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Mozart und das Horn

Genuin, GEN 18618; EAN: 4 260036 256185

Christoph Eß ist Solist in den vier Hornkonzerten von Wolfgang Amadeus Mozart mit dem Folkwang Kammerorchester Essen unter Johannes Klumpp. Mit seinem Hornquartett german hornsound spielt Eß zudem Trygve Madsens „Invitation to a Journey with Mozart and Four Horn Players“.

Bereits auf anderen CDs widmete sich der Hornist Christoph Eß Mozart und Madsen, und vor allem ihrer Jahrhunderte überdauernden musikalischen Verbindung. Nun spielt Eß alle vier Hornkonzerte Mozarts in Liveaufnahmen ein und rundet die Veröffentlichung durch ein Stück Madsens ab, das auf eben diese vier Konzerte Bezug nimmt, mit vier Hörnern.

Christoph Eß zählt zu den meistgefragten Hornisten und seine Aufnahmen belegen diesen Ruf durch feines, farben- und kontrastreiches Spiel. Entsprechen hohe Erwartungen stellt der Hörer an diese neue Aufnahme, die sich den für Mozart-Werke erstaunlich selten gehörten Hornkonzerten verschreibt. Und umso mehr überrascht es, dass die Darbietungen enttäuschen. Das liegt nicht am Solisten, der sich gewohnt wendig und leichtfüßig durch die Solopartien bewegt und in den Mittelsätzen subtil ausziert; es liegt am Orchester, das sich dermaßen gleichgültig und uninspiriert an die Werke macht, dass selbst eine Solostimme von Eß die Wirkung nicht mehr glattstreichen kann. Die Orchesterstimmen wirken abgehakt und frei all jener subtilen Kontraste, die Mozarts unverbrauchte Musik so einmalig machen. Allgemein nehmen die Musiker die Noten zu kurz und kantig, lassen die herrlichen Streicherstimmen sich nicht entfalten, sondern ersticken den Klang im Keim. Am ehesten kann noch das unvollendete D-Dur-Konzert überzeugen, was aber mehr an der neuen Tonart nach drei Es-Dur-Werken liegt, als an der Darbietung.

Glücklicherweise entschied sich Eß dazu, auch ein Hornquartett Madsens aufzunehmen, das er mit german hornsound präsentiert. Madsen gibt in vier Sätzen vier Hörnern vier Themen aus vier Konzerten; und so humoristisch sich dies liest, so klingt auch das Stück. Mit Witz, aber auch mit gewissem Ernst und Respekt vor dem Meister der Wiener Klassik, nähert sich Madsen den Hornkonzerten auf eine ganz unkonventionelle Art mit seinem feinen Gespür für Harmonik und melodiösem Einfall. Die Stilwelt Mozarts passt sich in die des lebenden Komponisten ein und fusioniert zu einem funktionierenden Ganzen. German hornsound begeistert durch ihr lyrisches Spiel, durch das aktive Hören aufeinander und durch vollen, weichen und strahlenden Klang.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2018]

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Bedrohliches und Humoreskes

Fagottkonzerte von Jolivet, Tomasi, Françaix und Villa-Lobos
Matthias Rácz (Fagott)
Stuttgarter Kammerorchester, Johannes Klumpp

Jean Françaix: Concerto pour basson et 13 archets (1979)
Henri Tomasi: Concerto pour basson et archets avec harpe (1961)
André Jolivet: Concerto pour basson, archets, harpe et piano (1954)
Heitor Villa-Lobos: Ciranda de sete notas für Fagott und Streicher (1933)
Jean Françaix: Divertissement pour basson et archets (1942)

Ars Produktion ARS 38174 (EAN: 4260052381748)

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Vier Französische Konzerte für Fagott und kleine Besetzung – teils nur Streicher, teils ergänzt durch Harfe (Tomasi) oder Harfe und Klavier (Jolivet) – hat Matthias Rácz mit dem Stuttgarter Kammerorchester unter Johannes Klumpp eingespielt, zuzüglich Villa-Lobos’ ‚Miranda de sete notas’ von 1933. Rácz beherrscht sein Instrument in seltener Vollendung, er ist ein wirklicher Erzähler auf dem Fagott, und auch das Virtuose ist bei ihm in besten Händen. Das Fagottkonzert ist – nach prominenten Vorläufern wie Mozart oder Weber – eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts (in der romantischen Epoche hatten die Bläser als Solisten mit Orchesterbegleitung allgemein einen schwachen Stand, wenn man von Webers Klarinettenkonzerten einmal absieht; da ist man schon froh über ein Oboenkonzert von Klughardt, ein Flötenkonzert von Reinecke, das erste Hornkonzert von Richard Strauss). Die Anordnung vorliegenden Programms ist etwas seltsam, indem das mit Abstand unbedeutendste, trivialste Werk am Anfang steht: das Konzert von Jean Françaix von 1979, also auch das am spätesten entstandene. Es ist deshalb etwas peinlich, weil zwar erlesenste technische Fertigkeit von allen Beteiligten gefordert wird, jedoch der Gehalt und die expressive Spannweite nicht über das Niveau von Charlie Chaplin oder Zirkusmusik hinausgeht. Die Ecksätze sind ungefähr so anspruchsvoll wie ‚Mein Hut, der hat drei Ecken’, und so etwas hat schon Darius Milhaud (etwa in ‚Le Bœuf sur le toît’) schon viel besser und origineller gemacht. Einzig der langsame Satz hat eine andere Substanz, doch wird er hier schlicht zu zügig genommen (mit zusätzlichen  Beschleunigungen zwischendurch, die der Komponist nicht vorsah), und irgendwie wissen hier alle Beteiligten nicht so recht, was sie außer Andacht in diese Musik ‚hineininterpretieren’ sollen… Natürlich wusste Françaix genau, was er tat, und hat seine Aufgabe technisch in jeder Hinsicht makellos gelöst, solange wir nicht darauf achten, ob die größere Form irgendwie bezwingend sei. Um wieviel besser ist sein frühes Divertissement von 1942, ursprünglich mit Bläserquintettbegleitung komponiert und damals verloren gegangen, später von Graham Waterhouse rekonstruiert – mit dieser launigen, kurzweiligen Musik klingt die CD so amüsant wie feinsinnig ironisch aus. Man hört: Françaix war ein Mann der kleinen Formen, die beherrschte er vollendet, ob man seine meist absichtlich belanglose Musik mag oder nicht, und für ein Konzert von gut 23 Minuten Länge (in vier Sätzen) reichte die Spannung einfach nicht aus, jedoch sehr wohl für ein gleichfalls viersätziges Divertimento von neun Minuten Dauer. Den Musikern hat jedenfalls beides eine Menge Spaß gemacht, was man auch auf Schritt und Tritt hört, und der untadelige Solist hat seinen durchweg großen Auftritt.
Alles andere hat weit mehr Substanz. Villa-Lobos ist noch zu akademisch europäisch verstanden, da ist vor allem mehr schwereloser Groove drin. Doch muss man in allen Stücken bemerken, wie sehr das Orchester unter Klumpp rhythmisch „auf Zack“ ist. In diesem Werk dominiert das Fagott unangetastet und darf unentwegt singen. Insgesamt eine Freude, das zu hören.
Eine für mich großartige Entdeckung ist das 1961 entstandene Konzert des korsisch-stämmigen Henri Tomasi (1901-71), der vor dem Krieg einige Jahre das französische Radio-Kolonialorchester in Vietnam leitete und später das Orchestre National de France. Heute ist er vor allem durch sein Trompetenkonzert und die Flötenkonzerte bekannt. Er schrieb aber unzählige weitere Konzerte, eigentlich nur das Cello hat er nicht bedacht. Sein Fagottkonzert besticht mit einer unergründlichen Mischung aus Bedrohlichem und Humoreskem, das niemals in jene Gefilde der Belanglosigkeit abgleitet, vor welchen französische Musik gelegentlich nicht sicher ist. Auch die Orchestration ist von erlesenster Finesse, und durch alles führt ein energetischer roter Faden, der die Spannung nicht abreißen lässt. Solist und Orchester meistern die virtuose Faktur mit bemerkenswert präziser Leichtigkeit. In dieser Musik kommen unterschiedlichste Einflüsse zusammen, bis hin zu niemals plakativ zur Schau gestellten Exotismen, und dabei klingt sie stets distinguiert südfranzösisch. Und: sie kreiert einen imaginären ‚Film noir’. Man könnte an Truffauts ‚Geheimnis der falschen Braut’ oder ‚Die Braut trug schwarz’ denken – an jeder Ecke lauert eine unheimlich verführerische und gefährliche Deneuve oder Moreau… Danach dürfte es kaum jemanden geben, der nicht gerne mehr von Tomasi hören möchte.
Die Krone gebührt freilich immer noch André Jolivet für sein grandioses Konzert von 1954. Nur ein Klavier tritt zu Streichern und Harfe hinzu, und was für eine wilde Farbigkeit, was für eine magische Alchimie! Das zweisätzige Werk ist zurecht ein Klassiker geworden, und Matthias Rácz darf nun zu den feinsten Musikern seines Fachs gezählt werden. Es ist aber auch (wie Tomasi übrigens in nicht geringerem Maße) herrlich dankbar für sein Instrument geschrieben. Jolivet schafft es sogar, eine ‚Fuge’ frenetisch obsessiv klingen zu lassen, sozusagen eine Transzendenz des Akademischen mit einer fast schon rohen Schroffheit, einer archaisierenden Auslegung moderner Klangmittel herzustellen. Und er lotet das ganze Spektrum von mystischer Introspektion bis zu frenetischer Überdrehtheit aus. Jazz und Orient begegnen sich hier in einem Geist, der die Abgründe liebt und doch stets eine französische Rationalität auf der Hinterhand hat, die bei aller systematisch betriebenen Enthemmung nicht den Klischees von Pathos, Sentimentalität oder prätensiös neutönerischem Bruitismus aufsitzt. Großartig – wie vieles von Jolivet, das heute fast kein Mensch kennt (man denke nur an seine drei Symphonien, das Klavierkonzert, die Cellokonzerte). Und wieder glänzen alle Beteiligten mit Geistesgegenwart und Präzision. Natürlich gibt es auch Fehlleistungen wie das pompös vierschrötige Ritardando am Ende des ersten Satzes, das überhaupt nicht passt, sondern im letzten Moment den resoluten Charakter sabotiert. Gemessen an dem, was wir kennen, ist es insgesamt jedoch auf sehr hohem Niveau. Das gilt auch für die durchsichtige und ausgewogene Aufnahmetechnik und den Bookletessay, den sich Daniel Knaack und der Dirigent in simuliertem Zwiegespräch teilen.
[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, März 2016]

Lichter aus der Ferne

Ars produktion, ARS 38 157, EAN: 4260052 381571

Northern_lights_cover

Gemeinsam mit dem Folkwang Kammerorchester Essen unter seinem Chefdirigenten Johannes Klumpp erweckt die Geigerin Kathrin Ten Hagen, teils mit dem Bratscher Itamar Ringel als Solopartner, Werke nordeuropäischer Komponisten zum Leben. Es erklingen Kompositionen von Ole Bull, Pēteris Vasks, Kurt Atterberg, Anders Eliasson und Jean Sibelius.

Nach ihren Eastern Impressions erschien die zweite CD Kathrin Ten Hagens mit dem Titel Northern Lights, in welchem die preisgekrönte Geigerin den Hörer mitnimmt auf eine Reise durch diverse skandinavische Tonlandschaften. Was schon im ausführlichen und sehr persönlichen Booklettext von Daniel Knaack (im Gespräch mit beiden Künstlern und dem Dirigenten) anklingt, zeichnet jeden einzelnen Ton dieser Aufnahme aus: Absolute Hingabe, sei es durch tiefste Verinnerlichung oder äußerste Leidenschaft, verbunden noch dazu mit technischer Virtuosität, Perfektion ohne Perfektionismus, selbst in noch so schwierigen Passagen der Werke; kurz, absolute Tadellosigkeit. Allein deshalb verdient die vorliegende Aufnahme eine Würdigung in The-New-Listener.

Neben der spielerischen Qualität als positivem Faktor sind es auch die Vielfalt, die individuell gestaltete Auswahl der Werke und deren kompositorische Reife, die dabei nicht nur die geographische Provenienz gemein haben, sondern auch eine Aura des Geheimnisvollen, Entfernten, frei jedoch von Kälte. Oder in den Worten des Booklets: „die Weite, Unendlichkeit und zugleich unmittelbare menschliche Nähe.“

Der hohe Anspruch eines jeden Werks legt dabei die wochenlange Arbeit der Musiker offen, mit der sie dieses keineswegs selbstverständliche Ergebnis hervorbrachten. Am wenigsten fesselt noch die Eröffnung: Solitude sur la Montagne (oder Sæterjentens søndag) des Norwegers Ole Bull, der dazu eigentlich nur die Melodie schrieb, während sein Zeitgenosse Johan Severin Svendsen den Streichersatz dazu beisteuerte. Dieses dreiminütige Werk, das nicht von ungefähr an Solveigs Wiegenlied von Edvard Grieg erinnert, könnte leicht zum bloßen musikalischen Souvenir verkommen, würden die Musiker nicht daraus eine innige Elegie gestalten.

Als Einstieg eignet sich die Solitude insofern, da sie gleich darauf zum ersten großen Opus dieser Reihe überleitet, zu Vox amoris von Pēteris Vasks. Der lettische Zeitgenosse verbindet in diesem Werk von 2009 einen Hochgesang der Liebe mit einem Hymnus auf die Schöpfung und auf Gott. Insgesamt handelt es sich um ein dreiteiliges Werk, das Transzendenz und Passion bis hin zur Schmerzgrenze verbindet, wobei aber alles eine Einheit bildet, ohne irgendeine hörbare Kluft. Ten Hagen und die Kammermusiker nehmen sich für jede Nuance in Vox amoris Zeit, für jede Entwicklung bzw. Steigerung und verstehen es, dem Werk ein breites Ausdrucksspektrum angedeihen zu lassen, von äußerst zart und weich bis zu herausfordernd intensiv und energisch.

Verhaltener wiederum ist das mittlere Werk, diesmal aus Schweden: Die Suite Nr. 3 op. 19 für Violine, Bratsche und Streichorchester von Kurt Atterberg. Das Sujet, welches Atterberg verwendete, ist belgischer Herkunft, nämlich Sœur Béatrice von Maurice Maeterlinck. Es erzählt die tragische Geschichte einer Ordensschwester, die ihr (privates) Glück in der Welt sucht und dabei ein Martyrium durchläuft. Doch ist Atterbergs Musik bei aller Ernsthaftigkeit keineswegs düster. Sowohl das Prelude als auch die Pantomime haben ihre Basis in den choralartig gesetzten Streichern. Auch hier zeigt das Folkwang Kammerorchester seine musikalische Einfühlsamkeit in der Begleitung. Und die solistische Chemie zwischen Itamar Ringel, bei dem sich jeder Bratscherwitz von selbst verbietet, und Kathrin ten Hagen überzeugt durch gegenseitige Achtung und Gleichwertigkeit. Das gilt natürlich auch für die Vision, laut Booklet eine Art Danse macabre, wo die beiden Solisten stets die Balance halten, eben auch in schnellen Passagen.

Einen äußerlich radikalen Bruch und auch den Höhepunkt der Northern lights bildet das Konzert für Violine und Streichorchester eines anderen Schweden: Anders Eliasson. Obgleich man ihn für ein Enfant terrible halten könnte beim ersten Hören dieser Musik, handelt es sich doch in Wahrheit um ein so kühnes wie ungemein vielschichtiges und konsequent durchstrukturiertes Werk, dessen ersten Satz Allegro con fuoco die Künstler ohne jegliche Ermüdung und unnötige Dramatisierung, aber mit viel Energie und Flexibilität gestalten. Eliasson leugnet gerade hier nie seine frühe Tätigkeit als Jazztrompeter sowie seine komplette kompositorische Unabhängigkeit. Im zweiten Satz Lento zeigt sich die atmosphärische Verwandtschaft zu den übrigen Opera der CD: das Lichterhafte, das Entfernte, das Gelassene. Das abschließende Presto vereint allerlei technische und kontrapunktische Einfälle, die vielleicht gelegentlich ein wenig an Ives oder Bartok erinnern mögen, zu einem großen Ganzen, an dem nichts überflüssig wirkt. Auch hier geben sämtliche Musiker nochmals ihr Bestes, angeführt von einer stets agilen Kathrin ten Hagen, die selbst in heikelsten Lagen mit ihrer großen Sicherheit besticht.

Nun bestünde die Gefahr, dass sich das letzte Werk, die späte Suite für Violine und Streichorchester op. 117 von Jean Sibelius, wie eine glatte Zugabe anhören könnte. Nicht so bei diesen Künstlern und ihrem selbstkritischen Maestro Johannes Klumpp. Jedes Tempo wird als solches ernst genommen, zugleich gestaltet Sibelius seine Musik leicht und frühlingshaft. Besonders der Schluss Im Sommer. Vivace, überrascht durch Ten Hagens absolute Beherrschung der Sechzehntelläufe, denen sie zudem Charakter zu verleihen versteht. Nichts daran klingt gehetzt.

Auch wenn diese Nordlichter bereits vor einem Jahr erschienen, sei diese wunderbare Aufnahme – nicht nur für Weihnachten – hier noch einmal ausdrücklich empfohlen.

[Peter Fröhlich, Dezember 2015]

[Rezensionen im Vergleich 2b] Junge Klänge am Ursprung der Donau

Das Landesjugendorchester Baden-Württemberg unter der Leitung von Johannes Klumpp spielt am 11.November Werke von Schnittke, Tschaikowsky und Schostakowitsch.

Mit jugendlichen Orchesterklangkörpern lassen sich gut und gerne musikalische Nachwuchsförderung und künstlerische Zukunftsgestaltung, aber auch die drei berüchtigten Ds (Drill, Druck und Disziplin) verbinden. Letzteres ist für eine solide musikalische Reifung scheinbar unabdingbar. Um einen frischen und überzeugenden Klang auf die Beine zu stellen, braucht es aber, entgegen gewisser Ansichten, die ersten beiden Ds nicht zwingend, wie das Landesjugendorchester Baden-Württemberg in der Mozarthalle Donaueschingen bewiesen hat.

Natürlich dürfte es bei den Probenphasen der jungen Musiker sicherlich auch Stress, Frustmomente und Durststrecken gegeben haben, zumal bei so einem Werk wie der 10. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch. Es ist nur allzu verständlich, wenn die Kinder und Jugendlichen, wie aus informierter Quelle zu erfahren war, sich vor drei Jahren noch nicht an dieses Mammutwerk gewagt haben. Umso erstaunlicher und vielversprechender gelang das Ergebnis!

Zu Beginn des Abends erklang der Tango aus der Suite zur Filmmusik „Agonie“ (1974/81) von Alfred Schnittke. Was sich wie eine kleine salonmusikalische Aufwärmübung anhören mag, haben die Musiker bezwingend ernst genommen. Mag dieser Tango auch keine extravaganten Herausforderungen bieten, so ist es doch die ausgefeilte und reizende Instrumentation Schnittkes, die an diesem Abend sehr schön herüberkam, vor allem in den Klarinetten. Doch auch die ersten Violinen, die sehr klangvoll, aber nie zu dick musizierten, und allen voran das Solo des Konzertmeisters der ersten Hälfte, Johannes Ascher, sind zu loben. Gerade er hat mit seinem dezenten Vibrato, seiner eleganten, durchaus sensiblen Tongebung und sachtem Artikulationsvermögen ein Talent offenbart, welches ihm später noch einen großen Weg eröffnen könnte. Etwas störend leider fiel die den Tango eröffnende und abschließende Celesta auf, die in ihrer Phrasierung ziemlich mechanisch klang. Insgesamt jedoch hat das Orchester – unter dem beherzt animierenden, schlagtechnisch vielleicht noch nicht komplett ausgereiften Dirigat von Klumpp – mit Beherrschung und Neugier gespielt, seriös, ohne den Tangocharakter zu verleugnen, sowie mit einem klaren Verständnis für das Verhältnis zwischen Begleitung und Solo.

Gerade letzteres kam ihnen in den vielgespielten Rokoko-Variationen Op. 33 von Peter Iljitsch Tschaikowsky zugute. Auch zu diesem attraktiv solokonzertanten Werk lieferten sie eine äußerst dezente Begleitung, aber auch eine nicht zu überhörend facettenreich-kraftvolle Tondynamik (gerade in den energischen Passagen), welche zumal in der Variation 7 wie in der Coda traumhaft geriet. Bei einem Cellisten wie Jakob Spahn war das auch notwendig, da sich dessen Spiel als durchaus vielfältig und risikofreudig erwies. Allgemein zu loben bei Spahn ist die sehr reine und sichere Intonation, wobei er für das eröffnende Moderato semplice noch etwas zu laut klang, im Laufe der ersten Variationen jedoch zusehends umsichtiger agierte. Der Eindruck, gelegentlich etwas zu viel zu wollen, hat sich besonders in der Variation 3 (Andante sostenuto) gezeigt. Die enormen technischen Herausforderungen der Coda schließlich hat er sehr souverän gemeistert, doch selbst hier dürfte er künftig noch Einiges zu verfeinern wissen. An dieser Stelle muss übrigens angemerkt werden, dass während der Wiedergabe das Fell der kleinen Trommel im Hintergrund leicht mitvibrierte, was durch vorübergehende Entfernung des Instruments hätte vermieden werden können. Da sich nun das Publikum – sicherlich mit den manchen Eltern, Angehörigen und Freunden der Künstler – sehr begeistert zeigte von dieser Darbietung, wurde ebenjener Schlussteil als Zugabe noch einmal gegeben. Und wieder offenbarten Solist wie Orchester eine ungebremste, völlig routinefreie Spielfreude, bei der das Ergebnis sogar noch etwas besser geriet also zuvor.

Weiterhin kann insofern von Routine keine Spur sein, wenn man den Worten zuhört, die Maestro Klumpp dem großen sinfonischen Hauptwerk voranstellte: Angesichts des düsteren biographischen Hintergrunds, vor dem Schostakowitsch seine Symphonie Nr. 10, Op. 93 schrieb, sei dieses Werk den Musikern und ihrem Dirigenten immer näher gegangen, je mehr sie sich damit befassten. Wortwörtlich, so Klumpp, bringe Schostakowitsch eine regelrechte Volksklage aufgrund der „Säuberungen“ und des Krieges in seiner Musik zum Ausdruck – Worte, die nach den jüngsten Ereignissen in Beirut und Paris im Nachhinein sehr nachdenklich stimmen können.

Die Musiker jedenfalls legten sich nun intensiv ins Zeug und hatten jegliche vorerwähnte Scheu vor der Monumentalität der Symphonie abgelegt, aber nicht den Respekt vor dem Werk selbst. So klang das dunkle Unisono der tiefen Streicher zu Beginn des Moderato alles andere als „schön“ und umso überzeugender. Was nun jedoch am Anfang etwas zu breit erschien, gewann mit dem Hinzukommen der Violinen und Bratschen deutlich an Expressivität und Fluss. Wieder einmal zu loben ist die Klarinette, sobald sie mit dem ersten Seitenthema beginnt, sowie das Blech, wenn das erste Tutti erdröhnt. Das zweite Thema, von der sonst sehr schön spielenden Flöte vorgestellt, geriet fast an die Grenze zur unfreiwilligen Komik, woran sicher das vorgeschrieben gesteigerte Tempo nicht unschuldig ist. Beim großen Höhepunkt des Kopfsatzes, dem im Tam-Tam kulminierenden Tutti, kamen die jugendlichen Musiker an die Grenzen ihrer physischen Kräfte. Dennoch schafften sie es, diesen circa 20 Minuten langen Satz unter einen mitvollziehbaren Spannungsbogen zu zwängen – was auch die rein kompositorisch sehr lange Coda betrifft. Hier bewies das Orchester seine kollektive Musikalität, dank dem Dirigenten Johannes Klumpp, der die Entwicklung mit klarem Sinn für Stringenz und Kontinuität ausgestaltete.

Bereits erwähnte Furchtlosigkeit steigerte sich im zweiten Satz Allegro in Risikofreudigkeit. Wie auch im ersten Satz haben die Musiker unter Klumpp einige Mühe, bei dem Tempo des Satzes nicht zu entgleisen. Wie aber nun schon fast zu erwarten, haben sie sich auch hier wacker geschlagen, was auch für die Kontrabässe gilt angesichts ihrer berüchtigten hohen Begleitung in Daumenlage zur Satzmitte. Und auch die leisen Stellen kurz vor Ende klangen gut. Ganz am Schluss natürlich, wo die Darbietenden „alles“ geben, lässt sich zwischen drei- und vierfachem forte kein wirklicher Unterschied mehr feststellen. Umso gelungener kam der Anfang des Allegretto, der ja oftmals Gefahr läuft, nach einem belanglosem Walzer zu klingen. Dieses Manko weiß das Jugendorchester zu verhindern, indem es das Thema mit angemessener Tiefe artikuliert, ohne die Trostlosigkeit des Klangmilieus zu kaschieren. Mit entsprechend angemessener Klage stimmte die Klarinette das zentrale d-es-c-h-Motto jenes Satzes an. Das sogenannte ELVIRA-Motto hingegen gelang mehrmals hintereinander nicht so schön im ersten Horn – man darf annehmen, dass die Gruppe an diesem Abend wohl etwas ermüdet war von den Tourneestrapazen. Obwohl die Musiker den Satz im allgemeinen zu gestalten wussten, machte der Schluss einen etwas seelenlosen Eindruck – man erinnerte sich jedoch an die Trostlosigkeit des Satzes insgesamt.

Im Finale bot das Orchester nochmals sämtliche Fähigkeiten auf, um einen befreienden Kehraus zu kreieren. Sehr schön gelang die lange Oboenkantilene im breiten, fast etwas rhapsodischen Andante, gerade vor dem Hintergrund des wiederum recht heterogenen Streicherbasses. Und mit vielen Ecken und Kanten startete der Hauptteil des Satzes, das Allegro: Die Phrasenwechsel gerade dieser abschließenden Achterbahnfahrt klangen sehr abrupt. Dafür wurde das Tempo erfreulicherweise um keinen Deut zu schnell genommen, wodurch das Orchester bessere Möglichkeiten zur Ausgestaltung hat, andererseits der Spannungsbogen leicht schwächelte – was letztlich angesichts der sonst begeistert aufgenommenen Symphonie kaum der Rede wert sein dürfte.

Zu recht, wo dieser Abend ein in jeder Hinsicht vielversprechendes Jugendorchester Baden-Württemberg mit einer sehr beachtlichen Leistung und einem für weitere gemeinsame Hochleistungen prädestinierten Dirigenten bot. Mögen die Kinder und Jugendlichen weiterhin ihre Begeisterung am bewussten Musizieren vertiefen!

[Peter Fröhlich, November 2015]

[Rezensionen im Vergleich 2a] Die Kinder Schostakowitschs kehren wieder

Am 11. November spielt das Landesjugendorchester Baden-Württemberg unter Leitung von Johannes Klumpp im Mozartsaal der Donauhallen in Donaueschingen. Neben dem Tango aus der Suite zur Filmmusik „Agonie“ von Alfred Schnittke und Pjotr Iljitsch Tschaikowskys Rokoko-Variationen A-Dur Op. 33 für Violoncello und Orchester in der heute gebräuchlichen Umstellung und Bearbeitung von Wilhelm Fitzenhagen mit dem Solisten Jakob Spahn steht auch die herausfordernde und zutiefst ernste zehnte Symphonie in e-Moll Op. 93 von Dmitri Schostakowitsch auf dem Programm.

Das Landesjugendorchester Baden-Württemberg hat sich viel vorgenommen für den Abend des 11. November in Donaueschingen. Ein so langes und schwieriges Konzertprogramm mit Schostakowitschs grandioser Symphonie Nr. 10 als Höhepunkt ist der Hörer normalerweise ausschließlich von einem großen und etablierten Klangkörper aus Berufsmusikern gewohnt, nicht aber von einem Jugendorchester, auch wenn ihm ein so blendender Ruf vorauseilt wie in diesem Falle.

Den Beginn des Abends macht Alfred Schnittkes Tango aus der Suite zur Filmmusik „Agonie“, ein zarter und in feiner Manier zurückhaltender Tanz, der dennoch in eine gewisse Wildheit und in Überschwang gerät, der sowohl mit Melancholie als auch mit innerlichem Drängen durchsetzt das einprägsame Thema in verschiedenstem Licht erstrahlen lässt. Besonders markant natürlich Beginn und Schluss durch die engelsgleiche und fernab erscheinende Celesta, die nach ihren ersten Einsätzen in Tschaikowskys Nussknacker-Suite sowie bei Bartók, Chausson oder Strauss relativ bald vor allem in der Filmmusik Verwendung fand und heute jedem durch „Hedwig’s Theme“ aus der Musik zu Harry Potter von John Williams geläufig ist. Unter Klumpp erhält der Tango einen angenehmen Schwung und verfällt zu keiner Zeit in Überhitzung auch in den lauten Passagen, sondern hält sich stets ein wenig zurück und behält so die von Schnittke vorgegebene Wirkung in der gewollten Passivität, die leicht verlorengehen kann. Der Dirigent Johannes Klumpp schätzt seine Musiker gut ein und weiß genau, welch ein Risiko er ihnen zutrauen kann – und geht dieses ein, indem er direkt zum Erscheinen des Tangorhythmus‘ in eben diesem dirigiert, anstatt die sicherere Variante eines geraden Taktschlags zu wählen. Der Plan geht auf und ermutigt das gesamte Landesjugendorchester zu einer prägnant klingenden und rhythmisch fesselnden Wiedergabe. Durch kleine Soloeinwürfe kristallisieren sich schnell einige besondere Talente aus dem Orchester heraus. Es ist nicht zu erwarten, dass alle jungen Musiker bereits einen sauber auspolierten und abgewogenen Klang haben, doch erstaunlich viele können bereits eben damit überzeugen. Besonders der Konzertmeister der ersten Hälfte, Johannes Ascher, bewies ungeheuere Musikalität trotz jungen Alters: Die Ritenuti in seinen kurzen Soloeinwürfen waren derart innerlich gefühlt und organisch wieder in das Originaltempo zurückführend, wie es teils namhaften Konzertsolisten nicht so bewusst gelingt.

Die Rokoko-Variationen A-Dur Op. 33 für Violoncello und Orchester versetzen den Hörer zurück in das 18. Jahrhundert, wenn natürlich auch mit einem vollkommen romantischen Neuanstrich von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky. Auch an diesem Abend wird die Version von Wilhelm Fitzenhagen gespielt, dem ansonsten vollkommen vergessenen Cellisten und langjährigen Freund von Tschaikowsky, der ebenfalls recht beeindruckende Musik geschaffen hat, die durchaus eine Renaissance verdient! Fitzenhagen bearbeitete das circa zwanzigminütige Bravourstück ein wenig und stellte insbesondere die Variationsreihenfolge um; in dieser Version verbreitete er es und sorgte damit bis heute dafür, dass fast ausschließlich diese Bearbeitung gespielt wird – auch wenn das fast nie in den Programmen und üblicherweise auch nicht einmal in den Noten ausgewiesen wird. Als Solist des Abends agiert Jakob Spahn, der unter anderem durch den Sonderpreis der Alice Rosner Foundation beim Internationalen ARD-Wettbewerb 2010 in München für Aufsehen sorgte. Spahn vermag vom ersten Strich an einen vollkommen eigenen Ton auf seinem Cello zu erzeugen, der recht rau und volltönend klingt und eine sanfte Wärme ohne übermäßig glatten Klang schafft. Das virtuose Meisterwerk gelingt ihm ohne technische Probleme, bis hin in die höchsten Lagen steigt er mit sauberen Tönen auf und bewältigt alle halsbrecherischen Läufe mit einem unbekümmerten Lächeln im Gesicht. Auch auf musikalischer Ebene beweist Spahn großes Können und kann den Melodiebogen als großes Ganzes erfassen und gliedern. Unverkennbar sieht man ihm die überschwängliche Spielfreude an und hört sie auch, in leicht beschwingtem Tonfall tanzen seine Themen und kommen offensichtlich aus ganzem Herzen. Doch wie bei fast allen Cellisten (und sonstigen Streichern auch) fällt bei Jakob Spahn eine durchgehende Ingebrauchname des Vibrato auf, das standardisiert bei jedem Ton eintritt, der eine gewisse Länge besitzt. Selbstverständlich hilft ein gutes Vibrato zu einem belebten Klang und hat eine anregende Wirkung, aber der Effekt kippt nach und nach ins Gegenteil, wenn er mechanisch übermäßig zum Einsatz kommt. Als Zugabe gibt es noch einmal das Finale der Variationen, diesmal noch geschwinder und mit noch mehr Elan, (wenn auch entsprechend mit einigen kleinen, jedoch verzeihlichen Fehlgriffen mehr), so dass Spahn nun auch die letzten mitreißt bis in die fulminanten und ausgedehnten Schlusstakte.

Nach der Pause erklingt schließlich das Werk, worauf vermutlich sowohl die Musiker als auch das Publikum an gespanntesten gewartet haben, die zehnte Symphonie von Dmitri Schostakowitsch in e-Moll Op. 93. Dieser gewaltige symphonische Koloss mit über fünfzig Minuten Länge ist auf körperlicher wie geistiger Ebene zutiefst anspruchsvoll und erschütternd. Manch großes A-Orchester müht sich teils mit der dichten Stimmvielfalt, den zerrüttenden Themen und dem schreckensgeladenen Ausdruck dieses symphonischen Werks hörbar ab, welches Schostakowitsch 1953 kurz nach dem Tod seines Unterdrückers Josef Stalin (der genau am gleichen Tag wie Prokofieff, am 5. März, verstarb) begann. Üblicherweise wird die Symphonie als Schlussstrich unter die Terrorherrschaft angesehen, wobei Stalin als Thema auftreten und auch die Zeit an sich verbildlicht werden soll, in die sich Schostakowitsch in Form seiner Initialen D-Es-C-H hineingraviert hat. In wie weit dies alles zutrifft, ist nicht sicher, doch ist zweifelsohne das Grauen komponiert, was bei guter Darbietung den Hörer fesseln muss und teilhaben lässt anhand des unmittelbaren musikalischen Geschehens. Gerade für die jüngeren Musiker muss es eine gigantische Herausforderung sein, sich in diese Schwermütigkeit und Reflexionen aus furchtbaren Zeiten hineinzuversetzen, sie zu fühlen und darzustellen – und all dies bei einer technisch für alle Beteiligten nicht zu unterschätzenden Aufgabe. Diese Anforderungen werden, besonders im Hinblick darauf, dass hier ein Jugendorchester spielt, überraschend umfassend erfüllt. Zwar können die jungen Musiker trotz mitreißender Leitung durch Johannes Klumpp die Symphonie auch nicht völlig frei von statisch gleichförmig wirkenden Passagen halten und auch nicht jede wesentliche Stimme tritt vernehmbar in den Vordergrund, doch gestalten sie ihre Phrasen allesamt erstaunlich vielseitig aus und entlocken der Musik detaillierte Farbnuancen. Der viel beanspruchte Bläserapparat brilliert auch in verzwickten Passagen und gerade das Holz zeichnet sich durch eine frappierende Makellosigkeit aus. So erreicht es das monströse Werk, den Zuhörer durchgehend in seinem Bann zu halten und ihn von der ersten dunklen Sekunde bis in die finale auskomponierte Apotheose unwiderstehlich mitzuzerren in alle erdenklichen Bereiche menschlicher Emotion.

Am Dirigierpult steht Johannes Klumpp, selber zur jüngeren Dirigentengeneration gehörend, und bietet all der divergierenden Stimmvielfalt Zusammenhalt. So einen Dirigenten braucht es für solch ein interessiertes und begeisterungsfähiges Orchester! Denn genau das zeichnet Klumpp aus, er reißt mit und begeistert. Er legt keinen besonderen Wert auf eine optisch ausgefeilte Dirigiertechnik, sondern auf seine Wirkung in zentraler Position als Vermittler gleichermaßen von Musik und Enthusiasmus. So stachelt er sein Jugendorchester stets zur Höchstleistung und auch zur energetisch packenden Melodieführung an, damit auch wirklich das frische Musizieren im Vordergrund steht und nicht etwa die Mechanik des Technischen. Und so hat es sich zweifelsohne gelohnt, die lange Anreise aus München auf sich zu nehmen, um dieses beeindruckende und in vielerlei Hinsicht ausnehmend gelungene Konzert miterleben zu dürfen.

[Oliver Fraenzke, November 2015]