Archiv für den Monat: Mai 2024

Klaus Ospalds „Entlegene Felder“ in der CD-Reihe „musica viva“

BR Klassik 900642; EAN: 4 035719 006421

In der Reihe „musica viva“ hat BR Klassik zwei Kompositionen aus der Trias „Entlegene Felder“ des Komponisten Klaus Ospald (*1956) veröffentlicht: Das großbesetzte „Más raíz, menos criatura“ sowie das „Quintett von den entlegenen Feldern“. Es spielen das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Peter Rundel – mit dem Pianisten Markus Bellheim und Singer Pur – sowie das Ensemble Experimental mit dem SWR Experimentalstudio, geleitet von Peter Tilling.

Der aus Münster stammende und lange in Würzburg lebende und lehrende Komponist Klaus Ospald (Jahrgang 1956) hat einen höchst individuellen Stil entwickelt, der stark von Literatur inspiriert scheint. Zuletzt zieht sich insbesondere der früh in den Kerkern der spanischen Faschisten verstorbene Miguel Hernández (1910‒1942) wie ein roter Faden durch Ospalds Schaffen, auch wenn die Texte selbst in der Musik gar nicht direkt in Erscheinung treten oder gar „vertont“ werden. Auf der vorliegenden CD der Reihe musica viva erklingen zwei Werke der Trias Entlegene Felder – inzwischen erweiterte der Komponist seine Auseinandersetzung mit der Dichtung Hernández‘ zum bislang aus sechs ganz unterschiedlich besetzten Stücken bestehenden Guerra-Zyklus.

2019 erhielt Ospald den Happy New Ears Preis für Komposition der Hans und Gertrud Zender Stiftung (wir berichteten). Anlässlich der Preisverleihung erklang im musica viva Konzert des BR eine beeindruckende Darbietung des gut 50-minütigen Werks Más raíz, menos criatura („Mehr Wurzel als Mensch“ = Entlegene Felder III) für Orchester, Klavier und achtstimmigen Kammerchor, die hier nun festgehalten wurde. Die exzellente Aufnahmetechnik überspielt dabei einmal mehr so manche Unzulänglichkeit des Münchner Herkulessaals. Sie macht gleichzeitig klar, wie Ospald die Textfragmente aus Hernández‘ Gedicht El niño yuntero („Das Kind als Zugtier“) selbst für den 8-stimmigen Kammerchor – hier mit dem um zwei zusätzliche Sängerinnen ergänzten, vorzüglichen Vokalsextett Singer Pur – lediglich als Material benutzt und sehr bewusst mit den hochdifferenzierten Orchesterklängen verschmelzen lässt. Dasselbe gilt für den durchgehenden Klavierpart, der mehr reflektiert und kommentiert als solistisch aufzutrumpfen: Markus Bellheim realisiert dies absolut souverän, klangschön und stets präsent, ohne bei aller Virtuosität daraus eine Art Klavierkonzert zu machen. Das Klavier wird oft durch ein Upright-Piano sowie zwei Harfen – alles leicht gegeneinander verstimmt – sekundiert. Ein empathischer Aufschrei für Humanität in einer Welt der Unterdrückung. Das BRSO unter Peter Rundel spielt vielleicht eine Spur zu distanziert, in jedem Fall engagiert und auf höchstem Niveau.

Das Quintett von den entlegenen Feldern für Streichtrio, Klarinette (Bassklarinette), Klavier und Live-Elektronik (2012/13, rev. 2014) als erstes Werk der Trias arbeitet zwar nicht mit Texten, dafür aber mit sehr subtiler Klangerweiterung, die sowohl mit bewegtem Raumklang als auch mit Präparationen sowie Transducern auf dem Resonanzboden des Flügels experimentiert und deshalb nicht nur einen zweiten „Spieler“ am Klavier, sondern auch eine äußerst aktiv eingreifende Klangregie erfordert. Zunächst erscheint die Live-Elektronik eher episodenhaft, steigert jedoch mit der Zeit eindrucksvoll auch ihre emotionale Bedeutung – etwa mit „eingefrorenen” Klängen bzw. plötzlichen Klang-Abbrüchen. Die ebenfalls sehr gelungene Einspielung mit dem Ensemble Experimental und dem SWR-Experimentalstudio entstand im Mai 2019 bei einem Live-Konzert in Coburg. Fazit: Ergreifende Musik eines erklärten Außenseiters, die bei aller klanglichen Dichte und Finesse auf alle äußerliche Effekthascherei verzichtet, klar durchhörbar bleibt und quasi über jeden Ton Rechenschaft ablegen könnte. Die mit knapp 83 Minuten randvolle CD wird so zum Muss für alle Hörer Neuer Musik, verlangt allerdings enorme Aufmerksamkeit. Wer mehr über Ospalds Kompositionsprinzipien als im durchaus informativen Booklet erfahren möchte, sei auf nachstehende Veröffentlichung verwiesen.

Ergänzende Literatur: Ulrich Tadday (Hrsg.), Klaus Ospald, Musik-Konzepte 183, II/2019, edition text+kritik, München

[Martin Blaumeiser, Mai 2024]

Feuer ohne Rauch, Rauch ohne Feuer

Der Rezensent möchte um Nachsicht dafür bitten, dass in diesem Text weder Orchester, noch Dirigent, beide sehr bekannt, noch Ort und Zeit des Konzerts beim Namen genannt werden können, denn das Konzert war auf eine sehr grundsätzliche, beispielhafte, besondere und eigenartige Weise unmusikalisch, und Namen spielen für diese Betrachtung am Ende keine Rolle; Spekulationen hierüber sind müßig, denn sie gehen am Kern der Sache vorbei. Und vielleicht können die richtigen Worte dafür auch gar nicht gefunden werden. Diese Zeilen sind also ein Versuch.

Unmusikalität ist schwer zu greifen. Im Konzert waren Symphonien aus der Wiener Klassik zu hören, und das Orchester hat individuell und als Kollektiv das informiert-gängige Alphabet der Effekte und Artikulationen tief verinnerlicht. In diesem Fall ging das so weit, dass jeder Moment von jedem Orchestermitglied als Effekt perfekt, und innerhalb der Gruppen äußerst präzise artikuliert wurde.

Diese Art des Abspielens von formelhaften Elementen kann zu verschiedenen Resultaten führen, jedenfalls ist sie keine Garantie für das Entstehen von Musik. Kommt dazu eine, wie in diesem Fall eine fast als Monstranz präsentierte „So spielt man das“-Überzeugung hinzu, so ist die Gefahr groß, dass das Mittel der informierten Artikulation bereits der Endzweck ist, zumal wenn der ernste Eifer der einzelnen Musizierenden deren Sinn für die Gesamtheit der klanglichen Erscheinung übersteigt, was zu Momenten unfreiwilliger Komik führte.

Diese amüsanten Nebenerscheinungen beiseite gelassen, lebt Musik aber doch vom Zusammenhang. Effekte und Floskeln, ebenso Musizierende eines Orchesters oder Ensembles sind aber zunächst nur Einzelerscheinungen, die sich erst miteinander verbinden müssen, um als musikalische Einheit erscheinen und wahrgenommen werden zu können und nicht als Augenblicksmanierismen zu verfliegen. Verbleiben Artikulationen aber als bloße Effekte, so ist die entstehende Einheit keine musikalische, sondern nur Darstellung von Gewusstem und Erlerntem, ein Zusammenhang entsteht nicht.

Würde diese Spielhaltung zu einer Musizierhaltung führen, wäre es etwas anderes, so aber, letzten Endes als Imitation des Einstudierten, führt eine daraus resultierende Klanghomogenität nicht zu musikalischer Homogenität oder gar zu musikalischem Zusammenhang.

Der musikalische ist hier durch den instrumental-rhetorischen Akt abgelöst, der der Musik, jede mögliche musikalisch erlebbare Perspektive ersetzend, keine Chance zum Atmen lässt. Es klingt spontan, ist es aber nicht, denn Spontaneität setzt vor allem eine gewisse Freiheit des Musiziermoments voraus, und diese notwendige Freiheit kann weder imitiert noch aus dieser Art von Einstudiertheit entstehen, da sie sich nur perfekt vorgetragenen Floskeln orientiert.

In jedem Moment geschieht dann etwas Interessantes um seiner selbst Willen, aber es verbindet sich nicht zu einem musikalischen Ganzen, jedes noch so brillant artikulierte Detail steht allein für sich und ist im nächsten Moment sofort vergessen, annulliert durch die nächste Interessantheit, symphonische Leere verkleidet als Inspiration.

Die Bedingungen, unter denen Musik entsteht, sind nicht einfach zu definieren, meist hören und spüren wir eher, wenn keine Musik entsteht. Man kann vielleicht beobachten, dass Musik in Gegenwärtigkeiten von einer gewissen Dauer erscheint, tönende Erscheinungen, die sich zu einer erlebbaren Gegenwart verbinden; so wird dann aus dem Präsens der singulären Erscheinung musikalische Präsenz von einer gewissen Dauer. Nicht aber hier, wo es nur auf den Tupfer für die Dauer eines Wimpernschlags ankommt.

Musikalischer Geist bleibt hier abwesend, und so demaskiert sich der Auftritt von Dirigent und Orchester zum Tod jeder Kunst, zu Selbstkopie und Pose falscher Spontaneität, die mit höchster Überzeugung das Richtige zu tun, musikalisch scheitert.

Das böse Wort der dem klassischen Musikbetrieb gerne – allerdings weitgehend grundlos – vorgeworfenen sozialen Selbstvergewisserung (die es schließlich in jedem soziokulturellen Geschehen gibt, im Theater, in der Oper, bei allen anderen Konzerten jeden Genres, und was anderes ist denn das Rauschen der Masse in einem Fussballstadion!) kommt hier tatsächlich aufgrund der nicht stattfindenden Musik zum Vorschein, obwohl sie eigentlich ein ganz unwichtiges Nebenprodukt eines Konzerts ist: das Publikum vergewissert sich seiner selbst am Bühnengeschehen, das Orchester am Dirigenten, und der Dirigent am Orchester, und alle an sich selbst. Mehr war nicht drin.

So funktioniert dann aber das Missverständnis der Elitisierung der klassischen Musik: hier wird Gegenwärtigkeit durch Interessantheit und intellektuelles Dazugehören nur dargestellt, und die Idee des Konzerts vollkommen missverstanden.

Es bleibt davon gar nichts, und der fast greifbare Brustton der eigenen Überzeugung des Orchesters und das routinierte Posieren des Dirigenten klingen nirgendwohin fort und mutieren zur künstlerischen Farce. In die Jahre gekommen sind sie, die Musikerinnen und Musiker des Orchesters, und die falsche Frische kündet nur von der Vergangenheit.

Die Ästhetisierung einer Spielweise ist noch lange keine musikalische Spielkultur. Sollte es eine Krise in der Musik geben, wovon der Rezensent keineswegs überzeugt ist, so ist dies hier sicherlich nicht der Ausweg. Kunst ist schon Vermittlung, schreibt Goethe, aber er meinte damit: Kunst.

Der organische Zusammenhang

Rémy Ballot, Eva Gevorgyan und die Stuttgarter Philharmoniker mit Mozart und Bruckner

Da Chefdirigent Dan Ettinger nunmehr zumindest bis Saisonende krankheitsbedingt nicht einsatzbereit ist, übernahm Rémy Ballot das Abonnementkonzert der Stuttgarter Philharmoniker am 16. Mai in der Stuttgarter Liederhalle, in welchem eigentlich eine Puccini-Gala gegeben werden sollte, und leitete das Orchester stattdessen in einem Mozart-Bruckner-Programm, welches ansonsten dem Stuttgarter Publikum vorenthalten geblieben wäre. Das ist eine insgesamt bemerkenswerte Entwicklung, da Ballot ja zunächst – mit maximalem Erfolg, wie man das wohl nennen muss – in Bruckners Fünfter Symphonie (seiner komplexesten) eingesprungen war. Dies geschah, da er als ‚Bruckner-Spezialist‘ empfohlen wurde, was insofern auf der Hand liegt, als er ja gerade für das führende österreichische Klassik-Label Gramola den ersten Zyklus der zehn reifen Bruckner-Symphonien vollenden konnte, der jemals in der Stiftsbasilika St. Florian eingespielt wurde – also an dem Ort, an welchem sich Bruckners eigene Klangvorstellung einst entscheidend ausgebildet hat. Und natürlich hat Ballot – unter akustisch weit unproblematischeren Bedingungen als in dem sehr halligen Kirchenraum unweit Linz – die Stuttgarter, das Hausorchester des frischgebackenen deutschen Fußball-Vizemeisters, auf fulminant klare, den geistigen Gehalt der Musik, ihr Drama des freien Kontrapunkts ohne Schielen auf Effekte oder Stilisierungen entfaltende Weise durch dieses Werk geführt, wie mir von mehreren Seiten, deren Wort schon des öfteren mit der Realität in Einklang stand, zugetragen wurde – eine Ansicht, die unter anderem auch, und das wiegt nun wahrlich nicht gering, von vielen der Orchestermusiker getragen wird.

Daraufhin lud man Ballot ein, auch die beiden Konzerte in Norditalien zu dirigieren, in welchen zunächst die großartige junge armenisch-russische Pianistin Eva Gevorgyan (Jewa Geworgjan) in Mozarts großem A-Dur-Klavierkonzert KV 488 begleitet wurde, bevor diesmal Bruckners Vierte – in der definitiven 3. Fassung von 1887–88 – erklang. Man spielte dieses Programm beim Klavierfestival in Brescia sowie in Bergamo, der Heimstätte der frischgebackenen Leverkusen-Bezwinger. Und, man kann es ja fast nicht glauben, man spielte dabei die Erstaufführung der Vierten Bruckner – seines zusammen mit der Siebten populärsten Werks – in Bergamo. Also nicht nur in musikalischer, sondern auch in historischer Hinsicht eine entscheidende Tat.

Dieses Programm hätte das Stuttgarter Publikum also nicht zu hören gekommen, hätte nicht Ettingers Puccini-Herzensprojekt auf dem Programm gestanden, welches man dem erkrankten Chef – dem dringend gute Besserung zu wünschen ist – nicht entreißen, sondern auf einen späteren Zeitpunkt verlegen wollte.

In Stuttgart gab es nun – einem Saison-Motto folgend – zwischen Mozart und Bruckner, besetzungsbedingt nach der Pause vor der Symphonie, An Oddment for Orchestra, ein One-Minute-Piece einer Kompositionsstudentin der Stuttgarter Hochschule, der 1997 geborenen Flämin Eveline Vervliet, als Uraufführung – eine Art stehender Klangbildung, ein bisschen gleich einem Tierchen, das auf einer Lichtung um sich schaut und überlegt, wohin es sich denn bewegen soll. Nun denn – zu Bruckner, und das deutet sich auch in den Klängen an, die da in recht bruchstückhafter Weise aufeinanderfolgen (der Titel, dadaistisch-technokratisch, könnte auch eine Hommage an Elon Musk sein). Eine freundliche Talentprobe, die das Publikum nicht beleidigt.

Zuvor gab es einen vor allem im Kopfsatz ganz wunderbaren Mozart, und Eva Gevorgyan ist eben nicht nur eine phänomenale Virtuosin, wie sie anschließend vor allem in den Finessen der Paganini-Campanella in Liszts rhapsodischer Formung in das Publikum absolut in Bann schlagender Weise bewies, sondern eine Musikerin, die in dieser niemals stillstehenden, immerfort sich organisch entwickelnden Musik vollkommen präsent ist, die harmonischen Verläufe sinnfällig aushört, die Kontrapunktik auch da deutlich hervortreten lässt, wo viele andere nur charmantes Figurenwerk durchnudeln. Eine wirklich spannende, dabei auch ganz natürliche Darbietung mit einem adäquat hellwachen Orchester als lebendig changierendem Gegenpart. Im langsamen Satz spielte Eva Gevorgyan sehr fein und stimmungsvoll, auch durchaus klar und äußerst kultiviert, jedoch können die Spannungsverläufe der Phrasen noch viel bezwingender erscheinen, zumal wenn die extreme introvertierte Spannung der Neapolitaner-Akkorde tiefgreifender begriffen würde. Aber das lässt sich ja noch entwickeln, erweitern… Im Finale herrschte geistvoller Dialog, lediglich leicht gebremst durch ein etwas zu geschwind genommenes Starttempo, aber hier ist es viel leichter, das natürliche Idiom des Komponisten zu Wort kommen zu lassen, wenn man nicht den ideologischen Flausen der sogenannten ‚historischen Aufführungspraxis‘ mit ihren nivellierenden Verzerrungen aufsitzt – und diese Gefahr bestand in keinem Moment. Der kleinen Einwände eingedenk also eine vortreffliche, grundmusikalische Darbietung aller Beteiligten.

Auf der gleichen Höhe bewegte sich die Bruckner-Symphonie. Es ist nicht möglich, dies angemessen zu beschreiben. Als Leitfaden möge dienen, dass Ballot definitiv von dem Lehrer und Meister geprägt ist, dessen jüngster Dirigierschüler er am Ende von dessen Leben war: von Sergiu Celibidache. Und da scheiden sich natürlich die Geister von den Ungeistern. Aber lassen wir die Ungeister außer Acht, die können sich ja an Wand, Harnoncourt, Skrowaczewski, Tintner, Thielemann und minderen Gesellen orientieren. Entscheidend ist, dass Ballot es einerseits überhaupt nicht nötig hat, sich irgendwie von Celibidache zu distanzieren, sondern dass er schlicht ein ergebener Diener der Musik ist, wie dies einst, in Zeiten vor dem alle Qualität niederwalzenden Starkult, das Ideal aller seriösen Musiker war. Und das Schöne ist, dass Ballot bei aller Nähe zum von Celibidache Erlernten doch ein ganz anderes Naturell ist. Spezifisch für ihn ist eine Leichtigkeit, Geschmeidigkeit, ein grundsätzlicher Optimismus, ja eine immer spürbare Freundlichkeit und Fröhlichkeit des Wesens, und das begünstigt auch die Transparenz des Orchesterklangs und überhaupt die kollektive Tongebung. Und es bedeutet keineswegs, dass es an Drama mangele! Das Scherzo ist so virtuos, wie es sein soll, und keine gemütliche Veranstaltung (das Trio hingegen selbstverständlich genau das). Kopfsatz und langsamer Satz gelingen vortrefflich, und es steht zu vermuten, dass fast niemand in Orchester und Publikum diese Musik bisher je so wunderbar gestaltet im Konzert erleben durfte. Und überwältigend, wie es eben sein muss, setzt das Finale dem Ganzen die Krone auf, um in einer apotheotischen Coda, wie dies nur möglich ist, dem Himmel zuzustreben. Ganz im Sinne seines Lehrmeisters gelingt es Ballot hier, aus dem Gegensatz der kantablen Harmoniepracht des modulierenden Bläsersatzes und dem markierten Schreiten der Streichertriolen als rhythmischer Erdung eine Wirkung zu manifestieren, die so magisch ist, dem sich nur entziehen kann, wer dümmlicherweise dagegen ist. Und welcher musikalische Geist wäre das? So geht Bruckner, und Ballot ist wohl nicht der einzige, der das heute versteht und verwirklichen kann, aber einer der ganz wenigen. Die Stars gehören jedenfalls bislang nicht dazu. Möge er also kein solcher werden wie diese, sondern seinem eigenen Stern ohne Eitelkeit und Selbstsucht folgen, wie dies bisher ganz offensichtlich der Fall zu sein scheint, und möge ihn der zunehmende Erfolg geistig nicht zu Fall bringen. Ich traue ihm das jedenfalls zu. Ich hätte mir lediglich gewünscht, dass er nicht so pedantisch die Zweier-Gruppen bei der Bruckner-Manie des halb-Zweier, halb-Dreier-Alla-breve-Takts unterschlagen hätte. Auch wenn ihm womöglich die verfügbare Probenzeit ein bisschen knapp gewesen sein mag (was vor allem für den langsamen Satz gilt), so viel Kontrolle war hier nicht nötig, und das Orchester tat, was ihm nur möglich war, um in dieser Art von Bruckner-Spiel, die in jedem Fall so ganz anders als das Gewöhnliche und so ganz neu war, mit Hingabe aufzugehen. Wie schön, wenn ein Orchester so fühl- und spürbar aufblüht und mit solchem Selbstbewusstsein das entdeckt wie beim ersten Mal, was man längst zu kennen glaubte. Großartig.

Was ist das Besondere an dieser Art des Musizierens? Kurz, allzu kurz gesagt: der organische Zusammenhang, der uns alle vier Sätze in bezwingender Weise als Einheit der Form erleben lässt. Und vielleicht sogar die Symphonie als Ganzes, wenngleich jenseits des Erklärbaren, auch wenn das Hauptthema des Beginns am Ende wieder da ist, wie ein Symbol des Ewigen. Diese einmalige Kunst des Musizierens kann man nicht eben mal erklären. Das erlebt man. Sogar als Kritiker ‚von Statur‘ hätte man die Möglichkeit…

[Annabelle Leskov, Mai 2024]

Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2024 im Herkulessaal

Am Samstag, 18. Mai 2024 um 19 Uhr, fand – erneut im Münchner Herkulessaal – die Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2024 an die koreanische Komponistin Unsuk Chin statt. Die diesjährigen Förderpreise für Komposition und Ensembles gingen an Daniele Ghisi, Bára Ghísladóttir, Yiquing Zhu bzw. das Broken Frames Syndicate sowie Frames Percussion. Neben zwei Werken Chins – Gran Cadenza und das Doppelkonzertwurden auch die drei jungen Komponisten mit Live-Beiträgen vorgestellt.

Die Preisträger der Ernst-von-Siemens-Musikpreise 2024: Yiqing Zhu,
Unsuk Chin, Bára Ghísladóttir und Daniele Ghisi. Photo © Ernst-von-Siemens-Musikstiftung/Astrid Ackermann

Deutlich schlechter besucht als in den Vorjahren schien dem Rezensenten die diesjährige Preisverleihung der Ernst von Siemens Musikstiftung im Münchner Herkulessaal. Ebenso war die „Promi-Dichte“ heuer recht überschaubar. Vielleicht lag es an den bevorstehenden Pfingstferien. Man muss allerdings kritisieren, dass das Publikum das sehr lange Programm – gute 160 Minuten – ohne Pause absitzen musste und das Foyer für den anschließenden Empfang der Stiftung einfach unangenehm überakustisch wirkt. Annekatrin Hentschel vom Bayerischen Rundfunk moderierte die Veranstaltung, die übrigens am 18. und 20. Juni auf BR Klassik gesendet werden wird. Nach einem Grußwort durch die Bratschistin Tabea Zimmermann, Vorsitzende des Stiftungsrats, gab es die mit Spannung erwarteten Porträtfilme über die Förderpreisträger Komposition bzw. Ensemble von Johannes List. Leider fielen diese diesmal erheblich uninspirierter aus als in den letzten Jahren; geradezu nichtssagend die kurzen Filmclips zu den Ensembles: Broken Frames Syndicate aus Frankfurt am Main sowie Frames Percussion aus Barcelona. Umso erfreulicher, dass sich die jungen Komponisten auch mit jeweils einer Live-Aufführung vorstellen durften – hier gebührt Zoro Babel schon mal Dank für die gelungene Klangregie.

Wir hatten hier bereits kurz die diesjährigen Stiftungspreisträger vorgestellt. Daniele Ghisis drei Stücke aus Weltliche (2020) – für Klavier und Elektronik – mochten, trotz der engagierten Darbietung durch den britischen Pianisten Joseph Houston, nicht so recht überzeugen: Ghisi verarbeitet darin u. a. Material aus drei weltlichen Bach-Kantaten. In seiner Live-Elektronik, die akustisch ebenso auf den Korpus des Konzertflügels übertragen wird, verwendet der stark mathematisch orientierte Italiener zudem musique concrète. Das Ganze wirkte dann doch sehr verkopft; da halfen die teils sensiblen Klänge kaum weiter.

Einen völlig anderen Weg geht die isländische Komponistin und Kontrabassistin Bára Ghísladóttir. Wie in den meisten ihrer Kompositionen macht sie auch in RÓL (2023) – für Tuba und Elektronik – aus ihrer besonderen Liebe zum Tieffrequenten keinen Hehl: Was Jack Adler-McKean hier an bedrohlich Geräuschhaftem aus dem Instrument des Jahres herausholte, war wirklich beeindruckend, erschien geradezu wie ein Hurrikan in der Tuba. Und die intensive Live-Elektronik – endlich hatte man ein paar Lautsprecher im Herkulessaal aufgebaut, die tatsächlich satte Bässe hergeben – traktierte die Zuhörer gleichermaßen enorm körperlich, entsprechend Ghísladóttirs grundsätzlichem Bekenntnis zum Animalischen.

Am tiefgründigsten erschien jedoch The Aether and Nether des stilistisch sehr breit aufgestellten Chinesen Yiqing Zhu, der selbst auf dem Podium dirigierend die Live-Elektronik – mit vielen verfremdeten Echo- bzw. Loop-Effekten – bediente und gemeinsam mit Liyi Lu an der Pipa (chinesische Laute) und dem Flötisten Rafał Zolkos mit einem erstaunlichen Wechselbad von expressiver Hochspannung und chillig-lässigem Jazz faszinierte. Große Zustimmung für die jungen Tonkünstler bei der Preisverleihung durch den nach 36 Jahren im Kuratorium nun ausscheidenden Vorsitzenden Thomas Angyan.

Nun folgte endlich Musik der Hauptpreisträgerin Unsuk Chin: Dazu hatte man das Ensemble intercontemporain aus Paris eingeladen, mit dem Chin durch eine bald 30-jährige Zusammenarbeit eng verbunden ist. In der für Anne Sophie Mutter und ihre Geigen-Eleven 2018 geschriebenen Gran Cadenza für zwei Violinen – selbst schon ein kleines Doppelkonzert – durften Hae-Sun Kang und Diégo Tosi alle Register ihres Könnens ziehen: eine technisch wie musikalisch ungemein wirksame, zweifellos phänomenale Wiedergabe. Die Laudatio für Chin, die mittlerweile in Berlin lebt, jedoch bereits als Schülerin von György Ligeti in Hamburg entscheidende musikalische Impulse bekam, hielt der langjährige Intendant der Kölner Philharmonie, Louwrens Langevoort. Er betonte insbesondere den außergewöhnlichen Klangsinn der aus Korea stammenden Komponistin, für Orchester zu schreiben sowie die konsequente Umsetzung ihres vielzitierten Leitspruchs „Meine Musik ist die Abbildung meiner Träume“, die vielleicht in der 2007 in München uraufgeführten Oper Alice in Wonderland einen ersten Kulminationspunkt erreichte.

Nach der Preisübergabe und der ein wenig selbstgefälligen Danksagung der Geehrten gab es als krönenden Abschluss das Doppelkonzert, 2002 als drittes Auftragswerk für das Ensemble intercontemporain entstanden. Hier spielten nun dieselben Solisten wie bei der Uraufführung: Samuel Favre (Schlagzeug) und Dimitri Vassilakis, der am geschickt teilweise präparierten Steinway eine vielschichtige, aber nie vordergründig virtuose Klangwelt hinzauberte. Wirklich virtuos war jedoch das hochdifferenzierte, dabei dicht verschmelzende Zusammenspiel mit dem Ensemble – unter dem kongenialen, präzisen und nie aufdringlichen Dirigat seines seit letztem Jahr neuen Leiters: Pierre Bleuse. Dank eines etwas ungewöhnlichen Gewandes sah der agile, kraftstrotzende Herr beim Dirigieren von hinten ein wenig aus wie eine Fledermaus, beherrschte die herausfordernde Partitur dafür absolut souverän. Hier bewahrheitete sich nun offenkundig, mit welchem musikalischen Kaliber man es bei Unsuk Chin zu tun hat: Tosender Applaus im Saal – und sicher nicht die letzte Komponistin, die diesen Preis völlig zu Recht erhält.

[Martin Blaumeiser, 20. Mai 2024]

„Es ist nicht irritierend, nur schwer zu verkraften“

Wien ist eine wunderbare Stadt und bietet die Möglichkeit zu täglichen Konzertbesuchen, an zahlreichen Orten gibt es immer etwas zu hören. Und während das Publikum gerade erst jubelt und dann beginnt, an einem Star zu zweifeln, ob er oder sie nicht doch ein X sei statt ein U, da der Hunger nach dem nächsten Star wächst, was ein Phänomen ist, das fast jedes Jahr ein- oder zweimal zu beobachten ist, finden hier und da versteckte Momente von großer Bedeutung statt.

So geschehen am vergangenen Montag im Jüdischen Museum beim Gastkonzert der School of Music, Theatre and Dance der University of Michigan. In einer Kooperation des Jüdischen Museums mit dem ExilArte Institut der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, erklangen Bearbeitungen von Schlagern, Tangos, Walzern und Foxtrotts aus den 30er und 40er Jahren, kundig eingeleitet von Gerold Gruber, dem Leiter des ExilArte-Instituts, dessen Arbeit einmal an anderer Stelle gewürdigt werden muss.

Das Besondere beginnt dabei, dass diese Bearbeitungen statt der Namen der Bearbeiter deren Häftlingsnummern im KZ Auschwitz tragen. So von Nummer 5665, Antoni Gargul, Bratschist, oder Nummer 5131, Maksymilian Pilat, Fagottist. Sie und andere arrangierten diese Nummern für das Auschwitz 1 Männerorchester, das zunächst aus polnischen, und später großteils aus jüdischen Häftlingen bestand. Musik in Auschwitz, so der Titel des Konzerts.

„Meine liebe Frau! Schicke mir bitte sofort meine Geige.“

Stets in der Gefahr, auch während eines Konzerts aus dem Orchester willkürlich herausgeholt und umstandslos erschossen zu werden (so erging es etwa 50 Orchestermitgliedern), spielten die Musiker Konzerte vor der Villa des Kommandanten Höss (eines der bei diesem Konzert gespielten Werke ist auch im jüngst Oscar-prämierten Film „The Zone of Interest“ zu hören), Sonntagskonzerte für die SS und zu zwei verschiedenen Gelegenheiten für die Häftlinge: ein für die SS anschließendes Konzert an Sonntagen und täglich morgens und abends am Lagertor für die zur tödlichen Zwangsarbeit ausziehenden und am Abend dezimiert Heimkehrenden.

Die Titel der Tanznummern waren unter anderem, wie sie original in diesem Konzert erklangen: „Ich bin ja heute so verliebt“, „Ich wollt‘ ich hätt‘ im Wirtshaus gleich mein Bett“, „Traum von Haiti“, „Fidele Bauern“, „Die schönste Zeit des Lebens“ oder „Dideldideldum, Dideldideldei“. Wenn man es aushält, kann man sich sich diese Titel auf der Zunge zergehen lassen, während man sich vorzustellen versucht, wie es in Wirklichkeit war.

Jedes Wort, das überhaupt geschrieben oder gesagt wird, jede Note, die erklingt, hat plötzlich eine andere Bedeutung oder gar keine mehr. Alles ist ausgehöhlt, die Sprache ist entleert, die Musik erklingt schön und doch wie ein endloser Hohn, als eine verwirrende und absolute Antimaterie.

Der Rauch vom Krematorium irritierte sehr meine Kollegen, aber es ist nicht irritierend, nur schwer zu verkraften. Es verschmutzte die Luft, und es war schwer, die Noten zu sehen.“

Die Studierenden der University of Michigan musizieren beeindruckend, frei, musikalisch, ernst und schön, und so kommt im Konzert diese Musik eigentlich schwungvoll und lieblich daher. Die kurzen Texte, die die Sänger Yinghui Mak He, Benjamin Ysik, Micah Huisman und Jack Morin zwischen den Nummern rezitieren, sind Zitate aus Erinnerungen und Aussagen von Überlebenden. Die natürliche Präsenz der einfachen, unpathetischen Direktheit dieses Vortrags war bemerkenswert, und vielleicht kann die Furchtbarkeit gar nicht besser dargestellt werden. Mit derselben Klarheit und unsentimentaler Empathie, schön, präsent, lieblich und direkt, dirigierte Oriol Sans diese wunderbar und innig aufspielenden 22 jungen Musikerinnen und Musiker aus Michigan.

Es gleicht diese Haltung der, wie sie Hans Sahl in seinem Roman „Die Wenigen und die Vielen“ als amerikanisch bei Varian Fry, den Organisator der Flucht vieler aus Marseille heraus (u.a. von Alma Mahler und Franz Werfel), beschreibt: „…und weil da doch immer , wenn es nicht mehr weiterzugehen scheint, irgendein Mann in Hemdsärmeln vor dir steht und sagt: ‚Oh, there are ways, you know…‘.“

Man kann Particia Hall, der Musikhistorikern aus Michigan, nicht genug danken dafür, dass sie sich diesem Aspekt unserer verzweifelten Geschichte so ausgiebig widmet und dieses Konzert durch ihre wissenschaftliche und kuratorische Arbeit ermöglicht hat. Solche Unternehmungen geben Würde zurück, wo sie einst genommen wurde.

„Sie hätten lieber etwas zu essen gehabt, aber die Hälfte von ihnen sind zum Hören gekommen.“

Ist das also ein Mensch? Für alle Zeiten bleibt die Frage von Primo Levi unbeantwortbar. Musik: Hölle und Trost, Träger von maßlosem Zynismus dem menschlichen Sein gegenüber, an Sonntagen ein Glimmen von Humanität, verdunkelt vom Rauch der Krematorien, am Montag die Todesfanfare beim Auszug aus dem und Trauermarsch beim Einzug in das Lagertor. Was ist da noch Musik an Musik?

Der Applaus des sichtlich bewegten Publikums war zwischen den Nummern herzlich und wohlwollend, blieb aber merklich im Halse stecken. Der stehende Schlussapplaus jedoch erklang als Echo auf die Musik als eine kraftvolle Bejahung der Humanität.

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Anm.: Die kursiv gesetzten Zitate sind dem Programmheft des Konzerts entnommen.

[Jacques W. Gebest, 15. Mai 2024]

Etüden und Präludien von Chopin bis ins späte 20. Jahrhundert

hänssler CLASSIC, HC22083, EAN: 8 81488 22083 4

Die Pianistin Dora Deliyska präsentiert ein Programm von Etüden und Präludien von Chopin, Debussy, Ligeti und Kapustin. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Anordnung der einzelnen Stücke, die eigenen Gesetzmäßigkeiten und dramaturgischen Ideen folgt.

Die Pianistin Dora Deliyska, gebürtige Bulgarin, mittlerweile seit Jahren in Wien lebend, hat seit ihrem CD-Debüt 2008 eine respektable Diskographie eingespielt, und so ist ihr im vergangenen Jahr erschienenes neues Album Études & Preludes (nach Angaben ihrer Homepage) bereits das dreizehnte mit ihr am Klavier. Die Palette, die sie abdeckt, ist breit, und neben Liszt-, Schubert- oder Schumann-CDs hat sie speziell in den letzten Jahren offenbar ein besonderes Faible für sogenannte Konzeptalben entwickelt, CDs also, deren Programm einer bestimmten Idee (oder eben: Konzeption) folgt und dabei immer wieder bewusst Grenzen überschreitet, Werke und Komponisten miteinander kombiniert, die man vielleicht a priori nicht unbedingt nebeneinander erwarten würde.

Im Falle von Études & Preludes widmet sich Deliyska zwei der populärsten Genres der Klaviermusik seit dem frühen 19. Jahrhundert, und zwar nicht zufälligerweise im Rahmen eines Programms von 24 Stücken, das sich aus je zwölf Etüden und Präludien zusammensetzt; klassische Zahlen also. Mit Chopin, Debussy, Ligeti und Kapustin geht es dabei vom frühen 19. bis ins späte 20. Jahrhundert auf den Spuren von Marksteinen der beiden Gattungen.

Als besonders raffiniert erweist sich das Konzept im Falle der zwölf Etüden, mit denen die CD beginnt. Deliyska hat hier Stücke aus Chopins 12 Etüden op. 25, Debussys Douze Études sowie György Ligetis 18 Etüden (1985–2001) ausgewählt, wobei sie von Debussy die Idee übernommen hat, die Etüden nach Intervallen anzuordnen. Und so startet das Programm mit der Prime (bzw. einer Etüde, in der die Prime eine prominente Rolle spielt), dann der kleinen Sekunde und so weiter, bis die Oktave erreicht ist; es folgen noch zwei Etüden zu Arpeggien und eine zu Akkorden, und damit ist das Bild vollständig, ohne dass dabei jemals zwei Stücke desselben Komponisten aufeinander folgen würden.

Es ist erstaunlich, wie gut diese Werke nebeneinander funktionieren, exemplarisch zu beobachten am Beginn der CD. Alles beginnt mit den rasenden Tonrepetitionen von Ligetis Etüde Nr. 10 Der Zauberlehrling, gefolgt von Debussys Etüde Nr. 7 Pour les Degrés chromatiques, die Deliyska fast ohne Pause folgen lässt. Gerade in den lapidaren Anfangstakten von Debussys Etüde wirkt der Übergang in der Tat verblüffend natürlich. Eine gewisse Rolle spielt dabei sicherlich auch, dass Ligetis Etüden zwar für den Pianisten horrend schwer sind, auch für den mit Musik des späten 20. Jahrhunderts nicht sonderlich vertrauten Hörer jedoch zu den zugänglichsten seiner Werke zählen dürften – Der Zauberlehrling etwa ist im Grunde genommen fast eine Etüde in C-Dur. Aber selbst, wenn anschließend mit Chopins Etüde op. 25 Nr. 11 ein Sprung in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgt und, jedenfalls was das Melos betrifft, aus Chromatik Diatonik wird, fühlt man sich doch beim (abermals) chromatischen Wirbelwind in der rechten Hand an das, was in den beiden zuvor gehörten Etüden geschehen ist, erinnert. Allein dies ist bereits ein eindrucksvoller, sehr gelungener Brückenschlag.

Gleichzeitig schaffen diese ersten Stücke eine Atmosphäre permanenter Unruhe, Betriebsamkeit, stetigen Flirrens, auch Dramatik (gerade in Chopins Etüde), die auch in Ligetis Etüde Nr. 4 Fanfares mit ihren unregelmäßigen Rhythmen weitergeführt wird und insofern den Hörer in einen regelrechten pianistischen Strudel reißt, der erst in Track 5 mit Chopins Etüde op. 25 Nr. 7 gebremst wird, dafür nun umso deutlicher. Ein Ruhepol, der einen Track später in Ligetis Etüde Nr. 2 Cordes à vide, die sanft den Klang leerer Streichersaiten heraufbeschwört, noch einmal bekräftigt wird. Neben dem Fokus auf Intervallen ergibt Deliyskas Auswahl also auch eine veritable Dramatik und Struktur mit Steigerungen, Höhepunkten und Momenten des Durchatmens.

Natürlich folgen nicht alle Etüden dem Intervallschema so deutlich wie etwa Ligeti in den Cordes à vide mit ihren Quinten oder (an neunter Stelle) die mal brausenden, mal innig singenden Oktaven in Chopins Etüde op. 25 Nr. 10, erst recht, zumal Debussys Etüden, die sich ja explizit auf Intervalle beziehen, hier (bis auf Track 2) ausgespart und erst gegen Ende der Abteilung Etüden das Bild mit Arpeggien bzw. Akkorden (Debussys Etüden Nr. 11 und 12) komplettieren. Dabei ergeben sich aber auch interessante Zwischenstellungen. So fallen in Ligetis Fanfares natürlich die Terzen in der rechten Hand auf, aber in der fortwährenden Achtelbewegung in der linken ist es die große Sekunde, die dominiert – eine Etüde „zwischen“ den Intervallen also. Ganz ähnlich verhält es sich mit Chopins Etüde op. 25 Nr. 7: natürlich hört man hier zunächst Quarten in den Achteln in der linken Hand, aber das Melos wird doch auch stark von der Terz beherrscht.

Generell entsteht jedenfalls speziell in den ersten Etüden in der Tat ganz entschieden jener Eindruck des allmählichen Sich-Weitens der Intervalle, auf den Deliyska mit ihrem Programm offensichtlich abzielt. Dass am Ende Debussys Etüde Nr. 12 für einen robusten Abschluss mit Finalwirkung sorgt, versteht sich von selbst, zumal sie ja im ursprünglichen Zyklus dieselbe Stellung innehat.

Anders verhält es sich mit den Präludien: wieder drei Komponisten, und wieder werden Chopin (mit erneut fünf Stücken aus seinen 24 Préludes op. 28) und Debussy (diesmal mit vier statt drei Stücken aus seinen zwei Büchern von insgesamt ebenfalls 24 Préludes) um einen Komponisten der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ergänzt, nämlich durch Nikolai Kapustin (1937–2020) und drei seiner 24 Präludien im Jazzstil op. 53 (1988). Anders als bei den Etüden gruppiert Deliyska die Präludien aber (konventioneller) nach Komponisten.

So steht am Anfang ein Chopin-Block, der gleich mit dem enorm populären Des-Dur-Präludium (Nr. 15) beginnt, auf das Deliyska das e-moll-Präludium (Nr. 4) folgen lässt und so Parallelen zwischen den beiden Stücken aufzeigen will (die auf einer grundsätzlichen Ebene zweifelsohne vorhanden sind). Ansonsten scheint ihre Anordnung der Präludien vorwiegend von dramaturgischen Überlegungen motiviert, ein wenig auch Tonartenbeziehungen (auf fis-moll folgt, beruhigend, Fis-Dur); auf jeden Fall läuft der kleine Chopin-Zyklus auf einen stürmischen Presto-Abschluss (Nr. 16) hinaus, der in der Tat dann auch eine etwas längere Pause, einen Moment des Sich-Sammelns zur Folge hat.

Ähnlich ist der Debussy-Block aufgebaut: wieder ein ebenso verhaltener wie hochexpressiver Beginn (Des Pas sur la neige), der schließlich in Debussys Beschwörung des Westwindes gipfelt (Buch I, Nr. 7). Kapustins Präludien bilden schließlich ein kleines Triptychon in der „klassischen“ Reihenfolge schnell-langsam-schnell und verwandten Tonarten (gis-moll, H-Dur, h-moll), das hier ein wenig als Zugabe fungiert, als locker gefügter, spielerischer Abschluss eines Programms, das die vollen 80 Minuten der CD ausschöpft.

Deliyskas Argument (im Beiheft), durch die Anordnung gemäß Komponisten seien „die deutlichen Stilunterschiede noch genauer [zu] erkennen“, überzeugt sicher nicht völlig, denn ein Faszinosum am ersten Teil ist ja gerade das ganz leichte Verschwimmen dieser Unterschiede (wohlgemerkt: in kleinen Momenten und Augenblicken, in denen man kurz aufhorcht). Andererseits gibt es sicherlich eine Reihe anderer Gründe dafür, hier eben genau so vorzugehen; das Genre selbst, in dem es ja weniger um technische oder Materialfragen geht als um kurze Impressionen, mag eine Rolle spielen, aber vielleicht auch die Auswahl der Komponisten, denn insgesamt scheint mir Ligeti in seinen Etüden mit ihrem ausgeprägten, raffinierten Klangsinn doch näher an Chopin und Debussy zu liegen als Kapustins schon im Titel aufgezeigter (klassisch fundierter) „Jazzstil“.

Bei alledem überzeugt Deliyska als kompetente, pianistisch sehr gutklassige Anwältin ihrer Programmidee. Ihre Tempi sind insgesamt eher gemäßigt (etwa im Vergleich zu Ligetis Angaben zur Dauer seiner Etüden oder zu Kapustins eigener Interpretation seiner Jazzpräludien), obwohl nicht dezidiert langsam. Gerade bei den Präludien von Chopin fällt ein ausgeprägtes Interesse an Mittel- und Nebenstimmen auf (von ihr selbst im Beiheft im Falle des Préludes Nr. 4 gesondert erwähnt, aber auch an zahlreichen anderen Stellen zu beobachten wie etwa im più lento von Nr. 13).

Gewiss: es handelt sich hier in der Mehrzahl um Repertoire, das diskographisch in einer solchen Breite und Qualität erschlossen ist, dass man fast beliebig stark ins Detail gehen und differenzieren könnte. Im Falle von Ligetis Etüden etwa ist Aimards Lesart der Cordes à vide noch eine Nummer filigraner, ganz exquisit an der Grenze zwischen Stille und zartem Nachhall angesiedelt, während mir in der Teufelstreppe (Nr. 13) der Höhepunkt in Takt 43 (im achtfachen Forte) bei Deliyska deutlich zu wenig Wucht besitzt. Andererseits liegt der Reiz dieser CD ja gerade nicht darin, diese Zyklen (erst recht die ganz bekannten von Chopin und Debussy) wie gewohnt zu hören, sondern sie neu zu kontextualisieren und womöglich in einem etwas anderen Licht zu betrachten. Ebendies erfüllt Deliyskas Album in hervorragender Weise.

[Holger Sambale, Mai 2024]

Die Musik Ludwig van Beethovens

Gegenüber dem Wiener Konzerthaus steht auf dem Beethovenplatz das Beethoven-Denkmal. Noch Mitte der 1970er Jahre waren dort Passanten zu beobachten, die im Vorübergehen kurz Halt machten, den Hut zum Gruß zogen und sich vor dem Denkmal verneigten. In den eisfreien Monaten fanden an lauen Abenden auf dem dem Konzerthaus benachbarten Gelände des Wiener Eislaufvereins gelegentlich Boxkämpfe statt, die sich bei den Konzertbesuchern großer Beliebtheit erfreuten, so dass es nicht einfach war, in der Konzertpause einen Platz am Fenster zu ergattern.

Gestern war der 200. Geburtstag der 9. Symphonie von Beethoven. Nirgendwo auf der Welt gibt es ein Nichtverstehen, wenn man in gleich welcher Sprache „Die Neunte“ sagt; es ist dieses Werk so stark und so tief in das kulturelle Gedächtnis der Menschheit eingedrungen, dass es zur größten Legende der Musik werden konnte. Niemand auf der Welt kennt zumindest die Melodie des Finales nicht, niemand vergisst, wenn er oder sie dabei waren, und sei es an den Fernsehschirmen oder Rundfunkgeräten, wenn die Symphonie zu besonderen Momenten erklang, wie als die Berliner Philharmoniker und das jetzige Berliner Konzerthausorchester mit den entsprechenden Chören und Leonard Bernstein den Fall der Mauer in Berlin mit einer schönen Textänderung („Freiheit, schöner Götterfunken“) feierten, und nicht wenige werden sich auch an die ausgiebigen Möglichkeiten zum Missbrauch erinnern, Hitler und Stalin ließen sie sich gerne vorspielen. Man darf davon ausgehen, dass der Schlussakkord, wenn auch kaum wahrnehmbar, sensiblen Ohren dabei jeweils als Fragezeichen erklingen musste. Unter „politisch verdächtig“, wie Thomas Mann sein alter ego im Zauberberg warnen lässt, fällt sie trotzdem nicht, unsere Neunte, sie ist aber nicht aus sich heraus gegen Missbrauch gefeit, und daher immer wieder zu Recht Gegenstand skeptischer Betrachtung, der man es nachsehen möge, wenn sie über das Ziel hinausschießt und die Neunte per se als faschistisch beurteilt.

Sie ist also längst ein Menschheitssymbol, das über jeden Rahmen, den man ihr gibt, hinausweist, ein Werk, das alles verkörpert, was in der Musik im selben Maße groß und gefährdet ist. Diesen nicht auflösbaren Widerspruch hat der italienische Schriftsteller, Maler und Komponist Alberto Savinio (1891-1952) in diese Worte gefasst:

Auf dem A-a-a beruhten die Kantaten des 17. und 18. Jahrhunderts. Diese helle Musik. Diese gebäudeartige Musik. Diese Musik, die aus Freitreppen, Säulen, Akroterien besteht. Diese Musik, die nichts aussagt. Nicht weil sie nichts zu sagen hätte, sondern weil sie ihren zivilisatorischen Verpflichtungen nachkommt. Die „zivilisierte“ Musik beginnt jenseits der Bedeutungen. Die Musik, die etwas aussagt, die tiefschürfende Musik, ist Barbarenmusik. Nur ein Barbar kann sich die extreme Taktlosigkeit erlauben, die Musik mit seinem Herzen, seinem Hirn, seiner Seele zu befrachten und das leichte, luftige, ungreifbare Gerüst der Musik zu zwingen, diese Last zu tragen. Dennoch ist es eine süße Verlockung, barbarisch zu sein! Und noch dazu einfacher, eindrucksvoller und gewinnbringender!

In diesem Sinne ist Die Neunte zivilisatorisch als Musik jenseits der Bedeutung, andererseits beruht ihre fragile Stellung darauf, dass sie eine Einladung zur außermusikalischen Interpretation, also unmittelbaren Überfrachtung, enthält. Damit läuft sie Gefahr, dass sie mit Bedeutungen überladen wird, die sie letztlich banalisieren. Doch ist sie stark, und so vergeht dieser eine Aspekt jeweils zeitgebunden, der zivilisatorische Aspekt gehört aber der Zeitlosigkeit und überlebt sicher auch die nächsten 200 Jahre.

Die weltweiten Feierlichkeiten waren also angebracht, so dass mutmaßlich jedes Orchester der Welt, gestern, oder zumindest in dieser Woche, die Neunte aufgeführt hat.

Auf dem TV-Kanal Arte hatte man sich dafür etwas Besonderes einfallen lassen, eine im Ganzen sympathisch gelungene Idee, ein europäischer Abend, nämlich jeden der vier Sätze aus einem anderen Konzertsaal Europas zu senden, jeweils zwischen den Sätzen übergeleitet durch Barbara Rett vom ORF und Christian Merlin von Radio France: kurz genug, um nicht zu stören und für das breite Publikum ausreichend informativ. Das Ganze kontrastierte dazu hübsch mit dem parallel stattfindenden Halbfinale der Champions League zwischen Paris und Dortmund.

Der erste Satz erklang aus dem Leipziger Gewandhaus, wo das Gewandhausorchester unter seinem Chefdirigenten Andris Nelsons zu erleben war. Es war bedrückend, mit ansehen zu müssen, wie Nelsons mit bemühter Mimik ein paar dynamische Äußerlichkeiten forcierend das Orchester zu einer irritierenden Stumpfheit im Klang und nur zu glanzlosem musikalischen Ausdruck brachte.

Sicher, das Orchester spielte hervorragend, und zeigte seine technische Klasse und musikalische Routine, aber ist das wirklich alles, was die Leipziger als eines der führenden und traditionsreichsten europäischen Orchester bereit sind, für eine Neunte zu diesem Anlass aufzubieten? Spielen wir bei Beethoven denn nicht immer in jedem Moment um unser Leben und unsere Würde als Menschen, Prometheus und Zeus in einem?

Das ist es doch, was Beethoven von uns verlangt, nie lässt er uns los, nie gönnt er uns eine Verschnaufpause von der Freiheit, und nichts ist so fordernd für Ausführende, wie seine Musik. Es existiert das obige Photo aus dem 2. Weltkrieg, wo ein einzelner Geiger im Kreis von in den Krieg ziehenden sowjetischen Soldaten musiziert. Die seelische Intensität des Spiels und des Hörens sind fast mit den Händen zu greifen. Der Titel, den der Photograph dem Bild gegeben hat: „Die Musik Ludwig van Beethovens“. Aber das?

Das zu spielen, was in der Partitur steht, reicht nun einmal nicht. Der erste Satz ist doch ein Stück Musik wie es dramatischer kaum sein kann, mit seiner gnadenlosen Stringenz und Unerbittlichkeit, selten in eine Helligkeit führend, und mit einer Reprise des ersten Themas, die so gar nichts von Rückkehr, dafür mehr etwas von Apokalypse hat. Wo ist das alles geblieben? Nichts davon ist entstanden, der einzige Lichtblick war das parallel in Paris von Mats Hummels geköpfte 1:0, das, während in Leipzig nichts geschah, im Liveticker aufblinkte.

Es geht nicht darum, dass hier eine Interpretation, bzw. die Absicht zu einer gewissen Art der Darstellung danebengegangen ist, nein, rein gar nichts ist passiert, als wenn es um nichts ginge, trist war es, kein Wille vorhanden, sich mit der Wucht von Beethovens Musik zu verbinden.

Die Gründe dafür sind der Spekulation überlassen, aber vielleicht hat den Dirigenten Andris Nelsons bereits das Schicksal ereilt, das den jungen Dirigenten und Dirigentinnen, die jetzt schon Stars der Szene sind oder bald zu solchen werden, erfahrungsgemäß in den meisten Fällen bevorsteht: dass früh überspannt einfach keine Entwicklung stattfand oder stattfindet; zu jung und zu viel in wichtigen Positionen zu dirigieren, von Pult zu Pult hetzend, mindestens zwei internationalen Klangkörpern als Chef vorzustehen, und von der Karriere und der Musik, die nicht mit sich spaßen und am Ende doch nicht alles mit sich machen lässt, zerrieben zu werden. Musik ist aber eine zu ernste Sache, und es ist erschütternd, einen einst inspirierenden Dirigenten so matt sehen zu müssen.

1:0 für Beethoven, der Ball rollte am Torwart vorbei ins Netz.

Viele besorgte und wohlmeinende Musikliebhaber und Musikliebhaberinnen sorgen sich auch um die Zukunft von Jungstar Klaus Mäkelä, der so vielen Orchestern verpflichtet ist, dass es müßig ist, sie hier aufzuzählen. Ihm und dem Orchestre de Paris fiel der zweite Satz der Neunten zu. Der Beginn des Satzes stand unter großem juvenilem Druck zur Rasanz, zu dem vor allem junge Dirigenten sich verpflichtet fühlen, und wie es auch dem Image entspricht, das das Publikum erwarten mag. Energie bedeutet aber auch in Form rasanter Bewegung noch nicht musikalische Kraft, und so hat das Orchestre de Paris für die ersten vier Takte den cartoonesken Klang einer alten Langspielplatte, die auf der 45er-Geschwindigkeit abgespielt wird. Dieser zugegebenermaßen boshafte Eindruck verflüchtigte sich schnell auf hervorragende Weise hinweggefegt durch das unglaublich präsente, artikulierte und perfekt funktionierende Orchestre de Paris, als es dem Beginn sofort die aufgesetzte Schärfe nimmt und den kontrapunktisch verzwickten Satz geistig äußerst präzise und beweglich in die Hand, und damit in einer für Orchester in solchen Momenten typischen Dynamik dem Dirigenten unmerklich aus der Hand, nimmt.

Es ist eine erstaunliche, hochprofessionelle Orchesterleistung, die der Dirigent aber nicht wahrzunehmen schien, seine fast einfältige Gestik ist der Sache Beethovens und des Orchesters nicht dienlich; er eilt frisch und talentiert ins Nirgendwo, und dem Orchester ist es zu verdanken, dass am Ende keine Karikatur herauskommt, sondern der Neunten ihre Würde nicht genommen wird.

Mäkelä, der absolute Jungstar der Abteilung für Popkultur der klassischen Musik, wird sicherlich bald vom nächsten Jungstar verdrängt, und er beginnt bereits, sich selber zu kopieren. Frei nach dem jüngst verstorbenen César Luis Menotti zählt aber im Fußball, so auch in der Musik, nur der Augenblick, und an diesem scheitern alle, die das Risiko der Zerbechlichkeit der eigenen Freiheit im Zusammenspiel der Kräfte nicht eingehen. Bei allem Talent ist, sei es durch zu viel Arbeit oder mangels künstlerischen Eigenbedarfs, schon jetzt das Ausbleiben einer weitergehenden musikalische Entwicklung bei Klaus Mäkelä absehbar.

Er ist auch nicht der erste Dirigent, der schon so früh in der Karriere einen Mangel an künstlerischer Perspektive zeigt; ein Schicksal, vor dem man jeden und jede nur warnen kann, über der Glattheit und dem Strahlen des Erfolges nicht zu vergessen, worum es eigentlich geht. Künstlerische Stagnation kann nicht lange über die Leere und eigentliche Bedeutungslosigkeit des ersten, genialisch-talentbasierten Schwungs der Karriere hinwegtäuschen. Das ist vielleicht alles nur mit einer tiefen Ratlosigkeit des Musikbetriebs zu erklären, für den die Position des Orchesterchefs, bzw. der Orchesterchefin, keine vorwiegend künstlerische, sondern mehr repräsentative Bedeutung hat. Damit rutscht die Hauptarbeit zu den Orchestern, die dabei auf ganz andere Weise über sich hinauswachsen, als dies ursprünglich gedacht war, nämlich trotz, nicht wegen eines Dirigenten, bzw. einer Dirigentin.

2:0 für Beethoven durch ein scharf geschossenes Eigentor.

Nur Narren interessieren sich für Geburtsdaten, sagte, um noch etwas bei den Fussballweisheiten zu verweilen, einst Otto Rehagel. Den Beweis trat im dritten Satz der musikalisch gereifte Riccardo Chailly am Pult des Orchesters der Mailänder Scala an. Langgediente Orchestermusiker und Orchestermusikerinnen kennt man mit der für Laien oft seltsam anmutenden Bemerkung: wenn jemand die Arme hebt, wissen wir schon, wie es klingt. Dieses in seiner besonderen Schönheit eigenartige Phänomen war bei Riccardo Chailly zu bestaunen. Mit dem Heben der Arme war die Musik vorbereitet, die im Begriff war zu erklingen, und man wusste, was kommen und wie schön es sein würde.

Der dritte Satz wird als die eigentliche Herzkammer der Neunten geschätzt, und die von Chailly sorgsam geführte cantabilità des Orchesters war der ideale Boden, auf dem dieser Satz seine Noblesse entfalten konnte. Die natürliche Selbstverständlichkeit des Dirigats stellte die vorhergehenden Darbietungen nicht nur in den Schatten, sondern ließ sie vergessen. Beim Forte-Höhepunkt gegen Ende des Satzes war mit leichtem Schmunzeln eine Italianità, eine opernhafte Gestik und Ahnung der Fidelio-Trompete wahrzunehmen, was angesichts der schönen Tradition des Hauses nicht nur verzeihlich sondern herzlich angemessen war.

Anschlusstreffer nach einem eleganten Freistoß, nur noch 2:1 für Beethoven.

Für den vierten Satz wurde in das Wiener Konzerthaus umgeschaltet. Hätte es niemand angesagt, so hätte es trotzdem jeder bemerkt, als schon kurz nach dem Beginn, an der ersten lyrisch geeigneten Stelle, in einer typisch österreichischen Kameraeinstellung, wie sie die Welt vom Neujahrskonzert kennt, ein goldfarbenes Ornament im Saal in Großaufnahme gezeigt wurde, aus dem zu den Musikerinnen und Musiker der Wiener Symphoniker übergeblendet wurde.

Den vierten Satz gaben also die Wiener Symphoniker unter Petr Popelka, ihrem designierten Chefdirigenten, der für die erkrankte Joana Mallwitz eingesprungen war, ergänzt durch die Wiener Singakademie (Einstudierung: Heinz Ferlesch), sowie das Solistenquartett Rachel Willis-Sørensen, Sopran, Tanja Ariane Baumgartner, Alt, Andreas Schager, Tenor, und Christof Fischesser, Bass.

Der Satz startete furios, ein vital-musikantischer Popelka dirigierte das atemverschlagende Presto auf drei und nahm ihm so den klassischen Charakter und Sinn im Widerspurch zu den Anweisungen der Partitur, was die Aufführung sofort mit einer übermotiverten und wilden Zugriffslosigkeit bezahlte, die die Vordergründigkeit dieses Ansatzes bloßstellte. Wann setzt sich endlich die Erkenntnis durch, dass auch die dramatischste Musik Beethovens kein Theaterdonner ist?

So gestartet, sangen die Celli schön und ausdrucksvoll das Recitativo, das aber eigentlich auch den Bässen gehört. Nun kann man im Fernsehen natürlich nicht sagen, ob die Tonregie hier die Mikrofone falsch eingestellt hat, oder die klangliche Disposition auf der Bühne verantwortlich ist, aber schade ist es schon, wenn hier nicht die stärkste aller Oktaven im Orchester als Ganzes erklingt. Ganz entschieden wird hier vom Dirigenten viel gewollt und Energie eingesetzt; Gestaltungswille wollte präsentiert werden, aber musikalische Kraft erschien abermals nicht. Das große Freuden-Thema, als es endlich an der Reihe war, erklang zwar wie vorgeschrieben in kaum hörbarem pianissimo, das aber als lokaler Effekt verpuffte, da es am cantabile und damit der folgenden Kontinuität des dynamischen Aufbaus fehlte. Das sind ärgerliche Details; die Wiener Symphoniker sind aber, wenn sie einmal wollen, ein prachtvolles, herrlich klingendes Orchester, das nun die musikalische Initiative übernahm und den Ruf der Musikstadt rettete.

Die Solisten, zur besseren Sichtbarkeit auf einem Balkon über dem Chor platziert, verdienen auch Erwähnung, alles war ordentlich gesungen, ebenfalls mit einer gewissen, vor allem mimischen, Übermotivation, und so gehorchte auch dieser Teil der Aufführung keinen rein musikalischen Kriterien. Der Chor sang brav, war aber zu technisch eingestellt, als dass er musikalisch hätte überzeugen und klingen können, zudem waren Intonationsprobleme, wie sie hier einfach nicht vorkommen dürfen, unüberhörbar, und die oft ungesanglich abgehackte Diktion diente keiner auf die Musik anwendbaren Deutlichkeit – sei’s drum, es war alles wunderbar, schwungvoll, vital, schön, hingerissen, und leider ein wenig bedeutungslos. Der unwiderstehliche Schluss ließ rauschend-jubelnden Beifall aufbranden.

Lehrreich war das Konzert: Nelsons, Mäkelä und Popelka zeigten dem Publikum jeder auf seine Weise, was es bedeutet, der Oberfläche der Musik auf den Leim zu gehen und sie als eine Abfolge von Effekten misszuverstehen. Chailly hingegen ließ seinen Teil als einen Bezug zwischen Momenten entstehen, das zu einem Ganzen führt. Das höchste Lob aber gilt den Orchestern, die sich dem Klein-Klein souervän überlegen zeigten, jene zusätzliche Anstrengung, die den Mailändern erspart blieb.

Endstand: 3:1 für Beethoven, und in summa 2:0 für Dortmund.

Dem Sender Arte ist mit diesem Konzert für eine erhellende Erinnerung an etwas ebenfalls Fragiles zu danken, das, als geistiges Phänomen („Europa ist ein großer Gegenstand, viel größer als seine Kriege,“ schrieb Heinrich Mann) ebenso wie die Neunte nur im Augenblick seiner immer neuen Entstehung existiert. Dazu mit weiteren Worten Alberto Savinio:

Der Begriff Europa kann nicht mit geographischen Grenzen umschrieben werden. Er überschreitet (sie) und dehnt sich überallhin aus, wo sich die europäische Lebenssituation wiederholt, das heißt die Möglichkeit einer geistigen Einheit mehrerer durch gleiche kulturelle und moralische Ideen verbundener Völker.“

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Anm.: Die Zitate sind dem Band „Mein privates Lexikon“ von Alberto Savinio, erschienen in der Anderen Bibliothek, Eichborn Verlag Frankfurt (2005), entnommen. Für das verwendete Photo kann vorläufig weder der Photograph noch das Copyright genannt werden. Hierfür wird um Nachsicht gebeten.

[Jacques W. Gebest, 8. Mai 2024]

Orchestermusik von Max Baumann und Felix Draeseke in Kronach

Anlässlich des 25. Todestages von Max Baumann veranstaltet die Kronacher Kulturförderung e. V. am 17. Mai 2024 um 19:30 im Kreiskulturraum Kronach ein Konzert zu Ehren des 1917 in Kronach geborenen Komponisten.

Die Hofer Symphoniker präsentieren unter der Leitung von Manuel Grund ein Programm, das neben Baumann einen weiteren Komponisten aus dem fränkischen Kulturraum in den Fokus rückt: Felix Draeseke. Von Richard Wagner entscheidend geprägt, gegen Ende seines Lebens in Opposition zu Richard Strauss geraten, war Draeseke eine herausragende Figur der sogenannten Neudeutschen Schule. Sein erst lange nach seinem Tod uraufgeführtes Symphonisches Andante für Violoncello und Orchester, entstanden an einem biographischen und künstlerischen Wendepunkt in Draesekes Leben und vermutlich ein autobiographisches Dokument, wird hier vom Vorspiel zu Wagners Lohengrin und der frühen Violoncello-Romanze des damals noch ganz im Fahrwasser der Klassiker segelnden Strauss umrahmt. Als Solist in den Werken von Draeseke und Strauss wird Jörg Ulrich Krah zu hören sein.

Max Baumann, Schüler Boris Blachers und seit 1946 als Musikpädagoge in Berlin tätig, wurde vor allem durch seine geistliche Musik bekannt, hinterließ allerdings ein Gesamtwerk, das von vokalen und instrumentalen Miniaturen bis zu Oratorien und Opern unterschiedlichste Gattungen umfasst. Seine Symphonie Nr. 1 op. 14 gehört zu seinen wichtigsten frühen Arbeiten und ist zugleich sein erstes größeres Orchesterwerk. Mit ihr auf dem Programm des Abends steht als Uraufführung ein Werk, dessen Autor und Titel noch nicht bekannt gegeben wurden: die Preisträger-Komposition des Max-Baumann-Kompositionswettbewerbs, welche als Variationen über ein Thema aus Baumanns Drei Radierungen op. 58 zu gestalten war.

[Norbert Florian Schuck, Mai 2024]

Hinweisung zur Transparenz: Der Autor obenstehender Zeilen ist Erster Vorsitzender der Internationalen Draeseke-Gesellschaft, welche das erwähnte Konzert finanziell unterstützt.