanz, wie in fernem Magnetismus, ein Beziehungsnetz aufspannen, das wie von Geisterhand einen großen Zusammenhang entstehen lässt. Das ist natürlich eine äußerst riskante Methode, und man kann nicht davon ausgehen, dass das 32 mal auch geklappt hat (Brian hat übrigens noch sehr viel weitere Musik, darunter große Opern, geschrieben, deren Grundhaltung bis auf ein paar unterhaltendere Genrewerke eigentlich stets die selbe ist).

Allerdings weisen seine Alterswerke (also nach Überschreiten der Achtzig) eine unbestreitbare Veränderung auf: Nun tendiert er zur Kürze, oftmals schon in fast aphoristischer Weise. Dadurch wird die Situation für die Ausführenden nicht einfacher, denn das Ausmaß der Kontraste und der scheinbar fremd nebeneinander gestellten Elemente wird damit keineswegs geringer – nur ist eben jetzt nicht mehr so viel Zeit, um etwas entstehen zu lassen, und wenn man selbst nicht so recht erfasst hat, was man da spielt, fühlt sich der Hörer ein wenig, als würde er in einem Oktoskop rotieren.

Die 21. Symphonie von 1963 ist da keine Ausnahme, außer in der Hinsicht, dass sie ausnahmsweise noch einmal viersätzig ist und – als umfangreichste der späten Symphonien – ungefähr eine halbe Stunde dauert. Ein sehr anspruchsvolles Werk, das man eigentlich einige Male im Konzert gespielt haben müsste, um als Musiker eine Chance zu haben, bei der Aufnahme zu kapieren, welche Funktion man gerade innerhalb der zusammenhängend gebauten Form innehat. Dazu kommt es denn auch hier nicht, und das sind wir ja leider gewohnt. Ein Orchester ist eben zu teuer, um sich mit Werken so auseinander zu setzen, wie dies für seriöse Kammermusikvereinigungen selbstverständlich ist.

Nicht anders ist die Problematik bei der nun zum ersten Mal aufgenommenen 26. Symphonie, dem endlich eliminierten Missing Link in Brians symphonischem Schaffen. Entstanden in seinem 90. Lebensjahr, als er endlich einmal alters-sensationshalber mit Ehrungen überhäuft wird und die ’Gothic Symphony’ unter Adrian Boult die erste professionell repräsentative Aufführung erfährt, ist diese Nr. 26 ein zwar sehr knapp gefasstes, doch zugleich bei unzusammenhängend erfasster Darstellung scheinbar wirr zusammengestelltes Werk in drei Sätzen mit einer Dauer von 18 Minuten. Ein Problem, das mir auch schon vorher auf die Nerven gegangen ist, macht das Hören hier zunächst zusätzlich mühsam: Brian macht ausgiebigen und nicht immer ausgesprochen subtilen Gebrauch vom Schlagzeug, und die Schlagzeugsektion müsste insgesamt viel zurückhaltender, unaufdringlicher agieren, um dieser eigentlich so elegant empfundenen Musik nicht eine gewisse Primitivität und Redundanz aufzupfropfen. Das ist vor allem beim umfangreichsten ersten Satz sehr störend. Die beiden folgenden Sätze gehen attacca ineinander über, und hier kann man – wenn man in der Lage ist, von der etwas naiven Orientierungslosigkeit des Orchesterspiels zu abstrahieren – die höchst faszinierenden Charakteristika von Brians einmaliger Musiksprache studieren (nochmal: das ist nicht die Schuld des Orchesters, und auch der Dirigent hat nur geringste Chancen, während der Aufnahmen hier ein auch nur rudimentäres Verständnis zu kreieren, das nicht da sein kann, wenn die Tonsprache neu, die Faktur heikel und die Zeit für makellose technische Ausführung knapp ist!). Man darf Brian nicht mit dem Klischee folgend aufgedonnerter spätromantischer Emphase spielen, das rächt sich schon, wenn man nur für ein bis zwei Phrasen in das veristische Klangbad fällt, in Mahler’sches ‚Verweile doch, du bessere Vergangenheit’ einstimmt oder auf den Tschaikowskyzug aufspringt. Auch Elgars Lost Empire Glory ist die falsche, wenn auch näherliegende Verbindung, und Brians grotesker Humor, der ihn sich als geborener Underdog instinktiv von der britischen Weltmachtherrlichkeit distanzieren lässt, liegt eben nicht im Deftigen, allzu Offensichtlichen, sondern in feinen und feinsten Nuancierungen. Auch das Fortissimo braucht in der Regel noch eine gepflegte Distanz, und mit es krachen lassen und die Zügel schießen lassen ist hier nichts Sinnvolles auszurichten. Man muss Brian mit einem wachen Bewusstsein der konkreten Klangentstehung spielen, wie das bei Debussy oder Ravel erwartet wird, und zugleich muss man es sich erarbeiten, die nebeneinander gestellten, immer wieder unglaublich neuartig in Wechselbeziehung (oder eben im gewohnt ungünstigen Fall beziehungslos) sich begegnenden kurzen Episoden, die oftmals nicht länger dauern als eine einzige Phrase, in ihrem Zusammenhang zu empfinden, und zu erleben, welche Gewichtungen, welche Akzentuierungen und Auflösungen der Spannung es jeweils braucht, damit sich eine erfahrbare Beziehung überhaupt einstellen kann. Denn diese Musik ist ein wunderbar geistreiches Spiel, das seine ganz eigene Geschichte jenseits der Gewöhnlichkeiten des konventionellen musikalischen Denkens entfaltet. Im vorliegenden Fall muss man dafür – wie so oft – ‚hinter’ das hören, was aufdringlich und zusammenhangslos auf einen einstürzt. Dann kann man eine Ahnung bekommen, was alles noch möglich wäre. Es ist bedauerlich, dass der große Brian-Forscher Malcolm MacDonald die diskographische Vollendung des symphonischen Zyklus nicht mehr erleben durfte. Und es ist ein immenser Vorzug vorliegender Scheibe, dass den exzellenten und sich an keinen Autoritäten festhaltenden Booklettext mit John Pickard einer der führenden Symphoniker unserer Tage verfasst hat. The exploration goes on…

[Christoph Schlüren, Februar 2018]

„Die Musik soll singen“

Der schweizerische Geiger Sebastian Bohren ist schon lange mit Pēteris Vasks Fantasie für Violine und Streichorchester „Vox Amoris“ vertraut. Als er sie nun mit den Chaarts Chamber Artists einspielte, dachte er noch gar nicht an ein großes Medienecho. Der visionären Kraft dieser Stücke, ihrer melodischen Direktheit und Bildkraft kann sich kaum jemand – egal ob Hörer oder Interpret –  entziehen. Also wuchs auch Sebastian Bohrens Unterfangen zu einem größeren Projekt. Mit den Chaarts Chamber Artists wurde „Vox Amoris“, (2009) eingespielt – für eine Neuaufnahme des  viel gefragten Violinkonzertes „Distant Light“ (1997) konnte das Georgische Kammerorchester Ingolstadt gewonnen werden. Gija Kanchelis „Chiaroscuro“ komplettiert die Neuaufnahme zu einem bemerkenswerten Dreiklang. Dass Sony diese drei Stücke nur als Download veröffentlichte, sehen sowohl der Komponist als auch der Interpret nicht als Einschränkung.  

Stefan Pieper hat bei Komponist und Interpret nachgefragt.

 

Stefan Pieper: Sind Sie glücklich damit, dass Sony Music Ihr neues Release nur als Download veröffentlicht?

Sebastian Bohren:  Ja, das war sogar meine Initiative. Die Grundidee war, diese Musik speziell für Streaming Portale anzubieten. Es gibt ja bereits CD-Veröffentlichungen, unter anderem auch eine auf ECM mit Gidon Kremer. Aber nichts davon war bislang als Download verfügbar. Deswegen schließt meine Live-Einspielung hier eine echte Lücke. Und obwohl es das neue Release nicht als physische CD gibt, habe ich auch die optische Gestaltung nicht dem Zufall überlassen. Ich habe viel Zeit investiert, damit der Gesamtauftritt sehr hochwertig daher kommt. Ich glaube, das ist uns sehr gut gelungen.

Pēteris Vasks: Ich bin im Internet auf die neuen Liveaufnahmen mit Sebastian Bohren gestoßen. Es ist schön, dass man diese Musik jetzt auch in den elektronischen Medien entdecken und hören kann. Mir gefällt seine Interpretation von Vox Amoris sehr gut, ebenso wie er Distant Light interpretiert. Sein Spiel transportiert eine Botschaft, und darum sollte es in diesen Kompositionen ja gehen.

Stefan Pieper: Können Sie schon etwas über die Resonanz sagen?

Sebastian Bohren: Ich hatte befürchtet, dass eine rein digitale Veröffentlichung bei den Rezensenten nicht gut ankommt, die es nach wie vor kritisch sehen, wenn etwas nur online ist. Aber dann hat sich alles sehr positiv entwickelt. Es gab eine ausgesprochen gute Resonanz von Petris Vasks.

Stefan Pieper: Herr Vasks, was macht Sebastian Bohren anders als Gidon Kremer?

Pēteris Vasks: Bei Sebastian Bohren klingt vieles weicher und inniger, während Gidon Kremer eher auf die tragischen, dramatischen Gesten setzt. Für mich ist es immer interessant zu hören, wenn ein Interpret etwas findet, was für mich eine positive Überraschung ist. Ich komponiere die Noten, aber die Musik beginnt erst durch die Interpretation zu leben. Wenn Sebastian Bohren diese Musik zum Leben erweckt, vor allem, wenn er Vox Amoris spielt, habe ich das Gefühl, dass diese Musik speziell für ihn komponiert worden ist. Er ist sehr jung und voll mit Liebe und Idealismus. Das hört man einfach hier heraus.

Stefan Pieper: Herr Bohren, was für einen persönlichen Bezug haben Sie zu dieser Musik?

Sebastian Bohren:  Der Anfang meiner solistischen Karriere war immerhin mit dem Stück Vox Amoris – und ich erhielt immer gute Rückmeldungen, wenn ich es gespielt habe. Das Stück haben auch bereits viele andere Geiger ins Repertoire aufgenommen!

Stefan Pieper: Obwohl das ja eigentlich kein Standardrepertoire ist?

Sebastian Bohren: Also für mich persönlich schon! Ich habe mich immer schon für diese Musik interessiert und wollte sie spielen. Distant Light habe ich dann etwas später gelernt.

Stefan Pieper: Was verbindet diese Stücke miteinander? Was sind Unterschiede und Gemeinsamkeiten?

Sebastian Bohren: Distant Light ist wie ein ausgewachsenes Violinkonzert. Es hat längere Kadenzen und ist geigerisch sehr virtuos. Es transportiert eine ganz andere Grundstimmung als Vox Amoris: Es ist dunkler – und das hoffnungsvolle Licht ist immer nur weit entfernt wahrnehmbar. Vox Amoris ist dagegen ein einziger großer Liebesgesang.

Pēteris Vasks: Vox Amoris und Distant Light unterscheiden sich von ihrer Stimmung und Dramatik voneinander. Das Violinkonzert ist das dramatischere Stück von beiden. Da ist die Stimmungsamplitude größer und tragischer. Auch ein fabelhafter Interpret wie Sebastian Bohren kann seine Deutung dieser Werke noch ausbauen. Er kann die Dramatik noch weiter entwickeln. Aber ich bin jetzt schon sehr begeistert von seinem Spiel und freue mich sehr über diese Aufführungen!

Stefan Pieper: Trotzdem ist auch Distant Light sehr weit weg von einem üblichen Violinkonzert mit dieser typischen Dialogstruktur zwischen Soloinstrument und Orchester.  Alles ist viel konzentrischer um die Violine zentriert und die Geige ist gewissermaßen das emotionale Epizentrum. Wie sehen Sie das?

Sebastian Bohren: Pēteris Vasks drückt sich kompositorisch in seiner ganz eigenen, sehr direkten Sprache aus. Aber man verkennt diese Musik immens, wenn man diese bewusste Einfachheit mit Einfältigkeit gleichsetzt. Mir sagte einmal ein Kenner von moderner Musik, er könne mich nur bemitleiden, da wäre doch erst nach mehreren hundert Takten das erste Vorzeichen drin. Diese Musik aber als Kitsch anzusehen, ist ein großes Missverständnis! Vasks hat eine evidente Fähigkeit für das Melodische, Expressive. Man muss diese Musik in dem Kontext verstehen, aus dem sie kommt. Niemals geht es darum, sich hier als Spieler in Szene zu setzen. Stattdessen soll man die Musik bescheiden spielen, mit möglichst viel Authentizität!

Pēteris Vasks: Distant Light ist im Kern ein Konzert, auch wenn es schon mannigfaltige Verwendung fand, etwa für Choreografien im Tanztheater. Bei Vox Amoris sehe ich nicht so sehr eine typische Konzertform. Ich bin frei. Ich denke eigentlich gar nicht darüber nach, welche Form habe ich hier erfüllt und welche nicht. Es ist doch eigentlich gar nicht von Belang, etwa nachzuzählen, wie viele Kadenzen es hier in einem Stück und wie viele im anderen gibt.  Ehrlich gesagt – ich weiß einfach nicht, warum hinterher die eine oder die andere Form herauskommt. Ich kann es nicht erklären und lege auch keinen Wert darauf. Wenn ich in einer Arbeitsphase bin, dann strömt die Musik einfach wie ein Fluss, den ich natürlich kontrolliere. Trotzdem. Ich mache mir doch nicht zu aller erst über eine Form Gedanken. Ich habe mich teilweise mit Gidon Kremer auseinandergesetzt, der mir verschiedene Möglichkeiten aufzeigte. Das hat mich weiter ermutigt, mehr für die Violine zu komponieren. Ansonsten ist das Cello mein absolutes Lieblingsinstrument. Ich habe jetzt zwei Cellokonzerte, ebenso Bratschenkonzerte und auch Solostücke für Kontrabass komponiert, den ich selber spiele.

Stefan Pieper: Mit was für Herausforderungen ist der Solist in diesen Stücken konfrontiert?

Sebastian Bohren: Vor allem muss man eine technische Affinität zu diesen melodischen Elementen haben und einen weiten Bogen spannen können. Das sind Grundvoraussetzungen. Es muss irgendwie aus dem Inneren empfunden sein. Es braucht eine Form der Reinheit. Es geht darum, von Anfang an vernünftige Entscheidungen zu treffen – vor allem, was das Timing anbelangt! Man muss intuitiv erfassen, welche Tonart Hoffnung oder Verzweiflung bedeutet. Vor allem das muss zum Ausdruck kommen! Man muss hier eine Vielzahl von verschiedenen Farben auf der Geige erzeugen. Es geht um das Verhältnis von viel und wenig Druck, von viel und wenig Vibrato auf der Geige.

Stefan Pieper: Wie ist es um die Interaktion mit dem Orchester bestellt?

Sebastian Bohren: Bei Distant Light ist es eine etwas größere organisatorische Herausforderung als bei Vox Amoris. Der Solist muss gut Bescheid wissen, wann spielt er mit wem. Dies funktioniert meiner Meinung nach ohne Dirigent am besten. Ich denke, man muss einen Zustand erreichen, wo sich alle gemeinsam drauf einlassen. Man braucht ausreichend Probezeit, außerdem müssen alle Beteiligten die richtige Sensibilität haben und sich mit dem Stück identifizieren.

Stefan Pieper: Können Sie Ihre grundsätzlichen musikalischen Ideale formulieren?

Pēteris Vasks: Die Musik muss vor allem singen. Mir sind in meinen Kompositionen starke Gesangslinien wichtig, die etwas erzählen. Hinter allem, was ich komponiere, soll eine Botschaft stehen. Ich liebe unsere fantastisch schöne Welt, aber ich bin auch oft sehr traurig über die Gegenwart. Dieser ganze, die Welt immer mehr beherrschende Materialismus ist nicht gut.

Stefan Pieper: Was kann Musik dagegen tun?

Pēteris Vasks: Musik hat zuallererst eine emotionale Komponente und natürlich auch eine intellektuelle. Ich denke an mein Publikum. Auch darin gehe ich einen konsequenten Weg. Es ist unser aller gemeinsames Projekt, durch die Musik die Welt etwas besser zu machen. Das birgt die idealistische Hoffnung, dass Dinge vielleicht wieder etwas besser ins Gleichgewicht zueinander kommen.

Musik pur

Bohuslav Martinů (1890-1959): Complete Works for Cello and Orchestra
Petr Nouzovský, Cello; Pilsen Philharmonic; Tomas Brauner, Dirigent

Musikproduktion Dabringhaus & Grimm, MDG 601 2041-2 (2 CDs); EAN: 7 60623 20412 3

 

Wer, wie Bohuslav Martinů , die ersten Jahre nach seiner Geburt in luftiger Höhe in einer Türmerwohnung verbracht hat, dem ist wohl ein ganz besonderes Weltbild – auch akustisch – zu eigen geworden. Das ist sicher auch ein herausragendes Merkmal seiner Kompositionen, von denen sämtliche für Cello und Orchester auf dieser Doppel-CD versammelt sind. Was beim ersten Anhören sofort auffällt, ist der ungeheure melodische und rhythmische Reichtum dieser Musik. Bisher war mir Martinů zwar dem Namen nach wohlbekannt, seine Musik aber nur am Rande. Was sich ab sofort ändern wird und bereits geändert hat.

Das erste Cellokonzert hat er im Sommer 1930 noch in seiner Geburtsstadt Policka begonnen, es wurde vollendet in Paris und 1931 von Gaspar Cassadó in Berlin uraufgeführt. Allerdings arbeitete es Martinů bis zur endgültigen Fassung noch mehrmals um. Es wirkt in der letzten und hier vorliegenden Fassung vollkommen abgerundet, was sicher auch von der Zusammenarbeit mit Pierre Fournier profitierte. Der Tonalität verpflichtet, nimmt es trotzdem viele zeitgemäße Anregungen auf, enthält eine große Anzahl verschiedenster Elemente, ruhig bis vital, kein Wunder, dass es bald Eingang in das Repertoire der Cellisten gefunden hat.

Martinů musste, wie so viele Künstler, emigrieren, hatte allerdings in Amerika von Anfang an Erfolg und konnte von seiner Musik und seiner Lehrtätigkeit gut leben. In allen Lagen und allen tonlichen Dimensionen ist das Cello eingebettet im Orchester, kann aber immer seine Klanglichkeit mühelos behaupten, in allen drei Sätzen.

Im zweiten Stück, der Sonata da camera von 1940, komponiert unter schwierigen Bedingungen beim Warten auf das Ausreisevisum, führt das Soloinstrument zusammen mit dem kleinen Orchester-Ensemble alles nur Erdenkliche an rhythmischen, elegischen und melodischen Finessen vor, was dem Stück eine überzeugende Wirkung verleiht. Es ist eine äußerst reizvolle Komposition, die dem Cellisten Henri Honegger gewidmet ist, einem Gönner in diesen schwierigen Zeiten. Martinůs Klangsprache ist seltsam vertraut, fast möchte ich das seltene Wort „schön“ gebrauchen, sie nimmt mich sofort gefangen und ist voller Wohlklang, gesanglich melodisch und überraschend instrumentiert.

Die zweite CD wartet auf mit einem zweiten Cello-Konzert, das Martinů nach seiner Emigration 1944 in New York komponierte. Er selbst sagte, man könne es fast eine „Pastorale“ nennen. Und so kommt es auch daher, äußerst melodisch, ein wenig an die Pastroral-Musik seines Landsmannes Ryba erinnernd in seiner Melodien-Seligkeit. Dem Instrument wie auf den Leib geschrieben, schwelgt besonders der zweite Satz förmlich in Wohlklang und Liedthemen. Auch hier finden sich wieder allerdings sehr rhythmisch bewegte Abschnitte, es ist wieder einmal alles aufgeboten, was die Musik dieses Komponisten hörenswert macht.

Das früheste Stück lässt den Einfluss der Jazz-Musik und des Aufbruchs seiner Jugendjahre deutlich hören und spüren, es ist durchaus wild und jazzig an vielen Stellen, aber immer vital und anregend, Martinůs erste konzertante Komposition, und entstand 1924 in Paris.

An die 30 Solokonzerte hat Martinů für die verschiedensten Instrumente komponiert. Diese Doppel-CD ist ein großartiger Beitrag und ein gelungener Beweis, wie „schön“ moderne Musik sich anhören kann.

Noch dazu, wenn es von solchen Könnern wie dem Cellisten  Petr Nouzovsky und der Pilsener Philharmonie unter Tomas Brauner zum Klingen gebracht wird. Dem Label Dabringhaus und Grimm ist da eine vorzügliche Produktion gelungen.

[ULRICH HERMANN, Januar 2018]

 

 

 

 

Musikgenuss statt Trauer

Das Orchester Jakobsplatz München präsentiert am 1. Februar 2018 in seiner dritten ‚Expedition’ im Münchner NS-Dokumentationszentrum einen weiteren von den Nationalsozialisten verfemten jüdischen Musiker, den (mutmaßlich) 1944 in Warschau ermordeten Komponisten Józef Koffler. Die Mezzosopranistin Victória Real singt gemeinsam mit Sofija Molchanova an der Klarinette, der Bratschistin Charlotte Walterspiel und Aniko Zeke am Cello die Kantate „Die Liebe“ von 1931, die beiden Streicherinnen spielen daraufhin gemeinsam mit dem Geiger Sándor Galgoczi das Streichtrio op. 10. Die Moderation hat Daniel Grossmann.

Eine Vielzahl großer Musiker brachte Polen im beginnenden 20. Jahrhundert hervor. Doch von freier Entfaltung konnten die meisten von ihnen nur träumen, gehörten doch viele dem jüdischen Glauben an, wurden als Neutöner verspottet und gerieten so schließlich in die Fänge der Nationalsozialisten. Insbesondere seien hier Szymon Laks und Constantin Regamey genannt, die beide die Gefangenschaft in den Konzentrationslagern überlebten, und Józef Koffler, welcher nach längerer Ghettoisierung gemeinsam mit seiner Familie erschossen wurde.

Es ist wenig bekannt über das Leben Józef Kofflers und die Quellen und Theorien zu seinen letzten Jahren sind zweifelhaft und umstritten, wie auch Daniel Grossmann in der Moderation zur Dritten Expedition des OJM ausführte. Einiges weiß man über seine Studien und über seinen Ruf als „Erster Dodekaphoniker Polens“, manche Aspekte seiner Persönlichkeit sind aus eigenen Texten und Erfahrungsberichten zu entnehmen, doch nur wenig erfahren wir über seine Entwicklung und seine späten Jahre (einige Details zu Kofflers Leben sind der New-Listener-Rezension der letzten CD-Veröffentlichung seiner Musik bei EDA zu entnehmen).

Józef Koffler schuf herausragende Werke auf dem Feld der Symphonik und der Kammermusik, und besonders lag ihm die menschliche Stimme am Herzen. Während er in Polen nur mäßige Erfolge feiern konnte, war er ein gefragter Komponist im Ausland, nicht zuletzt aufgrund guter Kontakte zu fortschrittlichen Musikern wie dem Dirigenten Hermann Scherchen, die sich rege um sein Orchesterschaffen kümmerten und sie aufführten. Die NS-Zeit beendete schnell seine beginnende Karriere, und nach seinem Tod blieb er lange Zeit unbeachtet, bis erste Musiker sich erneut seinem Œuvre widmeten und kommerzielle CDs seines gesamten Klavierwerks, seiner Kammermusik und zuletzt erstmalig seines Orchesterschaffens einspielten. Ein emotionaler Appell stand am Schluss der Moderation Daniel Grossmanns, der hier zitiert werden soll: Man solle die toten Künstler nicht beweinen, sondern sich ihres Werks erfreuen und sie freudig wiederauferstehen lassen.

Die Frage nach der Beschaffenheit von Kofflers Dodekaphonie ist keine leichte: Er bewunderte Schönberg, dem er nie persönlich begegnet war, als seinen wichtigsten Lehrer und schätzte die Zwölftonreihen-Methode als neuen Weg der kreativen Entfaltung. Und doch unterscheidet sich seine Verwendung der Dodekaphonie grundlegend von der der Zweiten Wiener Schule. Er nutzt sie als motivisches Basismaterial zwecks Vereinheitlichung der Themen durch alle Sätze eines Werks, genießt ihre spannungsgeladenen Reibungen, aber er setzt die Töne doch hauptsächlich in klassischen Wendungen ein, konzentriert sich auf Terz- und Sextintervalle sowie chromatische Fortschreitungen. Trotz distanzierter Grundhaltung in Kofflers Persönlichkeit wirkt seine Musik nicht berechnet oder trocken gesetzt, sondern hoch expressiv und innerlich erspürt. Beeindruckend ist Kofflers handwerkliches Geschick, insbesondere im Bereich des Kontrapunkts, das ebenfalls zutiefst menschlichen und natürlichen Ausdruck hervorbringt. Eine Präferenz finden wir auf dem strengen Feld von Kanon und Fugato, was in vielen seiner Werke hervorsticht und Struktur in die eigenständig wirkenden Stimmen bringt, sie einend verflicht.

Heute erklingen zwei vergleichsweise bekanntere Werke Józef Kofflers, die Kantate „Die Liebe“ und das Streichtrio op. 10, beide sind bereits zu Lebzeiten des Komponisten gedruckt worden und heute auch auf CD erhältlich. Die Kantate nach dem 1. Brief des Paulus an die Korinther verlangt eine heikle Besetzung: Mezzosopran, Klarinette, Bratsche und Cello. Die Gefahr wird im Konzert deutlich, und zwar, dass die Sängerin die drei Instrumentalisten komplett überdeckt und die raffinierte Vielstimmigkeit nur schwer hörbar erscheinen lässt. Die monoton-gleichförmige Mezzosopranstimme hebelt derart die gleichwertige Zusammenhörigkeit der tendenziell eher isoliert wirkenden Instrumente noch weiter aus. Einheitlicher und durchdachter erscheint da die Darbietung des Streichtrios mit Sándor Galgoczi, der die drei Instrumente klanglich und dynamisch abzustimmen weiß und stellenweise auch zur Beachtung angemessener Phrasierung anhält. Polyphon gut realisiert wurde die herrliche Fuge, die als Mittelsatz fungiert, und auch das Finale enthiellt aufgeweckt-lebendige Momente.

[Oliver Fraenzke, Februar 2018]

Der Mozart unter den Rockern

Einer der eigenartigsten Musiker des vergangenen Jahrhunderts verstarb heute vor 20 Jahren bei einem Autounfall in der Dominikanischen Republik. Die Rede ist von dem österreichischen Popstar Falco, bürgerlich Johann Hölzel, der mit seinem extravaganten Stil für die gesamte Populär- und Rockmusik nicht nur Österreichs, sondern eben international wegweisend war.

Für manche mag es irritierend scheinen, auf dieser Website, welche hauptsächlich durch Artikel über die heute als „Klassik“ oder „Ernste Musik“ betitelte Musik bekannt ist (beides schädliche wie schändliche Abgrenzungen, die so musikgeschichtlich für gewaltiges Ungleichgewicht und elitäre Unnahbarkeit sorgen) mit gelegentlichen Ausflügen in Richtung Jazz. Doch ist die Intention von The New Listener schon immer gewesen, hörenswerte Musik in den Fokus zu stellen ganz gleich welchen „Genres“, welchen Bekanntheitsgrades oder welcher Herkunft. So ist dieses Jubiläums-Special ein erster Schritt in eine allumfassende Offenheit, auf die ich seit langem hinziele, und in deren Sinn hoffentlich bald schon mehr folgen wird. Und für die Puristen sei erwähnt, dass Falco mit seinem erfolgreichsten Song, Rock Me Amadeus, Wolfgang Amadeus Mozarts Persönlichkeit aktualisiert, mit Phänomenen aus der Rock-Szene gleichsetzt und dabei erstaunliche Parallelen findet.

Rock Me Amadeus ist bis heute das einzige Lied in deutscher Sprache, das Platz 1 der US-Billboard-Charts erreichte und Falco plötzlich weltweit in den Starstatus erhob. Doch begonnen hatte die Stilikone in einem ganz anderen Milieu. 1957 wurde er in Wien in bürgerliche Verhältnisse geboren, war einziger Sohn (seine beiden Drillingsgeschwister starben bereits vor der Geburt) einer Wäscherei-Geschäftsführerin und eines Fabrik-Werkmeisters. Zumindest war Geld vorhanden, die musikalische Begabung des Sohns zu fördern: Schon vor seiner Einschulung war er im Besitz eines Stutzflügels und eines Plattenspielers. Die Schullaufbahn dauerte lediglich zehn Jahre an, dann brache er ab und begann eine Lehre zum Bürokaufmann. Auch sein Studium am Wiener Musikkonservatorium schmiss er nach wenigen Monaten hin, da er der Meinung war, darin könne er kein „richtiger Musiker“ werden. 1978, er war bislang wenig bekannt und nur als Bassist in kleineren Hallen aufgetreten, sah er das Neujahrsspringen der Vierschanzentournee an und beschloss, seinen Künstlernamen dem DDR-Skispringer Falko „Falke“ Weißpflog zu widmen, internationalisierte ihn allerdings zu Falco (ebenso wie er seinen eigentlichen Namen nun Hoelzel schrieb).

Erste Erfolge erzielte Falco (zu der Zeit teils noch mit den Beinamen Gottehrer oder Stürmer) in den Bands ‚Erstes Wiener Musiktheater’, später in ‚Hallucination Company’ umbenannt, und ‚Drahdiwaberl’. Für letztere entstand Ganz Wien, gedacht als beiläufiges Solostück für Pausen, das allerdings schnell für Furore sorgte. Mit ‚Drahdiwaberl’ wurde Falco auch entdeckt, der erfolgreiche Plattenunternehmer Markus Spiegel nahm die Band sowie ihn als Solokünstler unter seine Fittiche. Resultat waren die ersten kommerziellen Alben, „Psychoterror“ war 1981 das Debut. Es folgten „Junge Roemer“ und „Falco 3“, auf letzterem ist besagter Song Rock Me Amadeus zu hören, der nach beträchtlichen nationalen Erfolgen 1985-1986 für den internationalen Durchbruch sorgte. Schon jetzt plagten Falco Sorgen, die Spitze seines Ruhms sei erreicht und er könne daran nicht mehr adäquat anknüpfen. Ein öffentlicher Rückzug nach einer kräfteraubenden Japantournee und die kommerziell eher mäßigen Erfolge (trotz Charts-Platzierungen) der kommenden drei Alben „Emotional“, „Wiener Blut“ und „Data de Groove“ bestätigten dies. Mit „Nachtflug“ konnte er 1992 ein Comeback starten, dem 1995 ein extremer Stilwechsel folgte: Mit Mutter, der Mann mit dem Koks ist da und ein Jahr später mit Naked wandte er sich dem Dance zu. Anfangs arbeitete er hier unter dem Pseudonym T>>MA, später als Falco feat. T>>MB. Am 6. Februar 1998 jedoch kam Falco bei einem Verkehrsunfall ums Leben, ein Bus erfasste sein Auto. Größere Mengen an Alkohol und Drogen in seinem Blut gaben in der Folgezeit verschiedenen Gerüchten Nahrung. Falcos Grab befindet sich auf dem Wiener Zentralfriedhof. „Out of the Dark (Into the Light)“ wurde posthum veröffentlicht und knüpfte an die großen Erfolgsalben des so früh verstorbenen Musikers an.

Trotz seiner recht kurzen Karriere durchlief Falco eine ganze Reihe stilistischer Wandlungen, jedes Album hebt sich vom Vorherigen und vom Folgenden ab. Dabei nahm er Einflüsse verschiedener aktueller Genres in sein Werk auf und fusionierte sie mit seinem unverkennbaren, eigenen Ton. Falco hätte sich selbst vermutlich vor allem als Rocker bezeichnet, doch ist nicht weniger Funk, Groove, New Wave und Rap maßgeblich für seine Musik. Seine Patterns sind schlicht und eingängig, weisen allerdings großen rhythmischen Schwung und ausgefeilte Basslinien auf. Typisch sind auch stimmlich abgehobene, oft verdoppelte oder chorartig gesungene Refrains und ein Fade-Out zum Ende hin, das seine Stücke oft bogenförmig erscheinen lässt. Elektronische Instrumente haben ihren festen Platz in der Band und steuern zentrale Klangelemente bei. Unverkennbar sind der cleane Gitarrensound auf dem Album „Junge Roemer“ sowie die funkigen Rhythmen der Gitarre. Das wohl hauptsächliche Markenzeichen Falcos ist sein einzigartiger Gesang, der gerne zum Sprechen tendiert oder sich in Richtung des Rap bewegt. Dabei entwickelte er einen individuellen und kaum nachzuahmenden Rapstil, der oft tonhöhenbasiert ist, ebenso schnell aber auch ins reine Sprechen oder Singen umschlägt. Typische Beispiele sind Der Kommissar, Vienna Calling, No Answer, Maschine brennt, oder parlierender in Jeanny oder Mutter, der Mann mit dem Koks ist da. In den Refrains oder als Fill Inn in den Parts bringt er zusätzlich schnell lautierte Elemente oder kurze gesungene Melismen hinein, die eine zusätzliche Ebene hineintragen. Stimmen aus dem Off wie in Vienna Calling oder Jeanny sind eine weitere vokale Facette, so dass das Gesamtbild trotz der Fokussierung auf die einzigartige Stimme Falcos rundherum abwechslungsreich bleibt. Die Texte stammen zu einem großen Teil von Falco selbst oder entstanden zumindest unter seiner Mitarbeit. Auffällig sind dabei neben Wortspielen und teils eigenwilligen Reimen vor allem zahlreiche Einstreuungen in englischer Sprache, wie sie auch heute noch in den Songs der Band ‚Bilderbuch’ zu finden sind – einer österreichischen Gruppe, die sich (wie übrigens auch ‚Wanda’, die eher die Rock-fokussierten Elemente wieder aufleben lässt) unmissverständlich auf Falco beruft. So lebt die Musik eines der einflussreichsten deutschsprachigen Musiker weiter, wird zudem immer wieder in neuen Best-Ofs veröffentlicht oder im Radio gespielt, gelegentlich sogar in verschiedenen Live-Projekten wie Musicals zu neuem Leben erweckt.

[Oliver Fraenzke, Februar 2018]

[Rezensionen im Vergleich] Drei Hände, drei Gehirne

Der argentinische Pianist Hugo Schuler präsentiert am 3. Februar 2018 zwei Ausschnitte aus seiner frisch erschienenen CD „Goldberg+“ und andere Werke im Freien Musikzentrum München. Auf dem Programm stehen Bachs Präludien und Fugen Fis-Dur BWV 858 und fis-Moll BWV 859, Reinhard Schwarz-Schillings Klavier-Sonate, „Soñé que tú me Ilevebas“ von René Vargas Vera, ein Impromptu von Santiago Santero, Heinrich Kaminskis Präludium und Fuge f-Moll und Johann Sebastian Bachs Chaconne d-Moll in Brahms‘ Transkription für Klavier linke Hand.

In den letzten Wochen und Monaten kam ich in den Genuss mehrerer überzeugender Konzerte, doch was am 3. Februar 2018 im Freien Musikzentrum München zu hören ist, übertrifft all die anderen um Längen. Die spärlich besetzte kleine Halle reißt Hugo Schuler von den ersten Tönen an in seinen Bann und entlässt sie erst nach dem ohne Pause gespielten Mammutprogramm. Schuler lässt keine Zeit für Applaus zwischen den Stücken, zu wichtig ist ihm der große Bogen, den er über den gesamten Abend spannt. Die Reise beginnt mit Bach (Präludien und Fugen Fis-Dur BWV 858 und fis-Moll 859), setzt sich mit Schwarz-Schillings Klavier-Sonate von 1968 als „Bachs Widerhall im 20. Jahrhundert“, wie Schuler es titulierte, fort und reicht bis zu zeitgenössischer Musik aus Argentinien, René Vargas Veras „Soñé que tú me Ilevebas“. Hier ist der Wendepunkt und es geht in rückläufiger Reihenfolge von Argentinischem (Santiago Santeros Impromptu von 2006) über eine grandios freie Bach-Hommage (Kaminskis Präludium und Fuge f-Moll aus dem Klavierbuch III von 1935) zurück zu Bach, oder zumindest einer Transkription seiner Musik, zu Brahms‘ Version der Violinsolo-Chaconne d-Moll für die linke Hand.

Über Schwarz-Schilling und Kaminski wurde bereits in der Rezension zu Schulers CD berichtet, René Vargas Veras „Soñé que tú me Ilevebas“ ist ein folkloristisches, sanftes Stück in himmlischer Harmonie, Santeros Impromptu nutzt Cluster und scharfe Dissonanzen auf eine ruhige und innige Weise. Trotz einer leichten Überlänge erreicht der Komponist eine innerlich aufbegehrende und dabei fokussierte, schwebende Wirkung, die Eigenständigkeit und Charakter besitzt.

Hugo Schuler tritt menschlich, offen und souverän auf, ist sogar vom Applaus der nur etwa 15 Zuhörer überwältigt, strahlt große Sympathie aus. Pianistisch ist er überragend, besser noch als bei seinen letzten – nicht minder bravourösen – Auftritten und vielleicht (womöglich wegen des Live-Effekts) noch offenkundiger die Musik erspürend als auf seiner CD. Die Vielstimmigkeit in den kontrapunktischen Werken realisiert er auf unerhörte Art und Weise, selbst die Chaconne-Transkription für die linke Hand klingt, als spiele er sie mit zumindest drei Händen und drei Gehirnen. Dieser Effekt gelingt ihm dadurch, dass er jeder Stimme eine besondere Klang-Nuance verleiht und sie so von den anderen abhebt, wenngleich er sie stets in Beziehung zueinander setzt. Die einzelnen Stimmen gestaltet er detailreich differenziert in ihrer Phrasierung und Artikulation, einzelne Noten hebt er aus der Reihe fallend durch gegensätzlichen Anschlag ab, was so unerwartete wie stimmige Effekte erzeugt und die Konzentration hochhält. Die Fugen-Sujets sind ausnahmslos hervortretend vernehmbar, selbst die stark variierten und metamorphosierenden Einsätze bei Kaminski. Schwarz-Schillings Klavier-Sonate besticht auch durch ihre rhythmischen Prägnanz und beinahe rockige Akkorde, und und fesselt mit ihrem überirdischen Mittelsatz, der sich von der Ein- zur Vierstimmigkeit aufschwingt. Die argentinischen Stücke nimmt Schuler in meditativer Konzentration, schafft dabei wirkungsvolle Kontraste zum restlichen Programm. Die Chaconne ertönt unprätentiös und ohne jeglichen veräußerlichenden Effekt, eine Reduktion auf das Wesentliche und der Musik Dienliche, die so gar nichts Asketisches hat. So beendet Hugo Schuler einen Abend, der seines Gleichen sucht.

[Oliver Fraenzke, Februar 2018]

[Rezensionen im Vergleich] Suggestiv fesselnder Gestalter

Hugo Schuler spielt am 3. Februar im Münchner Freien Musikzentrum

Anlässlich des Erscheinens seiner neuen Doppel-CD mit Bachs Goldbergvariationen und Stücken von Jacob Froberger (1616-1667) und Nachfolgern wie Heinrich Kaminski (1886-1946) oder Reinhard Schwarz-Schilling (1904-1986) – die Rezensionen sind bei „The-New-Listener“ nachzulesen -, gab der argentinische Pianist Hugo Schuler sein diesjähriges München-Konzert im Freien Musikzentrum. Zwar verirrten sich – wie üblich – nur wenige Leute dorthin, wer aber da war, wurde mit einem schlichtweg grandiosen Musikerlebnis belohnt. Zu Beginn zwei Präludien und Fugen aus Bachs Wohltemperiertem Klavier BWV 858 und BWV 859, dann kam die herrlich dicht geformte Sonate von Reinhard Schwarz-Schilling von 1968, gefolgt von einem Liebeslied des Argentiniers René Vargas Vera: „Sone mi tu me llevabas“. Ohne Pause ging es dann weiter zu einem Impromptu (2006) des zeitgenössischen argentinischen Komponisten Santiago Santero, das einen ganz erstaunlichen Kontrapunkt setzte zu all der bisher gehörten Polyphonie in seiner auf intensivste Klanglichkeit abgestellten Struktur. Nach Kaminskis Präludium und Fuge von 1935 – dieses Meisterwerk feinverästelten Kontrapunkts  zeigte noch einmal sehr eindringlich, welche Möglichkeiten nach Bach im 20. Jahrhundert die Polyphonie einem Komponisten wie Heinrich Kaminski bot! – folgte zum Abschluss die berühmte Bach˚sche Chanconne in der Bearbeitung für die linke Hand von Johannes Brahms, mit suggestiv fesselnder gestalterischer Kraft dargeboten. Keine Zugabe, was allerdings aus vielen Gründen völlig einsichtig war. So ging ein sehr großer Klavierabend zu Ende, der die Hoffnung wachhält auf ein möglichst baldiges Wiedersehen und Wiederhören mit Hugo Schuler – vielleicht in einem diesem Ausnahme-Pianisten adäquateren Raum und in einer Konzertreihe, die ihm entsprechend öffenlichkeitswirksam  unter die Arme greifen kann!

[Ulrich Hermann, Februar 2018]

[Rezensionen im Vergleich] Eine Ode an die Kontrapunktik

Aldilà Records, ARCD 007; EAN: 9 003643 980075

hugoschuler

Hugo Schuler spielt auf zwei CDs Werke mit Ausgangspunkt bei den Goldbergvariationen Bachs. Wir hören Johann Jacob Frobergers Toccata in G FbWV 103, Bachs Präludien und Fugen b-Moll BWV 867 (WTK I), es-Moll BWV 853 (WTK I) und gis-Moll BWV 887 (WTK II), Preludio cantando e Fuga, die Klavier-Sonate und Studie über BACH von Reinhard Schwarz-Schilling sowie den dritten Teil des Klavierbuchs von Heinrich Kaminski, bestehend aus Präludium & Fuge f-Moll und Präludium & Sarabande d-Moll.

Dass die kleinsten die größten sein können, beweist kaum ein Label deutlicher als Aldilà Records. Vorliegende CD ist erst das sechste veröffentlichte Album des Unternehmens und nicht weniger eine meisterliche Leistung als die vorherigen. Aldilà setzt auf Qualität statt Quantität, und das wird deutlich. Die ersten beiden Veröffentlichungen sind Klavieraufnahmen der italienischen Pianistin Ottavia Maria Maceratini, ein gemischtes Programm von Scarlatti bis Foulds und Tiessen sowie eines, das sich um Robert Schumann dreht, darauf folgte eine historische Doppel-CD mit Sergio Fiorentino, aufwändig neu remastered. Die bislang einzige Orchester-Aufnahme mit Werken von Schwarz-Schilling, Mozart, Hamel, Eliasson, Pärt und Beethoven stammt von Christoph Schlüren und Symphonia Momentum, danach führte Beth Levin uns wieder zurück zur Klaviermusik, spielte Schumann, Schubert und Eliasson. Noch nicht erschienen ist die bereits Ende 2014 aufgenommene und lang ersehnte Solo-CD des Violinisten Lucas Brunnert, den ich vor über vier Jahren als einen der talentiertesten aufstrebenden Musiker seines Instruments kennenlernen durfte.

Nun folgt eine weitere Veröffentlichung, die den gewaltigen Maßstäben des Labels mehr als nur gerecht wird. Hugo Schuler spielt Werke von Froberger, Bach, Kaminski und Schwarz-Schilling. Über Froberger und noch mehr über die epochalen Meisterwerke Bachs ist mehr als genug geschrieben worden, weitgehend unbekannt ruhen Kaminski und Schwarz-Schilling jedoch noch in der Versenkung: Zwei ausgezeichnete Musiker und Individualisten des 20. Jahrhunderts, welche die Brücke zwischen traditionell und fortschrittlich schlagen und jahrhundertelange westliche Musiktradition in ihrem Schaffen mit dem Hier und Jetzt einen konnten. Heinrich Kaminskis Stil ist dicht und kontrapunktisch, aber nicht weniger expressiv und zutiefst menschlich. Seine Bewunderung galt der Stilistik der Barockzeit, allem voran Bach, aber auch dem Weiterleben der großformalen kontrapunktischen Meisterschaft bei Beethoven und Bruckner. Auf unerhörte Weise griff Kaminski alte Stilformen auf und integrierte sie in den Kontext einer expressionistischen Realität. Die ergreifende Wirkung dieser Musik hat eine immense Ausstrahlung. und so scharte Kaminski einen großen Anhängerkreis um sich und war auch im Dritten Reich ein geduldeter, nicht als „Neutöner“ abgestempelter Künstler – wo er jedoch zuerst als Halb-, dann als Vierteljude eingestuft wurde und sich zurückziehen musste. Der bekannteste Schüler Kaminskis ist Carl Orff, noch bedeutender dürften jedoch wohl Heinz Schubert und Reinhard Schwarz-Schilling gewesen sein. Schubert starb in den letzten Kriegswochen, ohne nur ein Klaviermusikwerk geschrieben zu haben, Schwarz-Schilling lebte mit seiner jüdischen Frau, welche gefälschte Papiere erhielt, glücklicherweise unbehelligt weiter und verstarb erst 1985. Auch für Schwarz-Schilling war Bach zentraler Referenzpunkt, ihm widmete er noch sein allerletztes Werk, die Studie über BACH. Wie auch Kaminski bereicherte er die seines Erachtens noch lange nicht ausgeschöpfte Tonalität weiterhin durch kühne Dissonanzen und extreme Registrierungen, blieb jedoch innerhalb ihrer wahrnehmbaren und unmittelbar mitverfolgbaren Grenzen. So schuf er abstrakte und eigenwillige, zeitgleich aber auch verständliche und nachvollziehbare Werke. Weder Kaminski noch Schwarz-Schilling komponierten viel Musik für das Klavier, alle hier zu hörenden Stücke sind kommerzielle Ersteinspielungen.

Charakteristisch ist das Spiel Hugo Schulers in erster Linie durch seinen ausgeprägten Sinn für Mehrstimmigkeit. Bis hin zu fünf Stimmen verlangt Bach in seinem Wohltemperierten Klavier, und tatsächlich werden all diese als eigenständige Individuen wahrnehmbar. Schuler gibt den Stimmen bestimmte Eigenheiten, so als spielte er sie auf unterschiedlichen Klaviaturen wie bei einem zeitgenössischen Cembalo. Jedes Detail ist minutiös durchdacht, von der fein zwischen Legato, Non-Legato über flötenhaftes Detachée hin zu klingendem Staccato changierenden Artikulation bis zum bewussten Gebrauch der Pedale. Besonders das linke Pedal sorgt bei manchen der Goldbergvariationen sowie im es-Moll-Präludium für hinreißende Magie. Hugo Schulers Darbietung ist äußerst persönlich, überträgt sich auch auf den Hörer, verleugnet aber nicht weniger die Zeit der Komposition, verfällt nie in Romantizismus. Der Gesamtkontext steht im Fokus des Pianisten, er betrachtet die Stücke als großen Bogen, unter welchem jede Phrase ein sinnvolles Glied innerhalb der Fortschreitung von der ersten zur letzten Note ist. Und so hält er die Spannung sogar über die 80-minütigen Goldbergvariationen (in denen er einige wenige Wiederholungen bewusst ausließ, um die Gesamtform noch bezwingender zu gestalten). Die tonal fordernden Werke Kaminskis und Schwarz-Schillings verwirklicht er ebenso zielsicher und reflektiert in innerer Ruhe und orchestral in der mehrstimmigen Ausführung, dass oft kaum zu glauben ist, dass hier nur ein einziges Klavier erklingt. Den Ohren ganz besonders schmeichelnd kommt der sanfte und voluminöse Klang des Fazioli-Flügels hinzu, der wie maßgeschneidert ist für die musikalischen Ansprüche Hugo Schulers.

[Oliver Fraenzke, Januar 2018]

Folgende Termine:
03. Februar 2018: Freies Musikzentrum München

[Rezensionen im Vergleich] Bach, Vorläufer und Nachfolger

HUGO SCHULER, Piano: Johann Jakob Froberger (1616-1667), Johann Sebastian Bach (1685-1750), Reinhard Schwarz-Schilling (1904-1985), Heinrich Kaminski (1886-1946)

Aldila Records ARCD 007; EAN: 9 003643 980075

hugoschuler

Nachfolger und Vorläufer von Johann Sebastian Bach neben dem eigentlichen Hauptwerk, den Goldberg-Variationen, sind auf dieser Doppel-CD versammelt. Natürlich hatte Bach Vorläufer, einer davon, der große Klavierkomponist Johann Jakob Froberger (1616-67), ist mit seiner Toccata in G FbWV 103 vertreten, ein famoser Einstieg in die Welt der Polyphonie, die ihren Reiz und ihre Potenz ja bis heute unvermindert bewahrt hat. Dann kommt Bach selbst zum ersten Mal zu Wort mit dem Präludium und der Fuge in b-moll BWV 867 aus dem Wohltemperierten Klavier I. Sofort wird der Tonfall der Musik vertrauter, wie bei den anderen Bach’schen Kompositionen auf der ersten CD auch. Denn an dritter Stelle stehen zwei Kompositionen des „Nachfolgers“ Reinhard Schwarz-Schilling (1904-85), der wie selbstverständlich und unüberhörbar an den alten Meister anknüpft. Sein Preludio cantando e fuga und seine ‚Studie über B-A-C-H’ von 1985 – eines seiner letzten und zugleich tiefsten Werke –  verbinden die Bach’sche Polyphonie mit der Klangsprache des 20. Jahrhunderts, wie die Stücke von Schwarz-Schillings Lehrmeister Heinrich Kamiski (1886-1946) ebenso. Beide sind Großmeister sich weit entfaltender Polyphonie im 20. Jahrhundert, und hier mit insgesamt drei Ersteinspielungen vertreten. Natürlich ist der tonale Raum inzwischen bis fast ins „Übertonale“ ausgeweitet, die strengen Formen der auch aus der Renaissance- und Barockzeit entlehnten Tänze und Strukturen zusammen mit der intensivsten Polyphonie geben den Stücken die selbe bezwingende Klanglichkeit wie in den Kompositionen des alten Meisters. Allerdings gehört natürlich dazu: die Fähigkeit und die Möglichkeit, über die Hugo Schuler auf dem Fazioli-Flügel verfügt, all diese Musik fast wie bei einer Erstaufführung erlebbar zu machen.  Sein sehr erhellender Kommentar im ausführlichen Booklet über Struktur und Werden dieser Doppel-CD ist bemerkenswert. Dass ein Pianist so genau über diese Musik und den Zugang dazu Auskunft gibt, ist selten und nicht das kleinste Verdienst dieser Neuerscheinung.

Zu den „Goldberg-Variationen“, die eben nicht auf einem „normalen“ Steinway oder Bösendorfer, sondern auf einem dafür sicher besonders gut geeigneten Fazioli-Flügel erklingen, möchte ich nur sagen: So innig, so ungeheuer musikalisch, so souverän habe ich diesen „Gold-Zyklus“ noch nie auf CD gehört, nein, ohnehin nicht von Martin Stadtfeld auf seiner damals so hochgepriesenen Sony-CD, nein, auch nicht von Glenn Gould, dessen Einspielung sicher auf ihre Art Referenz-Charakter hat und behalten wird, aber so, wie Hugo Schuler diesen Kosmos sich entfalten lässt, mit welcher Ruhe und inneren Gelassenheit sich Thema und Variationen entfalten, wie sowohl Melodik als auch Klang und Struktur hör- und erlebbar werden, das ist einfach nur staunenswert.

Bei seinem Debütkonzert vor einigen Jahren in Deutschland, das ich erleben durfte, fiel mir damals schon auf, wie unprätentiös und hingebungsvoll, ohne irgendwelche falsche Allüre dieser junge argentinische Pianist diese 80 Minuten in einem riesengroßen Bogen nicht nur bewältigte, sondern in aller Klarheit und Emphase gestaltete. Auch auf dieser CD ist davon soviel eingefangen, wie vielleicht überhaut möglich ist, und natürlich freue ich mich schon heute auf Hugo Schulers nächstes Konzert, wo ich diesen wunderbaren Musiker wieder einmal live und leibhaftig hören und erleben darf.

Ulrich Hermann, Januar 2018

Folgende Termine:
03. Februar 2018: Freies Musikzentrum München