Schlagwort-Archive: Rebekka Hartmann

Sehnsucht, Beseeltheit und Routine

Am 10. und 11. Juli 2022 spielte die Staatskapelle Weimar in der Weimarhalle unter der Leitung von Giedrė Šlekytė ihr zehntes Symphoniekonzert der Spielzeit 2021/22. Es erklangen Jean Sibelius‘ Violinkonzert und Sergej Rachmaninows Symphonie Nr. 1 sowie, als deutsche Erstaufführung, Saudade von Žibuoklė Martinaitytė. Als Violinsolistin war Rebekka Hartmann zu hören. Die folgende Besprechung bezieht sich auf das Konzert vom 11. Juli.

Der Abend begann vielversprechend mit zeitgenössischer Musik. Die 1973 geborene, in New York lebende litauische Komponistin Žibuoklė Martinaitytė hat bislang vorrangig mit ihren Orchesterwerken Aufmerksamkeit erregt. Ihr Stück Saudade, ein einsätziges Werk von etwa einer Viertelstunde Dauer, stammt aus dem Jahr 2019 und war an den beiden Weimarer Konzertabenden zum ersten Mal in Deutschland zu hören. Der Begriff „Saudade“ stammt aus dem Portugiesischen und bezeichnet „ eine Meta-Nostalgie, ein Sehnen, das auf die Sehnsucht selbst ausgerichtet ist“, wie die Komponistin in ihrer Werkeinführung schreibt. Dieser Zustand wird durchaus schlüssig in Musik übersetzt. Ohne dass man von Themen oder Motiven sprechen könnte, sind doch über den Verlauf der Komposition gewisse Grundbausteine präsent, die dem Werk ein einheitliches Gepräge geben. Man hört immer wieder fluktuierende Cluster aus Stufen der Molltonleiter, die sich einem Niederlassen auf dem Grundton verweigern und dadurch nie zur Ruhe kommen. An Glissandi und feinen chromatischen Umspielungen spart Martinaitytė nicht, ohne dass dabei der diatonische Grundcharakter der Musik verloren ginge. Die Form ist leicht zu überblicken: Nach einer längeren statischen Eingangsphase steigt die Musik in die Tiefen der Kontrabässe hinab, bevor sie allmählich zum blechbläserdominierten Tutti anwächst und schließlich leise verklingt. Die ganze Zeit über wirkt die Musik entrückt, wie eine Folge poetischer Impressionen aus fein abgestuften orchestralen Grautönen, in welchen sich Naturlaute mit Klängen mischen, die an einen Synthesizer gemahnen. Die Aufführung durch die Staatskapelle unter dem Dirigat Giedrė Šlekytės, einer Landsfrau Martinaitytės, wirkte rundum gelungen, sodass man von dem Werk einen positiven Eindruck bekam. Nichts deutete darauf hin, wie sich der Abend noch entwickeln würde.

Mit Rebekka Hartmann konnte für das Violinkonzert von Jean Sibelius eine Solistin außerordentlichen Formats gewonnen werden, sodass, rein auf die Solostimme bezogen, die Aufführung dieses Werkes eine überragende musikalische Leistung genannt werden muss. Rebekka Hartmann besitzt einen untrüglichen Sinn für die musikalische Form, für den Zusammenhang der Töne. Jede Note ist ihr bedeutungsvoll, spielt eine Rolle im Ganzen. So wirken unter ihren Händen selbst Passagen in raschesten Notenwerten nie verwischt, übereilt oder bloß absolviert. Alles atmet und gerät in Schwingung, die Violinstimme erscheint bis in kleinste Einzelheiten hinein ausgeleuchtet und von Leben durchpulst. Aber welch ein prosaisches Tun dagegen im Orchester! Wie jedes der großen symphonisch angelegten Violinkonzerte lebt auch das Sibeliussche von der Interaktion des Soloinstruments mit den orchestralen Kräften. Was hilft es also, dass eine beseelte Musikerin das Solo spielt, wenn das Orchester sich damit begnügt, nur den Hintergrund zu liefern und nicht einmal versucht, einen Dialog auf Augenhöhe entstehen zu lassen? Es folgte hier lediglich gehorsam dem Taktstock der immer ordentlich taktierenden Dirigentin, die sich mit einer bloßen Koordinatorenrolle zufrieden zu geben schien, und lieferte schwunglos eine matte Begleitung zu Rebekka Hartmanns begnadetem Spiel.

Die Aufführungsgeschichte von Sergej Rachmaninows Erster Symphonie zeigt eindrücklich, was einem Meisterwerk blühen kann, wenn seine Premiere missglückt. Die Uraufführung 1897 unter der Stabführung Alexander Glasunows muss den Berichten zufolge zu einem furchtbaren Durcheinander ausgeartet sein; mit dem Ergebnis, dass der tonangebende Kritiker César Cui dem Werk bescheinigte, als Programmmusik über die Sieben Plagen Ägyptens durchgehen und „alle Bewohner der Hölle in geradezu köstlicher Weise erfreuen“ zu können. Bekanntlich litt der Komponist anschließend jahrelang unter Depressionen, gab die Symphonie nie mehr zur Aufführung frei und veröffentlichte sie nicht. Zwischenzeitlich verschollen, kam sie erst nach seinem Tod wieder ans Licht und wurde mit einem halben Jahrhundert Verspätung endlich als die musikalische Großtat erkannt, die sie ist. Ist das nicht eine Mahnung an die Dirigenten, sorgsam mit den ihnen anvertrauten Werken umzugehen und ihnen die bestmögliche Pflege zuteil werden zu lassen? Ich gehe zu Giedrė Šlekytės Gunsten davon aus, dass sie die Probenzeiten vor allem nutzte, um in diesem Sinne für Žibuoklė Martinaitytės Werk zu wirken, und ihr schlicht die Zeit fehlte, bei Sibelius und Rachmaninow mehr als routinierte Aufführungen zu Stande zu bringen. Hätte Glasunow die Rachmaninowsche Symphonie seinerzeit so dirigiert wie Giedrė Šlekytė, so wäre die Aufführung kein Fiasko geworden, aber auch nicht mehr als gut koordinierte Routine. Die Dirigentin sperrte das Werk in einen Käfig aus Taktstrichen. Nirgendwo hatte man das Gefühl, als animiere sie die Musiker dazu, weiter als bis zum nächsten Takt zu denken. So wirkten die Ecksätze grobschlächtig und stumpf martialisch, immer auf die „Einsen“ der Takte fixiert, wohingegen sich das Adagio müde von Ton zu Ton fortschleppte. Das Scherzo gelang noch am relativ besten und entwickelte eine gewisse Leichtigkeit, ohne dass dies am insgesamt ernüchternden Eindruck des Ganzen viel ändern konnte.

[Norbert Florian Schuck, Juli 2022]

Aus dem Schatten zum Hörer

Solo Musica, SM 291; EAN: 4 260123 642914


[Rezension im Vergleich: Ulrich Hermann über „Out of the Shadow“]

Das Album „Out oft he Shadow“ widmet sich drei unbekannten Violinkonzerten bekannter Komponist: Tartinis Concerto in La Maggiore D 96, Haydns Violinkonzert G-Dur Hob.VIIa:4 und Mendelssohns frühes Konzert d-Moll für Violine und Streicher. Lavard Skou Larsen leitet die Salzburg Chamber Soloists, die Solovioline spielt Rebekka Hartmann.

„Out oft he Shadow“ ist das Resultat instrumentaler Meisterschaft und musikalischer Leidenschaft. Live wie auch auf CD erlebte ich beide, sowohl die Salzburg Chamber Soloists unter Lavard Skou Larsen als auch die Violinistin Rebekka Hartmann, als feinfühlige, passionierte und perfektionistische Musiker – entsprechend gespannt war ich auf diese Aufnahme.

Das Orchester spürt in Tartinis Concerto in La Maggiore D 96 noch das Klangideal der späten Barockzeit auf und markiert die wiederkehrenden pochenden Figuren der Streicherstimmen, hebt allgemein einen non-legato-Charakter hervor. Die Solistin steht hierbei als Primus inter Parens gleichberechtigt neben den anderen Stimmen, kann sich in den Soli dennoch gut absetzen vom Orchester. Besonders fein gelingen die Auszierungen in den langsamen Sätzen, wobei vor allem der zweite Satz durch die akzentuierten Brüche für Aufmerken sorgt.

Während Tartini etwa 135 Violinkonzerte schrieb, so waren es bei Haydn lediglich drei, die belegt werden können. Eines davon ist das hier zu hörende G-Dur-Konzert Hob.VIIa:4. In diesem vor 1770, also noch zu Tartinis Lebzeiten, entstandenen Werk empfinden die Musiker einen Gestus, der mehr der Wiener Klassik zugeordnet werden kann. Die Violine steht deutlicher im Vordergrund und schwingt sich zu Höhenflügen über die Orchesterbegleitung auf. Rebekka Hartmanns Geigenstimme bleibt dabei leicht und unbeschwert, spielerisch und mancherorts gar keck. Dadurch entsteht ein hinreißender Kontrast zu den schlichten Streichorchesterbegleitungen, denen Lavard Skou Larsen einen Rest der barocken Markierung verleiht.

Das Finale der Aufnahme bildet Mendelssohns geniales Jugendkonzert für Violine und Streicher d-Moll, welches er mit gerade einmal 13 Jahren komponiert hat. Im zarten Jugendalter schrieb er bereits 12 Streichersymphonien, mehrere Konzerte und zahllose Kammermusikwerke, die er größtenteils später in die Schublade legte: zu Unrecht! Dieses Konzert entdeckte Mendelssohn später und bearbeitete es, nichtsdestoweniger konnte es sich nicht gegen das bekannte e-Moll-Konzert durchsetzen. Wider Erwarten besticht dieses Violinkonzert (ebenso wie Mendelssohns andere Frühwerke!) eben nicht allein durch jugendlichen Übermut und Lebendigkeit, sondern zeigt in gleichem Maße nachdenkliche und fragile Seiten, die gar philosophisch reflektiert anmuten. Rebekka Hartmann stellt sich leidenschaftlich in den Dienst dieser vor Inspiration sprühenden Musik, wie eine Löwin bewältigt sie anmutig und selbstbewusst die virtuosen Läufe und Figurationen, zieht sich dann aber auch wieder zurück in ganz verinnerlichte Welten, in denen sie sich selbst offenbart. Hier geschieht etwas Magisches: Rebekka Hartmann und die Salzburg Chamber Soloists unter Lavard Skou Larsen gehen eine Symbiose ein, beginnen, aus einem Atem und einem Puls heraus zu musizieren und das Konzert zu einer Einheit zu formen, gemeinsam und ohne Distanz zwischen Solist und Orchester.

[Oliver Fraenzke, Januar 2019]

Unverbrauchte Frische

Rebekka Hartmann und Margarita Oganesjan spielen am 28. Oktober 2016 im Konzertsaal des Freien Musikzentrums München Quatre Pièces de Clavecin von Jean-Philippe Rameau in neuer Instrumentierung von Eugène Ysaÿe, die zehnte Violinsonate von Ludwig van Beethoven G-Dur Op. 96 sowie die Sonate A-Dur von César Franck.

Das Freie Musikzentrum München ist in Insider-Kreisen schon längere Zeit zu einer Art Wohnzimmer für qualitativ hochwertige klassische Konzerte avanciert. So wird auch heute wieder in familiärer Runde ein beeindruckendes Konzertprogramm mit herausfordernden Werken von herausragenden Musikern dargeboten: Rebekka Hartmann und Margarita Oganesjan spielen Werke von Rameau (in Bearbeitung von Ysaÿe), Beethoven und Franck.

Die beiden jungen Musikerinnen legen sich kein barockes Korsett an in den von Ysaÿe für Violine und Klavier instrumentierten Quatre Pièces de Clavecin, die ursprünglich der Feder Jean-Philippe Rameaus entstammen. Mit funkensprühender Lebendigkeit und hinreißendem tänzerischen Frohmut erhalten die vier Stücke eine glänzende Leichtigkeit. Erstaunlich zurückhaltend und innig hingegen wird der Kopfsatz von Beethovens viersätziger G-Dur-Violinsonate Op. 96 genommen, hier bezaubern aufrichtige Empfindung und verhaltene Zartheit. Vor allem im zweiten Satz scheint es beinahe, als würde die Zeit stillstehen, bis einen das fidele Scherzo wieder in eine vollkommen andere Welt katapultiert. Nach der Pause gibt es noch die berühmt-berüchtigte Violinsonate César Francks in A-Dur, ein wahrlich monströses Werk, welches die meisten Ausführenden vor strukturell schier unlösbare Aufgaben stellt. Vom ersten Moment an brodelt es förmlich, wenn Margarita Oganesjan ihr nebelverhangenes Klaviervorspiel beginnt, und wenn Rebekka Hartmann zum ersten Strich ansetzt. Es beginnt eine fesselnde Reise, die den Hörer durch harmonisch dicht verzweigte Passagen führt, durch virtuose – doch zugleich nie rein äußerliche – Lawinen von unbändiger Energie und durch einfühlsame Kantilenen in selten erreichter Schönheit. Auch hier verliert der Hörer jegliches Gefühl von Dauer und ist direkt überrascht, wenn nach gut dreißig Minuten „schon“ das Ende erreicht ist.

Zweimal bisher durfte ich, schon vor längerer Zeit, die beiden Solistinnen gemeinsam erleben und war dort bereits beeindruckt von ihrem fabelhaft abgestimmten Zusammenspiel und ihren musikalischen Fähigkeiten. Doch ihre heutige Darbietung ist noch einmal eine Steigerung gegenüber allem bisher gehörten: Die Musikerinnen spielen nicht nur zusammen, sie atmen zusammen, fühlen zusammen und denken scheinbar auch zusammen – alles ist in einer unzertrennbaren Einheit, die Übergänge zwischen den Instrumenten geschehen so unmittelbar fließend, dass die Umbruchsstelle oft kaum erkennbar ist, an welcher der Wechsel gerade stattfand. Rebekka Hartmann führt dem Vibrato wieder seine ursprüngliche Rolle zu: Als stärkstes Mittel des Ausdrucks mit entsprechend sparsamer Verwendung und nicht als omnipräsentes Obligo für jeden Ton. Ihr Spiel zeichnet sich durch lebendiges Gefühl und geschmeidigen Ausdruck aus, der sich von jeder Mechanisierung befreit hat und nun ungezwungene Bahnen wandeln kann. Margarita Oganesjan spielt mit einem markanten und doch orchestralen, warmen Anschlag, dem auch eine gewisse Weichheit nicht fehlt. Und flexibler als je zuvor passt sie sich jedem von der Musik verlangten Ausdruck an, singt geigerisch in den Kantilenen, perlt spielerisch in den virtuosen Passagen und mischt durch genauestes Hören ihre Akkorde präzise ab. Das Resultat dieses Zusammenspiels ist eine unverbraucht frische Darbietung von drei unterschiedlichen Werken aus verschiedensten Epochen. Diese würden zweifelsohne mehr Hörer verlangen als die wenigen Anwesenden, die den ohnehin kleinen Konzertsaal des Freien Musikzentrums nicht einmal zur Hälfte füllten.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Hochdramatische Feuertaufe und Quintettorchester

Im britischen Klassikmagazin Gramophone gab es eine Rubrik, in welcher Kritikernestor Robert Layton Kritiken jüngerer Kollegen nachträglich kritisch unter die Lupe nahm und sozusagen Kritik an der Kritik übte. Das ist sicher eine originelle Idee, und mehr Kritik an der Kritik wäre dringend allgemein vonnöten. Nun haben wir zwar nicht vor, dergleichen bei The New Listener einzuführen, doch mit dem Eklat um die Kritik von Josef Rottweiler zum Konzert im Freien Musikzentrum München am 22. April liegt ein Fall vor, dem weitere Klarstellung gut tut. Da der Verfasser dieser Zeilen im Konzert auch zugegen war, möchte er nunmehr eine dritte Stimme hinzufügen, um das Spektrum des Wahrgenommenen zu erweitern.

Das Konzert, in dessen erster Hälfte der in München lebende peruanische Meisterpianist Juan José Chuquisengo erstmals als Komponist vor die deutsche Öffentlichkeit trat, begann mit einem Arrangement Chuquisengos von Mariano Mores’ (1918-2016) populärer Milonga ‚Taquito militar’ für Violine und Klavier, vortrefflich im spielerischen Charakter erfasst von Rebekka Hartmann und Ottavia Maceratini. Danach spielte Frau Maceratini eine rauschhafte Klavierfantasie von Chuquisengo, die sie elf Tage zuvor in Zürich zur sehr erfolgreichen Uraufführung gebracht hatte (siehe die entsprechende Zürcher Kritik bei The New Listener) – und die sie hier noch differenzierter und souveräner zu gestalten verstand: ‚Guerrero Andino’, ein technisch äußerst herausforderndes, ungeheuer klangschönes Werk, das eine immense Stilbreite quasi indigener Stilelemente vorstellt, ohne je Volksweisen zu zitieren, und nach Ansicht vieler prädestiniert, ein erfolgreiches Repertoirestück zu werden.

Dem folgte die Uraufführung der 2014 entstandenen und 2015 überarbeiteten ‚Tango-Metamorphosen’ von Chuquisengo für Streichquintett unter der sehr musikalischen Leitung des Komponisten. Er erwies sich darin auch als durchaus begabter Dirigent, der sicher noch das rechte durchgehende Maß zwischen Aktion und Geschehenlassen finden muss – ein paar Mal hatte man den Eindruck, dass er so sehr beim Zuhören war, dass er fast das Dirigieren vergessen hätte. Umso inniger glückte vieles in dieser Aufführung. An einigen besonders komplexen Stellen in diesem so überreichen, hochdramatischen, wahrhaft symphonisch gebauten großen einsätzigen Werk, das ursprünglich als Hommage an Astor Piazzolla betitelt war, kam es zu kleineren Unfällen, und einmal stieg eine Beteiligte für längere Zeit aus und spielte trotzdem weiter, was für ein paar Takte harmonisches Chaos sorgte. So etwas ist bei Uraufführungen immer wieder passiert, es gehört sozusagen zum Abenteuer der Feuertaufe dazu, und doch kann man den Musikern, die in kürzester Zeit (bedingt durch Erkrankung zunächst zur Mitwirkung vorgesehener Kollegen) das kontrapunktisch und rhythmisch sehr komplexe Werk erstaunlich gut umzusetzen verstanden, nur hohen Respekt zollen, und das Publikum war zutiefst ergriffen und begeistert von dieser so wild ungestümen wie zärtlich gesangvollen Musik, die organisch zielsicher unterschiedlichste Aggregatzustände durchwandelt. Chuquisengo hat das Zeug zu ganz Großem und dürfte als Komponist bald zu hohen Ehren kommen.

Nach der Pause spielten zunächst Rebekka Hartmann und Shasta Ellenbogen drei wunderschön einfache Canzonettas vom großen neuseeländischen Meister Douglas Lilburn (1915-2001), wobei die so einfache Pizzicato-Begleitung der Bratsche in der ersten Canzonetta rhythmisch sehr unstet ausfiel. Ansonsten war der Vortrag sehr ausdrucksvoll und fesselnd. Im folgenden Duo für zwei Violinen, im Zusammenspiel nicht ganz so beglückend, konnte man Lilburns große Kunst freier kontrapunktischer Gestaltung bewundern. Wer nicht ideologiebelastet an diese Musik herangeht, also sich nicht damit aufhalten muss, dass zu dieser Zeit Boulez, Nono oder Xenakis viel „modernere“ Musik geschrieben haben, kann erfahren, welch große Kunst in vollendeter Einfachheit und auch erfüllter Sparsamkeit der Mittel liegen kann.

Gestalterischer Höhepunkt des Konzerts war zweifellos das erste Klavierkonzert in C-Dur von Beethoven in der Streicherfassung Vinzenz Lachners. Ja, es war wirklich erstaunlich, wie orchestral das Quintett erklang, und man kann von Ottavia Maria Maceratini nur sagen, dass man lange herumreisen muss, um jemanden zu hören, der dieses Konzert heute ähnlich überzeugend darbieten könnte. Wenn viele Zuhörer hier von Weltklasse sprachen, kann man ihnen nur gelassen beipflichten. Sicher, der langsame Satz vertrüge mehr Ruhe und eine tiefere Erforschung der introvertierten Dimension, der Schattenanteile der Musik; und das Finale war an der absoluten Tempoobergrenze orientiert, das war kein Allegro mehr, sondern ein Presto – aber so gespielt, so artikuliert war es einfach bezwingend. Schwierig allerdings für die Streicher, in dem rasanten Tempo zu entsprechendem Klang zu finden, da müsste man es wohl noch ein paar Mal spielen. Ganz besonders gelungen war auf jeden Fall der Kopfsatz, und insgesamt war das alles von einer frappierenden Musikalität und organisch entwickelten Logik des Aufbaus, eine echte Freude. Wir sind sehr gespannt, was wir von diesen Musikern noch hören werden.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, April 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Komponistenportrait Juan José Chuquisengo

22. April 2016 20 Uhr im FM Z

Tango – Inka – Lilburn  – Beethoven
Portrait Juan José Chuquisengo

Ottavia Maria Maceratini Klavier

Symphonia Momentum-Quintett
Rebekka Hartmann, Violine
Anna Möllers, Violine
Shasta Ellenbogen, Viola
Nargiza Yusupova, Violoncello
Artem Ter-Minassian, Kontrabass
Juan José Chuquisengo, Dirigent

IMG_2099

Mariano Mores (1918 – 13.4.2016 arr. J.J. Chuquisengo
Taquito militar (Milonga) für Violine und Klavier

Juan José Chuquisengo
Guerrero Andino für Klavier Solo DEA

Juan José Chuquisengo
Tango-Metamorphosen für Streichquintett UA

Douglas Lilburn (1915 -2001)
Three Canzonettas für Violine und Viola (1943/1958)
Duo Nr. 5 für 2 Violinen (1954)

Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur op. 15 (1795)
Arr. Für Klavier und Streicher von Vinzenz Lachner (1811-1893)

Welch ein Abend im ausverkauften, proppevollen Konzertsaal des FMZ! Ein Programm von den Anden über „down under“ bis zum Wienerwald, vom peruanischen, in München lebenden Komponisten und Pianisten Juan José Chuquisengo über den Neuseeländer Douglas Lilburn zurück zum Wiener Altmeister Ludwig van …, was für ein musikalischer Bogen! Sehr temperamentvoll gleich der Beginn mit Mariano Mores’ Milonga für Violine und Klavier, die bei Ottavia Maria Maceratini und Rebekka Hartmann in besten Händen war.
Die Erinnerung an einen außergewöhnlichen Mann in den Anden hatte Juan José Chuquisengo zu seinem Klavierstück Guerrero Andino (Andenkrieger) animiert. Da er selbst ein überragender Pianist ist, war die deutsche Erstaufführung dieser Komposition – sie paraphrasiert frei Stilelemente der indianischen Kultur – über die Verwendung des gesamten Klangspektrums des Flügels angefüllt mit virtuosesten Trillerketten und darunter oder darüber liegenden Melodien.
(Mehr über Ottavia Maria Maceratinis sensationelles Klavierspiel kann man auch bei „The New Listener“ nachlesen über ihr Debut in der Züricher Tonhalle vor wenigen Tagen.)
Jedenfalls meisterte sie die immensen Schwierigkeiten gelassen und bravourös, vom leisesten pianissimo zum auftrumpfendsten Fortississimo ist ihr Ton immer kraftvoll und nie hart. Diese Klavierfantasie hat das Zeug. zu einem der ganz großen Repertoirestücke der neuesten Klavierliteratur zu werden. (Allerdings werden es nur wenige Spieler so spielen können, wie wir es an diesem Abend erleben durften.)

Nach dem KlavierKlangErlebnis war die Bühne frei für die Uraufführung von Juan José Chuquisengos „Tango-Metamorphosen“ für Streichquintett von 2014. Die fünf Streicher des Symphonia Momentum-Streichquintetts unter der Leitung des Komponisten selber hoben das Werk aus der Taufe.
Nach einer kurzen Einleitung der Viola, des Cellos und des Kontrabasses beginnt ein rhythmisch äußerst vertracktes Spiel der Streicher, ab und zu unterbrochen durch sanfte, fast schwebende Passagen. Viele Möglichkeiten zu ungewöhnlichen Klangeffekten – z.B. Schläge auf das Holz der Instrumente oder Kratzgeräusche – wechseln ab mit Ausbrüchen verschiedenster melodiöser und rhythmischer Partikel. Oft duettieren auch die beiden Violinen oder Viola und Cello. Quasi kanonische Einsätze wechseln ab mit homophonen Streicherklängen. Die ursprüngliche Konzeption für Streichorchester hatte der Komponist für Streichquintett bearbeitet. Alle Musiker spielten mit Hingabe und  Begeisterung, und wenn es auch an einigen Stellen dieses irrsinnig schwer zu spielenden Stücks noch nicht ganz perfekt klappte, so war die Energie und Lyrik dieser Tango-Metamorphosen doch mit allen Sinnen zu greifen.
Begeisterter Beifall vor der notwendigen Pause.

Die Kompositionen des Neuseeländers Douglas Lilburn sind bei uns so gut wie unbekannt –  trotz der Feiern zu seinem 100. Geburtstag, die allerdings in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen wurden. Dabei sind sie bei aller scheinbaren Einfachheit sehr ansprechende und zauberhafte Musik. Davon konnte sich das Publikum vor allem bei den drei Canzonettas überzeugen, die Rebekka Hartmann  und Shasta Ellenbogen auf Violine und Viola intensiv und bewegt-bewegend vortrugen.

Nach diesem Ausflug zu den Antipoden kehrten alle Musikerinnen und Musiker mit dem ersten Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven in der Bearbeitung für Klavier und Streicher von Vinzenz Lachner (er war der jüngste der drei Lachner-Brüder) zurück nach Europa. Und wie! Nach einer kurzen Einleitung übernahm Ottavia Maria Maceratini die Führung und alle sechs Ausführenden ließen sich vom Beethoven‘schen Genius zu feuriger und herzbewegender Musizierkunst anregen. Die drei Sätze mit ihrem unentwegten Wechselspiel aus Melodie, Harmonie und tänzerischster Rhythmik, – was ist dieser Komponist doch für ein überragender Melodiker, immer wieder! – flogen vorüber und beschlossen einen Abend der Superlative, den diese Konzertreihe mit einem so ungewöhnlichen wie längst zu erwartenden Publikums-Zuspruch mehr als verdient hat.

[Ulrich Hermann, April 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Den Saal „gerockt“

Anmerkung der Redaktion aufgrund vermehrter Kritik an dem Artikel von Josef Rottweiler:
Rezensionen unserer Autoren müssen in keiner Weise mit der Ansicht der Redaktion übereinstimmen. Die Redaktion von The New Listener lässt ganz bewusst Spielraum für gegensätzliche Standpunkte und zensiert nicht, sondern korrigiert lediglich sachliche Fehler oder stilistische Schwächen.

IMG_2090

Das Freie Musikzentrum total ausverkauft, nichts weniger als überragende musikalische Interpretationen, eine faszinierende Uraufführung eines bis dato unbekannten Komponisten, dem offensichtlich eine Weltkarriere bevorsteht: das Portraitkonzert Juan José Chuquisengo am 22. April gehörte selbst in einer Musikmetropole wie München zu den absoluten Highlights der Saison und stellt so vieles in den Schatten, was die großen Klangkörper wie Philharmoniker, BR-Symphonie-Orchester oder Bayerische Staatsoper zu bieten – ähnlich wie am Abend zuvor das Münchener Kammerorchester unter dem wunderbaren finnischen Maestro John Storgårds, der uns endlich wieder einmal Haydn hören gelehrt hat.

Die erste Hälfte des Konzerts gehörte ganz dem legendären peruanischen Meisterpianisten Juan José Chuquisengo, der in München lebt und wirkt. Fast ganz: zu Beginn erklang ein hinreißendes Arrangement des Peruaners einer musikalischen Kindheitsliebe, des beliebten Taquito militar von Mariano Mores, der genau neun Tage vor diesem Konzert hochbetagt gestorben ist. Dann Ottavia Maria Maceratini, eine Löwin am Grand Piano, und zugleich zu den feinsten Schattierungen in der Lage. Mit feinst differenzierter Stimmungskunst führte sie uns durch die Hochgebirgsweiten von Chuquisengos Guerrero Andino, einer gigantischen Klavier-Rhapsodie zwischen Naturlaut, Volkslied und rassigen rhythmischen Riffs, die höchste pianistische Virtuosität verlangt. Diese erbringt die Maceratini mit stupender Selbstverständlichkeit, doch betören auch ihre Sanftmut und Eleganz der Übergänge. Das neue Werk ist elf Tage zuvor durch sie in Zürich zur Uraufführung gelangt, und man spürt in jedem Ton die tiefe Verbindung und Liebe zur Klangsprache des Komponisten, der trotz aller Befähigung an diesem Abend nicht selbst als Pianist in Erscheinung tritt. Aber dann als Dirigent: Chuquisengo dirigiert das Symphonia Momentum Streichquintett in der Uraufführung seiner Tango-Metamorphosen. Der Stil dieses Werkes ist vollkommen anders als in der Klavier-Rhapsodie mit ihrem vollendeten Schönklang, ihren rauschhaften Aufwallungen. Hier, in diesem in der großen Form so spannenden wie überzeugenden Tango nuevo, tritt eine unerschöpfliche Palette inneren Reichtums ans Tageslicht, von zerreißendem Schmerz und aufreibenden Kämpfen über herrliche Tagträume hin zu schlicht mitreißendem Tango der entschiedensten Sorte. Manchmal scheint gar die Musik über sich selbst hinaus wachsen zu wollen, schwankt zwischen Euphorie und Atemlosigkeit, um plötzlich abzureißen und wieder etwas ganz Anderem Platz zu machen. Großartig, beide Werke in ihrer Art. Man kann nur sagen: ein großer Komponist ist geboren, der schon symbolhaft für die Emanzipation Lateinamerikas stehen wird. Das Publikum reagierte mit jedem Stück begeisterter und war in der Pause völlig „aus dem Häuschen“.

Nach der Pause wurde es zunächst problematischer. Christoph Schlüren, der in den Abend einführte, hatte die Zuhörer schon zuvor mit seinen fast unfreiwillig satirischen Kommentaren genervt, und nun pries er uns einen Komponisten als „groß“, von dem man nur sagen: „des Kaisers neue Kleider“. Wieso lässt man einen so musikalisch unbegabten Menschen so viel reden und uns dann noch simpelste Musik aus Neuseeland, von den „Antipoden“, auftischen, die zwar schön und gut gemacht ist, jedoch einfach nicht aus den Kinderschuhen der einfachsten Tonalität, aufgepeppt mit teilweise ein wenig Kontrapunkt, schlüpfen will. Von Douglas Lilburn hörten wir drei Duos für Geige und Bratsche (von Rebekka Hartmann und Shasta Ellenbogen fantastisch gespielt) und ein Duo für zwei Geigen. Legen wir den Mantel des Schweigens über diese peinlichen Nichtigkeiten, und hoffen wir, dass uns Herr Schlüren mit seinen Privatideologien künftig in der Öffentlichkeit erspart bleibt. Es ist ein bisschen, als wollte er mit seiner sperrigen Idiosynkrasie den Putin der Klassische-Musik-Szene spielen…

Zum Schluss dann Beethovens erstes Klavierkonzert in C-Dur in einer erstaunlich gut funktionierenden Fassung für Klavier und Streicher von Vinzenz Lachner, einem sonst kaum bekannten Romantiker. Dass es so gut funktionierte, lag in erster Linie an dem von Chuquisengo einstudierten Streichquintett, das tatsächlich die Illusion eines wirklichen Orchesters schuf. Man muss lange Zeit zusammen gearbeitet haben (die Musiker spielen seit 2010 zusammen), um eine solche Klasse sowohl musikalischer Interaktion als auch bewusster Interpretation zu erreichen. Obwohl uns auch hier noch einmal Herr Schlüren mit einem Sermon höchst fraglicher Informationen zuschüttete, war die Laune des Publikums angesichts einer denkwürdig hochklassigen Aufführung nicht in Schieflage zu bringen. Ottavia Maria Maceratini erwies sich als eine der besten Musikerinnen unserer Tage, technisch und tonlich auf dem höchsten Stand, der sich denken lässt, und musikalisch mit einer Klarheit und intuitiven Richtigkeit der Auffassung gesegnet, die einfach frappiert. Und doch, so gut, wie das „Orchester“ gespielt hat, ist es fast unanständig, sie besonders hervorzuheben. Primaria Rebekka Hartmann spielte ihre ganze Weltklasse aus, und ich möchte ausdrücklich auch noch die fulminante Cellistin Nargiza Yusupova und den so mutig wie rücksichtsvoll agierenden Kontrabassisten Artem Ter-Minassian nennen. Im Finale haben die Musiker den Saal, der bis zum letzten Platz besetzt war, regelrecht „gerockt“. So etwas – völlig überraschend – Tolles haben wir schon lange nicht gehört. Diese Musiker haben jeden Preis verdient und sollten unbedingt eine Platte machen, die man dann am Ausgang auch kaufen kann. Wie gut das Konzert war, merkte man übrigens auch daran, wie hellwach und berührt das Publikum bis zum Schluss war, und dass nach nicht enden wollendem Anlass kaum Anstalten gemacht wurden, den Saal zu verlassen.

[Josef Rottweiler, April 2016]

[Rezensionen im Vergleich 1b] Das vergessene Violinkonzert

Rebekka Hartmann ist die Violinistin des Abends am 08. November 2015 im Kubiz Unterhaching. Sie spielt das berüchtigte Violinkonzert von Robert Schumann in d-Moll WoO 1 zusammen mit dem Bruckner Akademie Orchester unter Jordi Mora, welcher im Anschluss noch die vierte Symphonie in B-Dur Op. 60 Ludwig van Beethovens dirigiert.

Bis heute wird es wahrlich selten aufgeführt, das große Violinkonzert d-Moll WoO 1 von Robert Schumann, welches – 1853, im Jahr vor seiner Einlieferung in die Nervenheilanstalt, geschrieben – sein letztes Orchesterwerk sein sollte. Der Widmungsträger Joseph Joachim, dem einige der heute bekanntesten Violinkonzerte wie die von Johannes Brahms und Antonín Dvořák zugeeignet sind, führte es allerdings (übrigens ebenso wie das von Dvořák!) niemals öffentlich auf, denn er hatte wie auch Roberts Frau Clara Schumann Bedenken über die musikalische Qualität dieses Spätwerks, das so nah am geistigen Verfall zu sein schien. So kam es erst 84 Jahre nach der Entstehung 1937 durch Georg Kulenkampff zur Uraufführung und wurde auch erst in jenem Jahr in einer leicht überarbeiteten Ausgabe erstmals gedruckt und veröffentlicht. Wirklich etablieren konnte sich dieses Konzert allerdings noch immer nicht, obwohl sich namhafte Größen dafür einsetzen, allen voran Yehudi Menuhin und Henryk Szeryng, der es 1957 in einer Studioproduktion aufnahm und es zumindest als Erster in den Kanon der bedeutsamen Konzerte integrieren konnte. Nach wie vor wird es von den Violinisten aufgrund seiner geradezu antigeigerisch unangenehmen Virtuosität und ungeschickt gesetzten Akrobatik gefürchtet, und nur wenige bestehen diesen komplexen Drahtseitakt.

Auch die vierte Symphonie Op. 60 in B-Dur von Ludwig van Beethoven ist erstaunlich selten zu hören im Konzert, ganz im Gegensatz zu den Nummern drei und fünf. Nach einem berühmten Schumann-Zitat, die Symphonie sei eine schlanke Maid zwischen den Giganten der „Eroica“ und der „Schicksalssymphonie“, wird die Vierte oft als zartes und zerbrechliches Stück dargestellt, was ihr aber nicht gerecht werden kann, denn auch sie besticht mit ihren Kulminationen und vorwärtsdrängenden, markanten Themen in vollem Orchestertutti. Besonders der letzte Satz fordert viel von den Orchestermusikern, die in raschem Galopp minutiös die diffizilen Figuren bewältigen müssen, ohne dabei die Leichtigkeit und Fröhlichkeit dieses Satzes zu verlieren.

Die Solistin im Schumannkonzert, Rebekka Hartmann, brilliert mit elektrisierender Präsenz und alles durchdringendem musikalischen Bewusstsein. Alleine ihr Auftreten vermittelt schon deutlich die Konflikte in diesem späten Meisterwerk: Mal geht sie in die Knie, mal kneift sie das Gesicht in vollster Anspannung zusammen und im zweiten Satz lässt sie auch einmal ein Lächeln an die innigen Kantilenen durchdringen – sprich, sie ist vom ersten Ton an vollkommen in diese Musik abgetaucht und spricht keine andere Sprache mehr als die von Schumann. Und das wird auch hörbar! Ihr Spiel ist detailliert ausgestaltet sowie dynamisch und artikulatorisch gereift, ihre Stimme vollkommen losgelöst von den einengenden Taktschwerpunkten und kann sich so frei schwebend entfalten über dem mächtigen Orchesterklang. Nicht zuletzt von der technischen Seite her behauptet sich Rebekka Hartmann als Ausnahmeviolinistin und verleiht den fingerbrecherischsten Passagen eine unerhörte Leichtigkeit und strahlenden Glanz fern jeglicher Art des nicht empfundenen Bogens und rein äußerlicher Fixiertheit. Ein ebenso hohes und makelloses Niveau erreicht die Solistin in ihrer Zugabe, dem Recitativo und Scherzo-Caprice von Fritz Kreisler, einem frechen Bravourstück, das nach einer lyrisch-introvertierten, aber nichtsdestoweniger sanglichen anstatt nur prätendierenden Einleitung ein hochvirtuoses Geschehen mit großem Schwung entfesselt, das mit einem zwinkernden Auge einen würdevollen Abschluss der ersten Konzerthälfte nach diesem monströsen Violinkonzert abgibt.

An der Seite der Solistin steht das Bruckner Akademie Orchester unter Leitung des Celibidacheschülers Jordi Mora. Wie inspirierend und motivierend muss es sein, mit einer solchen Ausnahmemusikerin aufzutreten! Der Klangkörper, der im April bereits mit Schumanns erster und Schostakowitschs achter Symphonie beeindruckte, hat seine Ansprüche noch weiter in die Höhe geschraubt und ist auf ungeahntes Niveau aufgestiegen. Die Stimmen sind allesamt sauber und auch die orchesterinternen Soli verlaufen tadellos bis hin zu den heikelsten Anforderungen an einzelne Musiker. Hervorgehoben sei an dieser Stelle das erste Fagott, welches gerade bei Beethoven unzählige diffizile Passagen zu meistern hat, und der ganz grandiose Solohornist. Außerordentlich besticht die von Jordi Mora gut einstudierte Begleitung zu Schumanns Violinkonzert durch die absolute Durchsichtigkeit des Orchesterapparates, wodurch die Sologeige so oft wie nur irgend möglich solistisch wirklich erglänzen kann und nicht – wie bei diesem Konzert häufig der Fall – vor allem in den von Schumann so effektdämpfend bevorzugten mittleren und tiefen Lagen im Tutti untergeht. So angeleitet kann das Bruckner Akademie Orchester vornbildlich eingehen auf die Solistin und ihr ein angemessener Widerpart sein, ohne den die bloße Geigenstimme im Mittelsatz streckenweise direkt sinnfrei erscheinen würde.

Auch bei Beethoven überzeugt das Orchester. Hier gibt es unzählige Mittel- und Unterstimmen, die stets Gefahr laufen, zu verschwimmen oder im allgemeinen Klang unterzugehen, die jedoch hier kristallin durchsichtig an die Oberfläche befördert werden und einen schillernden Farbenreichtum ermöglichen.

In der Mitte des bis zum letzten Notsitz vollkommen ausverkauften Kubiz in Unterhaching steht der Dirigent Jordi Mora. Ihm ist es seit jeher wichtig, dem Laienorchester mannigfaltige klangliche Dimensionen zu verleihen und es zu einem plastischen Gebilde aus vielen eigenständig-lebendigen Stimmen werden zu lassen, wie er auch an diesem Abend unter Beweis stellt. Sein Dirigierstil ist äußerst schlicht und einfach, so dass es von der bewegungsästhetischen Seite eher weniger ansprechend wirken würde, wäre nicht eine enorme organische Kraft dahinter, die komplett aus seiner Mitte strömt und jeder noch so kleinen Bewegung Sinn verleiht. Mit dieser inneren Kraft kann er suggestiv die Musiker seines Orchesters leiten und einen gemeinsamen Impuls schaffen. Der unmittelbare Kontakt zu seinem Klangkörper ist ihm ebenso ein zentrales Anliegen, so dass er nie verkniffen in der Partitur hängt – den Beethoven dirigiert er ohnehin ohne Notenpult vor sich -, sondern Blickkontakt herstellt und als erfahrener Vermittler zwischen allen Mitwirkenden eine bezwingend zusammenhängende Darstellung entstehen lässt.

[Oliver Fraenzke, November 2015]

 

[Rezensionen im Vergleich 1a] Das vergessene Violinkonzert

Sonntag, 08.11.2015 19 Uhr
KUBIZ Unterhaching

Bruckner Akademie Orchester
Rebekka Hartmann, Violine
Jordi Mora, Leitung

Robert Schumann
(1810-1856)
Konzert für Violine und Orchester in d-moll WoO1

Ludwig van Beethoven
(1770-1827)
Symphonie Nr. 4 B-Dur op.60

Welch ein Konzert!  Auch wenn ich nur den fast letzten ergatterbaren Platz in der ersten Reihe ganz links außen bekam – dafür konnte ich Solistin, Dirigent und die Musikerinnen und Musiker beim Neuentstehen dieser beiden fabelhaften Stücke nahezu hautnah erleben. Und ein Erlebnis der ganz besonderen Art war dieser ganze Abend im ausverkauften KUBIZ in Unterhaching.

In einem bodenlangen blauen Kleid kam Rebekka Hartmann mit ihrer Stradivari von 1675 auf die Bühne. Schumanns Violinkonzert, sein letztes vollendetes Orchesterwerk, galt lange Zeit erstens als unspielbar und zweitens meinte man, die Geisteskrankheit des Komponisten darin zu hören und zu spüren. (Wer über dieses sehr merkwürdige Kapitel im Leben des Komponisten Robert Schumann mehr erfahren möchte, tut gut daran, das hervorragende Buch von Eva Weisweiler über Clara Schumann zu lesen, denn die Rolle der Ehefrau Roberts ist alles andere als klar und eindeutig. Sie war es ja auch zusammen mit dem Widmungsträger Joseph Joachim, die das Werk erst gar nicht aufführen ließen, sehr merkwürdig, aber die Rezeptionsgeschichte dieses Werkes weist noch mancherlei Merkwürdigkeiten auf.)

Aber all das war vergessen und spielte gar keine Rolle mehr, als Orchester und Solistin diese wundervolle Musik zum Erklingen brachten. Nach einer machtvollen Einleitung setzt die Solistin mit dem gleichen gewaltigen Thema machtvoll ein und führt über zu einem sehr lyrischen Seitenthema, das Orchester begleitet die Geige zurückhaltend, hat dazwischen immer wieder Tutti-Stellen,  Geige und Orchester stehen wie zwei erratische Blöcke gegeneinander. Natürlich spielte Rebekka Hartmann – wie es bei ihr gar nicht anders vorstellbar ist – mit Leib und Seele, die Körpersprache ist einfach hinreißend und macht die in diesem Konzert innerwohnende Energie und Kraft auch äußerlich deutlich mit ihrer Bewegtheit und der Phrasierung, die das melodische und harmonische  Erklingen mitträgt. Schumann als Melodiker kommt am intensivsten im zweiten – langsamen – Satz zum  Vorschein, und immer wieder während der drei Sätze überraschen seine unerhörten harmonischen Wendungen.

Jordi Mora und das Bruckner Akademie-Orchester, das in den Streichern aus Laien exzellenten Schliffs zusammengesetzt ist, gaben der Solistin die bestmögliche Begleitung und den Raum, dass sich Rebekka Hartmanns wunderbares Spiel völlig entfalten konnte und den ganzen Saal danach zu Begeisterungsstürmen hinriss. Sie „musste“ noch eine Zugaben spielen: von Fritz Kreisler Rezitativ und Capriccio op. 6. Noch einmal versprühte sie mit ihrer Geige ein musikalisches Feuerwerk erster Güte.

Nach der Pause folgte die nicht allzu häufig gespielte vierte Symphonie von Ludwig van Beethoven, die er 1806 zwischen der „Eroica“ und der „Fünften“ komponierte. In München war sie erst vor kurzem mit dem Bayerischen Rundfunk-Symphonie-Orchester unter Herbert Blomstedt zu hören gewesen. Aber was ich heute Abend an Musik „in statu nascendi“  vom Bruckner Akademie Orchester  unter Jordi Mora zu hören bekam, machte meine Ohren staunen und eröffnete teils völlig neue Erlebnisse. Schon der Beginn des ersten Satzes mit dem eindrucksvollen, fast düsteren Thema kam in aller Ruhe – schließlich steht auch Adagio als Tempovorgabe über den Noten – bevor im Takt 39 das Allegro vivace die volle Wucht und Kraft der Beethoven’schen Klangsprache zeigt.
Himmlische Melodien hat Beethoven ja häufigst geschrieben, auch wenn er für vieles – wie man an seinen Notizbüchern sehen kann – schwer gearbeitet hat, bis diese „Himmlischkeit“ seinen Melodien eignete. Immer wieder ist es eine Beglückung, seinen Adagio-Sätzen – wie hier dem zweiten – zuzuhören und sich in andere Gefilde mitnehmen zu lassen.
Im dritten Satz – hieß es im Programmblatt – streiten die zwei Grundrhythmen der westlichen Musik, der Zweier- und der Dreiertakt miteinander. Im Bayerischen heißt das „Zwiefacher“. Und mit dieser einfachen aber stimmigen Erklärung war ich der rhythmischen „Raffinesse“ dieser Musik nicht mehr ganz so hilflos ausgeliefert. Jordi Mora ließ dieses Allegro vivace und das Trio in voller tänzerischen Kraft und Eleganz entstehen, die Musikerinnen und Musiker spielten mit aller Lust und Freude merklich animiert, keiner saß bei seinem Spiel etwa angelehnt auf seinem Stuhl, wie man das durchaus bei einigen Berufsorchestern immer wieder sehen kann.
Das Finale machte mir ganz besonders deutlich, was für ein Vorgänger als Symphoniker Beethoven auch für Schubert war, der sich ja sehr oft in dessen Schatten stehend fühlte.  Beethovens Musik ist auch heute noch – vor allem, wenn sie so entsteht und „aus der Taufe“ gehoben wird wie an diesem denkwürdigen Abend im Kubiz in Unterhaching vom Bruckner Akademie Orchester und seinem Leiter Jordi Mora – ein tief bewegendes und anrührendes  Erlebnis.

Donnernder Applaus für Orchester und Dirigent.  Und auch von mir ein ganz großes Dankeschön für dieses wunderbare Geschenk.

[Ulrich Hermann, November 2015]

Potpourri voller Überraschungen

Musiques Suisses MGB CD 6284

Juon_Silhouettes_Cover

Die jungen Geigentalente Malwina Sosnowski und Rebekka Hartmann bringen, zusammen mit ihrem Klavierpartner Benyamin Nuss, lang in Vergessenheit geratene Kammermusik-Kostbarkeiten von Paul Juon zum Erklingen

Rechtzeitig zum 75. Todesjahr des Russischen Brahms mit Schweizer Wurzeln, Paul Juon, hat Musiques Suisses eine CD herausgebracht, die das breite Spektrum des Geigers und Professors für Komposition und Kammermusik unter Beweis stellen. Die talentierten Geigerinnen Malwina Sosnowski und Rebekka Hartmann, letztere bereits weithin bekannt als Konzertsolistin, erarbeiteten mit Benyamin Nuss als vorzüglichem Klavierpartner zwei Werkgruppen – den Silhouettes-Zyklen, genannt Bücher, und die sieben kleinen Tondichtungen –, in denen Juon ausschließlich mit der seltenen Besetzung für zwei Violinen und Klavier agiert und beweist, dass diese dem klassischen Klaviertrio in nichts nachsteht.

Das erste Buch der Silhouettes erklingt unter den Händen der jungen Musiker mit gekonnter Balance zwischen Klangsinnlichkeit (manchmal an der Grenze zum Schmalz) und formalem Einfühlungsvermögen. Halten sich die Idylle und der Douleur noch eher im Rahmen anspruchsvoller Salonstücke, so bietet die Bizarrerie – so lang wie beide Sätze davor zusammen – schon deutlich symphonischere Züge. Allein das innere Wesen dieses Schlussstückes strotzt nur so von einer für Juon charakteristischen Polarität, sprich zwischen ausgelassener Vitalität als Beginn und Ende und versonnener Melancholie in der Mitte.

Deutlich andere, ja nahezu mulmige Töne schlägt der Anfang des zweiten Buches an. Tatsächlich fühlt man sich wie am Ende von Schuberts Winterreise, sobald der Conte mysterieux, sprich der unheimliche Graf erklingt, zumal die gedämpften Geigen und das in der Begleitung reduzierte Klavier deutlich an den Leiermann erinnern. Doch Juon wäre nicht er, wenn auch nicht dieser Satz eine für seinen Stil charakteristische Abwechslung beinhaltete. Lichter wird der Satz, lebendiger die Klavierbegleitung – um dann wieder in die gedämpfte Stimmung des Beginns zurückzufallen. Dabei ging es Juon offensichtlich nicht um bloße Schauerromantik, vielmehr huldigte er wie so viele seiner Kollegen seinerzeit alten Formen und Tänzen, wie die Musette miniature, Danse ancienne beweist. Spätestens hier kommt die Stärke des Trios Sosnowski-Hartmann-Nuss zum Tragen: eine ernste, aber unbeschwerte und neugierige Herangehensweise an jeden einzelnen Satz. Klingt der Conte zwar deutlich düster, aber nicht zu schwer, so überzeugt aufgrund dieser Fähigkeiten zur Differenzierung nicht weniger die Musette, die sich leicht und semibarock, aber nicht oberflächlich anhört. Die Parallele zu Grieg und dessen Huldigung an Holberg ist unüberhörbar. Daraufhin ist es der Schlusssatz, der die Musiker vor besondere inhaltliche Herausforderungen stellt: Nach einem wuchtigen und fast etwas zu groben Klavierbasssolo zu Beginn der Obstination entspinnt sich eine bloße Kontrapunktik, die bezeichnenderweise auf einem Basso ostinato, dem Motto dieses Finales, basiert. Die Bewertung dieses Kontrastes fällt nicht leicht angesichts der vorhergehenden Charakterstücke: Paul Juon beweist spätestens hier, viel mehr als ein bloßer Unterhaltungsmusiker zu sein, da er all seinen spieltechnischen und innermusikalischen Anspruch gerade auf diesen Schluss der ersten Silhouettes-Serie konzentriert. Gleichzeitig hat es den Anschein, als gerate er damit an seine Grenzen, da die Obstination in ihrem heterogenen Aufbau etwas überladen wirkt, was auch die klangfreudige und souveräne Aufführung nicht ganz vergessen machen kann.

Dessen ungeachtet kann man dieser wie der darauffolgenden zweiten Serie (drittes Buch) entnehmen, dass Juon seine Ziele beharrlich verfolgte und sich weiterentwickelte. Erfreulich ist beim eröffnenden Prélude, wie der Anspruch nach mehr Komplexität sich mit gekonnter Knappheit verbindet. Der Komponist, der hier seiner Verehrung sowohl für Tschaikowsky als auch für Brahms Ausdruck verleiht, zeigt außerdem gerade in dieser Eröffnung – wie könnte es anders sein! – eine Nähe zu J. S. Bach, ohne dabei je epigonal zu klingen. Ruppige Geigenkaskaden und eine herbere Harmonik sprechen ihre eigene Sprache.

Aber wie so oft ist Juon mit seinen unterschiedlichen Nationalitäten in Personalunion für Überraschungen gut. Auf das Prélude, dem man eine gewisse Neigung zum Handwerk anhört, folgt als deutlicher Kontrast ein Chant d´amour. Mittlerweile haben die Silhouettes sich jedoch von ihrem schlicht-schönen Anstrich als romantische Charakterstücke entfernt – der Chant d´Amour erinnert mit seiner weithin verschachtelten Harmonik gleichermaßen an Szymanowskis Kammermusik und Alban Bergs frühe Lieder. Demgemäß erklingt hier kein zartes Ständchen, vielmehr gestalten Leidenschaft, der die Musiker freien Lauf lassen, und Dramatik im Wesentlichen die Liebesszene, die dennoch versöhnlich verklingt.

Anstatt darauf einen wohlfeilen Kehraus folgen zu lassen, bricht Juon mit seinen eigenen Konventionen und erweitert die zweite Serie nun um ein vielfaches, da er aus dem nächsten Satz gleich drei macht: Ein kurzes erstes Intermezzo klimpert in den Geigen und dem Klavier vorbei. Als wolle er mit den Hörern seinen Spaß treiben, schiebt Juon eine kurze Walzerepisode ein, die so rasch verklingt, wie sie daherkam. Sosnowski, Hartmann und Nuss finden selbst in diesem Epigramm den Ausgleich, indem sie weder sich noch das Stück zu wichtig nehmen, aber auch nicht in lieblose Routine verfallen. Im zweiten, gesanglichen Intermezzo Tranquillo erklingt zunächst ein Lied ganz im Stile des Wiegenliedes Opus 49/4 von Brahms, nur um langsam umzuschlagen und sich zu einem Tanz mit Bordun aufzuschwingen. Dieser Vorgang wiederholt sich innerhalb kürzester Zeit und offenbart, wie viel der Komponist auf kleinsten Raum zum Ausdruck bringen konnte.

Ähnlich gestaltet, aber deutlich russischer erklingt das dritte Intermezzo. Reizvoll ist hier vor allem die Stimmgleichberechtigung der zwei Violinen neben dem Klavier, mit der diese kurzen Stimmungsbilder abschließen. Deutlich erklingt nun die Melancolie, deren Intimität auf motivischen Kombinationen und konzentriertem Ausdruck beruht. Ein gelösterer Mittelteil in H-Dur verläuft sich in Seufzern der ersten Violine und fällt wieder zurück in die unbeantwortete Frage des Anfangs. Wie um den nun fälligen Bogen zum Anfang zu spannen, beschließt diese zweite Serie ein Danse grotesque. Wieder ist es die Neigung zum Makabren und Ausgelassenen am Ende eines Zyklus, die Juon hier sehr beherrscht hervorkehrt.

So bilden allein die Silhouetten einen Kosmos, der Paul Juon als sehr begabten Komponisten, als Russen und Weltbürger zugleich vorstellt. Mit den anschließend dargebotenen Sieben kleinen Tondichtungen op. 81 gelangt seine sehr ausgewogene Tonsprache zu größeren Dimensionen, wie sich dies schon im ersten Gedicht, der Pastorale, offenbart. Erscheinen die Silhoutten noch wie spielerische Experimentierfelder, so findet Juon hier zu einer abgeklärten und formal ausgereiften Sprache, welche die Eröffnung schon als Einzelwerk gelten lassen könnte. Auch das darauffolgende Intermezzo hat im Vergleich zu seinen Silhouetten-Geschwistern deutlich an Eigenständigkeit gewonnen. Wie man den fünf restlichen Nummern entnehmen kann, ist der Komponist seinem Prinzip, eingängige Charakterstücke mit gemischten kompositorischen Stilen zu schmücken, ohne dabei nachahmend zu wirken, insgesamt treu geblieben. Dies beweisen das ausgelassene Impromptu, das abermals an Grieg, diesmal dessen norwegische Springtänze, erinnert, die Barcarole, in welcher die Jahreszeiten von Tschaikowsky anklingen, sowie das spritzige Capriccietto, das zwischendrin mit ruhigen Tönen besticht. Originell, ja von archaischer Erhabenheit ist das vorletzte Tongedicht, die Ciaconna. Ätherisch schlängelt sich deren Soggetto durch die Geigen, dann durch das harfenartige Klavier, nur um sich zu temperamentvoller Entfaltung aufzuschwingen. Wie schon im Prélude der Silhouetten belässt es Juon auch hier nicht bei bloßer Handwerksübung, sondern entwickelt die Chaconne im kurzen, aber nicht allzu knappen Rahmen eigenständig weiter und schafft Kontraste, indem er sie im brachen d-Moll verklingen lässt. Dafür beschert er uns dann einen heiteren Schluss der Tondichtungsgruppe in Form der Burletta, welche ein letztes Mal seine Vorliebe für brillante Kehraus-Stücke unter Beweis stellt.

Als Fazit für dieses Potpourri voller Überraschungen gilt durchaus, was der Präsident der Internationalen Juon-Gesellschaft, Ueli Falett, im Booklet der vorliegenden Erscheinung schreibt: Es kommt dem Komponisten vor allem auf Ausdrucks- und weniger auf Formalmusik an. Obgleich Juon, wie man bei genauem Hinhören erfährt, auch der Form die Chance zur Entfaltung gibt, reduziert er sie im Großen und Ganzen auf einen soliden, meist dreiteiligen Rahmen und widmet sich ganz seiner vielfältigen Klangsinnlichkeit. Herausgekommen ist eine CD, die zur Entdeckung eines völlig zu Unrecht vergessenen, konservativen Meisters der Zeit des Umbruchs zur Moderne einlädt und jeden Hörer ohne musikideologische Vorurteile ansprechen sollte.

 [Peter Fröhlich, August 2015]

Ein musikalisches Panorama von den Hängen des Ararat

Farao Classics B 108086, ISBN: 4 025438 080864

 Views-002

An der Violine begibt sich Rebekka Hartmann zusammen mit der Pianistin Margarita Oganesjan auf eine Entdeckungstour rund um den Ararat mit Werken von Ahmed Adnan Saygun, Arno Babadschanjan und Edward Baghdassarian.

Eine Gegenüberstellung von türkischer und armenischer Musik erscheint gewagt, wenn man die Vorgeschichte dieser beiden Länder in Augenschein nimmt. Doch über alle politischen Abgründe hinweg betrachten Rebekka Hartmann und Margarita Oganesjan Komponisten beider Länder von einem geographisch zentralen und scheinbar unberührten Standpunkt, dem Ararat. Von hier aus können die beiden jungen Musikerinnen den türkischen Komponisten Ahmed Adnan Saygun auf zwei CDs Seite an Seite stellen mit den Armeniern Arno Babadschanjan und Edward Baghdassarian.

Beide Solistinnen profilieren sich in dieser Einspielung als herausragende Interpreten. Rebekka Hartmann kann ihrer frühen Stradivari aus dem Jahre 1675 eine phänomenale Bandbreite an verschiedensten Farbnuancen entlocken, die sich geschmeidig den jeweiligen musikalischen Situationen anpassen. Ihr Klang ist klar, feingliedrig und brillant, er kann sich mühelos an alle volksmusikalischen Momente anschmiegen, nur um plötzlich davon abzureißen und ganz ungehörte und faszinierende Wege zu beschreiten. Erwähnenswert ist vor allem auch Rebekka Hartmanns geschickter Umgang mit Vibrato, welches bis ins kleinste Details überdacht und zudem äußerst sparsam eingesetzt wird, so dass es immer einen Zweck erfüllt anstatt wie heute gewohnt jeden lang gehaltenen Ton in etwas Ungewisses aufzuweichen. An den Tasten steht ihr mit Margarita Oganesjan ein würdiger Widerpart zur Seite. Die Pianistin hat einen recht robusten und voluminösen Ton inne, der mit großem Nachdruck gesetzt ist. Selten wirkt es ein wenig hart und gleichförmig an manchen Stellen, bei denen eine etwas einfühlsamere und gebundenere Gestaltung wünschenswert wäre anstelle eines ein wenig uniformen Staccatos und Portatos, doch kommen die Stücke Margarita Oganesjan merklich entgegen, so dass diese gelegentliche Unausgewogenheit nicht wirklich ins Gewicht fällt – sogar sehr reizvoll macht die Werkauswahl den kräftigen Tonfall der gebürtigen Armenierin. Wahrlich zaubern kann Oganesjan bei der intelligent erfassten Ausgestaltung von Strukturen und Zusammenhängen, wodurch sie jeden noch so komplexen Satz gut verständlich darbietet. Bei allem Verständnis für das verbindende Element vernachlässigt sie auch zu keiner Zeit die pointierten Feinheiten, welche sie einfühlsam und treffend herausarbeitet. Bewundernswert ist das Zusammenwirken der beiden Musikerinnen, das deutlich spüren lässt, wie lange und intensiv Rebekka Hartmann und Margarita Oganesjan bereits zusammen spielen, dass ihre gemeinsame Arbeit eben nicht alleine auf diese Einspielung beschränkt ist. Durchgehend lässt sich eine perfekte Synchronizität der Darstellung feststellen, die Stimmen sind so exakt aufeinander abgehört, dass sie dynamisch und artikulatorisch genau abgestimmt erklingen. Es gibt einen unbeschreiblichen Effekt bei einem langen Decrescendo, wenn tatsächlich alle Stimmen im selben Maße abnehmen und scheinbar das gleiche Empfinden haben, so als wären sie unzertrennbar verbunden. Margarita Oganesjan versteht es neben der Rolle der gleichberechtigten Stimme auch, an entsprechenden Passagen in den Untergrund abzutauchen und eine gut ausgestaltete Begleitung für die improvisatorisch anmutenden Violinkantilenen abzugeben – diese Kunst sollte definitiv weiter verbreitet sein.

Eine wirklich große Entdeckung auf der vorliegenden Doppel-CD ist der Türke Ahmed Adnan Saygun, der gleich mit zwei Werken vertreten ist. Der d’Indy-Student war einer der wichtigsten Sammler türkischer Volksmusik und Gestalter einer modernen türkischen Kunstmusik, die einen Weg findet zwischen westlichen Vorbildern und regionaler Couleur. Sehr interessant ist beispielsweise seine erste Symphonie Op. 29 für kleines Orchester, die eine Synthese zwischen westlichen Formidealen und eindeutig türkischer Klanglichkeit bietet. Diese Eigenschaften weisen auch die beiden einzigen Werke Sayguns für Violine und Klavier auf, die Suite Op. 33 und die Sonate Op. 20. Streng pentatonische Themen und additive Rhythmen verschmelzen in klassischen Formmodellen und freitonal avancierter Harmonik, und resultieren in einer einmaligen Stilfusion. Davon abgesehen lässt sich auch Sayguns aktive Tätigkeit als Musikethnologe in seiner Musik entdecken, so erklingt – vor allem in der Suite Op. 33 deutlich – mal ein fast irisch anmutendes Thema, mal eine deutlich asiatisch angehauchte Melodie, doch immer derart, dass es rückbezüglich auf die türkische Volksmusik ist. In all diesen differenzierten nationalen und internationalen grazilen Komponenten findet sich Rebekka Hartmann, in deren Part sich die meisten dieser Elemente befinden, bestens zurecht und kann sie stets wachsam ins rechte Licht rücken. Margarita Oganesjan beeindruckt hier durch die abgestufte Ausarbeitung eines trockenen Klangs, der so nachvollziehbar ein östliches Lebensgefühl verbreitet und einen spannenden, divergierenden Gegenpart zu der melancholisch schwebenden Violine bildet. Sie beweist ein unbestechliches Einfühlungsvermögen für diese Musik und beherrscht sowohl das Herausmeißeln der mehr als ungewohnten Tongebilde als auch selbst die beziehungsreich komplexe Strukturanlage der Sonate mühelos und mit großer Natürlichkeit. Anders als die kommenden anderen Texte ist die schlicht gehaltene Einführung des türkischen Komponisten Hasan Uçarsu zu Ahmed Adnan Saygun durchaus informativ und steckt tief in der Materie der türkischen Folklore, die sich so vielgestaltig in den Werken des Komponisten spiegelt (die vier Sätze der Suite sind gar verschiedenen Regionen der Türkei gewidmet, deren Volksmusik sie entweder direkt zitieren oder ununterscheidbar vom Original imitieren).

Ebenfalls eine Musik, die unbedingt mehr Aufmerksamkeit verdient und eine intensive Auseinandersetzung damit wert ist, ist die von Arno Babadschanjan, dessen Violinsonate aus dem Jahre 1959 mit 28 Minuten das großformatigste Werk dieser Einspielung ist. Das effektgeladene Werk verbindet hohe Komplexität mit eingängigen Melodien, wobei insbesondere der dritte Satz, in welchem die apotheotisch für den Widmungsträger Dmitri Schostakowitsch stehende Symbolphrase heraushörbar ist, mit spürbarer Prägnanz im Ohr bleibt. Trotz dessen wird der Hörer immer wieder überrascht von plötzlichen neuen Einfällen, die einen unerwartet überrollen und die gesamte Struktur aufbrechen. Die schlagartigen Wechsel werden von beiden Musikerinnen mit überwältigender Genauigkeit ausgeführt, sofort fühlen sie sich wohl in jedem neuen Terrain, ohne dass ein noch so geringer Nachhall von Vorherigem vernehmbar wäre. In dieser Sonate demonstriert Magarita Oganesjan mancherorts auch einmal ihre weiche und lyrische Seite – umso intensiver wirkt es, wenn sie dann wieder mehr Härte dominiert.

Beschlossen wird die Einspielung von einem Werk, das ein Jahr vor der Sonate Babadschanjans entstand, der Rhapsodie für Violine und Klavier von Edward Baghdassarian, der auch Margarita Oganesjan als kleines Mädchen in Komposition unterrichtete. Nach den vorangehenden Geniestreichen fällt die Rhapsodie kompositorisch etwas ab. So schöne Momente sie auch haben mag, so weist sie auch etliche musikalisch flache und voraussehbare Passagen auf, wenngleich letztlich auch hier das Zauberhafte überwiegt. Nichts desto Trotz ist es ein besonderer Tribut an den ehemaligen Lehrer von Margarita Oganesjan und verdient somit durchaus einen Platz auf dieser mehr als empfehlenswerten musikalischen, exemplarischen Rundreise durch die Gebiete rund um den Ararat.

[Oliver Fraenzke, August 2015]