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Zum Auschwitz-Gedenktag

Anlässlich des Gedenktages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 stellt Karin Coper Aufnahmen zweier Werke vor, die den Holocaust thematisieren: Mieczysław Weinbergs Oper Die Passagierin und Mischa Spolianskys Symphonie in fünf Sätzen. (D. Red.)

Capriccio, C5455; EAN: 845221054551

„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“, dieser Satz von Theodor W. Adorno ist der am häufigsten zitierte aus seinem 1955 veröffentlichten philosophischen Text Kulturkritik und Gesellschaft. Da war die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Holocaust noch ein Tabu. Das hat sich im Laufe der Zeit geändert, ob im Film oder Theater, in Literatur oder Musik. Selbst in der Oper ist das vermeintlich nicht Singbare angekommen. Beispiele dafür sind Sophies Choice von Nicholas Maw, Das Frauenorchester von Auschwitz von Stefan Heucke und – ganz aktuell – die gerade in Hof aufgeführte Helena Citrónová des thailändischen Komponisten Somtow Sucharitkul. Keine jedoch ist so eindringlich geraten wie Die Passagierin von Mieczysław Weinberg. Das liegt einerseits am Libretto, das auf dem eigene Erlebnisse verarbeitenden Hörspiel und Roman der Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz – im Leben wie im Stück Nummer 7566 – beruht. Zum anderen an der 1968 entstandenen Komposition, über die der Weinbergfreund und -förderer Dmitri Schostakowitsch 1974 im Vorwort zum Klavierauszug schrieb: „Ich werde nicht müde, mich für die Oper… zu begeistern. Dreimal habe ich sie schon gehört, die Partitur studiert, und jedes Mal verstand ich die Schönheit und Größe dieser Musik besser. Ein in Form und Stil meisterhaft vollendetes Werk.“ Aufgeführt wurde es trotz Schostakowitschs Empfehlung in der Sowjetunion nur konzertant. Erst 2010 erlebt es bei den Bregenzer Festspielen seine posthume szenische Premiere. Sie markierte nicht nur den Beginn einer nachhaltigen europaweiten Rehabilitation der Oper, sondern auch jene von Weinberg, dem zu Lebzeiten die Anerkennung weitgehend verwehrt wurde – trotz eines imponierenden Werkkatalogs, darunter 22 Symphonien, 17 Streichquartette und 7 Opern. Viele dieser Kompositionen drehen sich um Krieg und seine Folgen, sie sind geprägt von Weinbergs eigener, von antisemitischem Terror geprägter Biographie. Als Einziger der Familie konnte der 1919 in Warschau geborene jüdische Künstler vor den Nazis in die Sowjetunion fliehen, war aber auch in seiner neuen Heimat Ressentiments ausgesetzt. In Die Passagierin begegnet die ehemalige KZ-Aufseherin Lisa während einer Schiffsfahrt lange nach Ende des Weltkriegs einer Frau, die sie an die Gefangene Marta erinnert. Die Szenen auf dem Ozeanriesen wechseln ab mit Rückblenden aus dem Lagerleben; erschütternd etwa, wenn die inhaftierten Frauen in ihrer jeweiligen Muttersprache – polnisch, französisch, deutsch, englisch und hebräisch – Gebete, Volkslieder oder Klagen singen. Dicht gewebt ist die mit Chören, Soli, Duetten und Ensemble formal traditionelle Partitur, mal sparsam instrumentiert, mal expressiv ausbrechend, mal lyrisch zärtlich. Es gibt Einsprengsel aus der Unterhaltungsmusik, wie die von der Schiffskapelle gespielten Modetänze oder den Lieblingswalzer des Kommandanten, und auch der Klassik, etwa von Bach und Schubert. Welche Relevanz die Oper inzwischen bekommen hat, zeigt sich daran, dass bereits die dritte DVD erschienen ist: der von Teodor Currentzis dirigierte Mitschnitt aus Bregenz, die russische Premiere in Jekaterinburg und – als jüngste Veröffentlichung – die Verfilmung der Grazer Produktion 2021, die auch als CD erhältlich ist. Sie beweist, dass die Musik auch ohne Szene gefangen nimmt. Unter der konzentrierten Leitung von Roland Kluttig lässt sich das Ensemble mit spürbarer Intensität auf seine Rollen ein: Dshamilja Kaiser als sich gegen die Vergangenheit aufbäumende Aufseherin Lisa, Will Hartmann als ihr immer mehr verunsicherter Ehemann, Nadja Stefanoff als unbeugsame Marta und Markus Butter als ihr mutiger Geliebter. (Capriccio)

Toccata Classics, TOCC 0626; EAN: 5060113446268

Eine ganz andere Form für die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Holocaust wählte Mischa Spoliansky. 1969, ein Jahr nach Die Passagierin vollendete er seine Symphony in Five Movements, an der er über zwanzig Jahre lang, von 1941 an, gearbeitet hatte. Sie ist ein Solitär im Schaffen des Komponisten, der mit seinen Revuen, Schlagern, Kabarett- und Filmliedern zu den ganz Großen der Unterhaltungsmusik der „Goldenen Zwanziger“ zählt. Aufgrund seiner jüdischen Wurzeln musste er wie so viele Leidensgenossen emigrieren und ging ins englische Exil. Die fünf Sätze der Sinfonie haben jeweils einen Titel mit vermutlich biographischem Bezug. Nummer vier heißt „Of Weeping“. Das ausladende Lamento reflektiert die Shoah, die darin versteckte deutsche Nationalhymne in Moll mag Ausdruck der Trauer über die verlorene Heimat sein. Das dieses monumentale, fast einstündige Werk nun erstmals auf CD zu hören ist, ist dem Dirigenten Paul Mann zu danken. Er dirigiert das auf hohem Niveau spielende lettische Liepāja Symphony Orchestra mit nicht nachlassender Spannung. Fans vom „typischen“ Spoliansky kommen aber auch auf ihre Kosten: Die bei Toccata Classics erschienene CD enthält die schmissige Ouvertüre zum letzten Bühnenwerk My Husband and I und den äußerst effektvolle Konzert-Boogie.

Karin Coper [Januar 2023]

Kleinmeisterlich

Toccata Classics, TOCC 0373; EAN: 5 060113 443731

Auf der zweiten der geplanten drei CDs mit der gesamten Orchestermusik von Henry Cotter Nixon hören wir das Präludium zur romantischen Operette The Witch of Esgair, das Concert-Stück op. 14 für Klavier und Orchester, das Scherzo Op. 16 mit dem Titel May Day, Dance of the Sea Nymphes: Pizzicato for Strings und die Concert Overture No. 2: Anima et Fide. Es spielt das Kodály Philharmonic Orchestra unter Paul Mann, am Klavier agiert Ian Hobson.

Toccata Classics brachte uns bereits eine Vielzahl großer Entdeckungen, von Reicha und Juon bis Hopekirk, Rosner und Tabakov, Tansman, Englund und Stankovych, um nur wenige all der bedeutenden Komponisten zu nennen, welche das Label im Katalog führt. Bei so einer großen Auswahl unbekannter Musik ist es nun doch verzeihlich, auch einmal einen Fehlgriff zu machen, was bedauerlicherweise mit der Gesamteinspielung der Orchestermusik von Henry Cotter Nixon (1842 – 1907) geschieht. Der Sohn des Komponisten Henry George Nixon ist in dem Sinne kein schlechter Komponist, lediglich kleinmeisterlich und absolut austauschbar. Er besitzt durchaus Charme in seinen kleinen Stücken leichteren Charakters, verliert sich allerdings in längeren Formen schnell im Irgendwo. Nixon konnte seinerzeit sicherlich in seinem örtlichen Umfeld einige Leute begeistern, nur sind wir heute durch die Möglichkeiten der Musikaufzeichnung und -wiedergabe nicht mehr auf regionale Kleinmeister angewiesen und können stets alle Größen in unser Wohnzimmer holen.

Es ist vor allem das thematische Material, das Nixon in seinem Komponieren beschränkte: Den Themen fehlt es an Prägnanz und Wiedererkennungswert, wodurch es uninteressant ist, die Arbeit mit diesen hörend nachzuvollziehen. Harmonisch bleibt die Musik stark an die Grundfunktionalitäten der herkömmlichen Muster gebunden, somit kann auch die Harmonik nicht über thematische Schwächen hinweghelfen. Besonders im Concert-Stück kommt derart Langeweile auf, hohle Virtuosität ohne erkennbare übergeordnete Struktur verwässert die Großform. Hörenswert sind vor allem die Stücke leichteren, operettenhaften Charakters wie die Ouvertüre zu The Witch of Esgair, ein Themen-Potpourri, oder die Pizzicato Dance of the Sea Nymphs, eine Schöpfung von beinahe Strauß’schem Witz und Prägnanz mit dem – meines Erachtens – bezauberndsten Themas dieser CD.

Die Musiker bemühen sich, der Musik Leben und Farbenvielfalt zu entlocken, und so schaffen sie schöne Momente. Schwer hat es vor allem Ian Hobson, der sich in dieser Musik lediglich von seiner fingerfertigen Seite zeigen kann, ohne lyrische Qualitäten unter Beweis stellen zu können. Doch was von ihm zu hören ist, gefällt. Paul Mann allerdings ist begeistert vom Komponisten, und diese Zuneigung ist hörbar – und in seinem Text im Booklet auch ablesbar.

[Oliver Fraenzke, Februar 2018]

Music for Yodit

Music For My Love – Celebrating the Life of a Special Woman
100+ New Works for String Orchestra, Volume One

Johannes Brahms / arr. Ragnar Söderlind: ‚Von ewiger Liebe’; Robin Holloway: Music for Yodit; Poul Ruders: Lullaby for Yodit; Mihkel Kerem: A Farewell for Yodit; Andrew Ford: Sleep; Steve Elcock: Song for Yodit, Op. 23; Brett Dean: Angels’ Wings (Music for Yodit); Jon Lord / arr. Paul Mann: Zarabanda Solitaria; John Pickard: –forbidding mourning…; Ragnar Söderlind: ‚Å, den svalande wind…’: 15 Variations on a Norwegian Folk Tune, Op. 120; Maddalena Casulana / arr. Colin Matthews: Il vostro dipartir

Kodály Philharmonic Orchestra (Debrecen), Paul Mann

Toccata Classics, TOCC CD 0333 (EAN: 9060113443335)

Eigentlich hätte die Albumserie ‚Music for Yodit’ heißen sollen, doch davon ausgehend, dass dies stets erklärungsbedürftig geblieben wäre, entschied sich Martin Anderson, Labeleigner und künstlerischer Leiter von Toccata Classics, für den Titel ‚Music For My Love’. 2008 hatte er die im eritreischen Asmara geborene Yodit Tekle kennengelernt, und als der gemeinsame Sohn Alex vier Jahre alt war, erfuhren sie, dass Yodit Magenkrebs hatte. Martin bat einige Komponistenfreunde um Stücke zu ihrem Trost, die dann – nach ihrem Tod am 24. April 2015 – zu Gedenkstücken wurden. Vor allem aber war die Reaktion so überwältigend, dass die Zahl der Stücke mittlerweile auf über 100 angewachsen ist, allesamt für Streichorchester – und diese Werke sollen nun also nach und nach alle auf CD erscheinen, in der Serie ‚Music For My Love’, deren erste Folge jetzt vorliegt. Es handelt sich also zugleich um einen einmaligen Akt der Repertoireschöpfung. Das erste Album wird von einem Streicherarrangement des Brahms-Lieds ‚Von ewiger Liebe’ (ohne Gesang) durch den großen norwegischen Symphoniker Ragnar Söderlind eröffnet, der mit 15 Variationen über eine norwegische Volksweise auch das hochdramatisch romantische, so mannigfaltige wie einheitliche Hauptwerk beigesteuert hat. Und Söderlind ist nicht der einzige bedeutende Meister, der hier vertreten ist. Robin Holloway hat ein herrlich herb einprägsames und in der Substanz verdichtetes, sehr poetisches Stück geschrieben, und John Pickard, der große britische Tondichter unserer Zeit, verfasste mit ‚…forbidding mourning…’ ein Meisterwerk  ornamentischer Kontrapunktik, das auch durch seine Geschlossenheit überzeugt. Kleinigkeiten trugen der Däne Poul Ruders und der Australier Brett Dean (sehr apart!) sowie Andrew Ford bei. Der in Tallinn gebürtige Mihkel Kerem hat ein introvertiertes Stimmungsgemälde geschaffen, wie auch Steve Elcock, dessen ‚Song for Yodit’ als erste Gabe entstanden ist. Der Dirigent der Aufnahme, die in Debrecen mit dem Kodály Philharmonic Orchestra gemacht wurde, hat die feierliche ‚Zarabanda Solitaria’ des einstigen Deep Purple-Keyboarders Jon Lord arrangiert, und zum Abschluss erklingt das ergreifende Madrigal ‚Il vostro dipartir’ von Maddalena Casulana (2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, gedruckt 1568 in Venedig), der ersten Europäerin, deren Musik einen Verleger fand, in einer schönen Einrichtung von Colin Matthews. Die Zusammenstellung ist sehr gelungen, einige der Werke sind eine echte Bereicherung für die reiche Literatur für Streichorchester. Die Aufnahmen und die Klangqualität sind ordentlich, das Booklet ist sehr informativ. Ein wirklich gelungener, berührender Beginn einer Serie, die nicht nur aufgrund ihrer Entstehungsumstände weithin Beachtung verdient – und Martin Anderson beweist auch hier einmal mehr, dass er es versteht, das unmöglich Scheinende möglich zu machen, dank der Wertschätzung, die die Komponisten ihm persönlich und seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Entdecker, Produzent, Enthusiast, Kritiker und Verleger entgegenbringen.

[Christoph Schlüren, Dezember 2016]