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Ein goldenes Zeitalter in Bild und Ton

BelAir classiques, BAC143; EAN: 3 770115 301436

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BelAir classiques veröffentlicht eine DVD von Dmitri Schostakowitschs Ballett Das Goldene Zeitalter auf ein Libretto von Isaak Glikman und Yuri Grigorovich aus dem Jahre 1982. Rita wird gespielt von Nina Kaptsova, Ruslan Skvortsov übernimmt die Rolle des Boris, Mikhail Lobukhin ist Yashka, Ekaterina Krysanova verkörpert Lyuska und der Compère der Varieté-Show wird dargestellt von Vyacheslav Lopatin. Es spielen Ballett und Orchestra of the State Academic Bolshoi Theatre of Russia unter Leitung von Pavel Klinichev.

Meist werden die drei großen Ballette von Dmitri Schostakowitsch vollkommen übergangen, und doch beweisen auch sie den hohen Stellenwert des Komponisten. Es sind vergleichsweise frühe Werke, Das Goldene Zeitalter von 1929/30, Der Bolzen 1930/1 und Der Helle Bach 1934/5, jedoch stellen sie bereits die hohe Kunst der Orchestration Schostakowitschs ebenso wie seine versierte Behandlung thematischen Materials und seine harmonische Erfindungsgabe zur Schau. Die Musik ist von enormer erzählerischer Bildhaftigkeit, so dass auch ohne ein Wort die Geschichte verständlich wird. Es ist leichte Musik und dabei nie kitschig oder flach, immer mit einer gewissen Substanz und hoher Inspiration.

Den Höher mag verwundern, dass spätere Werke des Russen in die zu hörenden Aufnahme eingewoben sind wie Tea for Two oder Ausschnitte aus den beiden Klavierkonzerten (gar der gesamte Mittelsatz des zweiten Konzerts): Dies geht auf das Bolshoi-Libretto von Yuri Grigorovich zurück, der sieben Jahre nach dem Tod des Komponisten das Ballett gemeinsam mit Isaak Glikman wiederbelebte.

Alle Akteure sind bestens aufeinander eingespielt, jeder kennt seinen Platz im Geschehen und ist vortrefflich mit der Gesamtproduktion vertraut. Die Tänzer gehen auf jede noch so minimale Geste der Musik ein und entzücken durch absolute Körperbeherrschung und höchste Ausdruckskraft. Durch schnelle Szenenwechsel und adäquate Behandlung der Kameraeinstellung entsteht ein bruchloses Kontinuum.

Auch agiert das Orchester unter Leitung von Pavel Klinichev in engem Bezug auf die Tänzer, es gerät sich weder in deren Schatten noch drängt es sich in den Vordergrund – die Musik ist fest eingegliedert in ein Gesamtkunstwerk. Die Musiker spielen routiniert, aber nicht abgestumpft, sie nehmen die Partitur noch immer in aller Frische auf und lassen sie unverbraucht auf den Hörer wirken. Sie stellen die Musik leicht und beschwingt-tänzerisch dar, geben nichtsdestoweniger Kraft und Aussage in die Gestaltung.

[Oliver Fraenzke, August 2017]

Zauber des Moments

Les Dissonances, LD 009; EAN: 3 149028 105421

Es sind zwei der meistgespielten Werke Schostakowitschs, die der Geiger und Dirigent David Grimal für die neueste Live-Aufnahme mit seinem Orchester Les Dissonances auswählte: die fünfte Symphonie d-Moll op. 47 sowie das Es-Dur-Cellokonzert Nr. 1 op. 107 mit dem Solisten Xavier Phillips. Seit jeher sorgt gerade diese Symphonie bei den Besserwissern für ein leichtes Grinsen, wenn am Ende das strahlendste und starrsinnigste nur vorstellbare D-Dur durchbricht und ein so übermäßig feierliches Ende ergibt, dass es anscheinend überhaupt nicht erst ernst genommen werden kann nach all den Abgründen dieser Musik. Für die Musiker und vor allem den Dirigenten bietet die Symphonie eine harte Nuss, die es zu knacken gilt, so gewaltig sind die Formen und so schwierig gestaltet es sich, all die feinen Übergänge fließend zu gestalten und sich nicht in Details oder Momentaufnahmen zu verlieren, worüber hinaus der Kontext und somit auch der Hörer verloren geht in uferlos sich ausbreitenden Flächen. Mrawinsky, Celibidache und Kondraschin haben allerdings bewiesen, dass die Form sehr wohl bewältigbar ist und ein gewaltiger durchgehender Sog entstehen kann, der mitreißt und alles ausschöpft bis zum Letzten, doch viel zu oft ist auch zu erleben, wie die Zuhörer maßlos überfordert werden durch den Mangel an Bewusstsein über das große Ganze, und spätestens im dritten Satz sind fast immer einige Köpfe niedergesunken. Mit Schostakowitsch über große Strecken zu begeistern ist leicht, dies macht alleine schon die genial gesetzte Partitur mit herrlicher Orchestration und einer Unzahl an tiefgreifenden Effekten, doch sich der Musik voll bewusst zu werden und dies umzusetzen, gelingt den Wenigsten.

David Grimal setzt mit seinem Orchester Les Dissonances auch auf die Magie des Moments. Dadurch entstehen überwältigende Gegenwartsaufnahmen, die mit viel Hingabe und spürbarer Übertragung an glühendem Gefühl dargeboten werden. Düstere Passagen brodeln direkt voll von Feuer und Energie, die großen Steigerungen begehren in höchstem Maße auf und schießen förmlich nach oben, um sich zu entladen. Die düsteren Passagen sind hingegen neblig verhangen, geheimnisvoll und von einer unheimlichen Aura eingesäumt. Klar und transparent gibt sich zudem der Orchesterklang, so dass alle Stimmen hervortreten können und die dichte Polyphonie ihre volle Wirkung entfalten kann. Doch auch bei Grimal zerbricht die Form oft in einzelne Episoden, die zwar jede für sich herausgearbeitet wurden, doch keine zusammenhängende Korrelation spüren lassen. Woran liegt dies? Hauptsächlich spaltet es sich an den subtilen Übergängen auf, die Tempowechsel geraten stockend und werden äußerlich bemerkbar, der Fluss somit unterbrochen. Des Weiteren schwankt auch innerhalb der Abschnitte das Tempo teilweise sehr, drängt gerne einmal nach vorne, die punktierte Rhythmik verstolpert als Folge dessen. Ebenfalls zu nennen ist die Phrasierung, die nicht den umfassenden Bogen spannt, den sie benötigt, um über lange knapp besetzte Passagen zu tragen, sondern sich zu sehr momentverliebt gibt. Hinzu käme das Verständnis über die harmonischen Modulationen – bei Schostakowitsch selbstredend eine an die Grenzen des Korrelierbaren reichende Aufgabe -, mit welchem bezwingend über weit verzweigte Strecken disponiert werden kann (von Celibidache unnachahmbar verwirklicht), was aber auch hemmend wirken kann, sofern die Harmoniechangierungen nicht verstanden werden. Im zweiten Satz neigt Grimal zudem dazu, die Dissonanzen zu verharmlosen, und nimmt somit dem ersten Teil die düstere Doppelbödigkeit, mithin auch den Kontrast zum verspielt scherzenden zweiten Teil.

Der Solopart in dem ersten, Mstislaw Leopoldowitsch Rostropowitsch gewidmeten Cellokonzert wird von Xavier Phillips übernommen, einem ehemaligen Schüler des Widmungsträgers. Er geht mit klarem und erstaunlich unprätentiösem Spiel die hochvirtuose Stimme an und überzeugt mit Feingefühl und einem angenehmen Cantabile, doch auch mit einer großen Obsession, wenn es an die von Wildheit geprägten Passagen geht. Schade, dass hier das Orchester etwas in den Hintergrund gedrängt ist und in der Abmischung dem Solisten nicht als gleichwertiger Widerpart zur Seite steht.

Zwar mag diese Aufnahme nicht durch vollendetes Formgefühl zu bestechen, doch weiß Grimal sehr wohl, den Zuhörer im Moment zu verzaubern und ihn in seinen Bann zu reißen. Viele Stellen meißelt er vorzüglich heraus und lässt eine atemberaubende Wirkung zu Tage treten, die die vorliegende von der Mehrzahl der unzähligen Aufnahmen dieser Stücke abhebt.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2016]

Der wahre Avantgardist in neuer Referenzqualität

Dmitri Schostakowitsch
Sonaten für Violine und Klavier op. 134 (1968) und für Viola und Klavier (1975)
Mirjam Tschopp (Violine, Viola), Riccardo Bovino (Klavier)
Genuin GEN 16428 (EAN: 4260036254280)

Hätte es je eine originellere Übernahme von tragenden Elementen eines großen Meisterwerks gegeben als im Finale von Schostakowitschs letzter Komposition, der Bratschensonate, die er einen Monat vor seinem Tod vollendete? Die Art, wie hier der Kopfsatz von Beethovens ‚Mondschein’-Sonate anklingt, ist wahrlich unheimlich und zeugt von einer ungeheuren inneren und äußeren Freiheit. Wie hatte Schostakowitsch selbst zwei Jahrzehnte zuvor, 1955, geschrieben:

„Ich glaube, Originalität im Musikschaffen ist umfassend zu verstehen. Die Übernahme einzelner Elemente von großen Komponisten der Vergangenheit bedeutet noch lange nicht ein Abschreiben von Seiten oder Takten aus bekannten Werken. Man muss die Technologie ihres Schaffens gründlich durchdenken, sie verstehen und dann dieses oder jenes Element zu seinen eigenen Zwecken benutzen, indem man es abändert oder – besser noch – entsprechend seiner eigenen künstlerischen Aufgabenstellung weiterentwickelt.“

Ein besseres Beispiel dafür könnte es nicht geben. Danach ist derlei in der Sowjetunion in Mode gekommen, doch selbst bei Schnittke nicht auf solcher beklemmend befreiten Höhe. Und heute erweist sich Schostakowitsch damit im Nachhinein als wahrer Avantgardist, denn heute ist solches Mäandern zwischen den Zeiten und Stilen allgemeine Verfahrensweise in der sogenannten ‚Postmoderne’, wenngleich eben meist mit peinlichen und kaum je mit wirklich hörenswerten oder gar zusammenhängend tragfähigen Resultaten. Dergleichen Probleme – die von unseren Zeitgenossen in ihren eigenen Werken gar nicht als solche wahrgenommen werden – kannte Schostakowitsch nicht, denn bei ihm funktioniert es so unvorhersehbar wie folgerichtig organisch.

Die Neuaufnahme der Bratschensonate und der um sieben Jahre vorangegangenen Violinsonate für den unübertroffenen David Oistrach durch die Schweizer Geigerin und Bratscherin Mirjam Tschopp und den Turiner Pianisten Riccardo Bovino bewegt sich auf olympischen Höhen. Nicht nur, das Mirjam Tschopp sowohl auf der Geige als auf der Bratsche eine herausragende Virtuosin ist: Bei ihr klingt die Bratsche zudem nicht wie eine tiefere Geige, sondern eben wirklich originär, wie eine Bratsche im schönsten Sinne klingen kann, als authentischer Ausdruck des Alt-Registers mit grandios mächtiger Tiefe. Mirjam Tschopps Ausdruck umfasst eine weite Skala. Grundsätzlich fällt eine unsentimental innige Herbheit auf, die sich allerdings in idealtypischer Weise mit Schostakowitschs weltabgewandtem Spätstil verbindet. Riccardo Bovino ist ihr ein souverän mitgestaltender und intensiv zuhörender Partner, und beide sind in jeder Hinsicht bestens aufeinander abgestimmt, auch in den dynamisch heikelsten Abschnitten bilden sie ein exzellent abgestimmtes Duo. Überhaupt ist das dynamische Spektrum mit entschlossener Bewusstheit sehr weit gespannt. Hinzu kommt eine vorzügliche Aufnahmetechnik, die wohl auch von der ausgezeichneten Akustik der Leipziger Bethanienkirche profitiert haben dürfte. Hier ist in allen Belangen superbe Arbeit geleistet worden, und auch Eckhard van den Hoogens kenntnisreicher Begleittext hält da gut mit.

Ein paar kritische Kleinigkeiten möchte ich dennoch anmerken: Dem Ganzen täte des öfteren noch mehr Tempokonstanz über die großen Abschnitte hinweg gut; und dynamisch entspricht die Realisierung nicht immer ganz dem musikalischen Sinn. So werden etwa manche Crescendi, die eigentlich nur zur nächsten Dynamikstufe hinführen sollen, übermäßig hervorgehoben, wodurch dann am Ziel die Dynamik wieder zurückgenommen werden muss. Auch das gegenteilig ausmündende Crescendo mit anschließendem subito piano (dieses einst von Beethoven mit so einmaliger Wirkung eingeführte Mittel) wird gelegentlich nicht konsequent zum Ende geführt. Auch über manche Phrasierung kann man diskutieren, doch das fällt dann doch nicht so sehr ins Gewicht, und als Fazit ist zu sagen: Es handelt sich um eine Referenzaufnahme, wie seit Jahrzehnten keine gleichrangige vorgelegt wurde. Gerne hören wir mehr von diesen außergewöhnlich ernsthaften und befähigten Künstlern.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, August 2016]

Ein Leben in Symphonien

NAXOS, 8.501111; EAN: 7 30099 11114 0

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Das gesamte Symphonieschaffen des großen russischen Komponisten Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra sowie dem Royal Liverpool Philharmonic Choir (in den Symphonien Nr. 2, 3 und 13), der Huddersfield Choral Society (in der Symphonie Nr. 13) und den Solisten Alexander Vinogradov (in den Symphonien Nr. 13 und 14) als Bass und Gal James (in der Symphonie Nr. 14) als Sopran unter dem Dirigat von Vasily Petrenko ist nun als 11 CD-Box bei NAXOS erhältlich mit Einspielungen aus den Jahren 2009 bis 2014.

Kein anderes Genre zieht sich so sehr durch das Leben von Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch wie das der Symphonie: 1924/25 schrieb der 1906 geborene Komponist sein frühes Erstlingswerk und verstummte schließlich symphonisch 1971 mit seiner fünfzehnten Symphonie, vier Jahre vor dem Herzinfarkttod des bereits schwer Krebskranken 1975. Sein utopisches Ziel war zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht erreicht, – 24 Streichquartette und 24 Symphonien wollte er schreiben, ähnlich dem von so vielen Komponisten wie auch ihm selbst verfassten Zyklus von 24 Präludien und Fugen durch alle Tonarten – lediglich 15 konnte er vollenden, sowohl Symphonien als auch Streichquartette.

Jeder Versuch, das gesamte symphonische Werk Schostakowitschs auf einen Nenner zu bringen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn zu divergierend sind sie doch alle. Bereits zwischen der eingängigen ersten und der undurchschaubaren, mit bis zu dreizehnstimmigem Fugato verstrickenden, höchst komplexen zweiten Symphonie liegen Welten, auch die Längen der Werke schwanken insgesamt zwischen knapp 20 und 80 Minuten, ebenso ist die Besetzung sehr wechselnd. Sucht man doch nach Verknüpfungspunkten zwischen Schostakowitschs Symphonien, so sollte sein Gespür für beißende Ironie und todernsten Sarkasmus ins Zentrum gerückt werden – bei kaum einem anderen Komponisten wird noch immer so heftig spekuliert, was er aussagen wollte mit solchen fast frivol-markanten Passagen, sei es der plötzliche überlang auftrumpfende Schluss der Fünften, sei es das verstümmelte Rossini-Zitat in der Fünfzehnten, sei es der Höllentanz der Malagueña als zweiter Satz der Vierzehnten, der erst in den letzten Takten sein wahres Gesicht zeigt, sei es die Umfunktionierung der Loreley in selbigem Werk, die sich von ihrem Felsen stürzt und im unmittelbaren Anschluss als scheinbar andere Person schließlich über ihr eigenes Grab spricht, verbunden mit zwei identischen Glockenschlägen, die einen parallel grinsen und Gänsehaut machen, oder sei es die ganze fast an Haydn erinnernde Form der „Neunten“, die statt Ruhm und Götterfunken in aller Kürze alles Militärische veralbert, karikiert und dem System die lange Nase zeigt. Tausendfach diskutiert man seit jeher, ob Schostakowitsch nun für oder gegen das System war, ob er seine Meinung zeitweise änderte und wie sich dies in seinem Schaffen abbildet – Extremfall die nach Stalins Tod geschriebene Zehnte, die heute meist als „Befreiung aus dem System allgemein und im Einzelschicksal“ angesehen wird. Bezeichnend auch für alle Werke ist die unglaubliche Kunst Dmitri Schostakowitschs, mit seinen Motiven zu spielen, sie obsessiv in durchgängigem Precipitato-Empfinden in die Höhe zu treiben, militärische Anklänge einzubeziehen und diese wieder in der Beklommenheit und Stille versinken zu lassen. Und dies in einer Verbindung mit ausgefeiltester kontrapunktischen Fertigkeit und einem einmaligen Gespür für Instrumentierung, die das gesamte große Orchester einbezieht und unzählige Soli gebiert.

Vasily Petrenko wagt sich nun an die Gesamteinspielung dieses zwölfstündigen Marathons, der ihn von 2009 bis 2014 beschäftigte. Damit tritt er in die Fußstapfen einiger sehr namhaften Dirigenten wie Kirill Kondraschin, Gennadi Roschdestwensky, Valery Gergiev, Rudolf Barshai oder Mariss Jansons, bei dem Petrenko auch einige Zeit lernte und dessen Gesamteinspielung meiner Meinung die alles in allem vielleicht gelungenste ist, auch wenn einige Symphonien beispielsweise unter Gergiev noch etwas mehr Glanz und Unmittelbarkeit versprühen. Das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra dirigiert der noch recht junge Orchesterleiter in einer nahezu unwirklich erscheinenden Synchronizität, die bis in die verzwicktesten Rhythmen vollkommen makellos ist. Das Orchester erhält einen trockenen Anstrich, der jedoch nicht ins Spröde und vor allem zu keiner Zeit in romantischen Kitsch verfällt, was gerade bei den ausgedehnten langsamen Sätzen das unumstößliche Todesurteil für die Musik darstellen würde. In den meisten Symphonien erreicht es Petrenko, die verzweigten Stimmengeflechte alle hörbar werden zu lassen und für eine gute Transparenz zu sorgen, nur in manchen Einzelfällen fehlt mir eine zentrale Instrumentalstimme, die von Bedeutung gewesen wäre und nun in der Klangmasse verloren geht. Dynamisch hält sich das Orchester zwar nicht zwangsläufig an alle vorgegebenen Feinheiten, schafft aber dennoch oder eben sogar damit stets ein lebendig pulsierendes Klanggebilde mit Respekt für die Bogenlinie und die verschiedenen Dynamikebenen in der Partitur. Ein wenig in die Extreme geht Vasily Petrenko bei der Tempofrage, die schmetternden Höhepunkt in größter Pracht drängen unglaublich nach vorne, während die eh schon teils überlangen ruhigen Tempi noch mehr in die Breite gezogen werden. Das Drängen ist alles andere als störend, weil dadurch kein qualitativer Verlust der Musik zu beklagen ist, nach wie vor bleibt alles sauber und durchsichtig, nur die langsamen Sätze zerbröckeln teils etwas und verlieren dadurch ihre an sich schon gedehnte Form – besonders deutlich wird dies zum Beispiel bei der sechsten Symphonie, deren erster Satz hier eine Länge von knapp 20 Minuten aufweist (bei Jansons im für mein Empfinden perfekten Tempo 15 Minuten). Es wäre so lange nichts gegen dieses Tempo zu sagen, wenn auch musikalisch entsprechend Fülle und Dichte bestünde, wie dies bei einem Celibidache die Grundeigenschaft einer jeden Darbietung war, doch ist eben dies bei Konzerten für den Besucher durch die Wirkung des anwesenden Orchesterapparates wesentlich leichter nachvollziehbar als auf nie an die Klangqualität und Unmittelbarkeit eines Livekonzertes reichende Aufnahmen, die deshalb nicht selten (sogar bei dem großen Meister Celibidache manchmal) für den Nachhörenden unter übermäßig gedehnten Tempi leiden.

Die Musiker des Royal Liverpool Philharmonic Orchestra sind allesamt von beeindruckendem technischen Können und mit genauestem Verständnis für Hintergründe und Zerklüftungen in dem Symphonieschaffen vertraut, mit dem sie sich sichtlich jahrelang beschäftigten, wodurch sie es auch angemessen vermitteln können. Die Solisten sind allesamt präzise, können sich gut vor das Orchester stellen und werden problemlos mit ihren größtenteils wirklich anstrengenden Solopassagen fertig. Lediglich der Konzertmeister nimmt manch ein Solo ein wenig zu spröde abgehackt und der Piccoloflötist kann nicht durchgehend die unschlagbare Wirkung erzielen, die von der enormen Höhe ausstrahlen kann und in manch einer Vergleichseinspielung oder im Livekonzert für Atemlosigkeit sorgt. Hervorzuheben sind vor allem die Soli von Fagott, Klarinette und Oboe sowie die gediegenen Bläserchoräle wie im zweiten Satz der letzten Symphonie. Nicht weniger das vielstimmige Schlagwerk ist positiv zu erwähnen, zu keiner Zeit überdeckt es das Orchester und ist dennoch immer in gutem Maße präsent.

Neben der Orchesterleistung darf auch die des Royal Liverpool Philharmonic Choir, teils unter Verstärkung von Männerstimmen der Huddersfield Choral Society, nicht vergessen werden. Der Chor ist sehr bodenständig mit solidem und kräftigem Klang, er kann in allen Dynamikstufen frei gestalten und schafft in jeder Umgebung eine durchdringende Wirkung und Atmosphäre. Wenngleich nicht mit der selben faszinierenden Synchronizität wie das Orchester agierend, ist diese ins Orchester eingepasste Stimmvielfalt wirklich eindrucksvoll und dem großartigen Instrumentalkörper angemessen. In zwei Symphonien wirkt Alexander Vinogradov als sonorer Bass mit dunkler Stimme und sehr angenehmem, ruhigem Timbre. In der Vierzehnten steht ihm zudem die Sopranistin Gal James zur Seite, die ihre hektischen und selbstzerstörerischen Partien so glaubhaft herüberbringt, dass man meinen könnte, sie selber sei das lyrische Ich, das sein wahres Schicksal besingt. Trotz der so unterschiedlichen Rollen und Stimmfärbungen mischen sich die beiden Solisten gut und haben eine langgeprobte Übereinstimmung mit dem restlichen Klangkörper, der seinerseits untrennbar mit dem Vokalpart verbunden scheint.

Mit neuester Aufnahmetechnik eingespielt herrscht eine phänomenale Klanglichkeit, die einen fast live ins Geschehen zu versetzen vermag. Der mehr als ausführliche Booklettext von Richard Whitehouse auf Englisch gibt einen guten Einblick in jedes einzelne dieser großartigen Werke und bietet eine nützliche Verständnisgrundlage für die Umstände dieser doch oft subjektiv konnotierten Musik. Ein zusätzlicher Kommentar zu jeder Symphonie vom Dirigenten Vasily Petrenko lässt auch ein wenig dessen Gedanken zu den Symphonien durchscheinen.

Alles in allem eine sehr empfehlenswerte Gesamteinspielung des gesamten Symphonieschaffens Dmitri Dmitijewitsch Schostakowitschs. Persönlich kenne ich auch allgemein keine Gesamteinspielung irgendeines großes Œuvres, wo es nichts zu kritisieren gäbe und wo alle Aufnahmen vollendet gelungen wären. Dies kann man denn auch nicht erwarten, doch liegt hier eine mehr als beeindruckende Sammlung auf 11 CDs mit absoluten Spitzenmusikern und einem wirklich verständigen Dirigenten vor, die dem Hörer diese fantastische Musik vermittelt.

[Oliver Fraenzke; Dezember 2015]

[Rezensionen im Vergleich 2a] Die Kinder Schostakowitschs kehren wieder

Am 11. November spielt das Landesjugendorchester Baden-Württemberg unter Leitung von Johannes Klumpp im Mozartsaal der Donauhallen in Donaueschingen. Neben dem Tango aus der Suite zur Filmmusik „Agonie“ von Alfred Schnittke und Pjotr Iljitsch Tschaikowskys Rokoko-Variationen A-Dur Op. 33 für Violoncello und Orchester in der heute gebräuchlichen Umstellung und Bearbeitung von Wilhelm Fitzenhagen mit dem Solisten Jakob Spahn steht auch die herausfordernde und zutiefst ernste zehnte Symphonie in e-Moll Op. 93 von Dmitri Schostakowitsch auf dem Programm.

Das Landesjugendorchester Baden-Württemberg hat sich viel vorgenommen für den Abend des 11. November in Donaueschingen. Ein so langes und schwieriges Konzertprogramm mit Schostakowitschs grandioser Symphonie Nr. 10 als Höhepunkt ist der Hörer normalerweise ausschließlich von einem großen und etablierten Klangkörper aus Berufsmusikern gewohnt, nicht aber von einem Jugendorchester, auch wenn ihm ein so blendender Ruf vorauseilt wie in diesem Falle.

Den Beginn des Abends macht Alfred Schnittkes Tango aus der Suite zur Filmmusik „Agonie“, ein zarter und in feiner Manier zurückhaltender Tanz, der dennoch in eine gewisse Wildheit und in Überschwang gerät, der sowohl mit Melancholie als auch mit innerlichem Drängen durchsetzt das einprägsame Thema in verschiedenstem Licht erstrahlen lässt. Besonders markant natürlich Beginn und Schluss durch die engelsgleiche und fernab erscheinende Celesta, die nach ihren ersten Einsätzen in Tschaikowskys Nussknacker-Suite sowie bei Bartók, Chausson oder Strauss relativ bald vor allem in der Filmmusik Verwendung fand und heute jedem durch „Hedwig’s Theme“ aus der Musik zu Harry Potter von John Williams geläufig ist. Unter Klumpp erhält der Tango einen angenehmen Schwung und verfällt zu keiner Zeit in Überhitzung auch in den lauten Passagen, sondern hält sich stets ein wenig zurück und behält so die von Schnittke vorgegebene Wirkung in der gewollten Passivität, die leicht verlorengehen kann. Der Dirigent Johannes Klumpp schätzt seine Musiker gut ein und weiß genau, welch ein Risiko er ihnen zutrauen kann – und geht dieses ein, indem er direkt zum Erscheinen des Tangorhythmus‘ in eben diesem dirigiert, anstatt die sicherere Variante eines geraden Taktschlags zu wählen. Der Plan geht auf und ermutigt das gesamte Landesjugendorchester zu einer prägnant klingenden und rhythmisch fesselnden Wiedergabe. Durch kleine Soloeinwürfe kristallisieren sich schnell einige besondere Talente aus dem Orchester heraus. Es ist nicht zu erwarten, dass alle jungen Musiker bereits einen sauber auspolierten und abgewogenen Klang haben, doch erstaunlich viele können bereits eben damit überzeugen. Besonders der Konzertmeister der ersten Hälfte, Johannes Ascher, bewies ungeheuere Musikalität trotz jungen Alters: Die Ritenuti in seinen kurzen Soloeinwürfen waren derart innerlich gefühlt und organisch wieder in das Originaltempo zurückführend, wie es teils namhaften Konzertsolisten nicht so bewusst gelingt.

Die Rokoko-Variationen A-Dur Op. 33 für Violoncello und Orchester versetzen den Hörer zurück in das 18. Jahrhundert, wenn natürlich auch mit einem vollkommen romantischen Neuanstrich von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky. Auch an diesem Abend wird die Version von Wilhelm Fitzenhagen gespielt, dem ansonsten vollkommen vergessenen Cellisten und langjährigen Freund von Tschaikowsky, der ebenfalls recht beeindruckende Musik geschaffen hat, die durchaus eine Renaissance verdient! Fitzenhagen bearbeitete das circa zwanzigminütige Bravourstück ein wenig und stellte insbesondere die Variationsreihenfolge um; in dieser Version verbreitete er es und sorgte damit bis heute dafür, dass fast ausschließlich diese Bearbeitung gespielt wird – auch wenn das fast nie in den Programmen und üblicherweise auch nicht einmal in den Noten ausgewiesen wird. Als Solist des Abends agiert Jakob Spahn, der unter anderem durch den Sonderpreis der Alice Rosner Foundation beim Internationalen ARD-Wettbewerb 2010 in München für Aufsehen sorgte. Spahn vermag vom ersten Strich an einen vollkommen eigenen Ton auf seinem Cello zu erzeugen, der recht rau und volltönend klingt und eine sanfte Wärme ohne übermäßig glatten Klang schafft. Das virtuose Meisterwerk gelingt ihm ohne technische Probleme, bis hin in die höchsten Lagen steigt er mit sauberen Tönen auf und bewältigt alle halsbrecherischen Läufe mit einem unbekümmerten Lächeln im Gesicht. Auch auf musikalischer Ebene beweist Spahn großes Können und kann den Melodiebogen als großes Ganzes erfassen und gliedern. Unverkennbar sieht man ihm die überschwängliche Spielfreude an und hört sie auch, in leicht beschwingtem Tonfall tanzen seine Themen und kommen offensichtlich aus ganzem Herzen. Doch wie bei fast allen Cellisten (und sonstigen Streichern auch) fällt bei Jakob Spahn eine durchgehende Ingebrauchname des Vibrato auf, das standardisiert bei jedem Ton eintritt, der eine gewisse Länge besitzt. Selbstverständlich hilft ein gutes Vibrato zu einem belebten Klang und hat eine anregende Wirkung, aber der Effekt kippt nach und nach ins Gegenteil, wenn er mechanisch übermäßig zum Einsatz kommt. Als Zugabe gibt es noch einmal das Finale der Variationen, diesmal noch geschwinder und mit noch mehr Elan, (wenn auch entsprechend mit einigen kleinen, jedoch verzeihlichen Fehlgriffen mehr), so dass Spahn nun auch die letzten mitreißt bis in die fulminanten und ausgedehnten Schlusstakte.

Nach der Pause erklingt schließlich das Werk, worauf vermutlich sowohl die Musiker als auch das Publikum an gespanntesten gewartet haben, die zehnte Symphonie von Dmitri Schostakowitsch in e-Moll Op. 93. Dieser gewaltige symphonische Koloss mit über fünfzig Minuten Länge ist auf körperlicher wie geistiger Ebene zutiefst anspruchsvoll und erschütternd. Manch großes A-Orchester müht sich teils mit der dichten Stimmvielfalt, den zerrüttenden Themen und dem schreckensgeladenen Ausdruck dieses symphonischen Werks hörbar ab, welches Schostakowitsch 1953 kurz nach dem Tod seines Unterdrückers Josef Stalin (der genau am gleichen Tag wie Prokofieff, am 5. März, verstarb) begann. Üblicherweise wird die Symphonie als Schlussstrich unter die Terrorherrschaft angesehen, wobei Stalin als Thema auftreten und auch die Zeit an sich verbildlicht werden soll, in die sich Schostakowitsch in Form seiner Initialen D-Es-C-H hineingraviert hat. In wie weit dies alles zutrifft, ist nicht sicher, doch ist zweifelsohne das Grauen komponiert, was bei guter Darbietung den Hörer fesseln muss und teilhaben lässt anhand des unmittelbaren musikalischen Geschehens. Gerade für die jüngeren Musiker muss es eine gigantische Herausforderung sein, sich in diese Schwermütigkeit und Reflexionen aus furchtbaren Zeiten hineinzuversetzen, sie zu fühlen und darzustellen – und all dies bei einer technisch für alle Beteiligten nicht zu unterschätzenden Aufgabe. Diese Anforderungen werden, besonders im Hinblick darauf, dass hier ein Jugendorchester spielt, überraschend umfassend erfüllt. Zwar können die jungen Musiker trotz mitreißender Leitung durch Johannes Klumpp die Symphonie auch nicht völlig frei von statisch gleichförmig wirkenden Passagen halten und auch nicht jede wesentliche Stimme tritt vernehmbar in den Vordergrund, doch gestalten sie ihre Phrasen allesamt erstaunlich vielseitig aus und entlocken der Musik detaillierte Farbnuancen. Der viel beanspruchte Bläserapparat brilliert auch in verzwickten Passagen und gerade das Holz zeichnet sich durch eine frappierende Makellosigkeit aus. So erreicht es das monströse Werk, den Zuhörer durchgehend in seinem Bann zu halten und ihn von der ersten dunklen Sekunde bis in die finale auskomponierte Apotheose unwiderstehlich mitzuzerren in alle erdenklichen Bereiche menschlicher Emotion.

Am Dirigierpult steht Johannes Klumpp, selber zur jüngeren Dirigentengeneration gehörend, und bietet all der divergierenden Stimmvielfalt Zusammenhalt. So einen Dirigenten braucht es für solch ein interessiertes und begeisterungsfähiges Orchester! Denn genau das zeichnet Klumpp aus, er reißt mit und begeistert. Er legt keinen besonderen Wert auf eine optisch ausgefeilte Dirigiertechnik, sondern auf seine Wirkung in zentraler Position als Vermittler gleichermaßen von Musik und Enthusiasmus. So stachelt er sein Jugendorchester stets zur Höchstleistung und auch zur energetisch packenden Melodieführung an, damit auch wirklich das frische Musizieren im Vordergrund steht und nicht etwa die Mechanik des Technischen. Und so hat es sich zweifelsohne gelohnt, die lange Anreise aus München auf sich zu nehmen, um dieses beeindruckende und in vielerlei Hinsicht ausnehmend gelungene Konzert miterleben zu dürfen.

[Oliver Fraenzke, November 2015]

Violinklänge versilbert

Linn Records CKD 520; EAN: 6 91062 05202 3

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Flötenvirtuosin Katherine Bryan adaptiert in ihrem neuen Album „Silver Bow“ Musik für Violine und Orchester. Mit dem Royal Scottish National Orchestra unter Jac van Steen hat sie ein facettenreiches Programm aufgenommen, welches vorwiegend aus Werken des 19. Jahrhunderts besteht, sich jedoch auf keine Gattung festlegen möchte. So findet sich hier sinfonische Programmmusik von Vaughan Williams genauso wie rein solistische und kammermusikalische Stücke von Paganini, Schostakowitsch, Massenet und Saint-Saёns.

Um zunächst einmal auf den gewählten Titel einzugehen: Die Flöte als silbernen Bogen zu bezeichnen ist eine witzige bildliche Beschreibung der Essenz dieser CD, wirkt anfangs jedoch sehr gewagt, beinahe provozierend. Man ist sich über diese Bezeichnung erst nach dem Höreindruck im Klaren, denn auf den ersten Blick haben beide Instrumente nicht sehr viel gemein. So lässt sich im Klang zwar noch eine gewisse Ähnlichkeit heraushören, unterscheiden lassen sich Violine und Querflöte aber vor allem in der unterschiedlichen Klangerzeugung. Auch Bryan, die den Zuhörer mittels ihres farbenreichen, virtuosen, klangsensiblen Spiels durch diesen Übergang vom Streich- zum Blasinstrument führt, schafft es nicht immer, diese Grenze vollkommen verschwinden zu lassen. So ist vor allem der Charakter von Saint-Saёns „Introduction et Rondo capriccioso Op. 28“ beinahe gänzlich verloren gegangen. Diese Komposition, gewidmet dem spanischen Geigenvirtuosen Pablo de Sarasate, beginnt mit einem zarten, sehnsuchtsvollen Violin-Thema, welches nach und nach auf das tänzerische Rondo hinführt. Sehr grazil und beinahe burlesk anmaßend erinnert dieses Spiel von teuflischer Besessenheit der Violine doch sehr an Saint-Saёns „Danse macabre“. Von dem dämonischen, schneidenden Unterton ist bei Bryan jedoch wenig übrig geblieben. Es wirkt unbeholfen, unbedarft, manchmal unfreiwillig komisch, wenn sie hier versucht, den Geigenklang mit einer Flöte zu imitieren.  Dasselbe bei den Zigeunerweisen des ebengenannten Widmungsträgers, des Virtuosen und Komponisten Pablo de Sarasate: auch hier bekommt die Musik eine andere Intention und verfehlt die vom Schöpfer intendierte Wirkung. Rein objektiv betrachtet ist das jedoch nicht zwangsweise etwas Schlechtes. Oft eröffnet es uns eine neue Perspektive auf etwas Bekanntes neue Räume.
Steht Bryan z. B. bei Paganinis „Caprice No. 24“ mehr interpretatorischer Handlungsspielraum zur Verfügung, so ist man durchaus beeindruckt, wie sie mit bläserspezifischen Techniken wie Flatterzunge, Doppel- bzw. Tripelzunge den Geigenklang, hier geprägt durch repetitive Figuren, Tremoli, Doppel-,Tripel- und Quadrupelgriffe, täuschend echt imitiert. Besonders hervorzuheben ist die, laut ihrer eigenen Aussage selbst entwickelte, „Plop- Zungentechnik“, bei welcher der Ton durch das vorzeitige Verschließen der Luftöffnung den gezupften (pizzicato-) Ton auf einem Streichinstrument nachahmt.
Ist der Charakter bei den beiden oben genannten Werken doch stark verfehlt worden, gelingt Bryan bei Vaughan Williams’ impressionistischem Konzertstück „The Lark Ascending“ jedoch eine Neuschöpfung. Sie imitiert nicht nur den Klang der Violine, nein, sie geht noch weiter. Sie nimmt die Musik als solche an wie sie ist. So trifft sie im wahrsten Sinne des Wortes den richtigen Ton und gibt diesem Tongemälde eine neue Farbe. Man fühlt sich an Debussys „Prélude a l´après midi d´un faune“ erinnert, wenn Bryan bei Vaughan Williams die Flöte des Pan erklingen lässt, so unschuldig Vogelmelodien imitiert. Auch das sehr impressionistisch angehauchte Harmoniefundament bringt das Royal Scottish National Orchestra mit gut ausgewogenen Bässen und Celli zur Geltung und verhilft diesem paradiesischen See zur Vollkommenheit.
Dieses nuancenreiche, klangsensible Spiel bezaubert auch bei Massenets weltberühmter Méditation aus der Oper Thaїs. Auch hier verschmilzt ihr Klang wunderbar mit dem des Orchesters und nimmt den sanften, ruhigen Charakter vollends an. Wie bei Vaughan Williams bekommt der Zuhörer das Gefühl, man würde Originalliteratur zu Gehör bekommen. Ihr lyrisches, expressives Spiel bietet sich selbstverständlich auch für Romanzen an, weshalb es kein Wunder ist, warum auf dieser CD gleich drei vertreten sind. Allesamt, darunter auch Fritz Kreislers „Liebesleid“ aus alten Wiener Tanzweisen, sind sie nett anzuhören, aber fallen doch eher in die Kategorie „leichte Musik zum Genießen“, wobei Bryan auch hier dem Violincharakter in nichts nachsteht.
Dazu ist noch zu sagen, dass die äußerst lebendige Aufnahmetechnik den qualitativ hochwertigen Eindruck unterstreicht. So empfinde ich beispielsweise das manchmal etwas laute Einatmen genauso interessant wie die eigentliche Musik, denn es dient wie eine Art Impuls, sich voll und ganz auf sie einzulassen.
Mit Transkriptionen ist das so eine Sache. Es können dabei sehr gewöhnungsbedürftige Ergebnisse herauskommen oder kleine Perlen in Erscheinung treten. Letzteres trifft meines Erachtens auf diese hörenswerte CD zu.

[Paul Prechtel; Oktober 2015]

Ein Anschlag, der aufhorchen lässt

Alpha CD 203, Outhere Music, ISBN: 3 760014 192036

201507291303-001

Anna Vinnitskaya ist Solistin in den Klavierkonzerten von Dmitri Schostakowitsch, zusammen mit der Kremerata Baltica. Im ersten Konzert wird sie flankiert vom Solotrompeter Tobias Willner und im zweiten sekundiert von den Bläsern der Staatskapelle Dresden sowie dem Dirigenten Omer Meir Wellber. Gemeinsam mit Ivan Rudin folgen das Concertino Op. 94 sowie die Tarantella für zwei Klaviere.

Das vierte Album der jungen Pianistin Anna Vinnitskaya ist vollständig der Musik von Dmitri Schostakowitsch gewidmet, die den pianistischen Werdegang der Russin von Anfang an prägte. Die beiden mit großem Abstand voneinander komponierten Klavierkonzerte sowie zwei Werke für zwei Klaviere bilden das mit unter 50 Minuten recht knappe, dabei durchaus prägnante Programm. Gerade bei den Klavierkonzerten liegen die Ansprüche an eine Aufnahme extrem hoch, spielte doch schließlich der Komponist beide vortrefflich selber ein. So findet sich vom Konzert Op. 35 eine Aufnahme unter Samuil Samosud mit dem Moscow Philharmonic Orchestra und dem Trompeter Josif Volovnik, sowie vom F-Dur-Konzert Op. 102 mit dem Orchestre National de la Radiodiffusion Française unter Leitung des belgisch-deutschen Dirigenten André Cluytens. Diese genannten Platten sind absolut maßstabsetzend, kein Wunsch bleibt offen bei dem harten, präzisen und vor allem kernigen Anschlag Schostakowitschs, der es genau versteht, einen fülligen und vielschichtigen Klang zu erzeugen frei von jeder unnötigen Gewalt und Versteifung, und der jenes unablässige Precipitando-Grundgefühl erzeugt, ohne tatsächlich davonzueilen. Natürlich gilt es nicht, dieses absolut einmalige und unverwechselbare Spiel des Komponisten blind nachzuahmen, doch sollte es einen gewissen Anhaltspunkt geben im Bezug auf den Charakter, die Klanglichkeit der Klavierstimme sowie auf die stimmige Zusammenarbeit mit dem Orchester.

Eben diese Faktoren berücksichtigt Anna Vinnitskaya bei ihrem Spiel, das als höchste Grundprinzipien Klarheit, Präzision und Durchhörbarkeit zu haben scheint. Dennoch findet sie ihren eigenen Stil, nimmt den Konzerten somit an Härte und lässt stattdessen mancherorts einen leichten romantisch angehauchten Schleier über die Melodielinien sinken. Die Kremerata Baltica und die Bläser der Staatskapelle Dresden passen sich der Solistin an und lassen sogar in engen tiefen Lagen jede einzelne Stimme heraushören, was in zahlreichen anderen Interpretationen in ein undurchsichtiges Gebräu abgleitet. Besonders erstaunlich ist das gute Zusammenspiel beim ersten Konzert für Klavier, Trompete und Streicher, welches die Solistin vom Klavier aus dirigiert, was üblicherweise zu weit größeren Auffassungsdifferenzen und Asynchronitäten führt, hier jedoch eine detailgetreu abgestimmte Ausgestaltung des Orchestersatzes nicht verhindert.

So gut das Konzept ihres ausgefeilten Anschlags auch aufgehen mag, so fällt im Vergleich zu den Aufnahmen des Komponisten selbst doch teilweise auf, dass der oft eher weiche und vornehmlich zurückhaltende Tastendruck manche Kulminationen verharmlost und bei Weitem friedlicher, gezähmter dastehen lässt. Auch geht ihr die Fülligkeit des Schostakowitsch’schen Anschlags ab, weshalb passagenweise ein recht dünner Klang entsteht, was allerdings auch zum anpassungsfähigen und somit ebenso Zurückhaltung übenden Orchester passt. Diese Feingliedrigkeit und sanfte Präzision birgt jedoch auch zweifelsfrei einen ganz eigenen Charme und eröffnet neue Räume zur Entfaltung. Und dass sie auch harte Klänge mit nur geringem Maß an Gewaltanwendung beherrscht, beweist Anna Vinnitskaya mehr als einmal, vor allem im vierten Satz des ersten Konzerts. Ein wenig scheint ihr in diesem Satz dennoch der Witz zu fehlen, der der Musik eigentlich so spürbar innewohnt, da hier die Lockerheit im Rausch der Perfektion auf der Strecke bleibt. Der Stil bleibt dabei jedoch durchgehend konstant und so verliert das Konzert nicht den großen Bogen, der alle vier Sätze des Op. 35 zusammenschweißt und ein einheitliches, aus einem einzigen Guss entstehendes Ganzes sich entfalten lässt.

Tobias Willner an der Solotrompete erweist sich als sehr vielseitig und klangfarbenreich, etliche Nuancen kann er seinem Instrument entlocken. Auch er dämpft meist lieber etwas ab, als allzu extrovertiert herauszuspielen, weiß dafür auch die dunklen Klangspektren auszukosten. Auch Omer Meir Wellber als Dirigent im zweiten Klavierkonzert stellt sich als eine vortreffliche Wahl heraus, sehr auf die energetische Spannung fixiert arbeitet er kleinste Orchestermelodien vielgesichtig heraus und schafft eine deckende Fülle, die den Bezug zum Klavier zu keiner Zeit verliert. Bei solch einem Zusammenspiel ist besonders der Eröffnungssatz des Konzerts Op. 102 von farbenprächtiger Differenziertheit und auch der berühmt gewordene Mittelsatz hebt sich deutlich durch das Wahrnehmbarmachen aller Einzelstimmen in dieser Aufnahme ab. Lediglich der Finalsatz erscheint ein wenig eintönig im Vergleich zu dem Rest, was bei den gleichförmig durchgehenden Sechzehntelläufen und den stetig wiederkehrenden Motiven auch schwerlich zu vermeiden ist und fast nur von Schostakowitsch selbst wirklich überzeugend gelöst wurde. Durch ausgeklügelte ausgefeiltes Spiel lenkt Vinnitskaya allerdings die Aufmerksamkeit recht erfolgreich von diesem nicht allzu erheblichen Mangel ab.

Es folgen noch zwei Werke für zwei Klaviere, die Anna Vinnitskaya zusammen mit Ivan Rudin darbietet. Es handelt sich um das häufig in Kombination mit den Klavierkonzerten eingespielte Concertino Op. 94 sowie die fast nie zu hörende Tarantella, die Schostakowitschs letztes Klavierwerk sein sollte. Über beide Werke lassen sich verschiedene Sekundärquellen nur wenig aus, und auch der kurze, aber informative und konzentrierte Bookletttext von Tobias Niederschlag kann außer den Interpreten der ersten Aufführung des Conertinos (Maxim Schostakowitsch, Sohn des Komponisten, und seine Mitschülerin Alla Maloletkowa) keine nennenswerten Informationen bieten. Ebenso wenig allerdings auch die lesenswerte Monographie von Krzysztof Meyer. Beide Werke gehören nicht zu den herausragenden Schöpfungen Schostakowitschs, doch rundet gerade die kurze und virtuose Tarantella die CD gelungen ab, als wäre sie die Zugabe nach einem Konzert. Die beiden Pianisten können sich auch gut aufeinander einstellen und ihr Spiel wirkt zu keiner Zeit stilistisch divergierend. In perfekter Synchronizität sind sie bestens aufeinander eingespielt. Wie auch in den Konzerten findet der Hörer bei weitem weniger Härte als in anderen historischen Aufnahmen wie jenen des Komponisten und auch ein geringeres Maß an Trockenheit, doch gewöhnt man sich schnell an diesen etwas weicher gezeichneten Anschlag, mit dem beide Pianisten trefflich zusammenwirken.

[Oliver Fraenzke, August 2015]