Alle Beiträge von Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley

Karl Richter – die Legende lebt weiter

Profil Edition Günter Haenssler 31 CDs PH 16010; EAN: 881488160109

Karl Richter spielt und dirigiert
Schütz: Musikalische Exequien; A. Scarlatti: Su le sponde del Tebro (Stader); J. S. Bach: Brandenburgische Konzerte Nr. 1-6, Orchestersuiten Nr. 1-4, Musikalisches Opfer, 4 Cembalokonzerte, Orgelwerke BWV 565, 639, 582, 645, 542, 650, 606, 538 und 548, Sonaten für Flöte und Cembalo BWV 1030 und 1031, Goldberg-Variationen, Partiten Nr. 1-6 für Cembalo, Magnificat, Matthäus-Passion, Messe h-moll, Weihnachts-Oratorium, Kantaten BWV 78, 67, 108, 127, 79, 4, 45, 51, 8, 55 und 147; G. F. Händel: 12 Orgelkonzerte opp. 4 & 7, 5. Cembalo-Suite, Chaconne G-Dur für Cembalo, Arien aus Xerxes, Giulio Cesare und Samson (Haefliger), Arien aus Messias und Josua (Stader); C. P. E. Bach: Sonate g-moll für Flöte und Cembalo; Gluck: Reigen der seligen Geister aus Orfeo ed Euridice; Haydn: Symphonien Nr. 94 und 101, FlötenkonzertD-Dur, Arien aus ‚Die Schöpfung’ und ‚Die Jahreszeiten’ (Stader); Mozart: Requiem, Flötenkonzerte KV 313 & 314, Andante für Flöte und Orchester KV 315, Konzert für Flöte und Harfe KV 299; Mendelssohn: ‚Höre, Israel’ aus ‚Elias’ (Stader)

Der Plauener Karl Richter (1926-81), in Leipzig Schüler von Karl Straube und Günther Ramin und damit Erbe der großen deutschen Bach- und Orgeltradition, wurde bald nach seinem Amtsantritt an der Münchner Markus-Kirche zum vergötterten Bach-Exegeten in der bayerischen Landeshauptstadt. Sein Tod nach einem Herzanfall hinterließ eine trauernde Gemeinde, die lange brauchen sollte, um wieder in andere Bach-Gralshüter einigermaßen vertrauen zu können. Bis heute konnte sein Verlust in München nicht ersetzt werden. Richter was bekannt als kräftig dem Alkohol zusprechender Mann, der seine Gesundheit nicht schonte. Als Musiker schöpfte er stets aus dem Vollen, was ihm posthum den Ruf eintrug, Bach „hoffnungslos romantisiert“ zu haben. Diese üble Nachrede kann nach dem Hören der vorliegenden Anthologie nicht bestätigt werden. Vielmehr wird er hier als natürlicher, leidenschaftlicher Musikant erlebbar, dem spätere ‚Bachisten’ des süddeutschen Raums wie Helmuth Rilling nicht annähernd das Wasser reichen konnten. Richter ging vollkommen in den Partituren auf, auch wenn es übertrieben wäre, ihn als Meister der Verfeinerung der Phrasierung und Transparenz zu bezeichnen. Nein, er war vor allem ein Emphatiker, mit einer Neigung zum Pathetischen, das er mit einer sachlich musikantisch geschulten Ader im Zaum hielt. Als Instrumentalist erscheint er mir insbesondere an der Orgel bedeutend, sowohl in den Bach’schen Solowerken (man höre die c-moll-Passacaglia, die mit gravitätischem Momentum hypnotisiert) als in den Orgelkonzerten Händels, wo wir ihm die vielleicht bis heute glänzendste, würdevollste Gesamteinspielung verdanken. Da konnte er sich anscheinend noch bedingungsloser in die Musik versenken als wenn er am Pult stand. Die Brandenburgischen Konzerte und Orchester-Suiten Bachs sind durchwachsener in der Qualität und manchmal etwas schwerfällig, aber stets blutvoll und glutvoll. In den Cembalokonzerten Bachs muss ich gestehen, dass es einige wunderbare Aufnahmen mit modernem Klavier gibt (vor allem Murray Perahia), die diese rein klanglich authentischere Ausführungsweise nun doch sehr monochrom und gleichförmig erscheinen lassen.

Eine ganz besondere Freude ist es (und ich weise den Vorwurf prophylaktisch ab, dass es sich hier um meinen Landsmann handelt…), den großen Flötisten Aurèle Nicolet wieder zu hören, mit seiner fast etwas nervösen, jedenfalls alles andere als glatten Tongebung und von Leben durchpulsten Phrasierung und Artikulation: in den Flötenkonzerten und dem Doppelkonzert mit Harfe von Mozart, in Haydns D-Dur-Konzert und Glucks idylischem ‚Reigen der seligen Geister’, im Duo mit Richter in Sonaten von Bach Vater und Sohn, im Musikalischen Opfer – da lebt ein feinnerviger Geist wieder auf, wie ihn dieses doch so viel gespielte Instrument nicht wieder erleben durfte. Zeitlos bezaubernd!

Richter ist hier als Dirigent ein besonnener, diskreter, aber auch durchaus kraftvoller, weniger jedoch subtiler Begleiter. Auch seine Haydn-Symphonien sind absolut in Ordnung, echt und mit Wärme, ohne Extravaganzen, aber auch etwas füllig und schwer. Jedoch kennen wir aus jener Zeit viel schwerfälligere und innerlich unbeteiligtere Darbietungen, und „romantischere“ sowieso. Eine ganz besondere Freude ist es, die wunderbare oratorische Sopranistin Maria Stader zu hören, die damals die große Favoritin vieler Dirigenten war – sowohl mit geistlichen Arien von Alessando Scarlatti, Händel, Haydn und Mendelssohn als auch in Mozarts Requiem und der h-moll-Messe und Kantaten Bachs. Eine pure, sternenklare Stimme, unprätentiös und gradlinig schön. Viele weitere übliche Verdächtige jener Epoche tauchen auf: die Sänger Ernst Haefliger, Irmgard Seefried, Hertha Töpper, Dietrich Fischer-Dieskau, Peter Pears, Gerd Lutze, Antonia Fahberg, Kieth Engen, Max Proebstl usw., die Geiger Otto Büchner, Friedrich Wührer und Fritz Sonnleitner, der Flötist Paul Meisen, der Obosit Edgar Shann, die Trompeter Adolf Scherbaum und Georg Donderer, die Harfenistin Rose Stein und die Organistin Hedwig Bilgram, und viele weitere. Auch der Heinrich-Schütz-Kreis, den Richter ab 1951 leitete, ist zu hören mit Schütz’ deutscher Totenmesse ‚Musikalische Exequien’, mit welcher Sergiu Celibidache viereinhalb Jahre nach Karl Richters Tod die ungeliebte Münchner Philharmonie am Gasteig höchst unorthodox einweihen sollte . damit nun kann man Richters Schütz gar nicht vergleichen, gegenüber solcher Transzendenz bleibt es so hausbacken, wie es auch sonst üblich ist. Bleiben die großen Bach-Werke: Messe h-moll, Matthäus-Passion, Weihnachts-Oratorium – und hier kann jeder eintauchen in die Welt, die vor einem halben Jahrhundert Gegenwart und für viele Konzertgänger das Höchste war: eine erhebende, erhabene Angelegenheit, nicht allzu differenziert, aber leidenschaftlich und zugleich mit einer gewissen Nüchternheit vorgetragen, immer intensiv und aus dem Vollen geschöpft.

Die einzige betrübliche Sache ist das Booklet der vorliegenden 31-CD-Box. Nicht nur, dass es spartanischer eigentlich nicht geht und ich mich frage, ob man wirklich so schwäbisch sparen musste – vor allem enttäuscht die Lieblosigkeit der Redaktion, die so viele grobe Fehler und Lücken entstehen ließ. So ist die Solistin in Mozarts Doppelkonzert nicht erwähnt (Rose Stein an der Harfe), und es fehlen die Solistennamen in den Brandenburgischen Konzerten (u. a. Meisen, Scherbaum, Wührer und Richter selbst) und sogar in der h-moll-Messe (Stader, Töpper, Fischer-Dieskau und Engen). Auch sind die Aufnahmen nicht datiert, dass man – wüsste man es nicht besser – fast glauben könnte, es handele sich um eine Raubpressung. Immerhin, der kundige Text über Richter (der einzige Text im Beiheft) von Lothar Brandt bessert den Gesamteindruck dann doch noch etwas auf. Mehr Respekt vor der Lebensleistung eines solchen Mannes hätte den Produzenten wohl angestanden. Der Hörer kann sich jedoch auch so erlaben, sollte aber meine Rezension lesen, um zu wissen, wer da singt und spielt, wo nichts vermerkt ist… Die Legende Karl Richter lebt all dessen ungeachtet weiter.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, Januar 2017]

Großmeister der Kirchenmusik der klassischen Moderne

Edmund Rubbra
Tenebrae Nocturns op. 72; Missa Cantuariensis op. 59; Drei Motetten op. 76; Fünf Motetten op. 37
The Sixteen, Harry Christophers
Coro CD COR 16144; EAN: 828021614422

Kirchenmusik im 20. Jahrhundert – das ist ein problematisches Kapitel. Für die Chefideologen des Fortschritts ohnehin, da die Komplexität bei in der Regel mehrstimmiger Chormusik nicht so hoch sein kann wie im Instrumentalen, und die Dimensionen des Absurden nicht so ergiebig sind wie im Musiktheater. Die Kirche als potenter Geldgeber will ja auch ihren geldwerten Vorteil, und der heißt nicht Atonalität und Geräuschlaboratorium, sondern irgendwie dann doch – Verständlichkeit, eine gewisse Schönheit und Erhabenheit, und ganz allgemein Angemessenheit an den liturgischen Bedarf… Es ist aber auch von anderer Seite problematisch, denn der Glaube ist eben auch nicht mehr, was er mal war. Von Ernst Pepping, diesem führenden Vertreter von deutscher Seite, wissen wir beispielsweise, dass er gar nicht gläubig war und trotzdem Musik komponierte, die mehr Anklang fand als solche „moralisch kompatiblerer“ Zeitgenossen – na ja, er konnte eben mehr, und er verstand zu ergreifen. Da kann es doch nun wirklich egal sein, was er darüber dachte.

All dies soll nicht schmälern, welch großartige Beiträge existieren, so in Deutschland von Heinrich Kaminski, Reinhard Schwarz-Schilling, besagtem Meister Pepping, Hugo Distler und sogar Paul Hindemith, in Frankreich von Maurice Duruflé, Francis Poulenc oder Jean-Louis Florentz, in Italien von Giorgio Federico Ghedini, in der Schweiz von Frank Martin, in Polen von Krzysztof Penderecki, in Estland von Arvo Pärt, in Lettland von Peteris Vasks, in den USA von Vittorio Giannini, und natürlich in England: von Ralph Vaughan Williams, John Foulds und Benjamin Britten (mit zwei großen, überkonfessionellen Requiem-Vertonungen), Bernard Stevens, Herbert Howells oder eben Edmund Rubbra.

Edmund Rubbra (1901-86) war ein großer Meister im zeitlosen Sinne. Sieht man davon ab, dass er auch ein hervorragender Pianist und überhaupt Musiker war und obendrein ein höchst differenziert reflektierender Theoretiker, so sind es vor allem seine elf Symphonien, die manchem Leser ein Begriff sein dürften. Seine Kammermusik (darunter vier Streichquartette) ist auf keinem geringeren Niveau. Es ist freitonale Musik, die einen Löwenanteil ihrer Qualität lebenslangem intensiven Studium vorbarocker Polyphonie verdankt und diese in eine moderne harmonische Sprache mit fein ausbalanciertem Dissonanzengehalt, kühner Modulatorik und subtil lebendiger Rhythmik überführt. Rubbra, der von der anglikanischen Kirche zum Katholizismus übertrat, hat ja auch eine ‚Symphonia Sacra’ geschrieben, in welcher er das symphonische und das ekstatisch religiöse Element in unsentimental hymnischer Weise fusionierte. Hier nun tragen die vielfach preisgekrönten ‚The Sixteen’ unter Harry Christophers ein wunderbar vielseitiges Spektrum seiner geistlichen a-cappella-Chormusik vor, mit einer Ausnahme: das Credo der ‚Missa Cantuariensis’ wird von einer Orgel begleitet, was dem Ganzen eine willkommene Abwechslung beschert. Diese Chorwerke sind hier selbstverständlich minimal (16!) besetzt, was das Klangbild dem entscheidend annähert, was wir heute von alter Musik erwarten, und somit den archaischen Aspekt betont. Die Aufführungen sind von einer frappierenden Reinheit und Durchhörbarkeit der eminent kunstreichen kontrapunktischen Verschlingungen, obwohl wirklich nicht behauptet werden kann, die Phrasierung sei bewusst im Dienste der melodischen Energetik bzw. der übergeordneten harmonischen Spannungsverhältnisse verstanden. Aber es klingt fantastisch und ist ein großer ästhetischer Genuss, und je nachdem, wie der Hörer in der Lage ist, hinter das offenkundig Erscheinende zu hören, kann er sich vielleicht vorstellen, welche Wirkung diese in einer auch musikalisch idealen Aufführung entfalten könnte. So bleibt es eben beim Staunen, und dafür ist durchgehend Anlass, denn Rubbra ist ein inspirierter und gelassen tiefschürfender Meister des Fachs, der mindestens auf einer Höhe mit hierzulande viel bekannteren Gestalten wie Martin, Pepping oder Distler steht. Er hat übrigens auch ein sehr wertvolles kleines Büchlein über den Kontrapunkt, aus einer mehr freigeistig historisch bilanzierenden als analytischen Warte, geschrieben.

Hauptwerk vorliegender Aufnahme ist aus neun in drei Abteilungen zusammengefassten Motetten gegliederte ‚Tenebrae Nocturns’, von denen die ersten drei 1951, die weiteren sechs 1961 entstanden sind. Innerlich freier und zugleich als Gesamtzusammenhang bezwingender kann man in einem gebundenen Kontrapunkt nicht für Chor schreiben. Diese Musik ist voll Trauer und Verzweiflung, doch sie bleibt bei sich und führt den Hörer mitten in sein Selbst – was wohl auch die hehre Aufgabe liturgischer Musik sein sollte. Ein zeitloses Meisterwerk. Äußerlich am beeindruckendsten ist die doppelchörige ‚Missa Cantuariensis’ von 1945 (eine von fünf Messen Rubbras), und auch ist das Gesamtbild der sieben Sätze von höchster dramaturgischer Vollendung. Eine würdige Lobpreisung der göttlichen Intelligenz. Dass es nicht erst der Entwicklung des Reifestils bedurfte, um den Hörer ganz in den Bann zu schlagen, beweisen die fünf Motetten op. 37 von 1934, und hier ist der Kontrast zwischen den drei ruhigeren und den zwei dramatischeren dazwischenliegenden Sätzen mit souveräner Hand gesetzt. Nichts an dieser Musik ist ermüdend, sie geht immerzu ohne unnötiges Spektakel unbeirrbar ihren ganz eigenen Weg, der vielfach Unerwartetes enthält. Natürlich sind auch die drei Motetten op. 76 von 1952 ein wunderbar zusammenhängend empfundenes und ausgestaltetes Opus, das zugleich zeigt, wie Rubbra immer weniger äußerlich aufreizender Mittel bedurfte , um die seinem Schaffen innewohnende Dramatik zum Ausdruck zu bringen. Und doch wirkt nichts berechnend, routiniert oder überhaupt gemacht an dieser Musik. Sie fließt aus sich selbst, aus den Kräften, die ihre Keimzellen freisetzen im Dienste der substanziellen Texte, die an ihrer Wurzel ergriffen sind und keinerlei konfessionelle Einengung atmen.

Das Klangbild ist für eine Kirchenakustik (Church of St. Alban the Martyr, London) außergewöhnlich klar und durchsichtig, und der ausführliche Begleittext von Alexandra Coghlan sowohl den Komponisten als auch die Werke betreffend sehr informativ, einfühlsam und präzise. Über die Abfolge, die die Tenebrae Nocturns zweimal mit einer Packung Motetten unterbricht und mit der Messe abschließt, kann man geteilter Ansicht sein, doch misslungen ist es nicht. Eine exzellente Produktion, die auch hierzulande Chorleiter anregen sollte, es endlich mal mit Rubbra zu probieren. Eure Chöre werden es Euch danken, und das Publikum sowieso.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, September 2016]

In Schönheit die Zeit still stehen lassen…

Ole Buck – Sinfonietta Works: ‚Fiori di ghiaccio’ für 9 Instrumente (1999), ‚A Tree’ für 13 Musiker (1996), [Untitled] für 8 Instrumente (2010), ‚Flower Ornament Music’ für 17 Instrumente (2001)
Athelas Sinfonietta Kopenhagen, Jesper Nordin

Dacapo CD 8.226589 (EAN: 636943658925)

Der 1945 geborene dänische Komponist Ole Buck zählt zu den überragenden Meistern seines Landes, ist jedoch wie auch Hans-Henrik Nordstrøm dort ein Außenseiter – aber wir wissen ja, dass die Außenseiter oft viel bedeutender sind als die üblichen Verdächtigen, die landauf landab gespielt werden… Von Buck war bereits 1996 bei Dacapo eine Debüt-CD mit Sinfonietta-Werken erschienen, damals mit dem zwischen 1992 und 1995 entstandenen Jahreszeiten-Zyklus ‚Landscapes’, der zum Schönsten gehört, was die jüngere nordische Musik hervorgebracht hat. Denn in dieser Musik geht es zentral um Schönheit, und nicht weniger zentral darum, die Musik aus sich selbst heraus wachsen zu lassen, in anscheinender Absichtslosigkeit, und mit einer extremen Zerbrechlichkeit, die nicht nur technisch-tonlich sehr herausfordernd und heikel ist, sondern auch setets den Bezug zur beinahe (und manchmal auch tatsächlich) eintretenden Stille hält. Buck liebt – wie beispielsweise auch Arvo Pärt, Peteris Vasks oder Pascal Dusapin unter den Heutigen – die introvertierten Sphären des den ganzen Satz durchwebenden Moll. Er liebt ostinate Figuren, die zart ineinander gleiten und mal subtil, mal mit plötzlich herausfahrender Geste umschlagen. Er liebt das Andeutende, Offenlassende, um es dann ebenso unerwartet mit dem Konkreten, überraschend Bestimmenden zu konfrontieren. Er liebt die pointillistisch oszillierende Instrumentation, und das naturhaft irregulär sich Aufbauende und wieder Ausdünnende. Obwohl diese Musik stark an unsere Emotionen appelliert, nimmt sie keineswegs gefangen, hat nichts Affirmatives und belästigt nicht auch nur mit einem Gramm Sentimentalität.

Das früheste Werk dieser neuen CD ist unmittelbar nach den ‚Landscapes’ entstandene, knapp viertelstündige ‚The Tree’, ein musikalische Lebewesen von unerhört feinsinnigem Zauber, von einer unergründlichen Schönheit auch in den dissonanten Reibungen, die auf der klaren harmonischen Folie wie Scherenschnitt seelischer Zustände wirken. Hier könnte man tatsächlich assoziieren, dass sich Per Nørgård mit seiner zeitenthobenen Entgrenzung und Arvo Pärt mit seiner innig psalmodierenden Versenkungskraft die Hand reichen, und doch ist die dabei gewonnene Sprache eine andere, eigene, die auch nicht den Mechanismen der Minimal Music, an welche sie immer wieder erinnert, verfällt.

Von 1999 stammt die wunderbar fein belebte, nur ein wenig kürzere Mollstudie ‚Fiori di ghiaccio’, eine Hommage an Nicolò Castiglioni, und doch nur in der fragilen Klanglichkeit diesem verwandt und nicht in der von seriellen Verfahren nicht affizierten Tonsprache. Dieses Stück führt uns so unwillkürlich in eine idyllisch verhangene Traumwelt hinüber – dem Komponisten zufolge „fällt die ganze Zeit über Schnee“ –, dass man nur ein gigantisches Kultpotenzial attestieren kann, das nur aus dem einen Grund nicht zum Tragen kommt, dass der Komponist ein Unbekannter ist. Es ist geradezu ideale Musik für New Age-Feingeister, und zugleich ist sie viel mehr. Umfang und insgesamt auch offenkundig facettenreicher ist die 22minütige ‚Flower Ornament Music’ von 2001, ein tönendes Bekenntnis zum Zen, und die Zeit vergeht wie in einem permanenten Schwebezustand, was nicht bedeutet, dass nicht auch Kraftvolles und Dramatisches vorkäme.

Klanglich eine deutlichen Kontrast bietet das kürzeste, kleinstbesetzte und jüngste Werk, [Untitled] von 2010 mit ihrer Gegenüberstellung von stachliger Obsession und tiefem Unterholzkriechen, außerdem ist hier die Faktur viel dissonanter, aber immer von unmittelbar sich übertragender Körperlichkeit und Authentizität. Hier hört man jedenfalls deutlich, dass auch Buck ein Komponist unserer zerrissenen, das Zärtliche zerstörenden oder wenigstens unterdrückenden Epoche ist.

Das Spiel der Athelas Sinfonietta unter Jesper Nordin ist von beeindruckender Präsenz, Präzision und Klangschönheit, das Klangbild geradezu ideal in der glasklaren Räumlichkeit fern trockener oder verhallender Extreme, und der Booklettext informiert über das Nötigste. Rundherum ein hinreißendes Album, das allen zu empfehlen ist, die offene Ohren für wirkliche Schönheit jenseits von Ideologien und Klischees haben (diese Musik ist eben auch kein „zurück zu…“!), die gerne die Zeit still stehen lassen und sich nicht mit der Befürchtung beschäftigen, jemand könne sie für naive Hörer halten.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, September 2016]

Der wahre Avantgardist in neuer Referenzqualität

Dmitri Schostakowitsch
Sonaten für Violine und Klavier op. 134 (1968) und für Viola und Klavier (1975)
Mirjam Tschopp (Violine, Viola), Riccardo Bovino (Klavier)
Genuin GEN 16428 (EAN: 4260036254280)

Hätte es je eine originellere Übernahme von tragenden Elementen eines großen Meisterwerks gegeben als im Finale von Schostakowitschs letzter Komposition, der Bratschensonate, die er einen Monat vor seinem Tod vollendete? Die Art, wie hier der Kopfsatz von Beethovens ‚Mondschein’-Sonate anklingt, ist wahrlich unheimlich und zeugt von einer ungeheuren inneren und äußeren Freiheit. Wie hatte Schostakowitsch selbst zwei Jahrzehnte zuvor, 1955, geschrieben:

„Ich glaube, Originalität im Musikschaffen ist umfassend zu verstehen. Die Übernahme einzelner Elemente von großen Komponisten der Vergangenheit bedeutet noch lange nicht ein Abschreiben von Seiten oder Takten aus bekannten Werken. Man muss die Technologie ihres Schaffens gründlich durchdenken, sie verstehen und dann dieses oder jenes Element zu seinen eigenen Zwecken benutzen, indem man es abändert oder – besser noch – entsprechend seiner eigenen künstlerischen Aufgabenstellung weiterentwickelt.“

Ein besseres Beispiel dafür könnte es nicht geben. Danach ist derlei in der Sowjetunion in Mode gekommen, doch selbst bei Schnittke nicht auf solcher beklemmend befreiten Höhe. Und heute erweist sich Schostakowitsch damit im Nachhinein als wahrer Avantgardist, denn heute ist solches Mäandern zwischen den Zeiten und Stilen allgemeine Verfahrensweise in der sogenannten ‚Postmoderne’, wenngleich eben meist mit peinlichen und kaum je mit wirklich hörenswerten oder gar zusammenhängend tragfähigen Resultaten. Dergleichen Probleme – die von unseren Zeitgenossen in ihren eigenen Werken gar nicht als solche wahrgenommen werden – kannte Schostakowitsch nicht, denn bei ihm funktioniert es so unvorhersehbar wie folgerichtig organisch.

Die Neuaufnahme der Bratschensonate und der um sieben Jahre vorangegangenen Violinsonate für den unübertroffenen David Oistrach durch die Schweizer Geigerin und Bratscherin Mirjam Tschopp und den Turiner Pianisten Riccardo Bovino bewegt sich auf olympischen Höhen. Nicht nur, das Mirjam Tschopp sowohl auf der Geige als auf der Bratsche eine herausragende Virtuosin ist: Bei ihr klingt die Bratsche zudem nicht wie eine tiefere Geige, sondern eben wirklich originär, wie eine Bratsche im schönsten Sinne klingen kann, als authentischer Ausdruck des Alt-Registers mit grandios mächtiger Tiefe. Mirjam Tschopps Ausdruck umfasst eine weite Skala. Grundsätzlich fällt eine unsentimental innige Herbheit auf, die sich allerdings in idealtypischer Weise mit Schostakowitschs weltabgewandtem Spätstil verbindet. Riccardo Bovino ist ihr ein souverän mitgestaltender und intensiv zuhörender Partner, und beide sind in jeder Hinsicht bestens aufeinander abgestimmt, auch in den dynamisch heikelsten Abschnitten bilden sie ein exzellent abgestimmtes Duo. Überhaupt ist das dynamische Spektrum mit entschlossener Bewusstheit sehr weit gespannt. Hinzu kommt eine vorzügliche Aufnahmetechnik, die wohl auch von der ausgezeichneten Akustik der Leipziger Bethanienkirche profitiert haben dürfte. Hier ist in allen Belangen superbe Arbeit geleistet worden, und auch Eckhard van den Hoogens kenntnisreicher Begleittext hält da gut mit.

Ein paar kritische Kleinigkeiten möchte ich dennoch anmerken: Dem Ganzen täte des öfteren noch mehr Tempokonstanz über die großen Abschnitte hinweg gut; und dynamisch entspricht die Realisierung nicht immer ganz dem musikalischen Sinn. So werden etwa manche Crescendi, die eigentlich nur zur nächsten Dynamikstufe hinführen sollen, übermäßig hervorgehoben, wodurch dann am Ziel die Dynamik wieder zurückgenommen werden muss. Auch das gegenteilig ausmündende Crescendo mit anschließendem subito piano (dieses einst von Beethoven mit so einmaliger Wirkung eingeführte Mittel) wird gelegentlich nicht konsequent zum Ende geführt. Auch über manche Phrasierung kann man diskutieren, doch das fällt dann doch nicht so sehr ins Gewicht, und als Fazit ist zu sagen: Es handelt sich um eine Referenzaufnahme, wie seit Jahrzehnten keine gleichrangige vorgelegt wurde. Gerne hören wir mehr von diesen außergewöhnlich ernsthaften und befähigten Künstlern.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, August 2016]

Mendelssohns Liebhaber

Felix Mendelssohn Bartholdy
Symphonien Nr. 1 c-moll op. 11 & Nr. 4 A-Dur op. 90 ‚Italienische’
Jörg Widmann: Ad absurdum. Konzertstück für Trompete & kleines Orchester (2002)
Sergey Nakariakov (Trompete)
Irish Chamber Orchestra, Jörg Widmann
Orfeo C 914161A (ISBN: 4011790914121)

Den 1973 in München geborenen Jörg Widmann kennen wir seit vielen Jahren als exzellenten Klarinettenvirtuosen und höchst erfolgreichen Komponisten, durchaus in beider Hinsicht als Überflieger unter den international renommierten deutschen Musikern seiner Generation. Dass Widmann auch dirigiert, mag zunächst weniger sensationell anmuten, denn man könnte bald auch fragen: welcher erfolgreiche Komponist und Instrumentalist versucht sich nicht in diesem so angesehenen wie einträglichen Metier. Aber nach Anhören der vorliegenden ersten CD einer Serie, die sämtliche fünf vom Meister selbst abgesegneten Symphonien umfassen wird, ist unstrittig: Widmann hat größere Begabung und mehr offenkundige Liebe zur Musik als die meisten seiner Kollegen, seien sie nun ursprünglich Komponisten oder Instrumentalisten. Als erster Gastdirigent führt er bei seinem erklärten Anliegen das Irish Chamber Orchestra ins Feld, live mitgeschnitten in drei Konzerten 2012, 2013 und 2014 in der heimischen University Concert Hall in Limerick. Die Live-Aufnahme tut der Sache gut, kann doch so eine ganz andere musikalische Folgerichtigkeit entstehen als bei dem Mikrogeschnipsel, wie es erst kürzlich vom Münchener Kammerorchester unter Liebreich bei Sony vorgelegt wurde, wobei dazu natürlich auch das hierfür erforderliche Niveau vorliegen muss – und dieses ist gegeben, dank Orchester und Dirigent.

Widmanns Mendelssohn-Projekt – in welchem die 12 Jugendsymphonien keine Aufnahme fanden, denen eine derart engagierte, präzise und freudvolle Einstudierung auch gut getan hätte – kombiniert Symphonien des Meisters mit Musik Widmanns, in diesem Fall – zwischen den beiden Symphonien – dem aberwitzigen Trompeten-(Anti)-Konzertstück ‚Ad absurdum’, welches in seiner grenzwertigen Gehetztheit vom Solisten Sergey Nakariakov phänomenal dargeboten wird. Gegen Ende schnappt ihm eine Drehorgel das überdrehte Leadership weg, und das Stück verendet geradezu bewusst kläglich – der Virtuose erstickt sozusagen am eigenen Irrsinn… Musikalisch kein ausgesprochen bedeutsames Werk, so eine Art mehrfach verlängerter Anti-Hummelflug, der Khatschaturian mit Wolfgang Rihm verheiratet, verblüfft Widmann doch immer wieder mit seinen hakenschlagenden Kapriolen und mit einem ins Leere laufenden Über-Elan, der dem Hörer ein sehr unterhaltendes, verrücktes Spektakel anbietet, das auch den Musikern bei allen Schwierigkeiten des hindernisreichen Parcours schelmische Freude bereiten kann. Der Dirigent hat die selbst angezettelte Schieflage bestens im Griff.

Den Anfang macht Mendelssohns Erste (eigentlich seine Dreizehnte!) Symphonie in c-moll, komponiert mit 13 Jahren. Sie ist ein hinreißendes Zeugnis früher Meisterschaft, in welcher auch deutliche Sommernachtstraum-Anklänge hervorscheinen, und das Studium des Mozart’schen symphonischen g-moll Niederschlag gefunden hat, ohne dass dies wirklich von Belang wäre, denn: es ist bereits ureigenster Mendelssohn von schlagender Originalität und souveräner Formung, mit all seinem überbordenden Reichtum, seiner Kunst der periodenübergreifenden melodischen Verknüpfung, all der Klarheit und Farbenfreude der Mendelssohn’schen Orchestration, und jenem rhythmischen Drive, der ihm mehr zu eigen war als seinen romantischen Zeitgenossen. Widmann neigt zu forschen Tempi – auch dies in Übereinstimmung mit den überlieferten Intentionen des Komponisten. Im selben Geist kommt die Italienische Symphonie daher, die Mendelssohn ja niemals abschließend für den Druck vorbereitet und daher nicht mit einer Opuszahl versehen hat. Widmann lässt die etablierte Erstfassung spielen, die auch mir als die gelungenere erscheint. (Mendelssohn hat alle Sätze außer dem Kopfsatz teils gravierend überarbeitet, doch diese 2. Fassung ist erst vor wenigen Jahren erstmals im Druck erschienen, bei Bärenreiter, und wird nach wie vor kaum gespielt.) Kraft, Schwung, Leichtigkeit, kontrollierter Übermut, unsentimentale Innigkeit, Finesse der Artikulation und Phrasierung – hieran besteht hier kein Mangel, was die Aufnahme fast allen anderen, die der Markt offeriert, weit überlegen sein lässt. Natürlich kann man ein paar Kleinigkeiten monieren, und das hängt auch damit zusammen, dass das Niveau so außerordentlich ist: In einigen Sätzen wird zu Beginn ein etwas schnelleres Tempo angeschlagen, als sich dann wirklich sinnvoll durchhalten lässt – besonders offenkundig im Kopfsatz der Italienischen; die Phrasierung der Streicher am Beginn des langsamen Satzes von op. 11 könnte noch freier, unabhängiger vom Takt ausschwingen, auch könnte sich der Klang der melodieführenden Geigen im Andante con moto der Italienischen noch feiner den Flöten-Arabesken anschmiegen; das Fortissimo der Blechbläser schlägt gelegentlich über die Stränge, was von der Tontechnik nur teilweise ausgebügelt werden kann; überhaupt besteht der Mangel, dass das Fortissimo öfters von Anfang an so stark ist, dass am Höhepunkt keine weitere Steigerung möglich ist; auch kann ich nicht sehen, dass die (vorgeschriebene) Wiederholung der Exposition der Kopfsätze der Gesamtdramaturgie dienlich wäre, womit Widmann zwar dem Common sense der scholastischen Musikwissenschaft entspricht, wo ich jedoch gerade von ihm eine unkonventionell mutige Selbständigkeit der Wahrnehmung erwarten möchte. Besonders erfreulich ist, dass nicht nur das forsch Vorwärtsdrängende, Stürmische entfesselt zum Zug kommt, sondern auch das Lyrische, Kantable innig durch- und erlebt wird. Diese Aufnahmen sind jedenfalls musikalisch allem um Lichtjahre voraus, was die ‚historische Aufführungspraxis’ (Harnoncourt, Brüggen, Gardiner usw.) hervorgebracht hat – denn hier agiert ein Dirigent, der diese Musik in all ihren Facetten liebt und sein ganzes Feuer und seine Anmut in den Dienst ihres Gedeihens stellt. Jörg Widmann offenbart sich als ein Urmusikant, und nun wäre es großartig, wenn er auch bei seinen Kompositionen mehr und mehr darauf achten würde, dass sich ein erlebbarer Zusammenhang über längere Strecken einstellt. Zugang hat er dazu, wie sich in seiner Liebe zu Mendelssohn erweist. Widmann ist ein stürmischer Liebhaber, auch wenn Wolfgang Stährs historisch paraphrasierende Formulierung im Booklet, dass wir hier „Mendelssohns Geist aus Widmanns Händen“ empfangen, reichlich affirmativ daherkommt. Stährs kenntnisreicher Text und ein sehr lebensnaher, weitgehend durchsichtiger Aufnahmeklang runden diese insgesamt gelungene Produktion ansprechend ab.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, August 2016]

Bloß nie mehr aufhören!

Debütkonzert der Latin-Gruppe Magma Tirquaz
in der Münchner Seidl-Villa am 4. Juni 2016

OLYMPUS DIGITAL CAMERAFoto: Yamilé Cruz Montero

Die armenisch-stämmige argentinische Sängerin Sandra Nahabian ist den Kennern der Münchner Szene schon lange ein Begriff für ihre modulationsfähige, ausdrucksvolle, intonationsreine Stimme und ihre von Charme, Witz und doppelbödiger Ernsthaftigkeit sprühenden Auftritte. Nun endlich ist es ihr gelungen, die richtige Band um sich zu scharen. Am Samstag in der idyllischen Schwabinger Seidl-Villa war es, nach langen, intensiven Proben, endlich soweit: das Latin World Music-Quintett Magma Tirquaz feierte vor ausverkauftem Haus sein Konzertdebüt, dem hoffentlich bald nicht nur viele weitere Konzerte, sondern auch ein Debütalbum bei einem guten Label folgt. Der Erfolg war gigantisch, das begeisterte Publikum erklatschte seine Zugaben weit über das Vorgesehene hinaus, und auch dann sank die Qualität nicht ab, sondern steigerte sich weiter, indem der Fluss und die Präzision noch zuzunehmen schienen.

Es ist Sandra Nahabian gelungen, ein auf allen Positionen exzellent besetztes Ensemble zusammen zu bekommen: als ruhenden, allen Situation mit Wärme und Gelassenheit sich anpassenden Pol den mexikanischen Gitarristen David Bermudez, der besonders da hinreißend ist, wo er ganz Einfaches mit unprätentiöser Innigkeit zum Singen bringt – und nicht nur mit seiner Gitarre singt, sondern auch ganz authentisch mit seiner Stimme; sodann sozusagen als diametrales Element den peruanischen Pianisten Oswaldo Cruz, ein ausgesprochen spritziger Humorist, mit einer wunderbaren Neigung zum Verrückten, Kapriziösen, Zirkushaften – von Cruz stammte dann auch, in Uraufführung, als erste Zugabe das einzige rein instrumentale Stück, in welchem die vier Musiker – innerhalb der Struktur – so richtig „außer Rand und Band“ agieren durften. Sehr erfrischend! Ein ganz außergewöhnlicher Musiker ist der deutsch-chilenische Bassist Sven Holscher, diesmal ausschließlich mit seiner Bassgitarre, und sowohl in seiner Funktion in der Band von so schöner Klarheit wie alchimistischer Subtilität, wie auch ganz besonders in den Nummern, wo nur er alleine (oder zusammen mit dezentem Schlagzeug) die Sängerin begleitete beziehungsweise mit ihr dialogisierte, ein Barde im ursprünglichen Sinne des Wortes, ein Geschichten- und Märchenerzähler, gleichermaßen zuhause im Ekstatischen, Nostalgischen, Schauerlichen oder Absurden, und auch: ein echter Sänger auf seinem Instrument; und nicht hinter ihm zurück steht der griechische Schlagzeuger Christos Asonitis, längst eine feste Größe in der süddeutschen Jazz- und Fusionszene, ein Mann, der nicht nur im steten Permutations-, Metamorphose- und Variationsdrang niemals Monotonie aufkommen lässt, jedoch auch die Hörer nur bis an ihre Grenzen und eben nicht sinnlos darüber hinaus herausfordert, ein kreativer Geist, der in jedem Moment etwas Neues ersinnt und nicht nur uns, sondern auch sich selbst oft damit zu überraschen scheint; Asonitis’ Soli sind kompakt, klar und dabei unkonventionell aufgebaut, sie wirken eigentlich wie Kompositionen. Wenn ich jetzt sage, dass er einen fantastischen Groove und Drive hat, so riskiere ich, damit die anderen Beteiligten zu beleidigen, was ich zwar gelegentlich gerne mache, jedoch hier völlig unangebracht wäre. Alle haben sie Groove und Drive, und nur so konnte es zu einer derart kulminierenden zweiten Konzerthälfte kommen, nachdem das Publikum schon nach der ersten Hälfte „aus dem Häuschen“ war. Ja, und nicht zu vergessen die Hauptdarstellerin, Sandra Nahabian, die auch so wunderbar lasziv und mit so vielen Gesichtern Georg Kreislers ‚Vergessen’ vortrug, worin sie „zu vergessen vergaß“. Hier ist eine Meisterin der Stimme und der Stimmungen am Werk, und eine feinnervige, vielgestaltig faszinierende Kommunikatorin. Sandra Nahabian verfügt über die seltene Fähigkeit, ein Publikum einen ganzen Abend mit ihrer Stimme und Erscheinung zu beglücken, ohne dass man merkt, wie die Zeit vergeht, und dass man sauer zu werden droht, wenn sie aufhören will. Aber auch das gilt an diesem Abend für alle Beteiligten. Magma Tirquaz hat das Zeug, ganz schnell und nachhaltig eine der führenden Latin-Gruppen des europäischen Kontinents zu werden. Und eigentlich erwarten wir nicht weniger als das nach diesem Debütkonzert.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, Juni 2016]

Zauberhaft, authentisch, berührend – Yamilé Cruz Montero und Christos Asonitis spielen kubanische Musik

Die 1985 in Havanna geborene Pianistin Yamilé Cruz Montero spielt in der Mohr-Villa in Freimann im Münchner Norden Werke kubanischer Landsleute, teilweise in Kollaboration mit dem griechischen Schlagzeuger Christos Asonitis. Neben Zeitgenössischem, darunter zwei vertrackten Kompositionen der bekanntesten kubanischen Komponistin Tania León und zwei Eigenkompositionen von Frau Cruz Montero, spielte sie auch Klassiker von Ernesto Lecuona und, als Zugabe und einziges Werk des 19. Jahrhunderts, Ignacio Cervantes.

Schon kürzlich berichtete the-new-listener.de von einem Konzert, in welchem Yamilé Cruz Montero ausschließlich zeitgenössische Werke von Komponistinnen, darunter mehrere Uraufführungen, vortrug. Und schon da war erstaunlich, mit welcher Ernsthaftigkeit, filigranen Feinnervigkeit, rhythmischem Groove und natürlicher Sanglichkeit sie agierte. Das Konzert in der Mohr-Villa – in eher etwas indifferenter Akustik auf einem zwar nicht makellosen, da nur bedingt modulationsfähigen, aber doch auch nicht allzu unbefriedigenden Hohner-Flügel – begann sie denn auch mit eben jener Danzón von der in Holland lebenden Keyla Orozco und den zwei virtuosen Stücken ‚Momentum’ und ‚Tumbao’ von Tania León, die sie bereits zuletzt im Programm führte. Und es war erfreulich, hören zu können, wie die Werke unter ihren Händen weiter reifen. Neu dann ‚Reencuentro’ von dem 1958 geborenen, komponierenden Klaviervirtuosen Ernán López Nussa, nunmehr unter so dezenter wie stimulierender Mitwirkung von Asonitis am Percussion-Set. Man darf staunen, wie wunderbar die beiden aufeinander eingespielt sind, und diese durchaus auf traditionellen karibischen Elementen aufbauende Musik swingte nicht nur in transparenter Zartheit, sondern entfaltete eine improvisatorische Anmut. Eine von geschmackvoller Sensitivität getragene Musik, die man gerne wieder hören möchte. Es schlossen sich vor der Pause noch, nunmehr wieder für Klavier solo, die Variationen über ein (innig romantisches) Thema von Silvio Rodriguez aus der Feder von Andrés Alén an – 1950 geboren, hat er sich einst auch seine Sporen als Pianist verdient. Man merkt seinem Zyklus an, dass er aufmerksam die großen Vorbilder in der Gattung studierte, und in einer Variation scheint tatsächlich Brahms eine kleine Stippvisite zu machen. Allerdings wirkt das Werk insgesamt auch etwas bemüht scholastisch und ist nicht von einem durchgehenden Spannungsbogen getragen. Yamilé Cruz Montero bemühte sich nach Kräften, der nicht allzu überzeugenden Entwicklung den durchgehenden Lebensimpuls einzuhauchen.

Was noch zu wünschen wäre: dass sie ihren sehr liebevoll und offenherzigen Einführungsworten etwas mehr Information über die hierzulande ja völlig unbekannten Komponisten hinzufügt.

Nach der Pause folgte, was Länge, Gehalt und stilistische Vollendung betrifft, zunächst das Hauptwerk des Abends, zwar kubanischer Herkunft, aber doch auch das einzige nicht kubanische Werk des Abends: die sechssätzige Suite Andalucia vom Nationalkomponisten Ernesto Lecuona. Hier konnte Yamilé Cruz Montero ihr ganzes Können ausspielen, in feinen Schattierungen und unwiderstehlichen Rhythmen, und es ist Musik, die ohnehin Vergnügen bereiten möchte und nur darauf wartet, dass jemand wie hier sein ganzes Herz und seine Ausdrucksstärken in ihren Dienst stellt. Ganz besonders zauberhaft die Sätze ‚Alhambra’ und ‚Malagueña’, und ganz besonders quirlig die ‚Gitanerias’. Danach erwarteten wir gespannt zwei Eigenkompositionen der Pianistin: ein schlichtes, erstaunlich fein gesponnenes und in den Fortschreitungen durchaus kraftvolles Stück, das im Verhältnis von Können und Wollen stimmig erschien. Danach, nun wieder unter Mitwirkung des Schlagzeugs, das Schauspielmusik-Extrakt ‚El dragón en la luna’, mit vielen zündenden Momenten, aber auch nicht so organisch etwickelt wie das vorangehende Solo-Präludium, sondern eher eine geschickte Montage unterschiedlicher Elemente. Die beiden boten dann noch von dem afro-kubanischen Jazzmusiker Aldo López Gavilán ‚El pájaro carpintero’ dar, sehr zur Freude des begeistert mitgehenden, zahlreich erschienenen Publikums, das mit dieser Musik so richtig „in Fahrt“ gekommen war und gar keine Anstalten machte, nach Hause gehen zu wollen. Also folgte noch einmal Lecuona, diesmal mit einem kubanischen Tanz unter Mitwirkung des etwas zu kräftigen Schlagzeugs (dadurch werden vor allem die tiefen Register des Klaviers sehr übertönt), und zum Schluss Yamilé Cruz Montero alleine mit einem populären Klassiker von Cervantes.

Beide Künstler verdienen den Enthusiasmus, der ihnen entgegenschlug. Christos Asonitis ist ein so einfallsreicher wie unaufdringlicher, hochkultivierter und hellwacher Schlagzeuger, der dem kleinen Set einen großen Reichtum an Nuancen entlockt und nicht in routinierte Mechnizität abgleitet. Und Yamilé Cruz Montero wünscht man noch sehr viel Erfolg, und dies wahrlich aus mehr Gründen als der durchaus zauberhaften Erscheinung wegen! Was wir so oft vermissen auf dem Podium: ein durchweg aufrichtiger Mensch und authentischer Künstler, ohne jegliche Prätention, gewiss zu menschlich und bescheiden für das Ellenbogen-Business der Starkult-Klassikwelt, dafür berührend und echt in allem, was sie tut. Und durchaus auch mit dem Potential für eine Virtuosin von Rang versehen. Wir sind gespannt, was sie noch alles für uns entdecken wird.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, Mai 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Hochdramatische Feuertaufe und Quintettorchester

Im britischen Klassikmagazin Gramophone gab es eine Rubrik, in welcher Kritikernestor Robert Layton Kritiken jüngerer Kollegen nachträglich kritisch unter die Lupe nahm und sozusagen Kritik an der Kritik übte. Das ist sicher eine originelle Idee, und mehr Kritik an der Kritik wäre dringend allgemein vonnöten. Nun haben wir zwar nicht vor, dergleichen bei The New Listener einzuführen, doch mit dem Eklat um die Kritik von Josef Rottweiler zum Konzert im Freien Musikzentrum München am 22. April liegt ein Fall vor, dem weitere Klarstellung gut tut. Da der Verfasser dieser Zeilen im Konzert auch zugegen war, möchte er nunmehr eine dritte Stimme hinzufügen, um das Spektrum des Wahrgenommenen zu erweitern.

Das Konzert, in dessen erster Hälfte der in München lebende peruanische Meisterpianist Juan José Chuquisengo erstmals als Komponist vor die deutsche Öffentlichkeit trat, begann mit einem Arrangement Chuquisengos von Mariano Mores’ (1918-2016) populärer Milonga ‚Taquito militar’ für Violine und Klavier, vortrefflich im spielerischen Charakter erfasst von Rebekka Hartmann und Ottavia Maceratini. Danach spielte Frau Maceratini eine rauschhafte Klavierfantasie von Chuquisengo, die sie elf Tage zuvor in Zürich zur sehr erfolgreichen Uraufführung gebracht hatte (siehe die entsprechende Zürcher Kritik bei The New Listener) – und die sie hier noch differenzierter und souveräner zu gestalten verstand: ‚Guerrero Andino’, ein technisch äußerst herausforderndes, ungeheuer klangschönes Werk, das eine immense Stilbreite quasi indigener Stilelemente vorstellt, ohne je Volksweisen zu zitieren, und nach Ansicht vieler prädestiniert, ein erfolgreiches Repertoirestück zu werden.

Dem folgte die Uraufführung der 2014 entstandenen und 2015 überarbeiteten ‚Tango-Metamorphosen’ von Chuquisengo für Streichquintett unter der sehr musikalischen Leitung des Komponisten. Er erwies sich darin auch als durchaus begabter Dirigent, der sicher noch das rechte durchgehende Maß zwischen Aktion und Geschehenlassen finden muss – ein paar Mal hatte man den Eindruck, dass er so sehr beim Zuhören war, dass er fast das Dirigieren vergessen hätte. Umso inniger glückte vieles in dieser Aufführung. An einigen besonders komplexen Stellen in diesem so überreichen, hochdramatischen, wahrhaft symphonisch gebauten großen einsätzigen Werk, das ursprünglich als Hommage an Astor Piazzolla betitelt war, kam es zu kleineren Unfällen, und einmal stieg eine Beteiligte für längere Zeit aus und spielte trotzdem weiter, was für ein paar Takte harmonisches Chaos sorgte. So etwas ist bei Uraufführungen immer wieder passiert, es gehört sozusagen zum Abenteuer der Feuertaufe dazu, und doch kann man den Musikern, die in kürzester Zeit (bedingt durch Erkrankung zunächst zur Mitwirkung vorgesehener Kollegen) das kontrapunktisch und rhythmisch sehr komplexe Werk erstaunlich gut umzusetzen verstanden, nur hohen Respekt zollen, und das Publikum war zutiefst ergriffen und begeistert von dieser so wild ungestümen wie zärtlich gesangvollen Musik, die organisch zielsicher unterschiedlichste Aggregatzustände durchwandelt. Chuquisengo hat das Zeug zu ganz Großem und dürfte als Komponist bald zu hohen Ehren kommen.

Nach der Pause spielten zunächst Rebekka Hartmann und Shasta Ellenbogen drei wunderschön einfache Canzonettas vom großen neuseeländischen Meister Douglas Lilburn (1915-2001), wobei die so einfache Pizzicato-Begleitung der Bratsche in der ersten Canzonetta rhythmisch sehr unstet ausfiel. Ansonsten war der Vortrag sehr ausdrucksvoll und fesselnd. Im folgenden Duo für zwei Violinen, im Zusammenspiel nicht ganz so beglückend, konnte man Lilburns große Kunst freier kontrapunktischer Gestaltung bewundern. Wer nicht ideologiebelastet an diese Musik herangeht, also sich nicht damit aufhalten muss, dass zu dieser Zeit Boulez, Nono oder Xenakis viel „modernere“ Musik geschrieben haben, kann erfahren, welch große Kunst in vollendeter Einfachheit und auch erfüllter Sparsamkeit der Mittel liegen kann.

Gestalterischer Höhepunkt des Konzerts war zweifellos das erste Klavierkonzert in C-Dur von Beethoven in der Streicherfassung Vinzenz Lachners. Ja, es war wirklich erstaunlich, wie orchestral das Quintett erklang, und man kann von Ottavia Maria Maceratini nur sagen, dass man lange herumreisen muss, um jemanden zu hören, der dieses Konzert heute ähnlich überzeugend darbieten könnte. Wenn viele Zuhörer hier von Weltklasse sprachen, kann man ihnen nur gelassen beipflichten. Sicher, der langsame Satz vertrüge mehr Ruhe und eine tiefere Erforschung der introvertierten Dimension, der Schattenanteile der Musik; und das Finale war an der absoluten Tempoobergrenze orientiert, das war kein Allegro mehr, sondern ein Presto – aber so gespielt, so artikuliert war es einfach bezwingend. Schwierig allerdings für die Streicher, in dem rasanten Tempo zu entsprechendem Klang zu finden, da müsste man es wohl noch ein paar Mal spielen. Ganz besonders gelungen war auf jeden Fall der Kopfsatz, und insgesamt war das alles von einer frappierenden Musikalität und organisch entwickelten Logik des Aufbaus, eine echte Freude. Wir sind sehr gespannt, was wir von diesen Musikern noch hören werden.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, April 2016]