Archiv für den Monat: Dezember 2015

Interview: Burkard Schliessmann (Dezember 2015)

Am 8. Januar 2016 erscheint die neueste CD-Einspielung des deutsch-amerikanischen Konzertpianisten Burkard Schliessmann, „Chronological Chopin“. Auf drei CDs spielt Schliessmann für Divine Art viele der Höhenpunkte aus dem Schaffen des polnischen Komponisten vom ersten Scherzo Op. 20 chronologisch aufwärts bis zur Polonaise-Fantasie Op. 61, inbegriffen alle Balladen und Scherzi, die 24 Préludes sowie einige Einzelwerke.

Bereits im Vorfeld der Veröffentlichung durfte ich für „The New Listener“ das neue Tripelalbum hören und den Pianisten zu Chopin, zu seiner Art der Darbietung, zur Programmauswahl sowie natürlich auch über sich und sein Künstlertum interviewen.

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[Oliver Fraenzke:]

In Ihren bisherigen Einspielungen widmeten Sie sich bereits einigen sehr zentralen Komponisten rund um Chopin, so wie Johann Sebastian Bach, der durchaus gewichtigen Einfluss auf die Musik Chopins hatte, oder Alexander Scriabin, welcher sich in seinem Frühwerk hauptsächlich den polnischen Komponisten als Idol erwählt hatte. Doch auch mit Musik Frédéric Chopins erschien bereits unter anderem 2003 eine CD von Ihnen. Nun folgt ein wahres Mammutprogramm, wo Sie auf gleich drei CDs etliche seiner Hauptwerke wie die Balladen, die Scherzi, die Préludes und weiteres veröffentlichen, teils zum wiederholten Male. Aber warum Chopin? In Ihrem Booklettext nannten Sie ihn als Ihren „Lieblingskomponisten“. Was macht ihn zu diesem und was ist so einzigartig an seiner Musik, dass Sie ausgerechnet ihn auserwählten für dieses große Projekt?

[Burkard Schliessmann:]

Chopin kann man nur verstehen und begreifen, wenn man verinnerlicht hat, dass er und seine Musik ein „ganzes Leben“ sind. So ist es eine Frage der Ästhetik, auf welch unverwechselbare Art und Weise seine Musik eine einzigartige Balance zwischen ‚Bedeutung des Moments und Forderung der Sache sind’. Hier geht es nicht um bloße ‚schöne Gefühlsduselei’, sondern um ‚kontrollierte Emotionalität’, basierend auf einem tiefen Verständnis der ‚klassischen Formen’ und deren inneren Strukturen.

In einer relativ kurzen Schaffenszeit von etwa 20 Jahren hat er die Grenzen der romantischen Musik neu definiert, wie er auch in der Beschränkung auf das Medium der 88 Tasten eine ästhetische Konzentration der Klaviermusik schlechthin sublimierte. Es war die völlige Identifizierung mit dem Instrument, welche in der radikalen Hervorbringung von Lyrik und Dramatik, Phantasie und Leidenschaft und deren einzigartiger Verschmelzung eine Tonsprache von aristokratischem Stilempfinden, formaler, klassischer Schulung und Formempfinden sowie Strenge vereinte. Chopins punktgenaues Denken erlaubte keine Experimente, weswegen er bezüglich seines stilistischen Denkens auch nicht »umherirrte«, wie Scriabin es getan hat.

Vergegenwärtigen wir uns: Alexander Scriabin äußerte einmal, dass Chopin sich in seiner gesamten Schaffenszeit so gut wie überhaupt nicht weiterentwickelt habe. Oft wurde ihm auch vielerseits die Konzentration auf das Klavier als »Einseitigkeit«, bisweilen »Einfallslosigkeit«, angeheftet und fehlgedeutet.

Alexander Scriabins innerer und äußerer Schaffensweg war der eines ausgesprochenen Kosmopoliten. Mehrere Schaffens- und Reifungsprozesse prägten sein künstlerisches Wirken als Komponist, Pianist, aber auch als Philosoph, ausgehend von einer – fast möchte man sagen – epigonalen Nachfolge der Werke Chopins bis hin zur Vorwegnahme der frühen Atonalität und seriellen Epoche, wofür seine letzten Sonaten und Préludes als Pionierleistungen die Landschaft dieses kompositorischen Denkens nachhaltig prägten und beeinflussten. So wie der von ihm auf Basis des Tritonus geschaffene »accord mystique« die Energiefelder seiner symphonischen Großwerke, aber auch der späten Sonaten als elektrisierendes Zentrum – und somit als Grundlage zur Abspaltung kompositorischer Raffinessen dienend – in den Mittelpunkt seines eigenen dodekaphonischen Denkens rückte, so wurde dieser Akkord zum Focus der tatsächlichen seriellen Idee und revoltierte somit in der gesamten kompositorischen Welt. Unter diesem Blickwinkel vermag Frédéric Chopin, der stets zurückgezogen lebte und kaum Einblicke in sein Künstler- und Privatleben gewährte, (scheinbar) zu verblassen.

Frédéric Chopins Rang als Komponist ist heute, mehr als 150 Jahre nach seinem Tod, unbestritten. Man dürfte sich auch endlich darüber einig geworden sein, dass er kein Salonkomponist, sondern ein wirklich »großer« Komponist war.

Ähnlich wie Mozart, Schubert und Verdi gehört Chopin zu den begnadeten Melodikern. Kaum ein anderer Musiker schuf Melodien von solcher Feinheit und Noblesse, von solchem Adel. Seine Balladen, Scherzi, Etüden, Polonaisen, die 24 Préludes, die b-moll- und h-moll-Sonate, mit deren Finalsatz – wie Joachim Kaiser es einmal formulierte – »ein todkrankes Genie einen herrlichen, grandios überhitzten Hymnus auf die Gewalt des Lebens komponiert hat«, gehören zum festen Konzert- und Schallplattenrepertoire.

Chopins Biographie hingegen liegt weitgehend im Dunkel. Er, der sich zeitlebens »entzog«, der Weltoffenheit eines Franz Liszt diametral entgegengesetzt, vermittelte stets den Eindruck eines Leidenden, beinahe möchte man sagen: eines Märtyrers, fast schon so, als ob dies Teil oder gar Grundlage seiner Inspiration sein sollte. Nicht umsonst stempelte die belletristische Literatur ihn zum »tuberkulösen Schmerzensmann« und »schwindsüchtigen Salonromantiker«. Nach kristalliner Vollkommenheit strebend, residierte er stets im eigenen Schneckenhaus. Seine charakterliche Kompro­misslosigkeit zwang ihn letztlich auch zum Bruch seiner jahrelangen Bindung zu George Sand und deren Tochter Solange. Ein Einsamer, gewiss elitär, aber eben auch ein Leidender. Der Vergleich mit dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard erhellt das Gemeinte. Dieser soll als Kind den Berufswunsch »Märtyrer« geäußert haben. Zweifelsohne hatte auch Chopin etwas vom Kult dieses »Pater dolorosus«.

Obwohl bereits zu Lebzeiten eine europäische Berühmtheit, umgab ihn schon damals die Aura des Geheimnisvollen. Auch als ausübender Pianist nahm er eine Sonderstellung ein. Sein Spiel wird von allen Zeitgenossen als etwas einzigartig Individuelles geschildert. Äußerst selten erschien er auf dem Konzertpodium, fieberhaft erwartet von seinen Anhängern, »denn der, auf den man wartete, war nicht nur ein geschickter Virtuose, ein in der Kunst der Noten erfahrener Pianist; es war nicht nur ein Künstler von hohem Ansehen, er war das alles und mehr noch als das alles – es war Chopin«, schreibt Franz Liszt 1841 in der Rezension eines Chopin-Konzertes. Liszt äußert sich weiter über Chopins Zurückgezogenheit: »Was aber für jeden anderen der sichere Weg ins Vergessenwerden und in ein obskures Dasein gewesen wäre, verschaffte ihm im Gegenteil ein über alle Capricen der Mode erhabenes Ansehen. […] So blieb diese kostbare, wahrlich hohe und überragend vornehme Berühmtheit verschont von allen Angriffen.«

Den Grund für seine Zurückgezogenheit und sein seltenes Erscheinen auf dem Podium erklärt Chopin selbst, und seine Bemerkung zu Liszt, dessen Virtuosität Chopin stets bewunderte, ist entsprechend aufschlussreich: »Ich eigne mich nicht dazu, Konzerte zu geben; das Publikum schüchtert mich ein, sein Atem erstickt, seine neugierigen Blicke lähmen mich, ich verstumme vor den fremden Gesichtern. Aber Du bist dazu berufen; denn wenn Du Dein Publikum nicht gewinnst, bist Du doch imstande, es zu unterwerfen.«

Franz Liszt charakterisierte Chopin in seiner Chopin-Biographie von 1851:
»Wenn auch diese Blätter nicht ausreichen, von Chopin so zu reden, wie es unseren Wünschen entsprechen würde, so hoffen wir doch, daß der Zauber, den sein Name mit vollem Recht ausübt, all das hinzufügen wird, was unseren Worten fehlt. Chopin erlosch, indem er sich allmählich in seiner eigenen Glut verzehrte. Sein Leben, das sich fern von allen öffentlichen Ereignissen abspielte, war gleichsam ein körperloses Etwas, das sich nur in den Spuren offenbart, die er uns in seinen musikalischen Werken hinterlassen hat. Er hat sein Leben in einem fremden Lande ausgehaucht, das ihm nie zu einer neuen Heimat wurde; er hielt seinem ewig verwaisten Vaterland die Treue. Er war ein Dichter mit einer von Geheimnissen erfüllten und von Schmerzen durchwühlten Seele.«

Wesentlich ist auch für das Verständnis und die Interpretation von Chopin und seiner Musik der Begriff der „Askesis“ im Sinne der griechischen Ethoslehre: „Askesis“ nicht etwa im Sinne von “Verzicht“ oder „Entsagung“, sondern gerade dem Gegenteil, nämlich des unabingbaren „Dran-Bleibens“ an der Sache: Eine Eigenschaft, die ihn auch mit wenig anderen Großen der Musikgeschichte verband: Bach, Mozart – um nur zwei zu nennen: Niemals nachlassende Energie, die ein Kunstwerk bis zu seiner letzten Form prägte. Verfolgt man die Entstehung der großen Werke Chopins, so sieht man die ungeheure Entwicklung. Selbst an Verzierungen arbeitete er unerbittlich, entwarf mehrere Versionen, um letztendlich zu einer ganz bestimmten Version zu finden, die er als bindend ansah.

In diesem Zusammenhang ist auch seine tiefe Bindung zu Bach zu verstehen.

So hatte Chopin Das Wohltemperierte Klavier, die neue Pariser Ausgabe, mit nach Mallorca gebracht und widmete sich einem besonderen Studium des Hauptwerkes von Johann Sebastian Bach.

Die Liebe für Bach verbindet ihn mit Felix Mendelssohn, auch mit Ferdinand Hiller. Mit Hiller und Liszt hatte Chopin Bachs Konzert für drei Klaviere aufgeführt. Bach bedeutet für Chopin Größe und Ordnung und Ruhe. Bach bedeutet auch Geborgenheit in der Vergangenheit. Nach der sehnt er sich immer und überall zurück. Bereits in frühester Jugend wurde Chopin durch seinen Warschauer Lehrer Wojciech Żywny auf Bachs Werke aufmerksam gemacht – für den damaligen Zeitgeschmack höchst ungewöhnlich. Seine Schüler lässt Chopin im Wesentlichen Bachs Präludien und Fugen studieren, und in den beiden Wochen, in denen er sich einmal im Jahr auf ein Konzert im größeren Rahmen vorbereitet, spielt er ausschließlich Bach. Bereits in seinen Études hat Chopin gezeigt, wie gut er selbst jene Gesetze der Logik und Konstruktion beherrscht, die er bei Bach bewundert. Nun komponiert Chopin seine 24 Préludes op. 28 und knüpft erneut an Bachs Tradition an. Zwar folgt keinem seiner Préludes eine Fuge, dennoch ist jedes Stück in sich geschlossen und birgt eine eigene Aussage. Wie Bachs Wohltemperiertes Klavier ist Chopins Zyklus auf vierundzwanzig Einheiten angelegt und umfasst alle zwölf Töne in Dur und Moll; allerdings sind sie gemäß dem Quintenzirkel angeordnet und nicht in einer chromatischen Fortschreitung der Tonarten.

In einer Rezension in der Revue et Gazette musicale vom 2. Mai 1841 schreibt Franz Liszt über Chopins Konzert vom 26. April 1841: »Die Préludes von Chopin sind Kompositionen von ganz außergewöhnlichem Rang. Es sind nicht nur, wie der Titel vermuten ließe, Stücke, die als Einleitung für andere Stücke bestimmt sind, es sind poetische Vorspiele, ähnlich denjenigen eines großen zeitgenössischen Dichters [gemeint ist vermutlich Lamartine], die die Seele in goldenen Träumen wiegen und sie in ideale Regionen emporheben. Bewundernswert in ihrer Vielfalt, lassen sich die Arbeit und die Kenntnis, die in ihnen stecken, nur durch gewissenhafte Prüfung ermessen. Alles erscheint hier von erstem Wurf, von Elan, von plötzlicher Eingebung zu sein. Sie haben die freie und große Allüre, die die Werke eines Genies kennzeichnet.«

Robert Schumann stimmten die Préludes op. 28 hingegen ratlos: »Es sind Skizzen, Etudenanfänge, oder will man, Ruinen, einzelne Adlerfittige, alles bunt und wild durcheinander. Auch Krankes, Fieberhaftes, Abstoßendes enthält das Heft; so suche jeder, was ihm frommt.«

Möglicherweise erkannte Schumann hier bereits eigene Wesenszüge. Zumindest sah er sich Vorwürfen dieser Art auch schon ausgesetzt. So schreibt der Kritiker Rellstab 1839 in der Rezension von Schumanns Kinderszenen von »Fieberträumen« und »Seltsamkeiten«.

Chopin selbst reagierte hingegen ärgerlich, als George Sand von »nachahmender Tonmalerei« sprach, und er protestierte mit aller Kraft gegen theatralische Deutungen. »Er hatte recht«, gestand später George Sand einsichtig. Ebenso hätte ihn wütend gemacht, wie sie über das Prélude in Des-Dur schrieb und es in mystische Erlebnisse und Sphären transferierte: »Das Prélude, das er an jenem Abend komponierte, war wohl voll der Regentropfen, die auf den klingenden Ziegeln der Kartause widerhallten; in seiner Fantasie aber und in seinem Gesang hatten sich diese Tropfen in Tränen verwandelt, die vom Himmel in sein Herz fielen.« Tatsächlich komponierte Chopin auf Mallorca nicht anders als sonst: nobel, majestätisch, elegisch.

Zu meiner eigenen Interpretation: ALLE Interpretationen dieser neuen Edition sind Neu-Aufnahmen, die in mehreren recording-sessions in den teldex-studios in Berlin gemeinsam mit den Produzenten Friedemann Engelbrecht, Tobias Lehmann und Julian Schwenkner entstanden sind. Das Instrument, einer meiner eigenen Steinways ist ein ganz besonderes Instrument, das von Georges Ammann stets meisterhaft intoniert wurde. Das Arbeiten mit diesem Team vollzog sich in einer regelrechten Trance, kennen wir uns seit vielen Jahren und vertrauen einander. Bereits die Goldberg-Variationen hatte ich mit Engelbrecht und Schwenkner (erschienen 2007 auf Bayer) eingespielt, ebenso die‚ Chopin-Schumann Anniversary Edition’ von 2010 (erschienen auf MSR-Classics, USA, im Jahre 2010). Bezieht man die von Ihnen erwähnte Einspielung von 2003 der Balladen und anderen großen Werken (erschienen auf Bayer) mit ein, handelt es sich in der nun vorliegenden Edition also bereits um die dritte Version einiger Interpretationen. Beispielsweise der Balladen, der Fantaisie op. 49, der Barcarolle op. 60 und der Polonaise-Fantaisie op. 61. Gerade in der Barcarolle und der Polonaise-Fantaisie spürt man ganz besonders meine persönlich-künstlerische Entwicklung an und mit den Werken. Insgesamt ist es ein Leben ‚mit’ jenen Werken, die meine letzten Jahre der Beschäftigung mit Chopin prägten. Man kann aber hier auch deutlich die Unterschiede der Akustik und den damit verbundenen Einfluss auf Interpretation sehen: Während die Einspielung von 2003 in der Friedrich.Ebert-Halle in Hamburg entstand, wurden die Einspielungen 2010 in einem ganz besonderen Saal, dem altehrwürdigen Rundfunkzentrum in der Nalepastraße in Berlin realisiert. Auch jeweils unterschiedliche Steinways (ebenfalls mein Eigentum) sind hier zu hören. Die hier aktuell vorliegenden Einspielungen sind allesamt in den teldex-studios entstanden. Wahrheit der Musik, Wahrheit des Klanges und Wahrheit der Interpretation bilden für mich ein „untrennbares Ganzes“. Darin sehe ich die Verwirklichung meiner persönlichen „Askesis“ …

Vielen Dank für diese ausführliche und weitschweifende Antwort, die bereits einige meiner weiteren geplanten Fragen beantworten konnte und die auch vieles beinhaltet, was in Ihrem Booklettext ausgeführt wird.

Doch entsprechend bieten Ihre Worte auch viele Anknüpfungspunkte für neue Fragen. Zunächst interessant ist natürlich das Paradoxon, Chopin habe die Grenzen der Romantik neu definiert, sei aber gleichzeitig einseitig gewesen und habe sich nicht weiterentwickelt. Ist also diese Neudefinition Ihrer Ansicht nach ein spontaner Glücksgriff, ein ganz persönlich geborener Stil, der ohne Entwicklungsprozess sofort voll ausgereift und dergestalt für künftige Generationen richtungsweisend war? Anders lassen sich aus meiner Perspektive die zwei widersprechenden Thesen nicht kombinieren – oder sehen Sie eine n dieser beiden divergierenden Aussprüche als unzutreffend an?

Und was hat es mit der Beschränkung auf das Klavier auf sich? In allen Werken Chopins tritt das Klavier auf, hinzugenommenes Orchester, Cello, Singstimme oder andere Mitstreiter sind die absolute Ausnahme. War diese Einseitigkeit entscheidend für den Individualstil und die (sofern doch existierende) Entwicklung Chopins? Wäre seine Musik überhaupt für andere Besetzungen denkbar?

Man muß unterscheiden und deutlich voneinander trennen: Zum einen sehen wir uns mit Alexander Scriabin und dessen Haltung zu Chopin konfrontiert. Selbstverständlich war Scriabin (im übrigen auch einer meiner Favoriten!) in seiner ersten kompositorischen Schaffensperiode ein Epigone Chopins. Boris Pasternak, einst ein väterlicher Freund Scriabins – schrieb: „… auf den Fenstersimsen lagen die verstaubten Archive Chopins …“. Seine erste Schaffensperiode steht deutlich unter dem Einfluss Chopins. Besonders die Préludes op. 11 drücken jenes Spannungsfeld. Mit der Sonate Nr. 3 in fis-moll op. 23 schloß Scriabin die Orientierung an der „Tradition“ ab. Von nun an geht sein Denken in eine völlig andere Richtung. Ich bin sicher, ohne Scriabin und besonders der dritten Schaffensphase hätte die gesamte Musikgeschichte eine andere Entwicklung genommen. ER war es, der die Zwölftontechnik begründete: Der „accord mystique“, im Zentrum der Werke stehend, war Energieträger für sämtliche Ideen. Scriabins früher Tod – musikgeschichtlich zweifelsohne tragisch – birgt dennoch ein versöhnliches Fazit, erscheint eine kompositorische Weiterentwicklung nach seinen letzten Werken fast unmöglich. Zumindest schwer vorstellbar wie Scriabin hätte weiterverfahren sollen, wäre ihm ein längeres Leben gegönnt gewesen. Unter diesem Blickwinkel ist auch zu versehen, dass Scriabin in einem Interview vom 28. März 1910 äußerte: „Chopin ist ungemein musikalisch, und darin ist er all seinen Zeitgenossen voraus. Er hätte mit seiner Begabung zum größten Komponisten der Welt werden können; aber leider entsprach sein Intellekt nicht seinen musikalischen Qualitäten. […] Merkwürdigerweise hat sich Chopin als Komponist so gut wie überhaupt nicht entwickelt. Fast vom ersten Opus an steht er als fertiger Komponist da, mit einer deutlich abgegrenzten Individualität“. Scriabin stand für eine völlig andere kompositorische Entwicklung, nämlich derjenigen, die sich an „Experimentierung“ orientierte. Chopin hingegen vertraute der „klassischen Tradition“ und entwickelte aus deren Energiefelder jene puristische Form der Musik, die andere,,unter anderem auch Robert Schumann, in der damaligen Zeit missverstanden.

Friedrich Nietzsche beschreib in „Menschliches, Allzumenschliches II“ von 1877– 79 sehr gut das „Festhalten“ in der Tradition, welches er als „Konvention“ deutet: „Der letzte der neueren Musiker, der die Schönheit geschaut und angebetet hat, gleich Leopardi, der Pole Chopin, der Unnachahmliche – alle vor ihm und nach ihm Gekommenen haben auf dies Beiwort kein Anrecht – Chopin hatte dieselbe fürstliche Vornehmheit der Konvention, welche Raffael im Gebrauche der herkömmlichsten einfachsten Farben zeigt, – aber nicht in Bezug auf Farben, sondern auf die melodischen und rhythmischen Herkömmlichkeiten. Diese ließ er gelten, als geboren in der Etikette, aber wie der freieste und anmutigste Geist in diesen Fesseln spielend und tanzend – und zwar ohne sie zu verhöhnen“. Insofern in konkreter Beantwortung Ihrer Frage: Ja, eindeutig ein „Glücksgriff“, ein ganz persönlicher Stil, der ohne Entwicklungsprozess voll ausgereift war und für Generationen richtungsweisend war, ein Zusammentreffen vieler Parameter und Kräfteballungen sowie Energiefelder, aber auch soziologische Aspekte, die jene Konzentration ermöglicht haben.

So ist jene Beschränkung auf das Medium der 88 Tasten als eine ästhetische Konzentration zu verstehen. Durch die völlige Identifizierung mit dem Instrument, welche in der radikalen Hervorbringung von Lyrik und Dramatik, Phantasie und Leidenschaft und deren einzigartiger Verschmelzung eine Tonsprache von aristokratischem Stilempfinden, formaler, klassischer Schulung und Formempfinden sowie Strenge vereinte, ist eine „Besetzung“ für anderes Instrumentarium schwerlich vorstellbar. Chopins punktgenaues Denken erlaubte daher auch keine Experimente, weswegen er bezüglich seines stilistischen Denkens auch nicht »umherirrte«, wie Scriabin es beispielsweise getan hat. Umgekehrt gilt, dass „Transkriptionen“ seiner Werke ebenso ins Leere laufen und die innere Essenz niemals zur Geltung bringen kann.

Bezeichnend ist, dass Anton Rubinstein, selbst Pianist und Virtuose, in Die Musik und ihre Meister, 1891 jene „Konzentration“ auf das Klavier folgendermaßen charakterisierte: „Alle bisher Genannten [aufgeführt waren u. a. Mozart, Beethoven, Schubert, Weber, Schumann, Mendelssohn] haben ihr Intimstes, ja, ich möchte beinahe sagen ihr Schönstes dem Clavier anvertraut, – aber der Clavier-Barde, der Clavier-Rhapsode, der Clavier-Geist, die Clavier-Seele ist Chopin. – Ob dieses Instrument ihm, oder er diesem Instrument eingehaucht hat, wie er dafür schrieb, weiß ich nicht, aber nur ein gänzliches In-einander-Aufgehen konnte solche Compositionen ins Leben rufen. Tragik, Romantik, Lyrik, Heroik, Dramatik, Phantastik, Seelisches, Herzliches, Träumerisches, Glänzendes, Großartiges, Einfaches, überhaupt alle möglichen Ausdrücke finden sich in seinen Compositionen für dieses Instrument und alles Das erklingt bei ihm auf diesem Instrument in schönster Äußerung“.

Scriabin ist zweifelsohne ein sehr interessanter Fortführer Chopins und leitet ja tatsächlich auch direkt über in die freie Tonalität. Aber darf ich fragen, wieso ausgerechnet der mystische Akkord oder Prometheusakkord (ein von Scriabin gefundener sechsstimmiger Quartenakkord, der statt einer Grundtondefinition ein Klangzentrum bildet; auf dem Zentrum C lauten seine Töne C-Fis-Ais-E-A-D) Initiator der 12-Ton-Technik sein soll? Natürlich weicht er vom klassischen Tonalitätsempfinden ab, doch schafft er noch immer Zentren, die ja gerade im Prometheus auch lange Zeit stabil bleiben, und sucht nicht die völlige Auflösung von Bezügen, sondern das Schaffen neuer Verbindungen.

Jedoch zurück zu Chopin. Sie machten bereits einige Aussagen, wie Frédéric Chopin selber am Klavier gespielt und wie er seinen Schülern doch ganz andere Sachen beigebracht haben muss. Gibt es genauere Quellen, die auf sein Spiel und seine Lehrmethoden eingehen und was ist uns überliefert? Und wie sieht es heute aus, sollten wir uns an sein Spiel halten, oder an seine gelehrten Methoden – oder sollten wir doch davon Abstand nehmen und einen eigenen Zugang zu Chopins Musik suchen?

Wir finden bei Scriabin anfangs bei mit erstaunlich eigener Gestik eine vermengte subtile Chopin-Nachfolge, die Elemente Liszts, Schumanns und Brahms ebenso integrierte wie neutrales Salonpathos – und das alles unter Vermeidung folkloristischer Anklänge. Von hier aus gelangte er zu einem exakt kalkulierbaren harmonischen System von transponierbaren Quartenakkorden. Von hier aus erreichte sein Denkstil immer mehr elitär-arrogante Bereiche individualspekulativer Selbstüberhöhung auf der Basis einer regelrecht verformten Theosophie. Seine Tagesbuchnotizen lesen sich wie eine riesige Kluft zwischen seinem bedeutsamen künstlerischen Schaffen einerseits und jenen merkwürdigen persönlich-denkerischer Züge andererseits. Seine Charakterzüge waren geprägt von Fatalismus, Egozentrik, Aktionswahn, Idealismus, Mystik, Prophetie und Hybris. Am Ende seines Lebens sah er sich sogar als Messias, der der Menschheit mit einem geplanten musikalisch-kultischen Riesenopus das Medium zur Läuterung vermitteln sollte. Auch wenn sein Versuch, die Musik zu erhöhen, sie mit Farben, Düften und Worten zu einem im Kern tief humanen Gesamtkunstwerk von bleibender Wirksamkeit zu geschalten, gescheitert ist, gehört rein musikalisch aber zu den geistigen und erregend differenziertesten Beständen der Kulturwelt. Hierdurch weist sich Scriabin als Persönlichkeit aus, die Scriabin als Persönlichkeit der um 1870 geborenen Komponisten die stilistisch-harmonische und tonale Landschaft des anbrechenden 20. Jahrhunderts neu definierte.

Auch wenn bei Schönberg die 12-Tonreihe am Anfang eines Werkes das entscheidend-strukturelle Medium darstellt, so ist es gerade bei Scriabin der im Zentrum eines Werkes sehende Prometheusakkord, der von hier aus Energien nach vorne und hinten ausstrahlt, serielle Techniken bzw. Variations- und Montagetechniken bildet und im übrigen eine kleine Sekund nach oben – also chromatisch – transponiert alle 12 Töne der Skale repräsentiert.

Versucht man Scriabin zu „erklären“, so findet man bei Boris Pasternak folgende Zeilen: „Das war die erste Ansiedlung des Menschen in Welten, die Wagner für Fabelwesen und Mastadons entdeckt hatte, Paukensachläge und chromatische Wasserfälle aus Trompeten, die so kalt klangen wie Strahl einer Feuerspritze, scheuchten sie hinweg … über dem Zaun der Symphonie glühte die Sonne van Goghs. Auf ihren Fenstersimsen lagen die verstaubten Archive Chopins … ich konnte diese Musik nicht ohne Tränen anhören.“

Bei Chopin wissen wir über seine zahlreichen Schüler – hauptsächlich davon verdiente er sein Geld – genau, wie und was er unterrichtete. Beispielsweise Karol Mikuli: Mikuli studierte zuerst in Wien Medizin, ging aber 1844 nach Paris und wurde Schüler Chopins – später war er dessen Assistent – und Rebers in der Komposition. Die Revolution 1848 vertrieb ihn in seine Heimat. Nachdem er sich als Pianist durch Konzerte in verschiedenen österreichischen, russischen und rumänischen Städten bekanntgemacht, wurde er 1858 zum künstlerischen Direktor des Galizischen Musikvereins zu Lemberg (Konservatorium, Konzerte und so weiter) gewählt. 1888 trat er von der Leitung des Musikvereins zurück und leitete nur noch eine Privatschule. Er veröffentlichte die erste Gesamtausgabe der Werke Chopins, deren unübertroffener Interpret er bis zum Ende seines Lebens war. Mikulis Ausgabe von Chopins Werken (Kistner) enthält viele Korrekturen und Varianten nach Chopins eigenhändigen Randbemerkungen in Mikulis Schulexemplar. Sie sollten für uns bindend sein. Auch ich orientiere mich an ihnen.

Moscheles, selbst einer der bedeutendsten Pianisten des 19. Jahrhunderts, findet 1839 die vielleicht aussagekräftigsten und schönsten Worte zu Chopins pianistischem Rang und Können: »Sein [Chopins] Aussehen ist ganz mit seiner Musik identificirt, beide zart und schwärmerisch. Er spielte mir auf meine Bitten vor, und jetzt erst verstehe ich seine Musik, erkläre mir auch die Schwärmerei der Damenwelt. Sein ad libitum-Spielen, das bei den Interpreten seiner Musik in Taktlosigkeit ausartet, ist bei ihm nur die liebenswürdigste Originalität des Vortrags; die dilettantisch harten Modulationen, über die ich nicht hinwegkomme, wenn ich seine Sachen spiele, choquiren mich nicht mehr, weil er mit seinen zarten Fingern elfenartig leicht darüber hingleitet; sein Piano ist so hingehaucht, daß er keines kräftigen Forte bedarf, um die gewünschten Contraste hervorzubringen; so vermißt man nicht die orchesterartigen Effecte, welche die deutsche Schule von einem Klavierspieler verlangt, sondern läßt sich hinreißen, wie von einem Sänger, der wenig bekümmert um die Begleitung ganz seinem Gefühl folgt; genug, er ist ein Unicum in der Clavierspielerwelt.«

 

Viel diskutiert blieb auch die Art und Weise seines Rubatos, wo die Aussagen seiner Zeitgenossen ein völlig unterschiedliches Bild ergeben. »Sein Spiel war stets nobel und schön, immer sangen seine Töne, ob in voller Kraft, ob im leisesten piano. Unendliche Mühe gab er sich, dem Schüler dieses gebundene, gesangsreiche Spiel beizubringen. ›Il (elle) ne sait pas lier deux notes [Er (sie) weiß nicht, wie man zwei Töne miteinander verbindet]‹, das war sein schärfster Tadel. Ebenso verlangte er, im strengsten Rhythmus zu bleiben, haßte alles Dehnen und Zerren, unangebrachtes Rubato sowie übertriebenes Ritardando. ›Je vous prie de vous asseoir [Bitte, bleiben Sie sitzen]‹, sagte er bei solchem Anlaß mit leisem Hohn.« Diese Aussage einer Schülerin polarisierte ganze Generationen von Klavierprofessoren im Bemühen um den Begriff »Rubato«, vor allem aufgrund auch anderslautender, gewichtiger Worte, beispielsweise denjenigen von Berlioz, die in Chopins Spiel übertriebene Freiheit und allzugroße Willkür sahen: »Chopin ertrug nur schwer das Joch der Takteinteilung; er hat meiner Meinung nach die rhythmische Unabhängigkeit viel zu weit getrieben. […] Chopin konnte nicht gleichmäßig spielen.« Offenbar gestattete er seinen Schülern jene Freiheiten nicht, die er für sich selbst relativierte.

Weitere Schüler/Schülerinnen waren u.a. Marcelina Czartoryska, Émile Decombes, Carl Filtsch, Adolphe Gutmann, Maria Kalergis, Georges Mathias, Delfina Potocka, Charlotte de Rothschild, Jane Stirling, Thomas Tellefsen und Pauline Viardot.

Chopin selbst arbeitete am Schluß seines eigenen Lebens noch an einer eigenen Klavierschule, die, wie man nach Aufzeichnungen weiß, Methodik (er komponierte ja auch eigens „pour la Méthode des Méthodes de Moscheles et Fétis“, die in zweiseitigen Übungen 1841 von Maurice Schlesinger ohne Opuszahl veröffentlicht wurden) und Technik neu definieren sollte. Leider kam es zur finalen Fertigstellung nicht mehr …

Die Tradition und Stilistik des Chopin-Spiels hat sich ja auch stetig verändert. Paderewski, Cortot, Rubinstein, Pollini, Zimerman, Pogorelic, Schliessmann …

Sicher eine jeweilige Frage der Zeit des jeweiligen Zeitgeistes und der damit verbundenen Erkenntnisse …

Wie Sie so klar formulierten, verändert sich das Chopinspiel immer weiter und viele Pianisten bringen neue Aspekte ans Licht. Wo sehen Sie sich in dieser Tradition der Chopinrezeption? Versuchen Sie sich an das zu halten, was über Chopins eigenes Spiel bekannt ist oder doch eher an das, was er gelehrt hat? Oder wollen Sie einen neuen Weg einschlagen und die Entwicklung der sich verändernden Traditionen weiterführen?

Kaum ein Spiel bzw. eine Stilistik hat sich im Laufe der Jahre immer wieder derart stark verändert, wie diejenige des Chopin-Spiels. Tatsächlich hat man auch früher von regelrecht typischen „Chopin-Spielern“ gesprochen. Cortot war zum Beispiel ein solcher. Auch wenn ich ihn unglaublich schätze und verehre, gerade wegen seines intuitiv-inspirierten und improvisatorischen Spiels, war sein Spiel am Schluss, bestimmt auch wegen seiner Krankheit und des damit verbundenen Morphinismus, außerordentlich manieriert und entmaterialisiert. Die unmittelbare „Antwort“ darauf war Rubinstein: Sein Spiel männlich-kraftvoll, die klassizistische Note und damit Strenge von Chopin hervorhebend (Beethoven sah er als Romantiker!), war er der Gegenpol zu Cortot. Er „rückte gerade“, was Cortot entmaterialisiert hatte. Man muß sich dies ähnlich vorstellen wie die vielen Bach-Interpretationen nach der Wiederentdeckung durch die Wiederaufführung der Matthäuspassion Bachs durch Mendelssohn: Wie viele regelrechte Entstellungen mußte Bach seit diesem Zeitpunkt „erfahren“, so dass eine Wiederherstellung der Ordnung durch Rosalyn Tureck und insbesondere Glenn Gould mehr als notwendig war. „Interpretations-Kultur“ – bezeichne ich jenes Phänomen. Es ist die Verantwortung eines Interpreten, die Antwort auf die Errungenschaften eines Kollegen zu geben. Anders wären auch Persönlichkeiten in der Chopin-Tradition nach Rubinstein wie Argerich, Pollini, Zimerman, Pogorelich etc. nicht denkbar.

Sie führen viele der auf „Chronological Chopin“ eingespielten Werke bereits seit längerer Zeit im Repertoire und haben viele davon schon einmal auf einer CD festgehalten. Wie verändert der zeitliche Abstand die Art, Chopin zu spielen? Gibt es dabei Grundtendenzen, werden die Werke beispielsweise langsamer, weil nun mehr zwischen den Tönen entstehen kann, oder verändert sich die Art und Ausführung des Rubatos?

Ich selbst sehe mich in jener Tradition, Altes mit Neuem zu verbinden, lese ständig unterschiedliche Texte und setze mich extrem mit den »Verzierungen« auseinander, da diese einem ganz besonderen Augenmerk bedürfen. Im Anhang der ‚Paderewski-Edition‘ beispielsweise kann man viel lernen … Dies ist durch seine eigenen Handschriften überliefert und bindend. Am Rubato kann man auch wenig ändern: Willkürliches gibt es bei Chopin nicht, dafür hat er selbst viel zu lange an seinen Handschriften gesessen. An einem Werk wie der F-Dur Ballade saß er von 1836 – 1839. Den Schluss änderte er mehrmals: Noch Robert Schumann hörte ihn in F-Dur, bevor ihn Chopin endgültig in fahles a-moll abdunkelte und das Werk balladesk beendete.

Dennoch: Ihre Frage beantworte zumindest ich – ich denke, es steht mir zu – mit einem klaren Ja: Selbstverständlich habe ich eine Vision und möchte die Weiterentwicklung der Chopin-Interpretation vorantreiben. Insbesondere klanglich: Jener Aspekt ist mir heilig, an jener Komponente weder ich ein Leben lang arbeiten. Ich bin Synästhetiker und sehe die Welt der Klänge in Farben. Insbesondere deshalb blicke ich sowohl über 88 Tasten und über ein Orchester hinaus …

Generell denke ich über Grenzen hinweg und sehe ausschließlich jene Komponente, die als Transzendenz jenseits einer Komposition zu finden ist. Es ist eine Vision, von der ich geleitet werde, eine Vorstellung, die selbst die Kräfte (m)einer Intuition bei weitem überschreitet.

Auf keinen Fall werden die Werke im Laufe der Zeit langsamer beziehungsweise sind langsamer geworden, im Gegenteil. Heute betone ich eher sogar die virtuose Linie. Aber die „objektive Richtigkeit“ hat sich verändert. Wenn man derart intensiv wie ich das Leben mit den Werken verbringt, so weiß man auch schnell, wo die „Durchlässigkeit“ für Freiheiten liegt und wo diese gestattet sind. Ich selbst kann über mich und meine Interpretationen sagen, dass die »innere Stimmigkeit« „runder“ wird. Der angestrebte, große Bogen wird deckungsgleicher mit meiner Vision …

Auch diese Antwort bietet wieder sehr viele Anknüpfungspunkte. Dazu interessiert mich zunächst, was Sie damit meinen, es gäbe kein willkürliches Rubato? Oder anders gefragt, wie und an welchen Stellen hat dann das Rubato zu sein und wie genau sollte es ausgeführt werden?

Sie haben vor allem den Klang betont und dass Sie über den Rand des Konzertflügels hinaus blicken. Welchen Klang streben Sie denn an, wie hat dieser zu sein und an was orientiert er sich?

»Rubato« ist ein musikalisches Phänomen, was niemals „willkürlich“ sein darf, etwas, was minuziös geplant sein muß und auch exakt – falls man den Text genau liest und ihn versteht – im Text direkt und indirekt verankert ist bzw. daraus hervorgeht. Bei ‚Chopin‘ darf Rubato niemals willkürlich eingesetzt werden. Bereits Artur Schnabel (von mir hochverehrt) hat Rubato bei Chopin „gelehrt“. Gerade ER war es ja auch, der Notentexte generell intellektuell verstanden hat und erst danach seinem Gefühl vertraute. Auch für mich ist das „Chopinsche-Rubato“ klar: Die Gestaltung beruht auf der „Linienführung des Basses“: Bleibt diese gleich bzw. liegt sie auf einem repetierenden »Orgelpunkt«, so darf das Tempo in keiner Weise verändert werden. Erst mit der Veränderung der melodischen Linienführung des Basses dass (auch) das Tempo variieren. Ein Effekt von ungeheurer Wirkung, die, entsprechend eingesetzt, beklemmend sein kann.

Umso geplanter und sparsamer »Rubato» eingesetzt wird, umso bedeutungsvoller ist jedes Detail. »Rubato« unterliegt der inneren Struktur und Gesetzmäßigkeit einer Komposition.

Genauso ist es mit »Klang«: Ich habe eine absolut konkrete Vorstellung von jedem einzelnen Ton: Sowohl demjenigen, den ich selbst spiele, aber auch vom Instrument selbst. Letztlich ist es eine Einheit. Der Ton eines Instruments beruht aber auch auf dessen mechanischen Regulierungen, auch hier konvergieren alle Kräfte zu einem großen Ganzen. Der »Klang«, den ich anstrebe und bevorzuge, ist ein sonorer, runder und tragfähiger Klang ohne jegliche Härte. In jedem Ton lebt eine eigene Welt. Seit vielen Jahren (genau gesagt seit 1984) arbeite ich mit Georges Ammann, jenem berühmten Techniker von STEINWAY & SONS, der ebenso exakte Vorstellungen von Klang und Regulierung eines Instruments hat und dies als Einheit sieht. Bei meinen Aufnahmen ist er ständig an meiner Seite – wir sind ein absolut verläßliches Team …

Den Konzertflügel fasse ich als „Streichinstrument“ auf. Perkussion ist mir fremd und ein völlig methodisches Missverständnis: Einzig die »Streichergruppe« ist in der Hervorbringung eines Tones und dem Nachzeichnen des horizontalen Verlaufs eines Notentextes methodisch verwandt. Und hierin liegt das große Missverständnis, pädagogisch-methodisch insbesondere der Asiaten: Da das perkussive Element die gesamte Technik beherrscht, ist deren „Klang“ (?) metallisch hart.

Ich selbst orientiere mich am ‚Cello‘: Das Cello verfügt über jenen sonoren-tragfähigen Klang, wird ja auch als „Verlängerung der menschlichen Stimme“ bezeichnet. Hinzu kommt eine sexuell-erotische Komponente dieses Instruments.

„Wenn wir uns die vom Tanz dominierte Musik Bachs anhören, wird uns unweigerlich bewußt, dass er, wiewohl er von der barocken Sicht des Tanzes als menschliche und weltliche Ordnung ausgegangen sein mag, dessen alte religiös magische Implikationen wieder heraufbeschwor“. So beginnt das Kapitel mit der Überschrift „Stimme und Körper: Bachs Solocellosuiten als Apotheose des Tanzes“ in Wilfrid Meilers‘ Buch Bach and the Dance of God. Meilers legt in der Folge nahe, dass wir „wenn wir uns das Zeitalter des Barock als den Triumph des Humanismus nach der Renaissance vorstellen, die sexuelle Symbolik von Bogen und Saite als allumfassend akzeptieren [können]. Das Instrument ist weiblich passiv, der Bogen männlich aktiv; zusammen führen sie zur Schöpfung“. Außerdem stellt er fest, dass „Bachs Musik für Solovioline und für Solocello die vollendetste Manifestierung dieser Vermenschlichung eines Instrumentes [ist]“ und dass das Cello, noch mehr als die Violine, den gesamten Menschen widerspiegelt. Der Grund dafür ist, behauptet er, dass „sein Timbre von allen Instrumenten dem einer männlichen Stimme mit großem Umfang am ähnlichsten [ist]; was das Körperliche anbelangt, so erfordert es Bewegungen der Arme, des Rumpfes und der Schultern, was bedeutet, dass man beim Cellospielen gleichzeitig im Takt singt und tanzt“.

… und exakt so fasse ich den Konzertflügel auf. …

Bezüglich der »Methodik« meine ich die Einbeziehung des gesamten Armes (von der Handwurzel bishin zum Oberarm und der Schulter) und dessen Linienführung sowie des gesamten Körpers zur Hervorbringung eines Tones sowie des Nachzeichnens der horizontalen Linie des Notentextes.

Sie hoben hervor, die virtuose Linie mittlerweile mehr zu betonen, aber war Chopin nicht eher der vordergründigen Virtuosität abgeneigt und nutzte sie rein zum Ausdruck seiner Musikalität? Warum sollte dann eben dieses Element hervorgehoben werden?

Mit der „virtuosen Linie“ möchte ich nicht missverstanden werden: Natürlich ist hier keine „vordergründige Virtuosität“ gemeint, sondern jene Ebene der Allumfassenheit, der Selbstverständlichkeit, der alle Bereiche der objektiven, aber auch subjektiven Richtigkeit miteinschließt. Jene von mir angesprochene Virtuosität beschreibt eben jene bereits angesprochene Transzendenz, wo Schwerelosigkeit und Bedeutungsvolles sowie Ebenmäßigkeit des Ablaufs zu einer Einheit verschmelzen … Bedeutung des Moments und Forderung der Sache …

Der Pianist Artur Schnabel, ein hochgeschätzer Beethovenapologet, bezeichnete Chopin spöttisch als einen rechtshändigen Melodiker. Andererseits schätzte Brahms, bekanntlich ein ausgewiesener Kontrapunktiker, Chopin und dessen Werke außerordentlich, setzte sich für sie ein und verlegte sogar einige. Was für eine Bedeutung als Komponist würden Sie Chopin innerhalb dieses Meinungsdisputes attestieren?

Ein hochspannender Themenkomplex. Tatsächlich war Artur Schnabel ein hochgeschätzter Beethovenapologet, der in dieser Generation und in dieser Zeit eine Revolution bzgl. der Interpretation der ‚Klassischen Klaviermusik‘, insbesondere der Beethoven-Interpretation, begründete. Seine Art, »Text« zu lesen und zu verstehen, war einzigartig und bahnbrechend. Spannungsfelder nach unterschiedlichen Parametern – melodische, harmonische, metrische und rhythmische Artikulation – entsprechend zu analysieren und zu einer neuen Einheit zusammenzufügen, blieb beispiellos.

In einer früheren Frage hatte ich Ihnen unter anderem geantwortet, dass es einst „typische Chopin-Interpreten“ wie beispielsweise Alfred Cortot gab. Es ist eine regelrechte „Charakter- und Stil-Frage“. Ich bin ganz sicher, dass Schnabel ein typischer „klassischer Interpret“ war; und so war er auch insbesondere für die Interpretation der Musik von Mozart, Beethoven und Schubert berühmt. Das, was er in der Musik „suchte“ – stilistisch und charakterlich – konnte er mit seinem Verständnis bei Chopin schwerlich finden. Zumal man in „seiner“ Zeit Chopin primär als „romantischen“ Komponisten verstand und das „klassische Element“ in seinem Œuvre noch nicht erkannt hatte. Unter diesem Aspekt ist dann auch seine Abwertung, Chopin sei ein „rechtshändiger Melodiker“ gewesen, zu verstehen und zu relativieren.

Ebenso wie es immer wieder zur Diskussion kommt, ob Brahms selbst denn ein guter oder eher mäßiger bisweilen klobiger Pianist gewesen war. Zweifelsohne verfolgte Brahms eine komplett andere Stilistik, aber ich bin ganz sicher, jemand, der ein derart elegantes und hochvirtuoses Werk wie die Paganini-Variationen komponierte, muß pianistisch hochgeschult und stilistisch regelrecht revolutionär-modern gewesen sein. Insofern kann man seine Bewunderung für Chopin, der sich aus ästhetischen Gründen – wie bereits ausführlich dargelegt – auf das Medium der 88 Tasten konzentrierte, nachvollziehen und verstehen.

Wir sprachen bereits über musikalische Einflüsse und Werke, die Chopin besonders geschätzt hat. Doch wie sieht es mit persönlichen Bezügen aus? Welche Personen aus dem Leben des Komponisten haben ihn besonders inspiriert zum Komponieren? Hauptsächlich seine Liebschaften oder doch andere Begegnungen – oder hat er sich mit seiner unzweifelbar innerlichen und persönlichen Musik doch ganz von menschlichen Einflüssen gelöst?

Chopin hat Bach ganz besonders geschätzt. Das Wohltemperierte Klavier, die neue Pariser Ausgabe, hatte er mit nach Mallorca gebracht und widmete sich einem besonderen Studium des Hauptwerkes von Johann Sebastian Bach.

Alle Menschen, die Chopin nahe gestanden hatten, wußten, wie sehr er Mozarts Requiem geliebt hatte, dass er den Klavierauszug, ob auf Mallorca oder in Nohant, immer bei sich haben wollte und er in seinem Salon griffbereit auf Pergolesis Stabat Mater lag. Eugène Dalacroix war einer jener Freunde, die im Leben Chopins eine ganz besondere Rolle spielten. In einem letzten Gespräch mit ihm am 7. April 1849 war es um die Logik in der Musik gegangen: Chopin hatte damals Delacroix Harmonie und Kontrapunkt erklärt und den Aufbau einer Fuge verdeutlicht. Dann war das Gespräch auf Beethoven und Mozart gekommen. Beethoven lasse oft zeitlose Prinzipien außer Acht, hatte Chopin gesagt, Mozart niemals. Bei ihm hat jede einzelne Partie ihren Verlauf, aber immer in Zusammenhang mit den anderen; so entsteht die vollkommen gestaltete Melodie; das ist der Kontrapunkt, der punto contra punto.

So war auch sicher, dass bei Chopins Beerdigung beziehungsweise der Totenfeier in der Kirche St. Madeleine in Paris Mozarts Requiem aufgeführt werden sollte. Jeder wußte, wie sehr Chopin den weiblichen Gesang und Sängerinnen vergötterte, so hatten auch seine Schüler und Schülerinnen noch den Satz im Ohr: Sie müssen mit den Fingern singen. Viele Schülerinnen und Schüler hatte er zum Gesangsunterricht geschickt: Wenn Sie Klavier spielen wollen, müssen Sie singen lernen. Wer die vollkommen gestalteten Melodien singen sollte, stand auch schnell fest: Außer Chopins Freundin Pauline Viardot-Garcia hatten die Sopranistin Jeanne Castellan, der Tenor Alexis Dupont und der Bassist Luigi Lablache zugesagt. Siebzehn Jahre zuvor wurde Chopin von Lablache in Paris mit der Aufführung von zwei Rossini-Opern inspiriert: Otello und L’Italiana in Algeri.

Chopins engste Freunde, die ihn und sein Werk stets inspirierten, begleiteten ihn auch auf seinem letzten Weg: Auguste Franchomme, Eugène Delacroix, Adolf Gutmann, Hector Berliox, auch seine Verleger, waren gekommen und Camille Pleyel, der größte Teil des polnischen Exiladels, die Clésingers, seine Schüler und Schülerinnen … Finanziert wurde alles von Jane Starling, jener Schottin, die auch Chopin in den letzten Jahren nach der Trennung von Goerge Sand maßgeblich unterstützte und auch die Konzertreise 1848, jener „Ochsentour“, nach England sponsorte. So war es auch möglich, dass Chor und Orchester des Conservatoire zugesagt hatten und als Dirigent Narcisse Girard berufen werden konnte. Er hatte in den Jahren 1832 und 1834 in der Salle de Conservatoire am Dirigentenpult gestanden, als Chopin sein e-moll Konzert spielte.

Getragen wurde Chopins Kunst insbesondere durch eine gesellschaftliche Komponente, die maßgeblich durch George Sand und das Leben auf Nohant ermöglicht wurde. Hier traf man sich zum gegenseitigen Austausch. Zentral war hier immer wieder Augène Delacroix.

Wenn andere Komponisten der damaligen Zeit, beispielsweise Liszt, zu ihren eigenen Lebzeiten „Berühmtheits-Status“ erreichten, so war es sicherlich etwas Besonderes. Chopin allerdings erlangte zu Lebzeiten allerdings den Status von etwas „Legendärem“: Am 1. April 1847 fahren George Sand und Chopin in die Rue de Vaugirard in Paris. Sie steigen aus vor dem Renaissancepalast, den Maria de Medici als Witwe hatte erbauen lassen. Ein Palazzo mit Buckelquadern, wie sie ihn aus ihrer Kindheit in Florenz kannte. Für die Franzosen ist das seit langem nur ihr „Palais de Luxembourg“. Verschiedene Funktionen hatte er gehabt: Als Kunstausstellungen hatte er gedient, als Waffenmanufaktur, als Gefängnis für Danton, Desmoulin und David … Seit 1834 ließ ihn die Regierung erweitern, ein Parlamentsaal wurde angebaut, auch eine Bibliothek. Deren zentrale Kuppel malte Delacroix seit 1845 aus. In jenem Gemälde kommen George Sand und Chopin als Personen vor: Delacroix hatte hier Chopin als Dante verewigt, George Sand wurde als Aspasia, der zweiten Frau des Perikles, dargestellt.

Die Besonderheit jener Verkörperung kann insbesondere vor jenem Hintergrund verstanden werden, dass Marie d’Agoult sich sehr geärgert haben muß, hatte sie selbst Franz Liszt als Dante gesehen, und zwar zu jener Zeit, als sie und Liszt noch ein Paar waren … Jenen verewigten Rang nahm nun mit spielerischer Leichtigkeit Frédéric Chopin ein …

Seit Sommer 1845 leidet Chopin an einer Krankheit, die er als bereits überwunden zu haben glaubte, nun aber zu einem echten Schmerz heranwächst und fortan wesentlich sein künstlerisches Schaffen wesentlich beeinflusst, nämlich dem Heimweh. Ausgelöst wurde jene Krankheit insbesondere durch einen Besuch Ende Mai/Anfang Juni von George Sand und Chopin einer Veranstaltung in der Salle Valentino in der Rue Saint-Honoré, wo die Bilder des Amerikaners George Catlin, einen m fünfzigjährigen Juristen, der seit langem nur noch für die Rechte der Indianer kämpfte und deren Leben in Zeichnungen, Aquarellen, Stichen und schriftlichen Aufzeichnungen dokumentierte. Chopin bewegte hier vor allem das Schicksal einer der jungen Indianerinnen, dass er seiner Familie in Polen ausführlich davon berichtete. Nicht DASS sie gestorben, sondern WORAN sie gestorben war, beschäftigt ihn. Die Frau von einem, der Kleiner Wolf hieß, sie hieß Oke-we-mi … Die Bärin die auf dem Rücken einer anderen marschiert, ist an Heimweg gestorben (das arme Geschöpf) -, und auf dem Friedhof Montmartre (dort wo auch Ja begrabren liegt) setzt man ihr ein Denkmal. Vor dem Tod hat man sie getauft, das Begräbnis fand in der Madelaine statt, so Chopin an seine Familie. Sogar das geplante Denkmal schildert Chopin genau im Schreiben an seine Familie. Der offiziellen Nachricht zufolge war die Indianerin zwar an Schwindsucht gestorben. Sind die Grenzen – oder auch Übergänge – zwischen Heimweh und Schwindsucht für Chopin nicht etwa fließend? Jaṥ, sein polnischer Freund, starb in der Fremde an Schwindsucht, und auch Carl Filtsch, Chopins genialster Schüler, aus Siebenbürgen stammend, ist fern seiner Heimat an derselben Krankheit gestorben. Consomption, Verzehrwerden, Auszehren, sind die Symptome. „Verzehrt“ sich auch auch Chopin in seinem Wehmut an das Ferne, Verlorene? Werden seine Kräfte für die Gegenwart durch die Trauer um das Verlorene aufgefressen? Chopin selbst weiß um seine Situation und schreibt seiner Familie: Ich bin immer mit einem Fuß bei Euch, mit einem anderen bei der Herrin des Hauses, die im Nebenzimmer arbeitet. Klar, wer Heimweh leidet, lebt nie ganz im Hier und Jetzt, sondern zu einem wesentlichen und bestimmenden Teil im Dort und Damals, in espaces imaginaires, wie Chopin selbst dies nannte.

Dass Chopins Totenfeier in der Madelaine stattfinden sollte, geht im Wesentlichen auf jene Assoziation mit der an Heimweh gestorbenen Indianerin zurück, deren Totenfeier ebenfalls hier abgehalten wurde.

Chopins Werk ist inspiriert von jenem Weltschmerz, die seine Kompositionen in einer ganz besonderen Form von Sehnsucht bestimmen. Erfüllung und Erlösung fand er erst im Tod. Ich bin jetzt an der Quelle des Glücks, waren seine letzten Worte …

Zentral für Ihren Klang wird selbstverständlich wohl auch Ihre synästhetische Wahrnehmung sein, die Sie bereits ansprachen. Als Synästhesie wird ja die Kopplung eigentlich getrennter Bereiche der menschlichen Psyche bezeichnet, meist in Form der Verbindung von zwei Sinnen. Am bekanntesten ist wohl die Form der Verbindung zwischen opischen und akustischen Phänomenen, sprich das „Hören von Farben“ zu bestimmten Tönen. Welche Ausformung hat Ihre Synästhesie beziehungsweise (da in den meisten Fällen mehrere parallel vorliegen) haben Ihre Synästhesien? Sehen Sie auch Farben beim Erklingen von Musik, gibt es dabei Besonderheiten wie unechte Farben (manche sehen anscheinend Farben, die es in der Natur auf diese Art nicht gibt) und haben Sie auch sonstige unwillkürlichen Sinnesverknüpfungen, die musikbezogen sind? Wie beeinflusst die Synästhesie Ihren Sinn für Klang und Wirkung, also auch Ihren Anschlag?

Für mich besteht die gesamte Musik und jeder einzelne Ton aus vielen einzelnen Farben. „Unechte“ Farben gibt es dabei nicht, zwar allemöglichen Mischformen, diese beruhen aber – wie allemöglichen Klänge – auf der Basis und dem Verhältnis reeller Farben. So, wie ich Musik primär unter „harmonischer Artikulation“ empfinde (das heißt, bei entsprechenden Klängen habe ich ‚Gänsehaut‘), so sind es auch „harmonische Farben“, die mich in „Einklang“ mit der subjektiven Richtigkeit einer Interpretation und eines Klanges bringen. Selbstverständlich steht dies alles in direktem Zusammenhang mit dem »Anschlag« und dem damit hervorzubringenden »Klang«. Daher resultiert ja auch mein ungeheurer Anspruch an die Instrumente bzw. Techniker: Exakte Vorstellung eines Tones → Klang → Instrument ↔ Interpretation → Werk(vollendung) → Wahrheit bilden schließlich eine untrennbare Einheit beziehungsweise ein »Gesamtkunstwerk«. Jeder Faktor baut auf den anderen auf beziehungsweise ist von ihm abhängig. Endet schließlich alles in einer »Katharsis«, so ist es ein großes Glück …

Des öfteren hörte ich davon, man könne die Synästhesie kurzzeitig „überlisten“ durch eine Art Überflutung an parallelen Höreindrücken, so beispielsweise durch eine rasche, freie Akkordfolge, wie bei Prokofieff häufig zu finden, oder eine Clustermusik wie bei Ligeti. Was sehen Sie bei solch einer diffizilen Musik? Entscheidet so auch die Synästhesie über Ihren Musikgeschmack und entsprechend Ihre Programmwahl?

»Synästhesie« ist niemals „überlistbar“ beziehungsweise „trügbar“. Es ist eine emotionale Wahrnehmung, die durch keinerlei Programmwahl oder Musikgeschmack beeinflusst werden kann. Ob man Chopin in der Interpretation von Arturo Benedetti Michelangeli oder einen Song dargestellt von Helene Fischer wahrnimmt, erlebt und erfährt: Sicher, nicht zu vergleichende Extreme, aber dennoch Gefühlswelten, die letztendlich ähnlich sein können. Ob Atonalität oder Clustermusik: Die Frage ist, ob Ihr Inneres eine neue Definierung erfährt oder nicht.

Nun möchte ich noch auf die Programmauswahl Ihrer neuen Tripel-CD „Chronological Chopin“ eingehen. Darauf befinden sich alle Balladen und Scherzi, die 24 Préludes, die Fantasie f-Moll, die Berceuse Des-Dur, die Barcarolle Fis-Dur sowie die Polonaise-Fantasie As-Dur. Aus welchen Gründen fiel Ihre Wahl gerade auf diese Stücke? Was sprach beispielsweise gegen die Aufnahme einiger bekannter Einzelstücke aus den Walzern, Nocturnes, Mazurken oder von berühmten anderen Werken wie dem Fantasie Impromptu Op. 66 oder Andante spianato und Grande Polonaise op. 24?

Auf den drei Platten sind die Werke chronologisch aufgereiht, doch ist sich ja schon lange die Kritik einig darüber, Chopin habe wenig Entwicklung durchlebt und Sie nannten sein Spiel von Anfang an einen „Glücksgriff“, der keine Herumirren nötig hatte. Wieso dann diese zeitlich geordnete Aufstellung?

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Mit dieser Edition ist meine „Chopin-Orientierung/Beschäftigung“ noch lange nicht abgeschlossen. Eine nächste Einspielung wird sich insbesondere mit den »Drei Sonaten« beschäftigen – und auch die von Ihnen angesprochenen Werke einschließen.

Vor allem die Mazurken bedürfen einer eigenen Beschäftigung und Darstellung: Mit keiner anderen Form als dieser hat sich Chopin länger auseinandergesetzt und beschäftigt als mit dieser, keine andere Form ist ein längeres Spiegelbild der lebenslangen kompositorischen Beschäftigung als dasjenige der Mazurken, dem Spiegelbild der Reminiszens an seine polnische Heimat.

Die vorliegende Edition beschäftigt sich mit den außerordentlichen Werken Chopins. Werke, an denen er – wie in anderen Darlegungen bereits beschrieben – immer wieder und viele Jahre gearbeitet hatte. Ob Chopin wenig Entwicklung durchlebt hat, möchte ich bezweifeln, im Gegenteil – auch dies habe ich in meinem Booklet-Text bereits eingehend dargelegt. Sicherlich, ein „Glücksfall“: Ferruccio Busoni, in seinem Vorwort zu Bachs Wohltemperiertem Klavier, 1894: „Chopins hochgeniale Begabung rang sich durch den Sumpf weichlich-melodiöser Phrasenhaftigkeit und klangblendenden Virtuosentums zur ausgeprägten Individualität empor. In harmonischer Intelligenz rückt er dem mächtigen Sebastian [Bach] um eine gute Spanne näher.“

Und seinen Zürcher Programmen, 1916, ist zu entnehmen: „Chopins Persönlichkeit repräsentiert das Ideal der Balzacschen Romanfigur der 30er-Jahre: des blassen, interessanten, mysteriösen, vornehmen Fremden in Paris. Durch das Zusammentreffen dieser Bedingungen erklärt sich die durchschlagende Wirkung von Chopins Erscheinung, der eine starke Musikalität das Beständige verleiht.“

Die Werke Ihrer Einspielung nennen Sie die außerordentlichen Werke, an denen Chopin besonders lange arbeitete. Wie genau habe ich das Wort „außerordentlich“ zu verstehen, was hebt dieses Programm von sämtlichen anderen Stücken ab, was macht sie so außerordentlich?

Über die Kompositionsweise Chopins ist ja einiges bekannt, besonders sein minutiöses Feilen an jeder noch so unscheinbaren Note, so dass das Resultat zeitgleich improvisatorisch wie auch letztgültig in die Form gepasst erscheint. Haben Sie über diesen Vorgang noch näheres Wissen, Details oder unbekanntere Erkenntnisse, die Sie mit uns teilen könnten?

Es steht außer Frage, dass pianistisch wie auch in der kompositorischen Anlage die Vier Balladen die Krönung des Chopin’schen Schaffens bilden. Ausgehend vom Opus 23, der ersten Ballade, bishin zur vierten, dem Opus 52, erstrecken sich diese Tongedichte in ihrer Entstehung über einen Zeitraum von elf Jahren (1831–1842) und sind somit ein Spiegel hinsichtlich der Art und Weise bezüglich der Vereinigung von poetischer Ausdruckskraft mit meisterlicher, großformatiger Gestaltung sowie pianistischer Fülle. In ihrer musikalischen Aussage sind sie jeweils eine Welt für sich, wobei jede Spekulation, ob diese Werke denn durch literarische Vorlagen des polnischen Schriftstellers Mickiewicz inspiriert wurden oder nicht, sich erübrigt. Bestimmend für den gesamten Stimmungsgehalt sind nämlich die zwingenden Übergänge der jeweiligen Episoden untereinander, die in ihrer frappierend starken und überzeugenden Wirkung Betrachtungen der eigenwilligen formalen Anlage schon beinahe vergessen lassen. Während die zweite Ballade in ihrem drastisch-dramatischen Wechsel der Passagen von idyllisch-pastoraler Beschaulichkeit und plötzlich hereinbrechendem Sturm vorüberzieht, faszinieren die anderen Balladen mit ihren sanften und gleitenden Übergängen und verleihen den Werken somit eine einzigartige Organik.

Aber auch die anderen Werke zeichnen sich durch eine bislang nicht dagewesene „Dichtigkeit“ in der kompositorischen Anlage aus.

Die Musikgeschichte kennt die Gattung und Form des Scherzos seit Langem. Beethoven hatte in seinen Sonaten, Symphonien und in seiner Kammermusik bereits mehrmals das Scherzo an Stelle des bis dahin üblichen Menuetts gesetzt; und auch Schubert betitelte einige seiner kleineren Stücke mit »Scherzo«, ebenso Mendelssohn (beispielsweise op. 16 und op. 21). Chopin übernahm diesen Begriff, gestaltete ihn in Form und Struktur aber frei nach seiner Intuition. In seinen Scherzi könnte man vielleicht sein Bestreben erkennen, die herkömmliche Anlage der Sonate aufzulösen und einzelne Teile daraus zu verselbständigen.

Die anderen Werke rücken beinahe schon in Bereiche der sogenannten „Absoluten Musik“. Die „Abgrenzung“ hierbei liegt darin, dass insbesondere die Balladen literarisch inspiriert sind, wohingegen Berceuse, Barcarolle und Polonaise-Fantaisie, um nur einmal drei zu nennen, keine literarischen Vorlagen haben und als wirkliche Monolithen dastehen.

Als ein Kabinettstück von nirgends sonst erreichter Delikatesse des Klangs gilt beispielsweise die Berceuse Des-Dur op. 57. Bewundernswert der geniale Einfall, wie sich über einer ostinaten Bassfigur, einer Chaconne vergleichbar, Akkordbrechungen, Fiorituren, Arabesken, Triller und kaskadenartige Passagen als Variationen aufbauen und entwickeln, die sich aus anfänglich träumerischer Ruhe in immer schnellerer Koloratur und brillantem Schillern zu einem virtuosen Mittelteil steigern, um dann wieder zu jener visionären Ruhe zurückzufinden, wenn der Achtelrhythmus mit der wiegenden Figur der linken Hand verschmilzt.

Die Neue Zeitschrift für Musik schrieb am 16. September 1845: „Die linke Hand beginnt mit einer einfachen, wiegenden zwischen Tonica und Dominante abwechselnden Begleitungsfigur. Im 3ten Tacte setzt die rechte ein mit einer schwebenden Melodie, wie sie wohl eine Mutter, die, selbst halb wachend, halb träumend, ihren Liebling in den Schlaf lullt, vor sich hinschlummern mag. Eine zweite Stimme gesellt sich bald hinzu; und während die Linke wiegend fortfährt, variirt die Rechte das Schlaflied auf mannigfache, träumerisch spielende Weise. Die letzte graziöse und schmiegsame Veränderung zieht sich aus der Höhe, mehr nach der Mitte der Klaviatur. Allmäßig verstummt das zarte Lied. – Wohl selig mag das Kindlein träumen!“

Von sublimer Schönheit geprägt ist die Barcarolle op. 60. In ihrer Ausdrucksskala, ihrer fluoreszierenden Farbenpracht, dem wiegenden Rhythmus wie auch ihrer vollendeten formalen Gestaltung ist sie eines von Chopins Meisterwerken. Carl Tausig über die Barcarolle: »Hier handelt es sich um zwei Personen, um eine Liebesszene in einer verschwiegenen Gondel; sagen wir, diese Inszenierung ist Symbol einer Liebesbegegnung überhaupt. Das ist ausgedrückt in den Terzen und Sexten; der Dualismus von zwei Noten (Personen) ist durchgehend; alles ist zweistimmig oder zweiseelig. In dieser Modulation in Cis-Dur (dolce sfogato) nun, da ist Kuß und Umarmung! Das liegt auf der Hand! – wenn nach 3 Takten Einleitung im vierten dieses im Baß-Solo leicht schaukelnde Thema eintritt, dieses Thema dennoch nur als Begleitung durch das ganze Gewebe verwandt wird, auf diesem die Cantilene in zwei Stimmen zu liegen kommt, so haben wir damit ein fortgesetztes, zärtliches Zwiegespräch.«

Die Allgemeine Musikalische Zeitung begeisterte sich am 17. Februar 1847:Die schaukelnde Bewegung der Barcarole lässt sich zwar nur durch ein zweitheiliges Maass, das den Schlag und Widerschlag der Wellen auszudrücken vermag, repräsentiren, jedoch erhöht es den Charakter, wenn die einzelnen Tactglieder in dreitheiligem Rhythmus, also in Triolen gehalten sind. Am Ruhigsten gleitet das Ganze aber dahin, wenn der Zwölfachteltakt den doppelten Schlag und Widerschlag ausdrückt, und besonders bei grösserer und ausgedehnterer Form des ganzen Musikstückes ist dies ein treffliches Mittel, um die Tactgruppen zu stetigem Flusse zu verbinden. Den Rhythmus, von dem das Gepräge des Ganzen abhängt, lässt Chopin zuerst als Begleitungsfigur, wie wir sie in vielen seiner Etuden finden, auftreten, und baut auf dieselbe die zweistimmige Melodie, so dass man sich die Wasserfahrt irgend eines zufriedenen und glücklichen Paares dabei wohl denken kann. In diesem ganz behaglichen Zustande belässt der Componist die Sache nicht, sondern zieht Wendungen, die der Barcarole fern liegen, herein, lässt endlich ein durch Rhythmus und Tonart scharf abstechendes Alternativ Platz greifen. Das Stück steht in Fis dur, dieses nun in A; natürlich leitet sich dies nach Fis, und damit auch in die eigentliche Barcarole wieder zurück. Doch hat sie eine neue Gestalt gewonnen. Sie wird durch Verdoppelung der Intervalle, durch mancherlei Passagenwesen ein Salonstück, das seinem ursprünglichen Wesen untreu erscheint, wenn es auch, gut, vor allen Dingen rein gespielt, recht schön klingt. Dieses wirklich und gewissenhafte rein und sauber Spielen wird durch die zahlreichen Vorzeichnungen, die Chopin, weil er so gern auf den Obertasten spielt, so häufig anzuwenden genöthigt ist, vielen Dilettanten erschwert. Zugleich aber ist dies eine nicht zu verachtende Uebung.

Die Polonaise-Fantaisie op. 61 ist Chopins letztes großes Klavierwerk. Im Grunde kann sie nicht zu den Polonaisen im eigentlichen Sinn gezählt werden. Vielmehr ist sie eine Fantasie, deren eigenwillige Form einer symphonischen Dichtung beziehungsweise symphonischen Großanlage entspricht. Ihr musikalisch-programmatischer Gehalt ist eher balladesk als tänzerisch. Überhaupt, als Spätwerk von Chopin, ist hier die Frage statthaft, ob denn die durchgehaltene Stimmung innerer Beschaulichkeit durch Koketterien gestört werden sollte. Der einkomponierte Maestoso-Charakter (so auch die Tempobezeichnung »Allegro-Maestoso«) ist bestimmend für die Stimmung des gesamten Werkes und bedingt etwas »tragend-ebenmäßig-schwereloses«. Als Hauptrepräsentant gehört sie zu den letzten Werken Chopins, welche von fieberhafter Unruhe geprägt und keineswegs kühne und lichtvolle Bilder zu finden sind.

Franz Liszts poetische Darstellung mutet uns heute, vor allem im Zusammenhang mit seinen eigenen Werken, seltsam an: »Es sind dies Bilder, die der Kunst wenig günstig sind, wie die Schilderung aller extremen Momente, der Agonie, wo die Muskeln jede Spannkraft verlieren und die Nerven, nicht mehr Werkzeuge des Willens, den Menschen zur passiven Beute des Schmerzes werden lassen. Ein beklagenswerter Anblick fürwahr, den der Künstler nur mit äußerster Vorsicht aufnehmen sollte in seinen Bereich.«

Bewegende Worte, sicherlich, wobei ich glaube, dass Liszt mit der formalen Anlage dieses Werkes in Konflikt geriet, möglicherweise auf ähnliche Art und Weise, wie seinerzeit Eduard Hanslick die h-moll-Sonate von Franz Liszt mit derben Worten als »immer leerlaufende Genialitätsdampfmühle« aburteilte.

Daher bleibt für den Interpreten die große gestalterische Aufgabe an diesem Werk: Überzeugende, ebenmäßige Organik im gesamten Ablauf, mit Blick auf das Große, der Gefahr trotzend, sich auf die beschränkte Ausführung der wundervoll hinreißenden Einzelheiten zu verlieren.

Über sie schrieb die Allgemeine Musikalische Zeitung am 17. Februar 1847: „Ganz frei, rhapsodisch und gleichsam nur präludirend beginnt der Componist, geht dann in vagen Harmonieen in das Maass eines Alla Pollacca über, und lässt dann ein Tempo giusto (As dur) eintreten, das einen thematischen Charakter bat. Wir brauchen diesen Ausdruck, um anzudeuten, dass zu einem eigentlichen Polonaisenthema im gewöhnlichen Sinne es doch nicht kommt, so frei und phantastisch ist auch dieses zur witeren Entwickelung bestimmte Thema beschaffen. Von einer strengeren Durchführung ist auch nicht die Rede. Eine zweite Melodie in der Dominante ist schärfer begränzt, cantabler, und um so wohthätiger, als bis hieher schon sehr viel modulirt worden ist. Nun aber beginnt erst die Fantasie herumzuschweifen, aus Es geht es weiter nach B, nach G moll und H moll und nun in einen selbständigen Satz H dur, der durch ähnliche rhapsodische Figuren als im Anfange sich nach F moll und dann wieder in die Grundtonart As zurückwirft. Diese wird eigentlich erst zuletzt dauernd und planvoll festgehalten. Das ganze Stück schillert in einer gewissen Unbestimmtheit der Tonarten, die freilich bei Chopin so oft ihre Reize hat, doch aber diesmal sehr weit geht. Der Name Fantasie ist wohl eben mit Rücksicht auf die Kühnheit dieser Conturen gewählt. Die Theorie fragt hier nach den Gränzen solcher Freiheit, über der sehr leicht die Wirkung des Ganzen verloren gehen kann. Mancher wird nach zwei Seiten diese Polonaise muthlos weglegen. Bei genauerem Verweilen wird manche Einzelnheit freilich Genuss verschaffen, indessen können wir nicht umhin, zu bemerken, dass Chopin, gerade in seiner blühendsten Kraft, es auch am Meisten verstand, seine Erfindung zu beschränken, zu zügeln. Vermöchte er noch dies über sich gewinnen, so würde er durch seine oft so merkwürdigen Combinationen allgemeineren und stärkeren Eindruck erreichen. Der Gedanke, den er hinwirft, ist fast immer glücklich, warum verschmäht er nun so sehr seine feste Gestaltung, besonnene Entwickelung?“

Gerne möchte ich noch eine recht persönliche Frage zu Ihrem Spiel stellen. Wenn Sie spielen, Chopin oder andere Komponisten, wie sehen Sie „Ihre Rolle“ in der Darbietung? Steht für Sie nur das Werk im Vordergrund und versuchen Sie, sich rein als Vermittler möglichst weitgehend auszuschalten, oder beziehen Sie aktiv Ihre Persönlichkeit und Ihre subjektive Wahrnehmung mit in den Moment ein?

Ich sehe generell die Funktion eines Interpreten in der Rolle eines „Dieners am Kunstwerk“. Die großen Komponisten haben ihre Texte so eindeutig verfasst und dargelegt, dass deren Intention und Aussage unverwechselbar ist. Diese hervorzubringen, ist primär die Aufgabe eines Interpreten. Dabei ist es die große Kunst, hinter dieser Aufgabe zurückzutreten, und dennoch seine eigene Persönlichkeit als Identität miteinzubringen, ohne die einkomponierte Aussage der Komposition zu verfälschen. Wenn wir uns die Geschichte der großen Interpreten ansehen, können wir erfahren, dass exakt darin die große Kunst bestand, eben dass Interpret und Komposition zu einer großen allumfassenden Einheit verschmolzen. Schon nach wenigen Tönen war jeder Interpret mit seiner ureigenen Persönlichkeit, quasi als Visitenkarte, erkennbar. Und dennoch blieb die Aussage einer Komposition unverfälscht erkennbar. „Subjektive Wahrnehmung“ blieb als inspiratives Element für den letzten Moment der Erfahrung als „Erlebnis“ reserviert. Hierbei entstand für den Zuhörer die Situation einer „Katharsis“. Er, der Zuhörer, erfuhr, dass Musik und deren Interpretation letzten Endes eine „Sprache“ waren. Subjektivität und Objektivität bildeten eine neue Ebene der Erfahrung. An anderer Stelle habe ich bereits gesagt, dass „Bedeutung des Moments“ und „Forderung der Sache“ zu einer einzigen Komponente der Gratwanderung entwuchsen. Darin sehe ich auch meine Funktion als Vermittlung und Hervorbringung des Aspektes einer „Wahrheit“.

In Thomas Manns Alterswerk »Doktor Faustus«, „jener an das alte Deutsche Volksbuch vom Teufelsbeschwörer Dr. Faustus sich anlehnenden Künstlerbiographie, in welcher das Schicksal der Musik als Paradigma der Krisis der Kunst selbst, der Kultur überhaupt, behandelt ist …“ – so die Worte des Autors – steht im Mittelpunkt die Romanfigur Adrian Leverkühn und seine in syphilistischer Ekstase entstandenen atonalen Kompositionen als Beispiele notwendig gewordenen dodekaphonischen Denkens. Dabei wird auf geradezu bewegende Art und Weise dessen exemplarische Kunst mit der Sichtweise des deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer in Verbindung gebracht, dessen Idealvorstellung einer nach berückender Versinnlichung strebenden Interpretation im Sinne von Wahrheit darin bestand, das ureigenste Anliegen großer Musik darin verwirklicht zu sehen, deren Wesen im Jenseits des Gemüts und der Sinne zu vernehmen und anzuschauen.

Was Schopenhauer damit meinte, bezog sich letztlich auf eine »Allumfassenheit«, einer Ebene gleichend, auf der die Ausleuchtung verschiedenster Parameter in Werk und Interpretation allen Anforderungen standhielt. Einen Prozess »historischer Kreation« nannte er dies.

Gestatten wir uns hier eine Reflexion über die Bedeutung und den Grund des Wandels der Interpretation großer Kunstwerke und vor allem des (fälschlicherweise) immer mehr in den Hintergrund gedrängten Phänomens der »Emotion«:

Wenn große und zu Recht berühmte – mittlerweile leider nicht mehr unter uns weilende – Interpreten im Konzert ihre Ansichten mitteilten, erfuhren wir Musik als das, was sie eigentlich war: SPRACHE. Sprache in der Auslotung von Details, in der Hervorkehrung und Deutung einkomponierter Reibungen und Schroffheiten, quasi als Spiegelbilder in der Entstehung ihrer jeweiligen Zeit, widerspiegelt an der eigenen Identität, dem intuitiven Wissen um große Zusammenhänge und der Persönlichkeit des Künstlers. So entwuchs ein Kunstwerk, dessen Aussage stets einzigartig, charismatisch, authentisch, aber auch – im positiven Sinne – nicht wiederholbar war, einem einzigen großen Wurf gleichend, eigenwillig – bisweilen eigensinnig – jedoch stets die Balance wahrend zwischen Bedeutung des Moments und Forderung der Sache, ein Spannungsgefühl, das bisweilen ein neues Schönheitsideal entstehen ließ. Interpretation nicht aus klassisch-plakativer Draufsicht, sondern als ein sich unerbittlich dynamisch entrollender Prozess. Ein solcher Reifungsprozess setzt jedoch eine Entwicklung im ureigensten Sinne voraus, eine Entwicklung, die Zeit benötigt, Zeit, um zu einer „eigenen Spache“ zu gelangen.

In einem renommierten deutschen Musikmagazin hatte ich mich vor vielen Jahren in einem Interview der Frage zu stellen, was ich jungen Pianisten empfehle, um eine eigene Identität zu finden. Ich antwortete, dass ich große Probleme und direkt eine große Gefahr für die Kunst in der Schnelllebigkeit unserer heutigen Zeit sehe. Jungen Pianisten bleibt oft nicht die Zeit der Rückbesinnung und Ruhe für einen inneren Reifungsprozess. Bereits in der Schule setzt sehr schnell eine Spezialisierung ein (Kollegstufe), die eine eigentliche Ausweitung einer Allgemeinbildung verhindert. Diese Entwicklung stelle ich in Frage.

Dann sehe ich das Problem der internationalen Wettbewerbe, bei denen es allesamt um den Wettlauf um das schnellste und lauteste Spiel; anstelle um die Musik an sich und deren Hervorbringung geht.

Auch die Wahl eines entsprechenden Lehrers ist von höchster Wichtigkeit: Ich lehne entschieden bestimmte Talentschmieden ab, die quasi guruhaft ihre Schüler auf die vorderen Plätzen der Wettbewerbe platzieren anstelle den tiefergehenden Gehalt der Kunst zu lehren.

Ich wünsche jungen Pianisten die Kraft, dieser Maschinerie zu widerstehen und die Fähigkeit, in sich selbst hineinzuhören: Wenn sich Begabung und Talent, Fleiß und härteste Arbeit, Intelligenz und die entsprechende Ausweitung einer allumfassenden Bildung die Waage halten, dann ist die Voraussetzung für die Schaffung und Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit geschaffen.

Zu dieser Entfaltung ist eine heutzutage leider immer mehr in den Hintergrund tretende Eigenschaft notwendig: Mut. Mut, sich nicht zeitlich-kurzlebenden Strömungen zu unterwerfen oder gar unterwerfen zu lassen, Mut zur Unabhängigkeit, Mut, eigene Konzepte zu entwickeln und dahinter zu stehen. Mut zur Eigenständigkeit; Mut, sich vom Trend der Anpassung zu lösen.

Und überdies steht für mich die Bewahrung einer Natürlichkeit und menschlichen Einfachheit in Form menschlicher Größe an zentraler Stelle: Wenn die Blickrichtung über alle intellektuellen Bezüge hinaus geht, droht die Gefahr, den Blickwinkel zum Inneren, womit ich diesbezüglich das normale Leben meine, zu verlieren: Große Kunst wurde nämlich aus dem Leben, dessen Menschlichkeit , dessen Einfachheit und auch dessen Niederungen geboren. Arroganz ist hier fehl am Platz.

Interpretation als ein Aspekt humaner Wirklichkeit also, womit der Kreis der Intuition geschlossen wäre.

Ich selbst bekenne mich zu meinem künstlerischen Credo, der Ästhetik des deutschen Philosophen Hegel entstammend, welche nicht nur Überzeugung, sondern quasi Verpflichtung meines eigenen künstlerischen Wollens, Denkens und Wirkens ist: „Denn in der Kunst haben wir es mit keinem bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk, sondern … mit einer Entfaltung der Wahrheit zu tun.“

Sich entführen zu lassen in die inneren Bezirke großer Musik und Musik als Offen-Legung zu begreifen, vor allem auch in Kenntnis der Abgrenzung gegenüber kurzweiliger, vordergründiger Effekthascherei, dies dürfte die Aufgabe und Verpflichtung von Interpret, Hörer, Konzertagenten, Veranstaltern, Musikkritikern und insbesondere der Schallplattenindustrie, welche zum Erhalt von Kulturgut beiträgt, für die nächsten Jahre sein.

Interview geführt von: Oliver Fraenzke, Dezember 2015
Alle Antworttexte: © Burkard Schliessmann, 2015

Burkard Schliessmann: Chronological Chopin
divine art, DDC 25752
EAN: 8 09730 57522 8

Jazzige Klaviermusik aus der Slowakei

ISMN:
979-0-68504-030-9 (Jazz piano II)
979-0-68504-017-0 (Harlequin)

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Aus der großen Auswahl an Klaviermusik des slowakischen Jazzkomponisten und -pianisten Ludo Kuruc liegen mir zwei Bände vor: der zweite Teil seiner Klavierschule „Jazz Piano“ und die Suite für Soloklavier „Harlequin“ in fünf Sätzen.

International bekannte Komponistennamen aus der Slowakei sucht man lange und vergebens, kaum ein Tonsetzer ist über die Grenzen des Landes regelmäßig im Konzertprogramm aufzufinden. Nur in wirklichen Ausnahmefällen lässt sich auf Namen stoßen wie Eugen Suchoň, Ján Cikker, Alexander Moyzes, Ján Šimbracký, Šimon Jurovský, Bartolomej Urbanec, Ottokar Nováček und vielleicht noch ein paar noch Unbekanntere (auch Franz Schmidt und Ernst von Dohnányi sind im damaligen Preßburg, heute Bratislava, geboren). Umso schöner, nun einmal etwas von einem bisher noch ganz im Schatten stehenden jungen Komponisten zu hören: Ludo Kuruc. Neben dem Schaffen großer Kompositionen wie den Musicals Pinocchio und Alice in Wonderland oder Jubilate Schola für Chor und Orchester ist Kuruc auch als Bandleader und Sänger aktiv, außerdem ist er Gründer und Dramaturg des Jazzfestivals in Vráble und des One Day Jazzfestival in Nitra, die jeweils seit mehreren Jahren bestehen.

Aus Kurucs Œuvre für Klavier gingen mir die Schule „Jazz Piano II“ von 2012 und „Harlequin“ Suite für Klavier solo von 2010 zu, jeweils erschienen bei Ps. Publisher in der Slowakei. Der zweite Teil der Jazz-Piano-Schule besteht aus vierzehn Stücken aufsteigenden Schwierigkeitsgrads. Die ersten kurzen Miniaturen sind durchgehend sehr leicht zu spielen und bieten einen wunderbaren Einstieg in die harmonisch aufgeladene Welt der Jazzmusik. So lässt sich davon ausgehen, dass der vorangehende erste Band wirklich bei den Grundlagen startet und auch für völlige Anfänger am Klavier geeignet ist. Nach und nach treten kleine rhythmische Finessen hinzu wie Offbeat und Triolen, bis zu der doch recht vertrackten linken Hand von Fontána: bestehend aus einem fortlaufenden Metrum von zwei punktierten Vierteln und einer Viertelnote, über die die rechte Hand entgegengesetzte Rhythmen spielt. So hebt der Band recht schnell die Ansprüche an den Schüler an, bis hin zum Gruß an Dmitrij Schostakowitsch, der mit ungeraden Takten, entgegengesetzter Rhythmik und kleinen Sprüngen der linken Hand vom technischen Anspruch her weit von der ersten Nummer entfernt ist. Jedes einzelne Stück ist sehr ansprechend komponiert, weist sowohl einprägsame Melodien als auch interessante Harmoniekonstellationen auf, die einen genauen Blick wert sind. In aller Kürze sind diese Titel markant und einzigartig, nichts wird unnötig im Kreis herumgeführt oder in anderen Stücken wiederaufgegriffen, so dass auch die Freude beim kompletten Durchspielen erhalten bleibt. Angenehm ist vor allem auch, dass gerade in den letzten Beiträgen gewisse harmonischen und rhythmischen Experimente stattfinden, ohne jedoch dabei allzu komplex oder gar undurchsichtig zu werden. Mir scheint hier oft, als hätte Kuruc sich nicht alleine auf den Jazz verlassen, sondern auch einen gewissen slowakischen Tonfall mit in seine Jazzschule einfließen lassen, der dieser zusätzlich eine ganz persönliche Handschrift verleiht.

Nicht länger als die einzelnen Stücke aus Jazz Piano II sind die fünf Sätze der Suite für Soloklavier Harlequin. Bei dem Namen kommen wohl unvermittelt Erinnerungen an Strawinskys Ballett Petruschka auf, doch steht Kurucs Harlequin in keiner Weise damit in Verbindung. Der Stil der Suite ist wieder ein recht eigener, ein jazziger Ton ist ebenso anzutreffen wie ein traditionell-volksmusikalischer Einschlag. Von der technischen Schwierigkeit her wäre die Suite ein klein wenig über den letzten Stücken der Jazzschule anzuordnen, sollte aber geübten Klavierspielern keine sonderlichen Probleme bereiten, ist also auch gut für Laien geeignet, ohne dass diesen aufgrund von Vertracktheiten die Spielfreude daran verginge. Mir persönlich hat es vor allem der vierte Satz sehr angetan, das heiter lustige Stück Žonglér (Gaukler, Jongleur) nach der schlichten Weise „Melanchólia“, wo man geradezu bildlich gesehen beim Spielen des Jongleurs mit seinen einzelnen Bällen zusehen kann. Hier wie auch allgemein bei Kuruc sind die Melodien sehr einfach gehalten, sie setzen sich aus puzzleartig aneinandergereihten kurzen Motiven zusammen. Dieses Prinzip spricht zwar gegen eine groß angelegte Entwicklung thematischen Materials, ist aber gerade für diese kurzen Sätze eine gute Methode, memorables Potential zur Verfügung zu stellen, und auch für eine gewisse kecke Sprunghaftigkeit und Kurzatmigkeit zu sorgen, die recht typisch zu sein scheint für diesen Komponisten.

So liegen hier zwei wirklich schöne und spielenswerte Bände slowakischer Klavierliteratur vor von einem Komponisten, dessen Name es unbedingt verdient, dass man ihm mehr Aufmerksamkeit schenkt. Die Musik ist gut spielbar, eingängig und trägt einen ganz eigenen Stempel, der durchaus auch einen analytischen Blick verdient hat. Für alle, die bereit sind, auch einmal etwas Neues auszuprobieren und einen ausgesprochen fesselnden und hinreißenden Personalstil kennenzulernen, der sich unmittelbar erschließt, eine absolute Empfehlung!

[Oliver Fraenzke, Dezember 2015]

Ein überlauter Schrei der Begeisterung

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Eine vollkommen neue Methode versprach Otto Viktor Maeckel 1938 mit seinem Buch „Das organische Klavierspiel“, welche er nach jahrelanger Unterrichtserfahrung hier niederschrieb. Zu einer Überarbeitung kam es nie, da Maeckel bereits im Jahr darauf verstarb und somit nicht auf Kritik oder eventuell selbst festgestellte Defizite eingehen konnte. Der STACCATO-Verlag gibt nun den Reprint des Werkes des mittlerweile in Vergessenheit geratenen Pädagogen heraus, versehen mit einem Vorwort und kritischen Anmerkungen des Klavierprofessors Gregor Weichert.

Sein ganzes Leben verbrachte O. V. Maeckel mit der Suche nach der „perfekten“ Methode der Klaviertechnik, wie sie laut dem Autor alle großen Pianisten – allen voran Franz Liszt – von Natur aus anwenden, aber nicht in der Lage sind, diese zu beschreiben und somit zu lehren. Ziel soll sein, mit möglichst wenig Kraftaufwand und unter völligem Verzicht auf unnötige Energievergeudung das Klavierspiel zu verbessern und die Technik vollkommen werden zu lassen. Dazu soll der kürzeste, schnellste und natürlich auch einfachste Weg gewählt werden. In der festen Ansicht, schließlich erfolgreich die perfekte Technik entschlüsselt zu haben, bot Otto Viktor Maeckel vierwöchige Kurse an, in denen er seinen Schülern die Grundlagen der Methode in intensivem Training darlegte. Nach diesen vier Wochen sollten die wichtigen Aspekte verinnerlicht sein und die Schüler sie von selbst ausbauen und vertiefen können. 1938 schließlich, nach etlichen Jahren der Unterweisung in seiner Methode, ließ er sich darauf ein, diese auch schriftlich zu fixieren.

O. V. Maeckel gliedert seine Schule in acht Kapitel: Alle Möglichkeiten des einstimmigen Spieles auf dem Klavier; der gleichzeitige Anschlag mehrerer Tasten auf dem Klavier; Triller, Tremolo und Sprünge; die Anwendung der Pedale; die geteilte Hand; das polyphone Spiel; der Unternormalton; das virtuose Klavierspiel.

Der eigentliche Kern der Methode liegt allerdings bereits vollständig im ersten Kapitel vor, der Rest lässt sich vollständig von selbst aus dem einstimmigen Spiel erschließen (vor allem, da es immer wieder mit den selben Anschlagsarten erklärt und weitergeführt wird) oder ist nicht sonderlich neuartig, ja nicht einmal relevant oder wissenswert. Im entscheidenden ersten Kapitel erläutert Maeckel nach einigen Freiübungen ohne Klavier drei Anschlagsarten, die die zentrale Aussage der Methode sind: der „Normalton“, ein ausschließlich durch die natürliche Schwere der von der Gravitationskraft nach unten gezogenen Hand erzeugter Ton; die „schnelle Fingerbewegung“ aus dem Knöchelgelenk; und der „singende Ton“, welcher durch eine Beschleunigung des Fingers während des Anschlags den Dämpfer früher als gewohnt heben lässt und somit die Obertöne früher mitklingen lässt, was wiederum für einen klangschöneren und sanglicheren Ton sorgen soll.

Als zentrale Grundlage für diese Methode sieht der Autor vor allem, wie etliche Male betont, den „federleichten Arm“ an, womit er sich deutlich vom Gewichtsspiel distanziert. Statt sich zu verkrampfen und Kraft anzuwenden, soll nur die genannte „schwere Hand“ eingesetzt werden, so dass der Ruhepunkt der Fingerspitze eigentlich der unterste Punkt der Taste ist; Die Kraftaufwendung betrifft lediglich das Obenhalten der Hand über den Tasten, von wo aus beim Anschlag die Natürlichkeit der Gravitation den Finger sinken lässt. All dies erklärt Maeckel möglichst wissenschaftlich begründet und immer wieder auf die Physik verweisend, stets auf einen sicheren Beweis aus. Auch wenn einige seiner Wissenschaftsbezüge recht vage erscheinen und auch nicht immer richtig sind, ist doch ein Großteil recht sinnvoll und lässt die Methode gut mitvollziehbar erscheinen. Alles in allem ist der Aufbau recht stringent, wodurch das jeweilige Kernthema aus dem Vorherigen erklärbar und logisch ist.

Der Grund dafür, warum die an sich wahrhaft lesenswerte und spannende Methode sich bis heute niemals durchsetzen konnte, ist die Hybris O. V. Maeckels, die ihn immer und immer wieder aufs Neue dazu bringt, zu betonen, wie toll und neuartig seine Methode ist und dass alle anderen Methoden doch komplett unnatürlich und falsch seien. Zu lange wird belegt, warum die eigene Schule so fantastisch ist, und dass auch Liszt allen Augenzeugenberichten nach eigentlich nur diese wiedergefundene Methode angewandt haben kann. Weichert schreibt darauf allerdings versöhnend eingehend in seinem Beschluss über das Buch sehr trefflich, man müsse damit Nachsehen haben, denn Maeckel geriet nach 32 Jahren der Suche sein „Heureka“ eben ein wenig überlaut.

Die Methode an sich zu bewerten, fällt – wie wohl verständlich sein dürfte – schwer. Natürlich war es mir nicht möglich, in der Zeit seit Erhalt des Buchs die gesamte Methodik selbst zu erproben, auch wenn ich mich recht zeitintensiv an den drei Hauptanschlagsarten versucht habe. Diejenigen Quellen, die sich intensiv mit „Das organische Klavierspiel“ auseinandergesetzt haben, also sowohl seine Schüler (nach eigenen Aussagen Maeckels) als auch 1938 sein Verleger Franz Hanemann und der Neuherausgeber Gregor Weichert, sind allesamt überzeugt davon. Und auch ich würde mich nach meinen bisherigen Studien davon keineswegs distanzieren. Zwar sollte der Pianist diese Methode nicht als alleingeltendes Heiligtum ansehen und jede nicht in dem Buch beschriebene Technik a priori verteufeln, aber gerade die Grundlagen sind nicht zu widerlegen, und die drei Hauptanschlagsarten sind das bewusste Erlernen und Anwenden wert. Besonders überzeugen kann die Annahme, dass die heruntergedrückte Taste der Ruhepunkt ist und das Niederschlagen selbst nicht der Moment des Kraftaufwands ist. Bei Beachtung dessen erhält der Musiker automatisch ein deutlicheres Gespür dafür, wie viel Energie überhaupt anzuwenden sei, und verbraucht diese nicht unnötig, was sowohl dem Spiel an sich als auch dem Körper und Geist des Spielers nur zu Gute kommen kann. In wie weit auch der „singende Ton“ perfektionierbar ist, lässt sich schwer sagen, doch ist die Technik tatsächlich gut anwendbar, um entsprechenden Passagen einen runden und vollen Ton zu verleihen.

Sowohl Vorwort als auch Bemerkungen zu „Das organische Klavierspiel“ von Gregor Weichert sind kurz, prägnant und wohlüberlegt geschrieben. Sofort wird Weigerts intensive Beschäftigung mit vorliegendem Werk bemerkbar, und seine kritische Auseinandersetzung damit. Er nickt nicht alles einfach ab, sondern gibt an entsprechenden Stellen nützliche Kommentare hinzu und ist sich auch im Beschluss ganz genau im Klaren, welche Aspekte besonders nützlich und welche eher vernachlässigbar sind.

Weder die Kurse O. V. Maeckels noch sein 1938 erschienenes Buch schafften es, seiner Methode bleibende Bekanntheit zu verschaffen – vielleicht gelingt es nun mit dieser Reprint-Ausgabe. Wert wäre, zumindest einmal davon bewusst Kenntnis genommen zu haben und sich die wesentlichen Aspekte nicht nur durch den Kopf gehen zu lassen.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2015]

Ein Schlag aufs Wasser

Placidus von Camerloher (1718-1782)
Kamermusik, Sinfonien, Arien

Neue Freisinger Hofmusik Leitung: Sabina Lehmann

CTH 2629 Thorofon
4 003913 126290

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Placidus von Camerloher, der Zeitgenosse Glucks und Philipp Emanuel Bachs, ist mithin ein Vorläufer von Haydn, Mozart und deren Zeitgenossen, und durchaus kein Unbekannter in der Musica Bavarica. Jetzt also eine neue CD der neugegründeten Neuen Freisinger Hofmusik, geleitet von der Cellistin Sabina Lehmann: die elf Instrumentalistinnen und Instrumentalisten von der Traversflöte bis zur Erzlaute spielen aus dem bis heute nur spärlich veröffentlichten Werk  des Freisinger Musikers und Geistlichen Herrn Camerloher zwei Sinfonien, zwei Arien auf lateinische Texte und ein paar Stücke aus seiner Kammermusik.
Was als durchaus von mehreren Seiten unterstütztes Projekt daherkommt – die Danksagungen im Booklet sprechen es aus –, entpuppt sich allerdings beim Anhören als ein ziemlich uninspiriertes Unterfangen, das an der Oberfläche des Notentextes und somit an den Ohren vorbeirauscht. Von Phrasierung oder irgendwie zusammenhängend bewusstem musikalischen Ansatz scheinen die Spieler weder je etwas gehört zu haben noch gar zu wissen. Ihr Tun erschöpft sich darin, die vorliegenden Noten in meist sehr hurtigen Tempi herunterzuspielen. So nebensächlich und rasch vorbei ist diese Musik sicher weder gemeint noch einst gespielt worden, da nützen auch die beiden Solostücke auf der Gallichone nichts,  oder auch die beiden Arien, die Bass Matthias Winckler bemüht, aber mit viel abgehackter Sechzehntel-Artikulation realisiert.  (Wie so etwas wirklich gesungen werden kann, könnte er sich bei Cecilia Bartoli einmal zu Gemüte führen, da muss das Zwerchfell einfach auf Zack sein bei solchen Läufen).
Dabei ist der Stil Camerlohers, wie die Leiterin Sabina Lehmann im Begleitheft beschreibt, alles andere als uninspiriert oder altmodisch. Sie nennt ihn sogar einen modernen Tonkünstler seiner Zeit, der größten Wert legte auf melodische und harmonische Klarheit und Einfachheit. Und die auf- und niederfahrenden Tonleitern in der neuen Mannheimer Art, häufige Synkopen, Seufzermotive, Sechzehnteltriolen oder unvermutet eintretende Generalpausen gehören zwar durchaus zu seinem musikalischen Stil, müssen aber auch dementsprechend erlebt und musiziert werden, sonst bleiben es bloße Beschreibungen ohne Inhalt. Denn so neu, wie Camerlohers Musik damals gewesen zu sein schien, davon muss auch der heutige Hörer etwas mitbekommen.
Es ist und bleibt der Makel bei unzähligen unserer heutigen – zwar ausdauernd geübt habenden, aber musikalisch so wenig beschlagenen – Musikerinnen und Musikern, dass sie zwar technisch alles „draufhaben“, aber die Bedeutung der „Klangrede“ ihnen sehr oft vor lauter Geschwindigkeit völlig entgeht.
Allerdings könnte jede Person sich die Violinschule von 1756 von Leopold Mozart zum Lesen nehmen oder auch die beiden sehr „erleuchtenden“ Bücher des Altmeisters Nikolaus Harnoncourt, etwa „Musik als Klangrede“, einverleiben, die einem einen entsprechenden Ansatz vermitteln können, wenn außer dem „Üben“ noch Zeit zum Lesen und Verstehen bliebe! Warnte doch schon Frédéric Chopin seine Schüler, nicht länger als drei Stunden am Klavier zu verbringen, sonst würden sie nämlich: „doof“.

Insofern ist diese CD mit Musik eines Zwischenmeisters leider ein – zugegeben recht lautstarker – Schlag ins Wasser, der vielleicht Placidus Camerlohers lokale Reputation unterstreichen, ihm jedoch keinen überregionalen Glanz verschaffen kann. Schade. Denn dass hinter Noten Musik zum Staunen und Überraschen steckt, konnte man zwar ahnen beim Anhören dieser CD, aber eben leider nicht hören. Mit der Exekution der auf dem Pult liegenden Noten ist es einfach nicht getan, wenn es um Musik geht.

[Ulrich Hermann, Dezember 2015]

Ein Leben in Symphonien

NAXOS, 8.501111; EAN: 7 30099 11114 0

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Das gesamte Symphonieschaffen des großen russischen Komponisten Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra sowie dem Royal Liverpool Philharmonic Choir (in den Symphonien Nr. 2, 3 und 13), der Huddersfield Choral Society (in der Symphonie Nr. 13) und den Solisten Alexander Vinogradov (in den Symphonien Nr. 13 und 14) als Bass und Gal James (in der Symphonie Nr. 14) als Sopran unter dem Dirigat von Vasily Petrenko ist nun als 11 CD-Box bei NAXOS erhältlich mit Einspielungen aus den Jahren 2009 bis 2014.

Kein anderes Genre zieht sich so sehr durch das Leben von Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch wie das der Symphonie: 1924/25 schrieb der 1906 geborene Komponist sein frühes Erstlingswerk und verstummte schließlich symphonisch 1971 mit seiner fünfzehnten Symphonie, vier Jahre vor dem Herzinfarkttod des bereits schwer Krebskranken 1975. Sein utopisches Ziel war zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht erreicht, – 24 Streichquartette und 24 Symphonien wollte er schreiben, ähnlich dem von so vielen Komponisten wie auch ihm selbst verfassten Zyklus von 24 Präludien und Fugen durch alle Tonarten – lediglich 15 konnte er vollenden, sowohl Symphonien als auch Streichquartette.

Jeder Versuch, das gesamte symphonische Werk Schostakowitschs auf einen Nenner zu bringen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn zu divergierend sind sie doch alle. Bereits zwischen der eingängigen ersten und der undurchschaubaren, mit bis zu dreizehnstimmigem Fugato verstrickenden, höchst komplexen zweiten Symphonie liegen Welten, auch die Längen der Werke schwanken insgesamt zwischen knapp 20 und 80 Minuten, ebenso ist die Besetzung sehr wechselnd. Sucht man doch nach Verknüpfungspunkten zwischen Schostakowitschs Symphonien, so sollte sein Gespür für beißende Ironie und todernsten Sarkasmus ins Zentrum gerückt werden – bei kaum einem anderen Komponisten wird noch immer so heftig spekuliert, was er aussagen wollte mit solchen fast frivol-markanten Passagen, sei es der plötzliche überlang auftrumpfende Schluss der Fünften, sei es das verstümmelte Rossini-Zitat in der Fünfzehnten, sei es der Höllentanz der Malagueña als zweiter Satz der Vierzehnten, der erst in den letzten Takten sein wahres Gesicht zeigt, sei es die Umfunktionierung der Loreley in selbigem Werk, die sich von ihrem Felsen stürzt und im unmittelbaren Anschluss als scheinbar andere Person schließlich über ihr eigenes Grab spricht, verbunden mit zwei identischen Glockenschlägen, die einen parallel grinsen und Gänsehaut machen, oder sei es die ganze fast an Haydn erinnernde Form der „Neunten“, die statt Ruhm und Götterfunken in aller Kürze alles Militärische veralbert, karikiert und dem System die lange Nase zeigt. Tausendfach diskutiert man seit jeher, ob Schostakowitsch nun für oder gegen das System war, ob er seine Meinung zeitweise änderte und wie sich dies in seinem Schaffen abbildet – Extremfall die nach Stalins Tod geschriebene Zehnte, die heute meist als „Befreiung aus dem System allgemein und im Einzelschicksal“ angesehen wird. Bezeichnend auch für alle Werke ist die unglaubliche Kunst Dmitri Schostakowitschs, mit seinen Motiven zu spielen, sie obsessiv in durchgängigem Precipitato-Empfinden in die Höhe zu treiben, militärische Anklänge einzubeziehen und diese wieder in der Beklommenheit und Stille versinken zu lassen. Und dies in einer Verbindung mit ausgefeiltester kontrapunktischen Fertigkeit und einem einmaligen Gespür für Instrumentierung, die das gesamte große Orchester einbezieht und unzählige Soli gebiert.

Vasily Petrenko wagt sich nun an die Gesamteinspielung dieses zwölfstündigen Marathons, der ihn von 2009 bis 2014 beschäftigte. Damit tritt er in die Fußstapfen einiger sehr namhaften Dirigenten wie Kirill Kondraschin, Gennadi Roschdestwensky, Valery Gergiev, Rudolf Barshai oder Mariss Jansons, bei dem Petrenko auch einige Zeit lernte und dessen Gesamteinspielung meiner Meinung die alles in allem vielleicht gelungenste ist, auch wenn einige Symphonien beispielsweise unter Gergiev noch etwas mehr Glanz und Unmittelbarkeit versprühen. Das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra dirigiert der noch recht junge Orchesterleiter in einer nahezu unwirklich erscheinenden Synchronizität, die bis in die verzwicktesten Rhythmen vollkommen makellos ist. Das Orchester erhält einen trockenen Anstrich, der jedoch nicht ins Spröde und vor allem zu keiner Zeit in romantischen Kitsch verfällt, was gerade bei den ausgedehnten langsamen Sätzen das unumstößliche Todesurteil für die Musik darstellen würde. In den meisten Symphonien erreicht es Petrenko, die verzweigten Stimmengeflechte alle hörbar werden zu lassen und für eine gute Transparenz zu sorgen, nur in manchen Einzelfällen fehlt mir eine zentrale Instrumentalstimme, die von Bedeutung gewesen wäre und nun in der Klangmasse verloren geht. Dynamisch hält sich das Orchester zwar nicht zwangsläufig an alle vorgegebenen Feinheiten, schafft aber dennoch oder eben sogar damit stets ein lebendig pulsierendes Klanggebilde mit Respekt für die Bogenlinie und die verschiedenen Dynamikebenen in der Partitur. Ein wenig in die Extreme geht Vasily Petrenko bei der Tempofrage, die schmetternden Höhepunkt in größter Pracht drängen unglaublich nach vorne, während die eh schon teils überlangen ruhigen Tempi noch mehr in die Breite gezogen werden. Das Drängen ist alles andere als störend, weil dadurch kein qualitativer Verlust der Musik zu beklagen ist, nach wie vor bleibt alles sauber und durchsichtig, nur die langsamen Sätze zerbröckeln teils etwas und verlieren dadurch ihre an sich schon gedehnte Form – besonders deutlich wird dies zum Beispiel bei der sechsten Symphonie, deren erster Satz hier eine Länge von knapp 20 Minuten aufweist (bei Jansons im für mein Empfinden perfekten Tempo 15 Minuten). Es wäre so lange nichts gegen dieses Tempo zu sagen, wenn auch musikalisch entsprechend Fülle und Dichte bestünde, wie dies bei einem Celibidache die Grundeigenschaft einer jeden Darbietung war, doch ist eben dies bei Konzerten für den Besucher durch die Wirkung des anwesenden Orchesterapparates wesentlich leichter nachvollziehbar als auf nie an die Klangqualität und Unmittelbarkeit eines Livekonzertes reichende Aufnahmen, die deshalb nicht selten (sogar bei dem großen Meister Celibidache manchmal) für den Nachhörenden unter übermäßig gedehnten Tempi leiden.

Die Musiker des Royal Liverpool Philharmonic Orchestra sind allesamt von beeindruckendem technischen Können und mit genauestem Verständnis für Hintergründe und Zerklüftungen in dem Symphonieschaffen vertraut, mit dem sie sich sichtlich jahrelang beschäftigten, wodurch sie es auch angemessen vermitteln können. Die Solisten sind allesamt präzise, können sich gut vor das Orchester stellen und werden problemlos mit ihren größtenteils wirklich anstrengenden Solopassagen fertig. Lediglich der Konzertmeister nimmt manch ein Solo ein wenig zu spröde abgehackt und der Piccoloflötist kann nicht durchgehend die unschlagbare Wirkung erzielen, die von der enormen Höhe ausstrahlen kann und in manch einer Vergleichseinspielung oder im Livekonzert für Atemlosigkeit sorgt. Hervorzuheben sind vor allem die Soli von Fagott, Klarinette und Oboe sowie die gediegenen Bläserchoräle wie im zweiten Satz der letzten Symphonie. Nicht weniger das vielstimmige Schlagwerk ist positiv zu erwähnen, zu keiner Zeit überdeckt es das Orchester und ist dennoch immer in gutem Maße präsent.

Neben der Orchesterleistung darf auch die des Royal Liverpool Philharmonic Choir, teils unter Verstärkung von Männerstimmen der Huddersfield Choral Society, nicht vergessen werden. Der Chor ist sehr bodenständig mit solidem und kräftigem Klang, er kann in allen Dynamikstufen frei gestalten und schafft in jeder Umgebung eine durchdringende Wirkung und Atmosphäre. Wenngleich nicht mit der selben faszinierenden Synchronizität wie das Orchester agierend, ist diese ins Orchester eingepasste Stimmvielfalt wirklich eindrucksvoll und dem großartigen Instrumentalkörper angemessen. In zwei Symphonien wirkt Alexander Vinogradov als sonorer Bass mit dunkler Stimme und sehr angenehmem, ruhigem Timbre. In der Vierzehnten steht ihm zudem die Sopranistin Gal James zur Seite, die ihre hektischen und selbstzerstörerischen Partien so glaubhaft herüberbringt, dass man meinen könnte, sie selber sei das lyrische Ich, das sein wahres Schicksal besingt. Trotz der so unterschiedlichen Rollen und Stimmfärbungen mischen sich die beiden Solisten gut und haben eine langgeprobte Übereinstimmung mit dem restlichen Klangkörper, der seinerseits untrennbar mit dem Vokalpart verbunden scheint.

Mit neuester Aufnahmetechnik eingespielt herrscht eine phänomenale Klanglichkeit, die einen fast live ins Geschehen zu versetzen vermag. Der mehr als ausführliche Booklettext von Richard Whitehouse auf Englisch gibt einen guten Einblick in jedes einzelne dieser großartigen Werke und bietet eine nützliche Verständnisgrundlage für die Umstände dieser doch oft subjektiv konnotierten Musik. Ein zusätzlicher Kommentar zu jeder Symphonie vom Dirigenten Vasily Petrenko lässt auch ein wenig dessen Gedanken zu den Symphonien durchscheinen.

Alles in allem eine sehr empfehlenswerte Gesamteinspielung des gesamten Symphonieschaffens Dmitri Dmitijewitsch Schostakowitschs. Persönlich kenne ich auch allgemein keine Gesamteinspielung irgendeines großes Œuvres, wo es nichts zu kritisieren gäbe und wo alle Aufnahmen vollendet gelungen wären. Dies kann man denn auch nicht erwarten, doch liegt hier eine mehr als beeindruckende Sammlung auf 11 CDs mit absoluten Spitzenmusikern und einem wirklich verständigen Dirigenten vor, die dem Hörer diese fantastische Musik vermittelt.

[Oliver Fraenzke; Dezember 2015]

Ungesucht sich versenkende Gelassenheit

Wiesensee Süllberg 2015-12

Diesen Namen muss man sich merken: Der 1993 in Würzburg geborene, in München lebende Pianist Amadeus Wiesensee begeisterte das Publikum einer Weihnachts-Matinée in der Kulinarik-Hochburg Süllberg in Hamburg-Blankenese mit einem so vielseitigen wie anspruchsvollen Recitalprogramm. Ich hatte schon mehrfach zuvor Kollegen von ihm schwärmen gehört: Den musst du hören. Der wird seinen Weg machen. Eine ganz und gar außergewöhnliche Begabung. – Ich kann dem nach diesem Auftritt nur zustimmen. Anscheinend handelt es sich übrigens bei Amadeus Wiesensee mindestens um eine Doppelbegabung: Derzeit Student in der Klasse von Antti Siirala an der Münchner Musikhochschule, kann Wiesensee auch bereits ein abgeschlossenes Philosophiestudium vorweisen und wurde mit dem prestigeträchtigen ‚Amalia-Preis für neues Denken’ ausgezeichnet. Sein Spiel zeigt sich geprägt durch Reflexion, Diskretion, Balance, Wohlklang und Liebe fürs Detail, und nie hat man den Eindruck, dass ihm zwischendurch einmal gedankenlos exekutierte Passagen oder gar Anflüge von Selbstdarstellung unterlaufen würden.
Wiesensee begann sein Recital, für welches ihm ein nuancenreicher, wohlintonierter Bechstein-Flügel der besseren Sorte zur Verfügung stand, mit Johann Sebastian Bachs Englischer Suite in e-moll. Schon hier fiel sofort sein Augenmerk für Durchsichtigkeit, klare Hervorhebung der Hauptstimmen, melodische Kontinuität und über alledem eine wohltuende Balance der Kräfte auf, ein durchgehendes Bedürfnis nach stimmiger Proportionierung und eine geschmacksichere Sorgfalt im Stilistischen. So gespielt, entsteht die oft gestellte Frage, ob man Bach auf einem modernen Flügel spielen solle, erst gar nicht. Man findet bei ihm keine Gould’schen Extravaganzen, bei aller gefassten Innigkeit auch keine romantisierende Sentimentalität oder neoklassizistische Biederkeit, und fast überall ist der durchgehende, natürliche Fluss der Musik gewährleistet.
Es folgte Beethovens Es-Dur-Sonate Opus 27 Nr. 1, das Geschwisterwerk der sogenannten Mondschein-Sonate. Auch hier herrscht Ausgewogenheit allerorten, klare Orientierung innerhalb der verschränkten Gesamtarchitektur, bewusst abgewogener Wohlklang, und eine alles durchdringende Redlichkeit der Auffassung, der nichts so fremd ist wie der törichte Schein der Prätention.
Amadeus Wiesensee ist kein typischer Virtuose, sondern vor allem ein Musiker, der alles zu erfassen und umzusetzen sucht und darin einen wunderbar zauberhaften, poetischen Zugang vermittelt. Bei Beethoven darf das Drama noch vehementer, bei aller bereits vorhandenen Leidenschaftlichkeit noch entschiedener in den Konflikt getrieben werden. Doch schon hier, wie auch später bei Brahms und vor allem natürlich Skriabin, erweist er sich in stürmischeren Momenten und resolut vorwärtsdrängenden Passagen auch als trefflicher Tastentiger mit kraftvoller Pranke, die allerdings fast immer sehr dosiert und kultiviert zum Einsatz kommt.
Von Skriabin kombinierte Wiesensee die Neunte Sonate, die sogenannte ‚Schwarze Messe’, mit dem Poem ‚Vers la flamme’, also zwei himmlische Höllentrips. Erstaunlich, wie lange er vermochte, die Dynamik wie fast schon illusorisch vorgeschrieben auf niedriger Flamme zu halten, bevor die Entfesselung des Geschehens so zugespitzt war, dass er alle Zurückhaltung aufgab. Hier liegt unendliches Verfeinerungspotential, und es ist Wiesensee zuzutrauen, dass er uns künftig mit einer feinnervigen Sensibilität beglückt, wie sie allenfalls Sofronitzky in dieser Musik zu übermitteln vermochte – und außerdem mit einem Bewusstsein der zugrundeliegenden Struktur, das sich in dieser Musik fast nie dem Hörer mitteilt.
Den Schlussteil bildeten die 1892 komponierten sieben Fantasien op. 116 von Johannes Brahms. Die meisten Pianisten, seien sie noch so arriviert, sind musikalisch in diesen Stücken hoffnungslos verloren und ergehen sich in willkürlichen Manierismen, Aufwallungen und Verdämmerungen jenseits aller metrischen Fassbarkeit. Wiesensee geht einen anderen Weg – den der Klarheit, Aufrichtigkeit, Natürlichkeit und weitgehenden Verinnerlichung. Auch wenn vieles noch charakteristischer, noch klarer erstehen, das Korrelieren der einzelnen Phrasen zu übergeordneten Bögen noch vertieft werden kann – er ließ hier, wo die Beherrschung des Pianistischen alleine so offensichtlich nicht ausreicht, alle seine jungen Kollegen weit hinter sich – jedenfalls alle die, die ich in den letzten Jahren gehört habe.
Als Zugaben waren der November aus Tschaikowskys ‚Jahreszeiten’ und ein Arrangement von Bachs Choralvorspiel ‚Nun komm der Heiden Heiland’ zu hören – letzteres wahrhaft ergreifend in der ungesucht sich versenkenden Gelassenheit und puren Schönheit der Darbietung.
Amadeus Wiesensee hat alle Anlagen, inklusive einer gerade für sein Alter erstaunlichen und weit überdurchschnittlichen Reife, um sich zu einem der im positivsten Sinne prägenden Musiker seiner Generation zu entwickeln. Bereits jetzt vermag er, auf durchaus unspektakulär fesselnde Weise ein Publikum einen ganzen Abend lang in Bann zu halten, zu berühren und auf eine poesiedurchtränkte Reise mitzunehmen.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley; Dezember 2015]

Lichter aus der Ferne

Ars produktion, ARS 38 157, EAN: 4260052 381571

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Gemeinsam mit dem Folkwang Kammerorchester Essen unter seinem Chefdirigenten Johannes Klumpp erweckt die Geigerin Kathrin Ten Hagen, teils mit dem Bratscher Itamar Ringel als Solopartner, Werke nordeuropäischer Komponisten zum Leben. Es erklingen Kompositionen von Ole Bull, Pēteris Vasks, Kurt Atterberg, Anders Eliasson und Jean Sibelius.

Nach ihren Eastern Impressions erschien die zweite CD Kathrin Ten Hagens mit dem Titel Northern Lights, in welchem die preisgekrönte Geigerin den Hörer mitnimmt auf eine Reise durch diverse skandinavische Tonlandschaften. Was schon im ausführlichen und sehr persönlichen Booklettext von Daniel Knaack (im Gespräch mit beiden Künstlern und dem Dirigenten) anklingt, zeichnet jeden einzelnen Ton dieser Aufnahme aus: Absolute Hingabe, sei es durch tiefste Verinnerlichung oder äußerste Leidenschaft, verbunden noch dazu mit technischer Virtuosität, Perfektion ohne Perfektionismus, selbst in noch so schwierigen Passagen der Werke; kurz, absolute Tadellosigkeit. Allein deshalb verdient die vorliegende Aufnahme eine Würdigung in The-New-Listener.

Neben der spielerischen Qualität als positivem Faktor sind es auch die Vielfalt, die individuell gestaltete Auswahl der Werke und deren kompositorische Reife, die dabei nicht nur die geographische Provenienz gemein haben, sondern auch eine Aura des Geheimnisvollen, Entfernten, frei jedoch von Kälte. Oder in den Worten des Booklets: „die Weite, Unendlichkeit und zugleich unmittelbare menschliche Nähe.“

Der hohe Anspruch eines jeden Werks legt dabei die wochenlange Arbeit der Musiker offen, mit der sie dieses keineswegs selbstverständliche Ergebnis hervorbrachten. Am wenigsten fesselt noch die Eröffnung: Solitude sur la Montagne (oder Sæterjentens søndag) des Norwegers Ole Bull, der dazu eigentlich nur die Melodie schrieb, während sein Zeitgenosse Johan Severin Svendsen den Streichersatz dazu beisteuerte. Dieses dreiminütige Werk, das nicht von ungefähr an Solveigs Wiegenlied von Edvard Grieg erinnert, könnte leicht zum bloßen musikalischen Souvenir verkommen, würden die Musiker nicht daraus eine innige Elegie gestalten.

Als Einstieg eignet sich die Solitude insofern, da sie gleich darauf zum ersten großen Opus dieser Reihe überleitet, zu Vox amoris von Pēteris Vasks. Der lettische Zeitgenosse verbindet in diesem Werk von 2009 einen Hochgesang der Liebe mit einem Hymnus auf die Schöpfung und auf Gott. Insgesamt handelt es sich um ein dreiteiliges Werk, das Transzendenz und Passion bis hin zur Schmerzgrenze verbindet, wobei aber alles eine Einheit bildet, ohne irgendeine hörbare Kluft. Ten Hagen und die Kammermusiker nehmen sich für jede Nuance in Vox amoris Zeit, für jede Entwicklung bzw. Steigerung und verstehen es, dem Werk ein breites Ausdrucksspektrum angedeihen zu lassen, von äußerst zart und weich bis zu herausfordernd intensiv und energisch.

Verhaltener wiederum ist das mittlere Werk, diesmal aus Schweden: Die Suite Nr. 3 op. 19 für Violine, Bratsche und Streichorchester von Kurt Atterberg. Das Sujet, welches Atterberg verwendete, ist belgischer Herkunft, nämlich Sœur Béatrice von Maurice Maeterlinck. Es erzählt die tragische Geschichte einer Ordensschwester, die ihr (privates) Glück in der Welt sucht und dabei ein Martyrium durchläuft. Doch ist Atterbergs Musik bei aller Ernsthaftigkeit keineswegs düster. Sowohl das Prelude als auch die Pantomime haben ihre Basis in den choralartig gesetzten Streichern. Auch hier zeigt das Folkwang Kammerorchester seine musikalische Einfühlsamkeit in der Begleitung. Und die solistische Chemie zwischen Itamar Ringel, bei dem sich jeder Bratscherwitz von selbst verbietet, und Kathrin ten Hagen überzeugt durch gegenseitige Achtung und Gleichwertigkeit. Das gilt natürlich auch für die Vision, laut Booklet eine Art Danse macabre, wo die beiden Solisten stets die Balance halten, eben auch in schnellen Passagen.

Einen äußerlich radikalen Bruch und auch den Höhepunkt der Northern lights bildet das Konzert für Violine und Streichorchester eines anderen Schweden: Anders Eliasson. Obgleich man ihn für ein Enfant terrible halten könnte beim ersten Hören dieser Musik, handelt es sich doch in Wahrheit um ein so kühnes wie ungemein vielschichtiges und konsequent durchstrukturiertes Werk, dessen ersten Satz Allegro con fuoco die Künstler ohne jegliche Ermüdung und unnötige Dramatisierung, aber mit viel Energie und Flexibilität gestalten. Eliasson leugnet gerade hier nie seine frühe Tätigkeit als Jazztrompeter sowie seine komplette kompositorische Unabhängigkeit. Im zweiten Satz Lento zeigt sich die atmosphärische Verwandtschaft zu den übrigen Opera der CD: das Lichterhafte, das Entfernte, das Gelassene. Das abschließende Presto vereint allerlei technische und kontrapunktische Einfälle, die vielleicht gelegentlich ein wenig an Ives oder Bartok erinnern mögen, zu einem großen Ganzen, an dem nichts überflüssig wirkt. Auch hier geben sämtliche Musiker nochmals ihr Bestes, angeführt von einer stets agilen Kathrin ten Hagen, die selbst in heikelsten Lagen mit ihrer großen Sicherheit besticht.

Nun bestünde die Gefahr, dass sich das letzte Werk, die späte Suite für Violine und Streichorchester op. 117 von Jean Sibelius, wie eine glatte Zugabe anhören könnte. Nicht so bei diesen Künstlern und ihrem selbstkritischen Maestro Johannes Klumpp. Jedes Tempo wird als solches ernst genommen, zugleich gestaltet Sibelius seine Musik leicht und frühlingshaft. Besonders der Schluss Im Sommer. Vivace, überrascht durch Ten Hagens absolute Beherrschung der Sechzehntelläufe, denen sie zudem Charakter zu verleihen versteht. Nichts daran klingt gehetzt.

Auch wenn diese Nordlichter bereits vor einem Jahr erschienen, sei diese wunderbare Aufnahme – nicht nur für Weihnachten – hier noch einmal ausdrücklich empfohlen.

[Peter Fröhlich, Dezember 2015]

Eine Perle in einem Meer aus Halbgarem

Claude Debussy
Sonate für Violine und Klavier
Sonate für Cello und Klavier
Sonate für Flöte, Viola und Harfe,
„Syrinx“ für Flöte Solo
Boston Symphony Chamber Players

Pentatone remastered classics, PTC5186226; EAN: 827949022661

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Zwar bin ich ein ausgesprochener Fan der Surroundtechnik, gleichwohl muss ich zugeben, dass mich die meisten der viel gepriesenen Wiederauflagen älterer Quadro-Einspielungen noch nie überzeugen konnten. Anders ist es mit diesem Album, das von vorn bis hinten überzeugt.

Ganz vorn mit dabei beim Wiederauflebenlassen der Quadro-Vierkanaltechnik ist das niederländische Label pentatone, faktisch ein Nachfolgeunternehmen des in den 1990er-Jahren in Würde verblichenen Philips Classics-Labels. Schon zu den allerersten Projekten der Anfang der 2000er-Jahre nach dem Philips-Exitus neu gegründeten Firma zählten Re-Issues von Quadro-Aufnahmen des einstigen Vorgängerlabels. Neuerdings haben sich die Niederländer das Archiv der Deutschen Grammophon vorgenommen, und was von dort aus bislang zutage trat, das war in aller Regel mehr als ernüchternd. Die Deutsche Grammophon war sowieso noch nie ein Label, das Hifi-Ansprüche zu erfüllen vermocht hätte – und das hat sich ja auch bis heute (leider!) so erhalten.

Die Quadro-Aufnahmen aus dem Keller der DGG, die bei pentatone bislang erschienen sind, waren deswegen auch alles andere als „Hingucker“ oder gar „Hinhörer“.

Überwiegend handelte es sich um Material aus der Zeit von Mitte der 1970er bis Anfang der 1980er, als die Deutsche Grammophon – sagen wir es offen – schon ihre besten Jahre hinter sich hatte. Sicher, Sternstunden hier und da. Aber das Gros der Veröffentlichungen triefte schon damals vor Langeweile.

Nun ist in der pentatone-Reihe der DGG-Quadro-Remasters doch noch ein veritables Highlight erschienen. Zwar ist es technisch ebenso wenig audiophil wie alle anderen Deutsche Grammophon-Platten aus dieser Zeit, aber interpretatorisch und vom Repertoire ist das erschienene Album sehr interessant.

Die „Boston Symphony Chamber Players“ spielen auf dieser Vierkanalaufnahme aus dem Jahr 1970 einen Großteil der Kammermusik Claude Debussys. Nun stutzt man angesichts des gesichtslosen Namens „Boston Symphony Chamber Players“. Wer genau spielt denn da bitteschön? Das Booklet der SACD klärt uns auf: Hier greift zum Beispiel der heute als Dirigent berühmte Michael Tilson Thomas in die Tasten und niemand Geringeres als Joseph Silverstein spielt die Solovioline. Zusammen bilden die beiden bei Debussys geradezu erotisch-freigeistiger, mit Orientalismen und Arabesken durchzogenen Violinsonate ein Duo, wie man es sich besser nicht vorstellen kann.

Der Gedanke an so etwas wie spieltechnische Hürden kommt gar nicht erst auf. Die hatten Silverstein und Tilson Thomas sowieso im Griff – …und konnten sich auf das Wichtige konzentrieren: Die Musik hinter den Noten, das irisierende Schillern dieser Musik, die tausend Farbschattierungen dieser Weltklassesonate.

Die anderen Solisten auf diesem Album wie Jules Eskin (Cello), Doriot Anthoy Dwyer (Flöte), Burton Fine (Viola) und Ann Hobson (Harfe) mögen weniger klangvolle Namen tragen als Silverstein und Tilson Thomas, sie pflegten aber bei dieser Aufnahme dieselbe Philosophie, wenn man so will: Äußerst beseelte, nachgerade hinreißende Einspielungen haben sie auf dieser insgesamt fantastischen Platte von der Cellosonate und der Sonate für Flöte, Viola und Harfe hinterlassen. Zu all dem kommt noch das kurze, aber zeitlos moderne „Syrinx“ für Flöte solo.

Wenn auch die anderen „Ausgrabungen“ aus dem Deutsche Grammophon-Archiv bei pentatone nicht viel Brauchbares hervorgebracht haben mögen, so ist doch wenigstens diese faszinierende Einspielung etwas für’s Leben. Wer diese Einspielung hat, kann damit immer glücklich sein. Es wird Alternativen geben, andere gelungene Einspielungen dieser herrlichen Musik. Aber übertreffen werden kann diese von vorn bis hinten einfach nur großartige Aufnahme aus Boston eigentlich nicht. Sie ist fast schon ein Gesamtkunstwerk, eine Einspielung, bei der man zu jeder Sekunde das Gefühl hat: So, genau so muss es sein. Eine Seltenheit und eine willkommene Wiederveröffentlichung in einer Flut von zu viel Halbgarem.

[Grete Catus, Dezember 2015]

Eine Be-„Reicha“-rung

Antoine Reicha (1770 Prag-1836 Paris)
Bläser-Quintette

Thalia Ensemble

CKD 471 Linn Records
6 91062 04712 8

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Gewiss ist die Gattung des Streichquartetts oder des Klaviertrios mit Streichern den Bläser-Ensembles weit voraus an Literatur und Bedeutung in der Musikgeschichte, aber was wäre das klassische Orchester ohne seine Holzbläser oder seine Hörner?  Schon lange vor den reinen Bläserquintetten, wie sie auf der vorliegenden CD zu hören sind, war die sogenannte Harmoniemusik, gerne unter freiem Himmel gegeben und dort, ohne akustischen Rahmen, weit geeigneter als Streicher, allseits beliebt.  Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gewann dann die Besetzung mit  Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott zunehmend an Bedeutung, auch durch die Kompositionen des böhmischen Musikers und Komponisten Anton Reicha, der vor allem in Paris lebte und arbeitete.

Aus seiner Feder stammen die vorliegenden Stücke op. 88 und 100. Über 20 Quintette für diese Besetzung schrieb Reicha, der als unorthodoxer Fugenpapst renommierte Zeitgenosse Beethovens, jünger als Haydn und Mozart und durchaus auch von diesen beeinflusst. Reicha, der ein vorzüglicher Flötist war, wirkte auch Pädagoge und seine Schriften waren – wie seine Kompositionen – über ganz Europa verbreitet, was auch seinen emsigen Verlegern zu verdanken war. Unter ihnen war Simrock wohl der bedeutendste, übrigens selbst ein Hornist.

Wir hören mit den Musikerinnen und Musikern des Thalia Ensembles eine spannende und abwechslungsreiche Aufführung beider Quintette. Reicha schreibt sehr genaue Vortragsbezeichnungen, die hier auch sehr gewissenhaft befolgt werden. Das leider nur auf Englisch vorliegende Booklet gibt auch Aufschluss über die instrumentalen Schwierigkeiten, besonders, wenn es um die Ausführung auf den „normalen“ modernen Instrumenten geht, bei denen die Klangbalance viel schwieriger zu erreichen ist als auf den „historischen“. Und das ist einer der echten Vorzüge dieser CD, dass sowohl Klang als auch weitgehend Tempo und Phrasierung sich dem Stand der Forschung und Erkenntnis zur damaligen Musizier-Praxis so weit als möglich annähern. Das erweitert das Vergnügen am Hören dieser Musik des Anton Reicha, die im damaligen Paris einen regelrechten „Boom“ auslöste. Reicha versteht es in diesen Quintetten den jeweiligen Instrumenten gemäß ihrer Eigenart und Möglichkeiten sozusagen die Melodien und damit natürlich auch die Harmonien  „auf den Leib zu schneidern“. Oft stellt er die höchsten Register der Flöte den tiefsten Lagen im Fagott gegenüber. Natürlich sind die Melodien von der Klassik beeinflusst, aber die häufige Verwendung auch höchster oder tiefster Lagen, sowie die Einbeziehung der Chromatik in den Melodien, oder Tonartenwechsel innerhalb eines Satzes weisen durchaus darüber hinaus in den Beginn der romantischen Tonsprache eines Car Maria von Webers zum Beispiel.

Die Quintette sind klassisch viersätzig, eine Ausnahme bildet nur das sehr schöne Adagio „pour le cor anglais“ in d-moll, wo eben statt der Oboe ihre tiefere Variante, das Englischhorn, seine Farbe dazu gibt. In jedem Stück weist Reicha den verschiedenen Instrumenten neben melodischen Anteilen auch begleitende Funktion zu, und das Staunen, dass das (damals) ventillose Horn diese Aufgabe bestens erfüllt, ist nicht gering. Im großen Ganzen ist es ein Genuss, der Farbigkeit dieses Ensembles zu lauschen., das 2013 Gewinner eines Wettbewerbs in York war. Wenn ich mir nicht ab und an etwas mehr Gelassenheit und Ruhe in einzelnen Sätzen gewünscht hätte, aber das ist eine Crux, die fast allen wohlausgebildeten Musikerinnen und Musikern eignet: Sie können sich nur schwer in das Zeit- bzw. Lebensgefühl der damaligen Zeit hineinversetzen, in der bald darauf die ersten Eisenbahnen mit ihren anfangs 8 km/h für medizinische Warnungen vor Herzinfarkten und anderen Gebresten sorgten, die bei solcher Geschwindigkeit unweigerlich einträten… Sie hatten eben weder Fernsehen noch Internet, weder Auto oderFahrrad noch Telefon oder Handy, und ein galoppierendes Pferd mit seinen maximal 36 km/h war das Höchste an Geschwindigkeit und das auch nur maximal zwanzig Minuten lang.

Abgesehen von dieser – unserer schnelllebigen Zeit geschuldeten – Manier ist diese CD eine wahre Be-„Reicha“-rung der Musikwelt und zeigt wieder einmal die vorzügliche Aufgabe, die der Tonträger haben kann und hat, wenn wir ihn intelligent zu nutzen verstehen.

[Ulrich Hermann, Dezember 2015]

[The New Listener international:] Well-known and unkown music personalities

The anniversary concert of the Blutenburg Kammerphilharmonie München orchestra had Haydn’s final symphony No. 104 in D major, also known as the “London” symphony, and Egon Wellesz’s first symphony in C major, Op. 62 in its programme. On the evening of 25 October 2015, Jörg Birhance, conductor from the founding years, took up the baton again for the 10th anniversary concert in Maria-Ward-Straße 5, near Nymphenburg Palace in Munich.

The Blutenburg Kammerphilharmonie München selected a very daring programme on various levels for its anniversary. Will the audience like the unknown symphony awaiting its third performance on this evening? And will the orchestra manage to rise to the occasion of this musical battleship that even demands an intense period of preparation from professional orchestra players? The symphony Op. 62 with its first and last movement in c minor ending in C major and the second movement in g minor is, no doubt, one of the greatest challenges for the musicians and the conductor. The prima facie seemingly pompous first movement, if approached superficially with its catchy theme, reveals unforeseen dense and intricately channelled lower voices. Understanding and then also conducting these intricacies is a virtual Sisyphean challenge. The second movement comes up with perpetual quintuplets, demanding utmost virtuosity and finesse from all parties. The finale, that seems like the Abgesang of all previous hustle and bustle and simultaneously contains major points of culmination, opens up completely new spheres of sound; it could obviously be reminiscent of Mahler‘s later work or of Bruckner’s ninth, albeit more cohesive in terms of formality and more concise than Mahler thanks to its brevity. This is where the whole cast of brass comes into play, filling the stage with four French horns, three trumpets and trombones each, and a tuba. The reason why Wellesz’s outstanding first symphony, as well as the composer himself are still unknown remains a true enigma. Wellesz, who can boast excellent teachers both in musicology with Guido Adler and in composition with Arnold Schönberg, completed nine symphonies (how could it be otherwise!) in spite of entering into the genre quite late (he was almost sixty); at this stage, however, he had already written a large volume of orchestral work and operas, and a plethora of chamber music. As an expert in Byzantine music and even though he studied with Schönberg, Wellesz’s style was by no means dedicated to dodecaphony; instead, he concentrated on a highly interesting and still very appealing free tonality, appearing in all possible textures thanks to his exceptional orchestration gift. The first symphony was performed two years after its completion by Sergiu Celibidache and the Berlin Philharmonic Orchestra in 1947, followed one year later by Joseph Krips and the Wiener Symphoniker; this is where the history of reception ends, apart from one rather poor CD recording that was neither preceded by a proper performance nor by proper rehearsals – to this very day!

All in all, the Blutenburg Kammerphilharmonie München gave a strikingly superior performance. Of course one could find the odd inaccurate tone, asynchronicity or little squeaks few and far between; in general, however, the overall performance of this amateur orchestra was outstanding. The great man of the evening, however, was Jörg Birhance, who founded the orchestra in 2005 and conducted it until 2011. His distinctive work with the orchestra can be felt in every single bar of music, redeeming with a consciousness for chamber music all the instrumentalists‘ technical imperfections. What he as a conductor can make of the orchestra is nothing less than astounding! His air in his generous gesture of Haydn is very clear and reveals the symphony‘s form in all its clarity; even the compositional intricacies of the master’s last symphony become very clear. With Wellesz, he places an emphasis on the multitude of lower voices of which a considerable proportion is exquisitely balanced in texture, again allowing the shape to become perfectly sculpted: The fugue in the middle of the first movement commences with such clarity, leaving no doubt it could have been otherwise. In contrast to Haydn, that seemed to be easier, the enormous efforts of rehearsing are clearly discernible in this first movement and reap a bountiful harvest with even more precise intonation in spite of all difficulties. The second movement is particularly captivating and diverse with repeated pleasant surprises. For those who were not inclined to take their hats off to the orchestra earlier, this point definitely was the most compelling; the quintuplets pearl in an impressively clear manner and the askew and seemingly free-tonal voices are arranged at a high level with freed expression. It is last but not least the conductor to whom we should take off our hats after this modern and seemingly most peculiar movement of the symphony – the well-nigh folly of rhythmical polyphony and the interchange of the main voice between four instruments sometimes in each bar is revealed in splendid precision. Even the surprising twists appear spontaneous and fresh, new acoustic landscapes emerge unexpectedly and disappear in the same way they appeared. Unfortunately, an outbreak of audience coughing disturbed the third movement; the conductor and the Kammerphilharmonie, however, remained concentrated and provided a dignified finish to this great work.

It is a striking charisma with which Jörg Birhance steps in front of the orchestra, creating the central point of concentration ab initio. Once he has found his way into the happening, he remains “one” with the soundscape, leading his musicians in a suggestive manner. Birhance conducts with perfected technique, standing tall with a sophisticated beat that principally emerges from his elbow and sometimes expands to the entire arm and shoulder with which he inadvertently picks up the instrumentalists and joins them in unison. His actions are fully dedicated to music and his profound devotion to the works of music can be felt in every single moment.

It is merely two questions that have yet to be answered after this evening: Why is Egon Wellesz still so fameless in view of such impressive work that is still catchy in spite of free tonality and would surely appeal to many people? And why has Jörg Birhance not fared better than the master whom he favours with such devotion? Even after so many years of excellent work, Jörg Birhance is still only known among experts. He conducts small orchestras and amateurs instead of well-known orchestras where he would – no doubt – more than enrich their selection of programmes and range of expression.

[To the german review of this concert]

[Oliver Fraenzke, October 2015 / Translation: Remains anonymous]

Wenn die Engel singen

OUR Recordings 6.220615 (Vertrieb Naxos); EAN: 7 47313 16156 0

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Europäische Weihnachtslieder vom 13. bis zum 18. Jahrhundert aus vielen Ländern wurden von Michael Bojesen zusammengetragen und arrangiert für die Besetzung Chor und Blockflöte. Er dirigiert das Danish National Vocal Ensemble mit der Blockflötenvirtuosin Michala Petri.

Keine andere Zeit des Jahres verbinden wir heute so sehr mit Gesang wie die Zeit um Weihnachten, die Feier zur Geburt Christi. Schon in den frühesten Choralsammlungen sind immer wieder Adventsgesänge zu finden; Das Kirchenjahr beginnt mit dem 1. Advent, der stets mit dem berühmten „Ad te levavi“ eingeläutet wird. Doch nicht nur in der Kirche gehört der Gesang zu Weihnachten, auch im Bereich der Volksmusik ist er wesentlicher Bestandteil dieser Zeit der Feierlichkeit, und uns sind zu diesem Anlass aus vielen Ländern unzählige Melodien und Texte überliefert.

Siebzehn dieser Weihnachtslieder nahm sich der Dirigent Michael Bojesen für diese Anthologie vor, wofür er baskische, franziskanische, tschechische, englische, holländische, deutsche, polnische und französische Lieder sowie solche aus den „Piae Cantiones“ auswählte. Diese, mit einer Entstehungszeit zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert, bearbeitete er für sein internationale Reputation genießendes Danish National Vocal Ensemble und Michala Petri, die berühmte Blockflötistin, die sowohl in alter als auch in zeitgenössischer Musik zu Hause ist und bereits über 150 Werke uraufgeführt hat. Die Bearbeitungen von Michael Bojesen sind äußerst vielseitig, gut abgestimmt und können die herrlichen Volks- und Kirchenmelodien gleichzeitig pietätvoll untermalen wie auch durch die Vielstimmigkeit bereichern. Der Chorsatz ist mit sichtlicher Erfahrung und Geschick gesetzt, alle Stimmen haben ihre besonderen Einsätze und wechseln sich in der Führung ab. Manch ein polphon versetzter Stimmeinwurf lässt aufhorchen, und zu keiner Zeit läuft die Musik Gefahr, zu langweilen durch einen gleichförmigen oder nichtssagenden Satz. Nicht weniger kunstvoll ist die Soloflöte Michala Petris eingewoben, die sich trotz des natürlich immer hervorstechenden Instrumentaltons erstaunlich gut in die Chorstimmen integrieren kann, sie auch teils solistisch umspielt und mit einem lamettaartig feinen Hauch versieht. Auch manch einen solistischen Auftritt gibt Michael Bojesen seiner grandiosen Blockflötistin.

Das Danish National Vocal Ensemble, bestehend aus fünf Sopran- und vier Altstimmen, sechs Tenören und fünf Bässen, die im achtstimmigen Chorsatz jeweils zweigeteilt auftreten, besticht mit größter Sauberkeit und einem sehr entspannten, ruhigen Ton. Zu keiner Zeit lassen sie sich die Schwierigkeiten der teils vertrackten Stimmpolyphonien vernehmen, nie kommt Hektik und Unsicherheit auf. Ob alle Stimmen am aktiven melodiösen Verlauf beteiligt sind oder ob die einen Sänger eine solide Basis bilden, über der andere frei schweben können, ist in dieser Hinsicht vollkommen gleich, stets singt jeder Mitstreiter mit höchster Inbrunst und Freude an der Musik. Der gesamte Chor wirkt trotz der geringen Stimmenzahl sehr robust und stabil mit großem Volumen und reicher Fülle. Sehr angenehm ist auch die gute Textverständlichkeit ohne die so zur Mode gewordene Überakzentuierung eines jeden Konsonanten. Der Arrangeur Michael Bojesen tritt hier auch als Dirigent auf und hält sein Werk zusammen. Er erreicht erstaunliche Synchronizität und achtet auf genaueste Abstimmung seiner Sänger, darauf, dass stets die zentralen Stimmen im Vordergrund stehen, ohne dass die anderen Linien im Hintergrund verloren gehen, auch schafft er ein tragfähiges Kontinuum des Spannungsverlaufs, das in einem großen Bogen jedes Stück zusammenhält.

Eine besondere Rolle kommt natürlich Michala Petri mit der Blockflöte zu. Ihre ergänzende und ausschmückende Position als einzige Instrumentalistin verlangt einiges von der Dänin, indem sie ihre Flöte auch sehr sängerhaft einzusetzen hat, um nicht aus dem Gesamtkonzept zu fallen. Ihre Stimme passt sich nun wunderbar in das Gesamtbild herein, sämtliche virtuosen Höchstschwierigkeiten auf ihrem Instrument lässt sie locker vergessen. Es klingt tatsächlich so, als wäre die Blockflöte untrennbar mit diesen alten Melodien verbunden und als hätte es nie eine andere Möglichkeit gegeben, den Chor zu verzieren. Der Hörer wird kein anderes Instrument vermissen und beglückt sein über die zarte Blockflöte, die sich über dem stimmungsvollen Chor zu freudigen Höhenflügen hinreißen lässt.

„Let The Angels Sing“ ist eine durch und durch empfehlenswerte CD für alle, die auch einmal andere Melodien zu Weihnachten zu hören wünschen als diejenigen, die eh jedes Jahr rauf und runter gespielt werden, auch wenn auch hier das eine oder andere Lied durchaus nicht unbekannt ist. Es ist eine schöne Sammlung unterschiedlichster Stücke aus verschiedenen Ländern und Epochen, dargeboten von einem wahren Spitzenensemble. Nach dem Hören dieser CD ist für mich klar, was es dieses Jahr beim Zusammensein um den Weihnachtsbaum als musikalische Begleitung geben wird.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2015]

Weihnachten auf hohem Niveau

audite 95.741; ISBN: 4 022143 957412

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Kürzlich erschienen bei Deutschlandradio Kultur Mitschnitte der 1950er- und 60er Jahre mit Weihnachtsliedern aus aller Zeit, gesungen von Größen dieser Zeit wie Dietrich Fischer-Dieskau, Rita Streich, Elisabeth Grümmer, Erna Berger und vielen mehr.

Bereits zum zweiten Mal veröffentlicht das Label audite eine CD, die Weihnachten mit historischen Aufnahmen zelebriert – nach „Stille Nacht“ mit dem RIAS Kammerchor unter Uwe Gronostay. historisch insofern, als auch hier Beiträge zum Fest der Liebe aus den Aufnahmestudios der RIAS, aufgenommen 1972 bis 1986, herausgegeben wurden.

Nun, in der vorliegenden Sammlung, geht das Label noch zwei Dekaden weiter zurück und präsentiert Weihnachtslieder und –duette aus den Archiven zwischen 1950 und 1964. Allgemein ist erstens zu loben, dass RIAS und audite trotz der großen zeitlichen Distanz hier eine hervorragende Aufnahmequalität vorlegen können. Schließlich waren die Bedingungen zur Herstellung eines Mitschnittes so kurz nach dem Krieg nicht gleich die besten, wie man dem schönen und bewusst kurz gehaltenen Booklettext von Rüdiger Albrecht entnehmen kann. Und zweitens kommt, trotz einiger zeittypischen musikalischen Manierismen, keine falsche Nostalgie oder gar Schwulst auf, was sowohl der behutsamen Bearbeitungspraxis der Lieder als auch kompetenten Künstlern zu verdanken ist. Und drittens sind auf dieser CD die bloße Ansammlung heutiger Weihnachtsdauerbrenner wie Jingle Bells und deren abgestumpfter Varianten vergeblich zu suchen! Vielmehr finden sich neben den volkstümlichen Liedern (darunter natürlich auch bekanntere wie Es wird schon gleich dunkel) einige Neuentdeckungen (wie das Duett Christlied von Johann Friedrich Reichardt) oder moderne Eigenschöpfungen wie Stille Nacht von Charlotte Kaufmann – nicht zu verwechseln mit dem populären Lied aus dem Salzburger Lungau.

Den Anfang macht das Hendel-Quartett (unter dessen Primarius Georg Friedrich Hendel) mit der Altistin Annelies Westen. Sehr stimmbetont, bisweilen etwas altlastig, aber mit Einfühlungsvermögen und dezenter Streicherbegleitung sind es vier Marienlieder (wie auch Maria durch ein’n Dornwald ging), die in die besinnlich-kammermusikalische Thematik der CD einführen. Zeitbedingt wohl mögen die leichten Silbenschleifer sein, die daraufhin Maria Reith sich in Maria auf dem Berge in ihrer Darbietung leistet, dennoch ist auch sie weit weg von glattem Perfektionismus und singt dezent emotional und nuancenreich. Ein bisschen an Elisabeth Schwarzkopf erinnert Gunthild Weber mit ihrer Stimmfarbe in den beiden darauffolgenden Wiegenliedern, und auch sie singt sehr lyrisch. In den bereits erwähnten Liedern von Christine Kaufmann weiß die junge Rita Streich die moderne harmonische Färbung mit einem hochsensiblen, elegischen Ton sehr stimmig zu erfassen. Spätestens bei den folgenden vier Duetten mit Ursula Lüders (Sopran) und Josephine Varga (Alt) sollte zu hören sein, wie kunstvoll die damaligen Arrangeure wie Albert Becker bekanntere Weihnachtslieder wie Joseph, lieber Joseph mein bearbeitet haben, ohne jemals deren schlichten Charakter zu entstellen. Wie bei dem Niveau der vorhergehenden Nummern zu erwarten, stimmt auch hier im Wesentlichen alles, vor allem die stimmliche Chemie zwischen beiden Sängerinnen.

Sind die Lieder der ersten CD-Hälfte bislang auf kammermusikalische oder Tasten-Begleitung beschränkt gewesen, so erklingt in Das himmlische Menuett erstmals ein Orchester, hier das Radio-Orchester Berlin unter dem legendären Fried Walter. Rüdiger Albrecht bezeichnet dieses Orchesterlied als „ein Kuriosum. Es zeigt uns tanzende Engel im Himmelssaal, die das Jesuskind zu freudigsten Sprüngen animieren.“ Auch wenn es sich bei diesem Tanz um eine Ausnahme handelt, was die Liedgattung anbelangt, so kommt doch selbst hier ein eher liedhafter Charakter zum Vorschein. Obgleich der Text sehr süßlich und naiv erscheint, weiß zum einem der Komponist Mark Lothar dank erlesener, leichter Instrumentierung Kitsch zu umgehen, zum anderen schafft Erna Berger mit ihrem gleichermaßen kräftigen wie kindlichen Sopran eine feinsinnige Balance zwischen Leichtigkeit und verhaltenem Ernst. Danach folgen wieder etliche Lieder, die sich der Betrachtung des Jesukindes widmen. Dementsprechend erklingt wiederum spärliche Begleitung, wie zum Beispiel zurückhaltende Lautentupfer, mit denen Gerhard Tucholski Margot Guilleaume in zwei Wiegenliedern begleitet. Die Stärke dieser beiden Beiträge liegt neben der Schmucklosigkeit in der Textverständlichkeit.

Deutlich farbiger sind die weiteren Nummern, die Walther Ludwig und dem jungen Dietrich Fischer-Dieskau, der dieses Jahr 90 geworden wäre, vorbehalten sind. Für eine pastorale Atmosphäre sorgen in Kommt all herein, ihr Engelein ausgesuchte Instrumente wie Fagott und Englischhorn nebst drei Streichern, während Ludwig dieses Idyll mit seinem etwas zu ausgeprägten Heldentenor dominiert. Ausgeglichener und schlichter, dafür zäher im Fluss klingt er in O Jesulein mild, o Jesulein zart. Der unverkennbare Ton Fischer-Dieskaus bestimmt drei weitere Beiträge, stets begleitet vom Streichquartett Berlin (Primarius: Rudolf Schulz). Obgleich der berühmte Bariton schon hier künstlerische Reife erlangt hatte und den Liedern eine wehmütige Schönheit verleiht, entsteht durch sein Timbre und seinen betonungsstarken Textvortrag ein etwas pathetischer Eindruck, der der weihnachtlich-schlichten Atmosphäre einen einigermaßen hölzernen Beigeschmack verpasst.

Dafür überzeugen wieder die kammermusikalischen Arrangements von Von Himmel hoch, ihr Engel kommt und Es ist ein Ros entsprungen, die ihre Lieblichkeit den beiden Blockflöten und dem lyrischen Sopran Elisabeth Grümmers verdanken. Die letzten drei Nummern dürfen zwei Klangkörper des RIAS der frühen 1960-Jahre bestreiten. Zunächst begeistert das Studioorchester mit einer luziden Version Herbert Baumanns von Ave Maria zart, du edler Rosengart. Bei so vielen Sopranen könnte es zwar schwerfallen, individuelle Künstler zu erkennen, doch selbst Lisa Otto, die letzte neue Sängerin auf dieser CD, überzeugt in nur zwei Minuten völlig dank ihrer unaufgeregten Stimme und Tongebung. Das Unterhaltungsorchester des Studios, wiederum mit Rita Streich, schließt direkt an. Die Überraschung ist hier, dass ein einziges Mal ein deutlich größeres Orchesteraufgebot erklingt, vor allem in der Einleitung zu Süßer die Glocken nie klingen. Jedoch bleibt auch hier die Singstimme im Vordergrund und Streich beweist ihre stimmliche Bandbreite im Unterschied zu ihrer Darbietung der Kaufmann-Lieder. Einen würdigen Abschluss mit den gleichen Künstlern bereitet eine feine Version des sonst eher monumentalen Lutherliedes Vom Himmel hoch.

Eine wunderschöne Weihnachtslieder-Sammlung, die durch ihren Facettenreichtum und ihren durchweg weihnachtlichen und zarten Charakter begeistern dürfte. Erfreulich ist zumal die Tatsache, dass all die genannten großen Sänger von damals trotz ihres vollen Terminkalenders Zeit fanden, ihre Musikalität in den Dienst des Christfestes zu stellen. Eine musikalische Bereicherung nicht nur für den Heiligen Abend !

[Peter Fröhlich, Dezember 2015]

300 Jahre Louis XIV

Le Concert Royal de la Nuit

Ensemble Correspondances
Sébastien Daucé

Harmonia Mundi HMC952223.24
3 149020 222379

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Die CD beschert uns regelmäßig Neuentdeckungen oder Wiederaufführungen vergessener oder verschollener Werke. So weit, so gut, dafür ist sie das geeignete Medium. Ob das allerdings auch für die hier vorliegende Scheibe in jeder Hinsicht gilt, ist eine Frage. Im Februar 1653 – kurz nach den Aufständen der Fronde in Frankreich –  erlebte ein eindrucksvolles höfisches Schaustück der frühen Regierungszeit Ludwigs XIV. im Louvre seine Uraufführung: das Ballet Royal de la Nuit. Sogar der König selbst im zarten Alter von 15 Jahren tanzte daselbst mit – als Sonnengott, als Verkörperung seiner umfassenden eigenen Macht.
Über dieses Riesenprojekt gibt das fast 200 Seiten umfassende „Booklet“ erschöpfend und mit unzähligen Bildern geschmückt in fünf verschiedenen Sprachen Auskunft. Welch ein Aufwand für die zwei dazugehörigen CDs des Ensembles Correspondances aus Grenoble, das  Sébastien Daucé gegründet hat und leitet.
Die Musik stammt wie das Libretto von damals sehr bekannten Autoren, die allerdings heute mehr oder weniger vergessen sind und nur den Spezialisten der Alten Musik etwas sagen dürften. Nun gut, es kommen ja in den letzten Jahren erstaunliche Meisterleistungen wieder zum Vorschein – ob berechtigt oder nicht, ist für den, der sich damit beschäftigt, nie die erste Frage. Und Sébastien Daucé hat sich damit sehr ausführlich befasst, das zeigt diese Produktion ganz klar.
Er und seine MusikerInnen und Musiker versuchen, einen der großen Momente der französischen Geschichte wiederauferstehen zulassen, als um 1653 die Zeit des „Sonnenkönigs“ eben erst begonnen hatte, die ja zu den Höhepunkten der Histoire Française gehört. Ob allerdings – trotz oder gerade wegen  – des bilderreichen, umfassenden beigegebenen Booklets die CD dafür der geeignete „Rahmen“ ist, bleibt zu fragen.
Warum nicht die ganze „Arbeit“ verbinden mit einem Fernseh-Feature, sei es mit der Aufnahme, sei es als eigene Produktion. (Wie es Cecilia Bartoli mit „The Mission“ bei Arte wunderbar gelungen ist: Auch da gibt es ein massives Booklet zur Scheibe.)
Und wenn „nur“ die Musik erklingt, dann doch bitte mit der Intensität und Lebendigkeit eines Jordi Savall oder eines der beispielhaften Ensembles für Alte Musik. Ansonsten bleibt diese Kunst – wie auch auf diesen beiden CDs – seltsam blass und als bloßes historisches Dokument zu unergiebig und zu belanglos. Denn Bilder schöner Kostüme und die dazugehörigen Tanzposen ersetzen nicht die tänzerische und musikalische Wirklichkeit, die dieses Ereignis ja damals – und mit geeigneter Umsetzung auch heute –haben konnte und noch haben könnte.

[Ulrich Hermann, Dezember 2015]

Die Reise zu Busch geht weiter

Adolf Busch (1891-1952)
Kammermusik CD 2
Bettina Beigelbeck
Busch Kollegium Karlsruhe

Toccata Classics  TOCC0293
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Divertimento für Klarinette, Oboe und Englischhorn op.62b (1944)
Sonate in A-Dur für Klarinette und Klavier op. 54 (1939, rev. 1940)
Suite in d-Moll für Klarinette solo op.37a (1926)
Hausmusik: Duett No. 2 für Violine und B-Klarinette op.26b (1921)
Fünf Kanons in Unisono für drei Instrumente, BoO 60 (1949)
Hausmusik: Deutsche Tänze für B-Klarinette, Violine und Violoncello op.26c (1921)

Mit der zweiten CD mit Kompositionen von Adolf Busch – den meisten nur als einer der überragenden Geiger des 20. Jahrhunderts bekannt – füllen Bettina Beigelbeck und das Kollegium Karlsruhe eine weitere Lücke im Schaffen des als Komponist immer noch allzu unerschlossenen Geigers, neben Fritz, Hermann, Willi und Heinrich der genialste von fünf Brüdern.
Es beginnt mit einem sehr aparten, sechssätzigen Divertimento für Klarinette, Oboe und Englischhorn aus dem Jahr 1944, als Adolf Busch längst nach Amerika ausgewandert war und dort eben mit anderen Kollegen seine Projekte realisierte. Die seltene Besetzung der drei Holzbläser vereinigt aufs Schönste die verschiedenen Klangfarben, die Themen sind sowohl vom Melodiösen als auch vom Rhythmischen her kleine Kostbarkeiten. Wobei das dunkelgetönte Englischhorn die Bassfunktion hat. Zum Abschluss wird der erste Satz noch einmal wiederholt und gibt so dem ganzen Stück eine  gelungene zyklische Struktur.
Die 1939 entstandene und 1940 revidierte Sonate für Klarinette und Klavier, die Busch auch seiner Freundschaft mit dem englischen Klarinettisten Reginald Kell (1906-1981)
„verdankt“, wie auch seinem legendären Duo-Partner und Schwiegersohn Rudolf Serkin (1903-1991), ist ein Schwergewicht in drei Sätzen und dauert auch fast eine halbe Stunde. Bettina Beigelbeck und der Pianist Manfred Kratzer spielen das Allegro ma non troppo, das Scherzando vivace und das Grave, Adagio espressivo e cantabile, Allegretto, Molto Allegro – quasi presto mit der entsprechende Hingabe und lassen diese Komposition als ein Hauptwerk für diese Besetzung aufscheinen. Beiden Partien sind alle möglichen virtuosen und umfassend musikalischen Schwierigkeiten einkomponiert, die aber den melodischen und musikalischen Fluss niemals stören oder zum Selbstzweck werden. Die Kombination Klarinette und Klavier hat ja durchaus schon längere Tradition, man denke an Schumann oder an Saint-Saëns, Draeseke, Reger und andere.
In der Suite in d-Moll für Klarinette solo wünschte ich mir noch mehr Gelassenheit und befreiten linearen Fluss, der den Intervallen, die ja auf der Klarinette vollkommen mühelos zwischen Extremlagen springen können (ein besonderes Merkmal dieses so wundervoll singen-könnenden Instruments), mehr Gerechtigkeit widerfahren ließe. Sie sind ja doch das A und O dieser viersätzigen Suite, die mich  daran erinnert, dass auch Igor Strawinsky (1882-1971) drei Stücke für Klarinette solo komponierte, die ich einmal mit Ralph Manno (geb. 1964) in staunenswerter Aufführung hörte.
Dass Adolf Busch den Terminus „Hausmusik“ und Stücke dieser Art nicht verschmähte, war schon bei der nicht weniger lohnenden ersten CD mit Kammermusik mit Klarinette zu hören. Auch hier stehen vier Duette für Klarinette und Violine, von 1921, an. Wieder  die berührende Melodik zweier sehr gut zu einander passenden Instrumente, die diesen Stücken eine Leichtigkeit geben, die zum Nachspielen durchaus reizt. Es mag Hausmusik sein, allerdings auf hohem Niveau.
Auch die fünf Unisono-Kanons für drei Instrumente von 1949 –neben der Klarinette sind auch zwei Oboen mit von der Partie –, als Geschenk zu Weihnachten für Buschs zweite Frau Hedwig (1916-2006) komponiert, sind Hausmusik im eigentlichen Sinne, jedoch gespickt mit Herausforderungen, sowohl was das Zusammenspiel als auch was die technischen Schwierigkeiten anbelangt.
Auch als „Hausmusik“ deklariert sind die Deutsche Tänze aus dem Jahr 1921, das für Busch sowieso ein wichtiges war, denn zum ersten Mal ging er da zu Aufnahmen ins Schallplattenstudio. Außerdem entstand damals sein Violinkonzert a-Moll.
Mit einem „gemütlichen“ Walzer beginnen sie, sehr “groovy“, ein wunderschönes Stück für die drei Instrumente. Der Walzer führt dann unmittelbar in ein humoristisches Vivace über, das wiederum von einer Walzer-Reminiszenz abgelöst wird, der ein poco tranquillo folgt und melancholische Töne bringt, die allerdings schnell einer erneut walzerseligen Stimmung weichen. Äußerst hörenswert, durchaus auch wieder zum Nachspielen reizend, ist diese kleine Folge von fast biedermeierlichen und durchaus nicht im Tiefsinn versinkenden Tänze.
Also nicht nur als phänomenaler Geiger, dessen Beethoven- und Mozart-Einspielungen bis heute Gültigkeit haben (neben unzähligen anderen Aufnahmen, die Adolf Busch auch einmal zusammen mit seinem Bruder, dem Dirigenten Fritz Busch, machte), ist Adolf Busch eine Erscheinung von Ausnahmerang, und es wird Zeit, dass er auch als Komponist seinem Rang entsprechend wahrgenommen wird, wofür die ausgezeichnete Klarinettistin Bettina Beigelbeck und ihre vortrefflichen Mitstreiter nun eine wahrhaft scharf geschliffene Lanze gebrochen haben. Beide CDs (Nr. 1 und 2) sind ein bravouröser Beginn und lassen auf Weiteres nachdrücklich hoffen.

[Ulrich Hermann, Dezember 2015]

[Rezensionen im Vergleich 3c] Über das unergründliche Leben von Jean Sibelius

ISBN: 978-3-89487-941-9 (Henschel), 978-3-7618-2371-2 (Bärenreiter)

Die zweite Buchpublikation von Volker Tarnow führt den Leser zu Finnlands bekanntestem Komponisten Jean Sibelius. Auf 288 Seiten erläutert der Autor für Henschel Bärenreiter das lange und vielseitige Leben des Nationalkomponisten, gibt Einblicke in dessen Werk und verschafft einen Überblick über das aktuelle Zeitgeschehen.

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Zweifelsohne gehört Jean Sibelius zu den besonders unergründlichen Komponistengenies sowohl des späten 19. als auch des 20. Jahrhunderts. Das lange Leben des Komponisten, vom 8. Dezember 1865, vor exakt 150 Jahren, bis zu seinem Tod am 20. September 1957, ist uns bis heute in vielerlei Hinsicht ein großes Rätsel voller Unklarheiten und Spekulationen. Wie beginnt die musikalische Laufbahn von Johan Julius Christian Sibelius, der später nur noch Jean oder Janne genannt wird, bis er plötzlich seinen monumentalen Kullervo ans Licht der Welt bringt? Wieso verwirft er diesen Koloss direkt wieder und lässt ihn bis nach seinem Lebensende in Vergessenheit geraten? Welch einen starken Wandel vollzieht seine Musik und markiert ist jede der sieben Symphonien einen von Grund auf vollkommen neuen Stil? Wieso vernichtet er schließlich seine achte Symphonie und warum veröffentlicht er Jahrzehnte lang nicht ein einziges weiteres Werk? Diesen Fragen über das gewaltige Schaffen des Nationalhelden und vielen weiteren um unter anderem Leben, Gewohnheiten, Familie, Ängste oder Zwänge widmet sich Volker Tarnow in seiner neu erschienenen Biografie „Sibelius“.

Tarnow gliedert sein Buch in neun Kapitel, die für ihn die verschiedenen Lebensabschnitte charakterisieren mit den Titeln „Das klassische Niemandsland“, „Aus dem wird was“, „Karelische Träume“, „Freiheit für Finnland!“, „Sinfonie des Südens“, „Innere Stimmen“, „Thors Hammer“, „Die Schatten werden länger“ und „Beredtes Schweigen“. Auch wenn diese Einteilung nicht direkt auf sein kompositorisches Schaffen abgestimmt erscheint, ergibt sich hier doch eine gewisse Stringenz und Sinnhaftigkeit dieser Ordnung, die sein Leben von frühester Kindheit unter Einbezug seiner familiären Geschichte bis zu der langen Schaffenshemmung zum Ende seines Lebens umfasst.

Volker Tarnow schreibt in einem äußerst flüssig lesbaren Stil, seine Wortwahl ist fein abgestimmt und von hohem feuilletonistischen Wert, wird dabei zu keiner Zeit unverständlich oder übermäßig elitär. In dieser Schreibart, die seine langjährige Erfahrung im Bereich des Musikjournalismus widerspiegelt, ist immer wieder Platz für gut angebrachten Charme und Humor, so dass der Leser ein um’s andre Mal ins Schmunzeln gerät angesichts der trefflichen Formulierung. An vielen Stellen gelingen sprunghafte Übergänge von einem Thema zu einem anderen, wo dies als Erläuterung für Folgendes von Nöten ist, ohne dass diese Sprünge sonderlich auffallen, womit eine gute Durchgängigkeit des Leseflusses gewahrt wird trotz wechselhaft beschrittenen Stoffgebiets.

Es steckt eine enorme Recherchearbeit in dieser Biografie, was schnell ins Auge fällt. Nicht nur, dass Volker Tarnow eine ungeheure Menge an Informationen über das Leben und Wirken von Jean Sibelius in seine Biografie packen konnte, sondern auch über alles drum herum. Politische Entwicklung, Verbindungen zu etlichen anderen Künstlern seiner Zeit und interessante Hintergrundinformationen finden ebenso ihren Platz. Besonders eingegangen wird unter anderem auf die Geschichte Finnlands, dessen Erlangung der Unabhängigkeit und die Kriege, die Sibelius miterleben musste. Von des Meisters Gewohnheiten interessiert sich Volker Tarnow vor allem für seinen gehobenen Lebensstil, der besonders in Form von Alkohol und Zigarren einen roten Faden durch die gesamte Schaffenszeit des Komponisten zieht, sowie seinen ewigen Drang zum Reisen und die damit verbundene Vernachlässigung seiner familiären Pflichten. Besonders spannend für den Leser ist, dass Tarnow neben den großen Hauptwerken auch auf die vielen eher unbekannten Stücke von Jean Sibelius eingeht, die normalerweise nicht im Konzertsaal zu hören sind, besonders auch auf die frühen Werke aus Studienzeiten. Somit ergibt sich ein erzählerisches Kontinuum in der Frage um den Stil Sibelius‘, was anhand der großen Werke alleine unmöglich darzustellen wäre.

Eine inhaltliche Schwäche der Biografie sind hingegen die Erklärungen musiktheoretischer Grundlagen: Der Autor scheint nicht davon auszugehen, dass der Leser Begriffe wie „Sonatenhauptsatz“ oder „Sinfonie“ kennt und versucht, diese möglichst ohne Voraussetzung irgendwelchen Grundwissens zu beschreiben. Doch diese Erläuterungen misslingen teils phänomenal, weder darf der Eingeweihte hier komplette Richtigkeit der genannten Regelfälle erwarten, noch sind sie für einen Unwissenden wirklich verständlich. Der Sinn dieser teils seitenlangen Definitionen ist höchst fragwürdig, denn diese schränken ganz nebenbei auch die Zielgruppe erheblich ein: Eine Biografie, die so minutiös auf Details eingeht und solche geballte Informationshäufung liefert, wird üblicherweise von Musikinteressierten mit Vorwissen gelesen, denen musikalische Grundbegriffe bereits geläufig sind, die jedenfalls eine Einführung in allgemeine Musiklehre nicht lesen wollen. Diejenigen, die eine solche brauchen würden, werden mit konventionellen Erörterungen ohne Blick auf die dahinterliegenden Prinzipien abgespeist.

Ein zweiter Punkt, der bedauerlicherweise immer wieder die Freude an der Ausführlichkeit und Wortgewandtheit zu trüben vermag, ist die Tendenz, andere Komponisten aus seinem näheren und ferneren Umfeld ständig mit Sibelius zu vergleichen. Während Sibelius immer wieder in alle Himmel gelobt und stets mit Superlativen gerühmt wird, ergeht es vielen anderen herausragenden Musikern hier recht schlecht und sie werden entweder klischeeüberladen in eine Schublade mit Aufschriften wie „komponiert nur in Mundart“ gesteckt oder als unwichtige „Helferleinchen“ des großen Finnen abgestempelt. In einer sachlichen Biografie haben solche Rangordnungsaufstellungen (selbstverständlich mit dem titelgebenden Komponisten als alle übertrumpfende Lichtgestalt) eigentlich nichts verloren und lassen das ein oder andere Mal am Willen zur Objektivität erheblich zweifeln.

Ungeachtet dieser beiden unerquicklichen, da unnötigen und nicht zweckdienlichen Mängel liegt hier eine wirklich hervorragende Biographie vor, die einen tiefen und engagiert persönlichen Zugang zu Jean Sibelius vermittelt. Viel bisher komplett unbeachtetes Wissenswertes floss in Volker Tarnows Werk ein und gibt umfassend und breit gefächert sowohl einen großen Überblick als auch minutiöse Detailauskunft über den großen Finnen. Viele ungeklärte Fragen erhalten einen plausiblen Lösungsansatz, woran Forschung in Zukunft sicherlich gewinnbringend anknüpfen kann. Das letzte Wort zu solch einem Menschen und Komponisten kann wohl nie gesprochen werden, doch anlässlich des Jubiläums sind hier viele Dinge niedergeschrieben, die auch eingefleischte Sibelius-Kenner noch mit einigem Wissen über diesen grandiosen Menschen bereichern können.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2015]