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Gipfeltreffen der Klavierkunst

hänssler CLASSIC, HC17040; EAN: 8 81488 17040

Thorofon, CTH2667; EAN: 4 003913 126672

Ein günstiges Geschick hat es gefügt, dass im Herbst 2020 kurz hintereinander die neuesten Folgen zweier der meistbeachteten Gesamtaufnahmen-Projekte von Klaviermusik erschienen sind, die in jüngerer Zeit in Angriff genommen wurden. Damit sind Pervez Mody und Florian Uhlig ihren Vorhaben, das Klaviermusikschaffen Alexander Skrjabins bzw. Robert Schumanns auf CD festzuhalten, einen weiteren Schritt näher gekommen.

Bei allen persönlichkeits-, kultur- und epochenbedingten Verschiedenheiten, die sich zwischen Schumann und Skrjabin feststellen lassen, verbindet beide, dass ihnen das Klavier zu Beginn ihrer Laufbahn ein unverzichtbarer Begleiter war, an dem sie während des Prozesses ihrer künstlerischen Selbstfindung den nötigen Halt fanden. Beide blieben sie dem Instrument, bis sie ein früher Tod um ihr Spätwerk betrog, eng verbunden: Skrjabin mehr als Schumann, was – abgesehen natürlich von den jeweiligen Eigentümlichkeiten der Inspiration – vielleicht auch damit erklärt werden kann, dass die geschichtliche Situation beim Eintritt Skrjabins ins Musikleben um 1890 sich deutlich von derjenigen unterschied, die Schumann sechs Jahrzehnte zuvor vorgefunden hatte. Schumann war von Anfang an ein ganz eigener Kopf, der – ohne dass er eine Revolution der Mittel ausrufen musste – eine Ausdrucksweise kultivierte, die sich von den bislang gekannten Gestaltungsprinzipien völlig abhob. Donald Tovey hat sie als musikalische Mosaikarbeit charakterisiert: Die Perioden sind kurz und im Bau regelmäßig, bestimmt durch rhythmisch prägnante, häufig in Sequenzen angeordnete Motive. Diese Art der Formung prädestiniert zur Arbeit im kleinen Rahmen der Miniaturistik. So eroberte sich Schumann, nachdem er sich an kurzen Klavierstücken zum Meister gebildet hatte, alle anderen Gebiete kompositorischen Schaffens, seine charakteristische Schreibweise dabei stets beibehaltend. Skrjabin dagegen wuchs am Ende des 19. Jahrhunderts in jene große Tradition der Klaviermusik hinein, die einst von Schumann mitbegründet worden war. Er konnte von Anfang an auf einen Fundus prägnant formulierter Stilmittel zurückgreifen und begann seinen Weg auf den Spuren eines überragenden Vorbilds: Frédéric Chopin. Während viele frühe Klavierwerke Schumanns eigentümlich gattungslos, da vorbildlos sind, komponiert der junge Skrjabin in den Gattungen, denen Chopin zu charakteristischem Profil verholfen hatte – Mazurka, Prélude, Étude, Polonaise –, und entwickelt einen eigenen Tonfall in der Auseinandersetzung mit diesem Erbe explizit klavieristisch gedachter Kunst. Zu historisch völlig Neuem gelangt Skrjabin, im Gegensatz zu Schumann, erst durch einen radikalen Akt der Abkehr von hergebrachten Gestaltungsmitteln: durch die Einführung seiner synthetischen, „mystischen“ Akkorde.

Angesichts dieser Unterschiede in der Stilentwicklung beider Komponisten ist es interessant zu sehen, wie Florian Uhlig und Pervez Mody ihre CD-Zyklen einteilen. Uhlig hat jede Folge seines Schumann-Projekts unter ein bestimmtes Motto gestellt. Im Fokus der jeweiligen Veröffentlichung steht bei ihm entweder eine Werkgruppe („Schumann und die Sonate“, „Schumann und der Kontrapunkt“) oder ein biographisch-sozialer Bezug („Der junge Virtuose“, „Schumann und seine Töchter“). Dies geht durchaus mit der bei Schumann immer wieder festzustellenden Tendenz einher, sich über längere Zeit intensiv einer Gattung zuzuwenden: Man denke etwa an sein „Liederjahr“ oder die kurz nacheinander komponierten Quartette samt Klavierquintett. Einen wichtigen Aspekt von Uhligs Tätigkeit stellt dabei die in Zusammenarbeit mit seinem Beiheft-Autor Joachim Draheim, einem der wichtigsten Schumann-Forscher, unternommene Präsentation von Zweitfassungen, Entwürfen, unvollendeten oder schlicht bislang unbeachteten Arbeiten des Komponisten dar, die es dem Zuhörer gleichsam ermöglicht, einen Einblick in Schumanns Werkstatt zu erhalten und an den Fragen Anteil zu nehmen, die ihn beschäftigten. In der 14. Folge widmet sich Uhlig auf zwei CDs Schumanns Beiträgen zur Gattung des Variationszyklus. Auf diesem Gebiet darf Schumann das Recht für sich in Anspruch nehmen, als musikgeschichtlich bedeutendster Komponist nach Beethoven betrachtet zu werden, denn er hat eine neue Art des Variierens begründet: Die Form des Themas ist dabei nur noch von untergeordneter Bedeutung; stattdessen werden aus seinen Motiven in freier Weise neue Stücke gebildet. Interessanterweise hat Brahms als Variationen-Komponist diese neuen Bahnen nie beschritten, spätere Meister wie Dvořák, Elgar, Reger und Dohnányi folgten ihnen namentlich in ihren Orchestervariationen. Dass Schumann seine Klaviervariationen zum Teil mit Titeln wie „Impromptus“ (op. 5), „Etüden“ (op. 13), „Fantasien“ (Erstfassung von op. 13), „Exercises“ (letzte Fassung der Beethoven-Variationen WoO) versah, hat wohl nicht nur seinen Grund darin, dass er sich von den Verfassern brillanter Salon-Variationen abgrenzen wollte, sondern dürfte auch zum Ausdruck bringen, dass ihm der Unterschied zwischen seinem neuen Variationstypus und demjenigen Beethovens deutlich bewusst gewesen ist. Uhligs Doppel-CD bietet Jedem einen wunderbaren Überblick, der nicht nur Schumanns Vielseitigkeit im Variieren erfahren, sondern auch einen Eindruck vom Ringen des Komponisten um die Gestalt seiner Stücke erhalten möchte. Das Programm vereint wohlbekannte Werke – Impromptus sur une Romance de Clara Wieck op. 5 (in der Fassung des Erstdrucks), Études Symphoniques op. 13 und die sogenannten Geistervariationen – mit einer faszinierenden Nachlese. Da finden sich neben der Urfassung der Symphonischen Etüden (Fantaisies et Finale sur une thême de M. le Baron de Fricken) ein bislang noch unveröffentlichtes kurzes Variationswerk über ein eigenes Thema in G-Dur und eine Reihe nicht abgeschlossener Projekte über Themen von Paganini („La campanella“), Schubert („Sehnsuchtswalzer“), Chopin (Nocturne op. 15/3) und Beethoven (Allegretto aus der Siebten Symphonie), die zum großen Teil von Joachim Draheim für die vorliegende Aufnahme erstmals zur Aufführung eingerichtet worden sind. Von diesen sind die Beethoven-Variationen bzw. -Etüden bzw. -Exercises am weitesten gediehen. Uhlig spielt die erste und dritte Fassung sowie Teile der zweiten, die in den anderen beiden fehlen. Letztlich scheiterte Schumann nur daran, diesem Zyklus einen befriedigenden Abschluss zu geben; doch was davon existiert, ist von echter Schumannscher Genialität und durchaus würdig, gelegentlich aufs Konzertprogramm gesetzt zu werden. Sympathisch berührt, dass Uhlig den Arbeiten, die die Werkstatt nie verließen, die gleiche Aufmerksamkeit zuwendet wie den vom Autor als gültig anerkannten Schöpfungen. Wenn er die ersten Takte der G-Dur-Variationen durch abwechslungsreichen Anschlag belebt, weiß man sofort: An diesem Stück hat Schumann mit Ernst gearbeitet, dies ist keine Skizze, kein Entwurf, sondern ein Werk! Uhlig verschreibt sich bei seinen Aufführungen nicht einseitig einem Interpretationsansatz. Ihm geht es darum zu zeigen, wie lebendig Dynamik, Tonalität, Satztechnik bei der Formung der Musik zusammenwirken – besonders in kontrapunktischen Abschnitten wie der vierten Etüde aus op. 13 oder der Fuge im letzten Teil von op. 5. Schumanns „mosaikartige“ Phrasen fügt er zu fest verbundenen Perioden aneinander, ohne dass der Eindruck mechanischer Starre entstünde (sehr schön in op. 5, Nr. 9); mit behutsam eingesetztem Rubato gibt er der Musik zugleich die Atemluft, die sie braucht um zu singen. Schumann, der Romantiker, war stets ein reflektierter Formkünstler; und der Formkünstler Schumann stets eine empfindsame romantische Seele – Uhlig macht dies deutlich.

Pervez Mody präsentiert Skrjabins Klaviermusik nicht nach Gattungen oder Schaffensphasen geordnet und widersteht dabei einer Möglichkeit, die sich sehr wohl anbieten würde. Stattdessen stellt er die Programme seiner CDs dergestalt zusammen, dass jeweils ein imaginärer Konzertabend entsteht, in dessen Verlauf die dargebotenen Stücke einander nach dem Prinzip der Einheit durch Kontrast gegenseitig beleuchten. So müssen bei ihm Sammlungen von Miniaturen nicht zwingend vollständig auf einer CD untergebracht werden, sondern können sich auf mehrere Folgen der Reihe verteilen. Auch bei der vorliegenden Folge 6 ist dies der Fall: Von den neun Mazurken des op. 25 finden sich nur drei, von den zwölf Etüden des op. 8 nur vier auf der Scheibe. Modys Vorgehen hat den großen Vorteil, dass auf diese Weise Skrjabin als Künstlerpersönlichkeit insgesamt besser fassbar wird. Der frühe Skrjabin erscheint nicht vom „späten“ getrennt, der „Revolutionär“ nicht von seinen scheinbar „epigonalen“ Anfängen abgegrenzt. Stattdessen zeigt Mody: Dies alles gehört zum Gesamtbild von Alexander Skrjabin dazu! Auf der neuesten CD der Reihe lädt Mody im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Rundgang durch das Schaffen des Komponisten ein, denn das Programm verläuft zeitlich kreisförmig: von der Polonaise op. 21 die Werkzahlen über die opp. 25, 35 und 48 aufwärts bis zu den Préludes op. 67, und vom Mittelpunk des Programms, der Sonate Nr. 6 op. 62, über op. 40, op. 33 und op. 10 zurück bis zu den Études op. 8. In dieser Abfolge gehört, hinterlässt es einen anderen Eindruck, als wenn es chronologisch geordnet wäre. Man erlebt zwar Skrjabins stilistische Entwicklung hin zu den „Mystischen Akkorden“, wird aber durch die umgekehrte Chronologie der zweiten Programmhälfte dazu angeregt, sich zu fragen, was Skrjabins Persönlichkeit abseits seiner Neuerungen in der Harmonik ausmacht, welche Kontinuitäten sich in seinem Schaffen feststellen lassen, wie, kurzum, der frühe mit dem späteren Skrjabin zusammenhängt. John Foulds hat 1934 in seinem Buch Music To-Day. Its Heritage from the Past and Legacy to the Future op. 92 Skrjabin als denjenigen Komponisten bezeichnet, dem es seit Palestrina am überzeugendsten gelungen sei, in seiner Musik die Schwingungen der Devas (der übernatürlichen „leuchtenden Wesen“) zu vermitteln. Damit ist zwar vor allem das unter dem Eindruck theosophischer Ideen entstandene Schaffen ab 1905, seit dem Poéme de l’Extase, gemeint; hört man jedoch Modys Darbietungen der frühen Klavierwerke, so kann man kaum daran zweifeln, dass bereits in diesen Stücken die Flamme zu lodern begonnen hatte, die später so ekstatisch emporschießen sollte. Mody spielt, was in den Noten steht, und liest zugleich beständig zwischen den Zeilen. Die Notation versteht er offenbar als größtmögliche Annäherung an ein Ideal – zeitgenössischen Berichten zufolge muss Skrjabin ein begnadeter Improvisator gewesen sein –, und nimmt sich bei der Gestaltung der Zeitmaße immer wieder Freiheiten, um Spannungsaufbau und Entspannung innerhalb der musikalischen Verläufe bis in die kleinsten Phrasen hinein erlebbar werden zu lassen. Eine gute Probe von Modys Sinn für Formung gibt seine Interpretation des Préludes op. 35/1, in dem er aus den rauschenden Sechzehnteln die in der Partitur nicht explizit als solche gekennzeichnete Hauptmelodie hervorhebt. Seine Kultiviertheit im Anschlagen der Tasten trägt das ihre zur Wirkung seiner Aufführungen bei. Wiederholt wird man Zeuge, wie meisterlich es Mody beherrscht, echtes Piano und Pianissimo zu spielen, und gleichzeitig deutlich zu artikulieren. Den melodischen Faden, der Skrjabin, wie die vielen langen Bindebögen beweisen, sehr wichtig war, lässt Mody nie abreißen, und verhindert dadurch, dass diese Musik, wie unter weniger berufenen Händen oft zu hören, statisch oder verschwommen wirkt. Hier strömt sie wie in Feuerzungen aus. Wie Uhlig in Draheim hat auch Mody einen sehr kompetenten Beiheft-Autor gefunden: Daniel Tiemeyers ausführliche Erläuterungen der einzelnen Werke laden dazu ein, die Noten aufzuschlagen und sich auf eigene Faust in die Stücke zu vertiefen.

Dem Rezensenten bleibt noch, den Künstlern bei der Fortsetzung ihrer Projekte weiterhin so gutes Gelingen zu wünschen, wie es die beiden vorliegenden Veröffentlichungen auszeichnet.

[Norbert Florian Schuck, November 2020]

Mozart ohne abgedroschene Effekte

Hänssler classic, HC18068; EAN: 8 81488 18068 8

Alle Klaviersonaten Wolfgang Amadeus Mozarts will der luxemburgische Pianist Jean Muller aufnehmen. Auf dieser CD beginnt er mit der Nummer 12 in F-Dur KV332 und lässt die Nummern 3 in B-Dur KV281, 11 in A-Dur KV331 und 17 in B-Dur KV570 folgen.

Mittlerweile hat sich ein regelrechter Hype aufgetan um die neue Einspielung der Klaviersonaten Mozarts durch den Luxemburger Jean Muller. Tatsächlich ist dieser in mancherlei Hinsicht nicht unbegründet: Muller versucht nicht, etwas in die Musik hineinzugeben, sondern zieht etwas aus ihr heraus. Dies zeigt sich gerade im Finale der Sonate Nr. 17 B-Dur KV570, welches von vielen Pianisten hemmungslos überfrachtet wird, aber auch in der jugendlich frischen F-Dur-Sonate KV332. Besonderen Augenmerk legt Muller auf den Spannungsverlauf und die teils äußerst subtilen Kadenzierungen Mozarts. Das verleiht der Musik Struktur und offenbart dem Hörer die zugrundeliegende Architektur der Werke, die logische Stringenz, die jeden Ton miteinander in Beziehung setzt. Dadurch, dass der rote Faden nachvollziehbar bleibt, kann Muller sich umso mehr auf den unfassbaren Ideenreichtum der Klaviersonaten konzentrieren und die individuellen Charaktere aus den Noten hervorholen. Auf übermäßige Rubati, altbackene Effekte und abgedroschene Floskeln verzichtet der Luxemburger zugunsten einer Frische, bei der die Musik durch sich selbst sprechen kann.

Der Klarheit der späteren Mozart-Sonaten und der Verdichtung auf das Wesentliche kann Muller vieles abgewinnen, zu kämpfen hat er hingegen mit der früheren B-Dur-Sonate KV281. Diese besitzt noch nicht die Ökonomie der späteren Werke, dafür andere Vorzüge wie die Ausgelassenheit der Form und Unbekümmertheit der Thematik: doch die formale Stringenz scheint Muller zu benötigen, um das Werk musikalisch zusammenzuhalten.

Interessieren würde mich, ob Muller noch mehr in der Musik entdecken würde, wenn er die Tempi teils noch etwas zügeln würde. So lebendig und knackig doch ein rasches Tempo in Randsätzen wirkt, so lässt ein minimal zurückgehaltenes Tempo oftmals noch mehr Facetten der Musik durchscheinen. Und wenn ein Adagio wirklich eine Gradwanderung Nahe des Stillstandes wagt: welch unvorstellbare Momente erwarten uns, welch durchdringenden Effekt kann eine simple Modulation oder gar ein plötzlicher Harmoniewechsel erzielen! Konkrete Beispiele, wo ich mir ruhigere Tempi wünschen würde, finden sich in der A-Dur-Sonate KV331. Das Andante des Kopfsatzes besticht durch die rhythmischen Feinheiten, die ausschließlich dann voll zur Geltung kommen, wenn sie nicht im Fluss der Musik untergehen, durch übergeordnete Zählzeiten überspielt werden. Auf das Andante folgt ein Adagio – und dieses muss wirklich noch einmal deutlich zurückgehen, beinahe schon die Architektur der Sechzehntelnoten fokussieren. Das abschließende Allegro drängt freilich nach vorne, doch sollte es noch immer in Korrelation stehen mit dem Vorangegangenen. Bei Muller geht das Adagio eher unmerklich zurück und das Allegro schießt dafür kontextlos nach vorne. Besonders deutlich lässt zu schnelles Tempo das berühmte Alla Turca erschüttern. So sehr Muller durch seine Schlichtheit ohne die abgedroschenen Echoeffekte überzeugt, raubt seine Tempowahl dem Satz den türkischen Charakter. Dieser entsteht erst im Mittelteil und der Coda durch die Vorschläge der linken Hand, doch im Tempo werden sie zur bloßen Verzierung degradiert und verlieren ihr motivisches und charaktergebendes Element.

[Oliver Fraenzke, Mai 2019]

Spanisch-jüdische Gesänge

Goldstein / Nemtsov: hänssler classic, HC18003; EAN: 8 81488 18003 9

Levitin / Wagner: Rondeau, ROP6155; EAN: 4 037408 061551

        

Gleich zwei Gesamteinspielungen von Alberto Hemsis Coplas Sefardies laufen gerade an: Sie enthalten die ersten vier der insgesamt zehn Bände mit jeweils sechs Gesängen. Die ersten beiden Sammlungen resultierten aus Hemsis Reisen nach Rhodos, die folgenden basieren auf Melodien, welche der Komponist in Thessaloniki sammelte. Vorgetragen werden die Lieder einmal (aufgenommen: 23.-26. Oktober 2017) von der Sopranistin Tehila Nini Goldstein und von Jascha Nemtsov am Klavier sowie einmal (9.-12. Oktober 2017) vom Bariton Assaf Levitin und dem Pianisten Naaman Wagner.

Das Interesse für die Musik seiner ererbten Kultur erwachte bei Alberto Hemsi nicht etwa im Kreise seiner jüdisch-sephardischen Familie, sondern während seines Studiums in Mailand. Ein Professor behauptete, dass die jüdischen Melodien verloren gegangen seien –  Anreiz genug für Hemsi, ihm das Gegenteil zu beweisen. Seine Forschungsreisen, die in den frühen 1930er Jahren begannen, führten ihn unter anderem nach Rhodos, Thessaloniki, Alexandria, Anatolien und Istanbul. Hemsi sammelte 232 Texte und 68 Melodien, wobei die unbegleiteten Lieder auf Ladino gesungen wurden, der heute beinahe ausgestorbenen Sprache spanischer Juden. Der Komponist griff in die Quellen ein, passte sie an das westliche Takt- und Tonartsystem an und schuf der gängigen Vortragspraxis entsprechend aufführungsgerechte Fassungen. Dazu unterlegte er ihnen Klavierbegleitung, welche entstehende Bilder und Emotionen verstärkt und untermalt.

Die Aufnahme von Assaf Levitin und Naaman Wagner verfolgt in erster Linie das Ziel, die vorliegenden Noten wiederzugeben und Vortragsanweisungen miteinzubeziehen. Es existiert kein Augenmerk darauf, sich individuell in die spanisch-jüdische Welt einzuleben und echten Ausdruck zu entfalten. Verständlich wird natürlich die Synthese spanischer Folklore und jüdischer Tradition, in die Elemente des Arabischen, Türkischen und bisweilen sogar Italienischen hineinspielen. Diese Erkenntnis jedoch verdanken wir weit mehr den Kompositionen als den darbietenden Musikern. Levitin intoniert sauber, doch sein Vortrag ist gleichförmig und ohne stimmliche Mannigfaltigkeit. Wagner spielt distanziert und zurückgehalten, meist trocken.

Ganz anders ist da die Aufnahme mit Tehila Nini Goldstein und Jascha Nemtsov realisiert: Die Musiker lassen sich deutlich mehr Zeit für die Lieder, auf ihre CD passen lediglich 20 der Lieder (bei Levitin 24 in insgesamt kürzerer Zeit). Das improvisatorische Element gewinnt mehr an Bedeutung, ebenso der Fokus auf die jüdischen Klangwelten. Hemsi schrieb selbst über sein Werk: „Genauso, wie die Poesie ihre Geschichte in unzählbaren Versen erzählt, singt die Musik ihre Geschichte in Klängen ohne Taktstriche. […] Deshalb zeichnet sich dieser Gesang durch Improvisation und ständig veränderte Variation aus. […] Niemals aufgeschrieben oder notiert, ist es ein natürlicher Gesang, erdacht anhand von Klängen und nicht Noten.“ Das Zitat spiegelt sich in vorliegender Einspielung, die sich eben die nötigen Freiheiten nimmt, um die klingende Authentizität zu beschwören. Goldstein singt inbrünstig, lyrisch, mit großer Ausdrucksbandbreite und dynamisch fein ausgewogen. Aufmerksam wirkt Jascha Nemtsov mit, hört wach zu und setzt um, schafft dabei eine funktionierende Symbiose mit der Sängerin. Hier erspüren wir ein Gefühl für das Leben hinter diesen Liedern, Musik wie gesellschaftlicher Kontext werden uns nahe gebracht.

Raten würde ich dringend zu der Aufnahme mit Goldstein und Nemtsov. Die Gefahr ist groß, dass wir bei Levitin und Wagner die Schuld dafür, dass wir die Musik nicht verstehen können und sie uninspiriert vor sich hin plätschert, bei den Liedern selbst suchen. Dass jedoch diese Lieder ganz im Gegenteil sogar hohen Repertoirewert besitzen, wird klar, wenn wir Goldstein und Nemtsov zuhören.

[Oliver Fraenzke, April 2018]

Grandiose Klaviermusik aus dem Gulag

Hänssler Classic, 5CDs, LC 13287; EAN: 0881488170351

Nachdem letztes Jahr bereits die 24 Préludes sowie die 24 Präludien & Fugen gewissermaßen als Auskopplungen bei Hänssler veröffentlicht wurden, erscheint jetzt endlich auf 5 CDs eine größere Auswahl aus dem (erhaltenen) Klavierwerk des russischen Komponisten Vsevolod Zaderatsky (1891-1953), der einen Großteil seines Lebens unter politischer Verfolgung litt und sogar zwei Jahre im Gulag verbringen musste. Die Darbietung des als Spezialist für jüdische Musik geschätzten Jascha Nemtsov kann nur als phänomenal bezeichnet werden.

Diese Entdeckung ist eine echte musikalische Sensation! Nachdem die Fachwelt sich jahrzehntelang um eine erfolgreiche Rehabilitierung der im Dritten Reich verfolgten bzw. ermordeten Komponisten beispielsweise aus Theresienstadt (Krása, Ullmann, Haas…) bemüht hat, steckt eine entsprechende Aufarbeitung der unter den Sowjets bedrängten russischen Komponisten noch eher am Anfang.

Dem russischen Musikwissenschaftler und Pianisten Jascha Nemtsov ist es zu verdanken, dass im vergangenen Jahrzehnt das Klavierwerk des russischen Komponisten Vsevolod Zaderatsky, der zu Lebzeiten weder gedruckt noch aufgeführt wurde, ans Licht kam. Zaderatsky – gleichaltrig mit Prokofieff – studierte ab 1910 in Moskau erfolgreich bei Tanejew und Ippolitov-Ivanov. 1920 entging er nur knapp der Exekution durch die russische Geheimpolizei Felix Dserschinskis. Als Offizier der Weißen Armee und ehemaliger Musiklehrer der Zarenfamilie hatte Zaderatsky dabei ganz schlechte Karten. Bis auf vier Moskauer Jahre (1930-34) und die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, in der er jedoch weiter vom Sowjetischen Komponistenverband diskreditiert wurde, lebte er in der Verbannung, von 1937-39 sogar im Gulag. Seine Werke bis 1926 wurden komplett vernichtet.

Die im sibirischen Gulag 1937-38 entstandenen 24 Präludien & Fugen sind – ganz abgesehen von ihrer unglaublichen Entstehungsgeschichte – ein musikalisches Wunderwerk. Es fällt zeitlich nicht nur vor Hindemiths Ludus tonalis, sondern insbesondere auch weit vor Schostakowitschs entsprechenden Zyklus (op. 87, 1951). Natürlich ist auch für Zaderatsky Johann Sebastian Bach das große Vorbild, aber hier begegnet uns weit mehr als eine bloße Hommage. Die stilistische wie auch emotionale Spannweite übertrifft Schostakowitsch deutlich: Ein einzigartiger musikalischer Kosmos wird hier aufgespannt. Die Verbindung des Materials von den Präludien zu den Fugen ist überzeugend; meist wirkt das Paar wie aus einem Guss. Generell bleibt Zaderatsky zwar der Tonalität verpflichtet und die Stücke des Zyklus folgen in ihrer Anordnung dem Quintenzirkel. Dennoch arbeitet der Komponist sehr charakteristisch mit vielen Dissonanzen, vor allem Mini-Clustern aus einer oder mehreren kleinen Sekunden, die ein völlig anderes Klangbild ergeben als bei Schostakowitsch – in seiner Wirkung zudem noch konzertanter. Der Zyklus wurde erst 2015 von Jascha Nemtsov uraufgeführt, die Entdeckung auch in Russland bejubelt.

Näher an Schostakowitschs gleichnamigem Zyklus (op. 34, 1933) liegen Zaderatskys 24 Préludes (1934), die trotz einiger experimenteller Elemente andererseits mehr auf Chopin verweisen. Von den drei Klaviersonaten sind die ersten beiden (1928) die interessanteren. Nach der Vernichtung seiner Werke, zwei Jahren Haft und einem Selbstmordversuch orientieren sie sich an den großen, einsätzigen Sonaten Skrjabins, Roslavez‘ und Feinbergs, sind aber depressiver und zerrissener. Die vielgliedrige, gewaltige zweite Sonate muss man mehrfach hören, bis sich ihre Teleologie erschließt. Dagegen wirkt die dritte, tonale Sonate von 1939 deutlich konventioneller, ohne jedoch typische Eigenheiten Zaderatskys zu verleugnen: Kompromiss an die Machthaber nach der Freilassung aus dem Gulag?

Die beiden Klavierzyklen Die Front (1944) und Die Heimat (1946) weisen schon von ihren Satztiteln her auf den sozialistischen Realismus: ein Trugschluss! Nur oberflächlich geben sie sich konziliant. Die Front bedient sich nicht einmal als Maske propagandistischer Kriegsrhetorik, ganz im Gegensatz zu manchen musikalischen Äußerungen einiger Avantgardisten (vgl. Mossolows E-Dur-Sinfonie), die sich in den Kriegsjahren aus Angst vor Stalin zu Konformität gezwungen sahen. Vielmehr zeigt der Zyklus ungeschminkt die Schrecken des Krieges, ganz ohne Agitation, vergleichbar vielleicht nur mit Leo Ornsteins anklagendem Klavierzyklus Poems of 1917. Ziemlich ironisch gibt sich dann auch Die Heimat. Pianistisch ist dies alles höchst virtuos; Zaderatsky beherrscht die Klangpalette des Instruments souverän. Ganz erstaunlich etwa Die Fabrik: Die mechanistische Lautmalerei erinnert einerseits an Mossolows Eisengießerei, greift aber bereits auf Stücke wie Frederic Rzewskis Winnsboro Cotton Mill Blues vor. Die kürzeren Zyklen aus gefälligeren Miniaturen, meist um 1930 entstanden, erreichen zumindest das Niveau bekannterer zeitgenössischer Russen wie Kabalewski oder Alexander Tscherepnin.

Jascha Nemtsovs Interpretationen sind nicht nur pianistisch makellos. Er erfasst sowohl die teilweise – für einen Tanejew-Schüler wenig überraschend – komplizierte Polyphonie der Präludien & Fugen als auch die Ironie der nur scheinbar dem sozialistischen Realismus verpflichteten Klavierzyklen und die tiefe Depression der beiden ersten Klaviersonaten. Die Stimmführung bleibt immer transparent, die gewählten Tempi sind goldrichtig und die musikalischen Charaktere werden mit einer staunenswerten Plastizität getroffen. Von lyrischem Schönklang bis zu ausgefransten Dissonanzen wird der Klavierklang orchestral ausgelotet. Und bei den 24 Préludes erkennt der Hörer sofort die musikhistorischen Bezüge. Kurz: Mit dieser Darbietung, die zudem auch aufnahmetechnisch überzeugt, darf man wunschlos glücklich sein. Nemtsov verfasste überdies den hochinformativen Booklettext. Den Namen Zaderatsky sollte man jetzt in einem Atemzug mit längst bekannten russischen Klaviermeistern nennen dürfen, zumal die Werke nun wohl endlich im Druck erscheinen werden. Wunderbar, dass diese CD-Box dazu als höchst gelungener Vorreiter dienen kann.

[Martin Blaumeiser, Oktober 2017, korrigiert Februar 2018]

Alte Bekannte – Piano Concertos of the 20s

Label: Hänssler Classic / Vertrieb: Hänssler – Art.-Nr.: HC16065 / EAN: 881488160659

Michael Rische (Klavier); WDR Sinfonieorchester Köln, Bamberger Symphoniker, Radio-Sinfonieorchester Berlin; Dirigenten: Gunter Schuller (Schulhoff), Steven Sloane (Honegger, Copland), Israel Yinon (Ravel), Christoph Poppen (Antheil), Wayne Marshall (Antheil, Gershwin)

Diese Einspielungen des ausgezeichneten Pianisten Michael Rische sind bereits in den 2000er-Jahren zum ersten Mal erschienen, damals beim recht kurzlebigen Low Budget-Label Arte Nova der BMG. Nun sind wahrscheinlich die Rechte an den Aufnahmen wieder frei geworden, und Rische hat die Einspielungen nun bei seinem heutigen Label Hänssler Classic unterbringen können.

Die Einspielungen sind heute so vorzüglich wie ehedem und bieten überwiegend seltenes Repertoire in sehr geschmackvollen Darbietungen. Während bei Arte Nova zwei Einzel-CDs im Angebot waren, ergeben beide Alben in der Hänssler-Ausgabe sinnvollerweise nun eine auch preislich attraktive Doppel-CD. Das Motto der Erstausgabe „Piano Concertos of the 20s“ ist gleichgeblieben und bereitet heute ebenso viel Hörvergnügen wie vor etwa 15 Jahren.

Es sind aber auch tolle Stücke, die es in diese Auswahl geschafft haben! Da wäre mit Erwin Schulhoffs „Konzert für Klavier und kleines Orchester“ aus dem Jahr 1923 zum Beispiel eine Art deutsche Alternative zu Dmitri Schostakowitsch. Der geniale Komponist Erwin Schulhoff, der 1942 auf tragische Weise in einem tschechischen Lager für politische Gefangene umkam, war zunächst einer der wenigen Vertreter eines musikalischen Dadaismus, wandelte später seinen Stil aber zu einer sehr gelungenen Mischung aus Expressionismus und Anklängen an die Spätromantik des Fin de Siècle. Sein Klavierkonzert zeigt Schulhoff als einen ungeahnt melodiebetonten Komponisten, der hier ein Stück schrieb, das reichlich Brillier-Potenzial für den Solisten bereithält und des Öfteren an Ravels Klavierkonzerte erinnert, zumal dieser mit Schulhoff auch seinen „jazzigen“ Einschlag gemeinsam hatte.

Auch Aaron Coplands Klavierkonzert von 1926 hat den Jazz inhaliert und gilt als eines der bedeutenden, wenn auch nicht gerade typischen Werke dieses bekannten US-Komponisten. Coplands typischer „Cowboy- Sound“ trifft in diesem Konzert auf die vielleicht im engeren Sinne modernste Musik, die dieser Komponist bis zu jenem Zeitpunkt vom Stapel gelassen hatte. Das Konzert ist als solches vordergründig nicht das, was man als „großer Wurf“ bezeichnen würde: Den Klavier-Solopart kann man kaum als sonderlich dankbar bezeichnen. Er ist schwierig in der Ausführung, kann hingegen kaum mit Passagen glänzen, die dem Publikum im Gedächtnis bleiben würden und wird überdies sogar häufig von dem vermeintlich viel interessanteren Geschehen im Orchester überflügelt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich hier aber eine bemerkenswert visionäre Komponente: Man könnte fast der Ansicht sein, dass Copland in dem beinahe unauffälligen Klavierpart vielleicht doch manches von dem vorweggenommen hat, was wir später von Komponisten wie Morton Feldman und Philip Glass zu hören bekamen. Und ein wenig Satie-Anarcho-Feeling kommt in diesem Konzert auch auf. An sich ein herrlich schräges Stück!

Arthur Honeggers lediglich etwa elf Minuten kurzes „Concertino“ von 1924 ist ebenfalls ein ganz ungewöhnliches Stück. Mit dem für die damalige Phase Honeggers typischen Neoklassizismus entfaltet sich ein für die Group des Six ganz typisches Stück voller an Sarkasmus grenzender Heiterkeit. Es gehört sicherlich nicht zu den Meilensteinen des Honegger’schen Schaffens, das gewichtigere Meisterwerke kennt. Aber es ist doch ein auffälliges, reizendes Stück, in das der schweizerische Maestro sogar eine klassische Dreiteilung „schnell – langsam – schnell“ einzubauen vermochte. Originell!

Mit dem berühmten Klavierkonzert in G von Maurice Ravel wird das Doppelalbum seinem Titel ausnahmsweise untreu, denn das Stück stammt bereits aus dem Jahr 1930. Es existieren zahllose Referenzeinspielungen dieses Werks und im Spiegel derselben schlägt sich die vorliegende Einspielung sehr gut, wobei insbesondere im langsamen zweiten Satz deutlich wird, was für ein geschmackvoller, stilsicherer Pianist Michael Rische ist, der hier überzeugend dafür eintritt, dass wir es eben nicht mit einem Schmachtfetzen zu tun haben, wie es viele (gerade besonders namhafte) Pianisten gelegentlich missverstehen. Damit endet CD1 des Doppelpacks.

CD 2 widmet sich etwa je zur Hälfte George Antheil und George Gershwin. Die beiden Georges könnten abgesehen vom Vornamen unterschiedlicher kaum sein: Während Antheil Spaß an der Provokation und an der radikalen Moderne hatte, das Publikum immer wieder vor den Kopf stieß und (nach meiner Empfindung ganz unerklärlich) als „amerikanischer Schostakowitsch“ in viele Musiklexika einzog, ist Gershwin zwar vielleicht mehr als alle anderen Komponisten dieser Sammlung ein von Jazz geleiteter Komponist gewesen, doch lag ihm die Provokation fern. Er war vielmehr auf größtmögliche Breitenwirksamkeit seiner Musik bedacht und hat viele Stücke geschrieben, die wir heute sehr zu Recht als „Standards“ empfinden. Dazu zählt natürlich auch das „Concerto in F“ von 1925.

Bevor es dazu aber kommt, tauchen wir mit dem Ersten Klavierkonzert und der zu Antheils Lebzeiten sehr umstrittenen „Jazz Symphony“ in den bis heute außergewöhnlich anmutenden Klangkosmos George Antheils ein. Die Bamberger Symphoniker hatten hierbei allerdings nicht ihren besten Tag und standen zum damaligen Zeitpunkt ihren Kollegen vom WDR Sinfonieorchester Köln, das CD1 dieses Sets eingespielt hatte, doch in Präzision aber auch in schierer Klangästhetik um einiges nach.

Mit der schrägen „Jazz Symphony“ übernimmt dann das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Wayne Marshall und kann gleich mit mehr Dynamik und Verve punkten, wenngleich in einer unvorteilhaft halligen Aufnahme, die Antheils frecher Musik einiges an Schärfe und Chaos-Potenzial nimmt.

Bei dem Gershwin-Konzertboliden passt diese Klanglichkeit aber wiederum sehr gut und erinnert an manche RCA Living Stereo-Aufnahmen aus der Frühzeit der Stereo-Technik. Auch da mochte man zu diesem Repertoire so eine große „larger than life“-Bühne.

Fazit: Die eingespielten Stücke sind ohne Ausnahme interessant, der Solist der Aufnahme ist ausgezeichnet, die beteiligten Orchester, Dirigenten und Tonmeister zeigen eine gewisse Schwankungsbreite innerhalb grundsätzlich überzeugender Grenzen. CD1 macht allerdings wesentlich mehr Spaß als CD2.

Gut, dass diese lange vergriffenen Aufnahmen wieder erhältlich sind, wenn auch mit einem denkbar missratenen Cover-Artwork.

[Grete Catus, August 2017]

Frauenrollen und Frauengestalten

Carattere di Donne
Frauenrollen und Frauengestalten bei Schubert, Rossini und Verdi

Cornelia Lanz, Mezzosopran

Stefan Laux, Klavier

Hänssler Classic
HC16019
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Merkwürdig! Sonst wird üblicherweise bei einer Aufnahme für Gesang und Klavier zuerst die singende Person genannt, dann der „Begleiter“ oder die „Begleiterin“. Nicht so in diesem Booklet: Hier lässt sich der Pianist Stefan Laux ausgiebig und exklusiv über die Wichtigkeit der Klavierbegleitung und des Klavier bei Schubert aus, dann kommt – nach den notwendigen Texten, denn wie üblich verstünde man den gesungenen Text ohne Beilage kaum – dazu nachher mehr! – der ausführliche Lebenslauf des Begleiters, bevor am Schluss die eigentliche Hauptperson der CD, die Sängerin Cornelia Lanz, zu ihrem Recht kommt. Wobei ihre Beschreibung wieder einmal –wie so oft – primär aus name-dropping besteht, mit wem sie schon berühmterweise zusammen sich hat hören lassen und welche Berühmtheit sie folglich eigentlich ist.  Das also ist der erste Eindruck, der sich leider beim Anhören nur bestätigt: Die Klavierbegleitung drängt sich bei fast allen Schubert-Liedern ungebührlich in den Vordergrund, obwohl sie – bei allem wohlverdienten Anspruch – doch eben der „Begleitung“ des Sängers, der Sängerin zu dienen hat; außer an den Stellen – die es natürlich gibt –, wo das Klavier fortführt, entscheidend kommentiert oder ergänzt.

Dass die sehr genauen Dynamik-Vorschriften und Tempovorgaben  – wobei zu berücksichtigen ist, dass die Musiker von damals keine höheren Geschwindigkeiten kannten als ein galoppierendes Pferd, und weder Radio noch TV noch CD oder sonstiges Entertainment hatten –  vom Pianisten und der Sängerin oft nicht oder nur teilweise beachtet werden, ist zudem fragwürdig – es gibt bei Schubert, vor allem, wenn man die damaligen Klaviere mit  berücksichtigt, vom ppp bis zum fff alle Stufen mit sämtlichen Zwischenwerten,  auch bei den Tempoangaben ist Schubert ungemein vielseitig und genau, aber das scheinen für die Aufführenden nur Marginalien zu sein. Und natürlich ist beim heutigen Gesangsunterricht die Stimme das Wichtigste, die Poesie oder das Wort sind zumindest sekundär, wenn nicht völlig ausgeklammert. Aber Musik und Poesie sind Geschwister, und vor allem beim Lied bilden  die beiden im idealen Fall zusammen einen Gipfel und nicht einen Berg, bei dem die eine Flanke, nämlich die Musik das Übergewicht haben soll, sonst entsteht statt eines Gipfels nur eine seltsame Abplattung. Hans Gal beschreibt in seinem Buch „Schubert und die Melodie“ (dem meines Erachtens besten Buch über Franz Schubert) solch ein „Gipfelerlebnis“ als Ziel jeglichen Liedgesangs. Die Sentenz „prima la musica è poi le parole“ mag bei der Oper eine gewisse Berechtigung haben, aber beim Lied ist diese Reihenfolge völlig verfehlt. Man bedenke nur, wie normalerweise vom Text die Energie zur Vertonung ausgeht, wie also das Gedicht das Primäre ist, dann gesellt sich die Musik dazu, im allerbesten Fall – wie eben bei Schubert und ähnlichen Liedmeistern – als gleichberechtigte Schwester, aber nicht als übergeordnete „Herrscherin“. Und auch heute noch machen Sänger wie Herr Gerhaher deutlich, wie solch ein Gipfelerlebnis sich anhören kann.

Im Großen und Ganzen ein zwar interessantes Thema für eine Lieder-CD, aber vom Begleiter und auch von der Sängerin kein „Gipfelerlebnis“!

[Ulrich Hermann, März 2016]