Alle Beiträge von Peter Fröhlich

Alpenmusik im hohen Norden

Die Norddeutsche Orchesterakademie feierte unter der Leitung von Kiril Stankow den Abschluss ihrer ersten Proben- und Konzertphase mit einem Konzert im großen Saal der Hamburger Elbphilharmonie am Sonntag, den 8. Juli 2018, um 20:00 Uhr. Hierbei spielten die Musiker der Akademie das Konzert für Violine und Orchester op. 35 von Erich Wolfgang Korngold sowie die Alpensinfonie op. 64 von Richard Strauss. Solist an der Violine war Zsolt-Tihamér Visontay.

 

Wessen Traum wäre es nicht, in der sogenannten „Sahneschnitte“ Hamburgs, nämlich der Elbphilharmonie, ein Konzert zu erleben oder gar selbst zu geben. Dieser Traum erfüllte sich nun am vergangenen Sonntag für 140 Musikerinnen und Musiker aus aller Welt, eine bunte Mischung aus Laien, Studenten und Profis zwischen 18 und 74 Jahren. Nach einem ersten Auftritt am Tag zuvor in Neubrandenburg brachten sie hier ihr allererstes Projekt krönend zu Ende.

Dazu suchten sich die Musiker ein wirkungsvolles Programm aus: Die gewaltige Alpensinfonie von Richard Strauss steht neben dem mittlerweile bekannt gewordenen Violinkonzert Erich Wolfgang Korngolds, den Strauss nicht zu Unrecht als ein „frühreifes Genie“ bezeichnete. Man sollte sich aber hüten zu denken, jene zwei (in ihrer Geschichte häufig unterschätzten) Werke seien nur zu rein äußerlichen Zwecken gewählt worden, denn es steckt viel mehr Herzblut dahinter, als es beim Hören des Programms den Anschein haben könnte. Sowohl die intensive musikalische Vorbereitung als auch das Management und nicht zuletzt der Abend selbst belegten das Engagement dieses Projektes, das in Hamburg seinen Abschluss gefunden. Von ebenso viel Hingabe zeugt das hintergründig und phantasievoll gestaltete und geschriebene Programmheft, ohne dabei den Laien zu über- und den Kundigen zu unterfordern. Es enthält einen kurzen, aber prägnanten Einblick in die Entstehung des Violinkonzerts, wenngleich vernachlässigt wird, dass der zur Zeit des Nationalsozialismus aus Europa verbannte Jude Korngold seine künstlerische Erfüllung mit diesem Konzert wiederfand. Auch besticht es u.a. durch ein Interview mit dem Dirigenten Kiril Stankow, einem Absolventen der Musikhochschule Weimar, worin dieser sein künstlerisches Credo offenbart: „Wir tauchen ein und geben uns der Suche hin.“

Ein sehr treffendes Motto für diesen gelungenen Abend; schon während der ersten Klänge bannten die Instrumentalistn die Aufmerksamkeit auf ihr Forschen und Entdecken in der Musik: Der erste Satz des Konzerts, Moderato nobile, klang bis in die letzte Nuance durchdacht und schillerte regelrecht, Stankow und die Musiker betonten den rhapsodischen Charakter des Konzertes frei. Dass dieses Werk bei aller Virtuosität und allem Filmmusikanklang dennoch lyrisch und anspruchsvoll sei, wie Ulrike Timm in ihrem Heftbeitrag schrieb, zeigt allein der junge Geiger Zsolt-Tihamér Visontay. Dieser verstand es, die meisten Feinheiten seines Parts schön und ausdrucksvoll zu musizieren und agierte mit dem Orchester absolut ebenbürtig. Dass viele Kritiker und Kollegen Korngold diesen Ausflug in die vermeintliche Trivialität der leichten Muse nicht verziehen, mochte seiner Zeit geschuldet sein, ist im heutigen Stilpluralismus allerdings unverständlich. Vor allem an diesem Abend, wo sämtliche Mitwirkende und der Solist das Konzert mit allem Bewusstsein, in den Tempi nie überhetzt und dezent in sämtlicher Dynamik ertönen ließen. Lediglich einige Spitzentöne gerieten Visontay bei genauem Hinhören nicht ganz sauber, überartikulierte er manch wenige Töne durch überdeutliches Vibrato. Dies alles sind jedoch Lappalien, die den Gesamteindruck des Konzertes in keiner Weise trübten, was auch der Applaus zwischen den einzelnen Sätzen verriet. Der Schluss des ersten Satzes gelang den Musikern eindrucksvoll, allein die makabren Glissandi der Streicher am Ende klangen keineswegs vulgär. Der zweite Satz, die Romance, war ein einziges Idyll, so hauchzart spielten alle miteinander. Und das Finale Allegro assai vivace mit dem berühmten Zitat aus The Prince and the Pauper überwältigte. Nirgendwo klang es überhetzt, dafür hörte man die Spielfreude von vorne bis hinten durch. Selbst in den noch so heroischen Stellen klang der Schlusssatz keineswegs plakativ, sondern durchdacht und zugleich lebendig, nicht zuletzt dank solch unscheinbarer Details wie der leisen Glockenschläge, die hier fein herausklangen.

Ohne Zweifel wussten alle die tatsächlich einzigartige Akustik der Elbphilharmonie zu nutzen. Allerdings klang das durchsichtig instrumentierte Konzert in dieser Atmosphäre etwas „zu perfekt“: Zwar brillierte der Klang lupenrein und makellos, jedoch fehlten gewisse Ecken und Kanten des spontanen Musizierens, so dass ein leicht steriler Beigeschmack blieb. Aber auch dies sei nur am Rande erwähnt und war spätestens bei der Alpensinfonie schnell vergessen: Zwar wirkte deren Beginn, die Nacht, nach dem wunderbar fahlen Fagottsol, etwas zu direkt in den Posaunen, die den motivisch zentralen Choral noch etwas mystischer hätten gestalten können; aber spätestens beim Sonnenaufgang wurde die Darbietung dieses Werkes zu einer Offenbarung. Ab jetzt entfaltete sich die komplette Norddeutsche Orchesterakademie mit hinreißender Energie und tauchte zusammen mit Kiril Stankow in die üppigen Farben dieses Werks ein. Es war, als erfülle sich der philosophische Anspruch der Selbstreinigung und -erhöhung, den der Nietzsche-Kenner Richard Strauss mit seiner Sinfonie hegte (wie Sebastian Handke im Programmheftbeitrag es ausführte).

Jedes Instrument ließ sich mitreißen, selbst die filigranen Harfen waren im vollen Klangkörper gut zu hören. Mehr noch, die Musiker ließen sich an kaum einer Stelle zu bloßer Vordergründigkeit verleiten, sondern gestalteten die Sinfonie „erzählerisch“, sie bildeten klare und eigenständige Abschnitte, die zugleich höchst organisch wirkten und einen wunderbaren Kontrast zwischen lyrischen und rauschhaften Passagen schufen. Dazu bei trug ohne Zweifel der manchmal etwas unklare, aber weitestgehend doch präzise Führungsstil Stankows, der auf flüssige bis rasche Tempi setzte und auf überzeugende Prägnanz, wobei er auf unnötige Monumentalität zu verzichten wusste. Sogar die in den meisten Darbietungen plump dahingeschmetterte Stelle der zwölf Hörner im Hintergrund wirkte plastisch und durchdacht, so dass man sich wirklich wie auf der Jagd fühlt. Überhaupt sind die Blechbläser, insbesondere die Trompeten, besonders hervorzuheben. Mitreißender Höhepunkt war schließlich der Abschnitt Gewitter und Abschnitt, wo allein das Schlagwerk den Eindruck erweckte, der Blitz schlüge über einem ein. Selbst hier vermochte Stankow das Orchester genau zu artikulieren. Die Donnermaschine ging jedoch in ihrem einzigen Einsatz etwas unter durch die überlaute Orgel, die der Organist ansonsten gut zu registrieren wusste.

Es fällt nicht leicht, annähernd kritische Details aus jenem Abend herauszufiltern, so liebevoll wurde das Werk wiedergegeben, was umso mehr erstaunt, wenn man bedenkt, dass die Musiker kaum mehr als eine Woche Zeit zum Proben für diese beiden Kolosse hatten. Freilich gab es manches, was etwas ausgefeilter oder vertieft hätte sein können: So klingt der Sonnenuntergang doch zu geschwind und gleiches gilt auch für den Ausklang, dessen andachtsvoller Charakter dadurch auf der Strecke blieb, wobei andererseits gerade dieses Finale weniger sentimental wirkte. Zumal soll die Melodik laut Partitur „mit sanfter Extase“ gespielt werden, ein Merkmal, das Stankow hervorhob. Überhaupt können jene Kleinigkeiten diese Leistung der Norddeutschen Orchesterakademie, die sich mit der manch eines großen Orchesters vergleichen lässt, kaum minimieren. Es blieb ein gelungener Abend, an den man gerne zurückdenkt. Höchst ärgerlich nur, dass nach dem leisen Schlussakkord direkt jemand aus dem Publikum hineinplatzen musste, anstatt die vom Dirigenten gehaltene Ruhe noch zu wahren. So etwas ruiniert das Ergebnis und ist darüber hinaus absolut unnötig und beschämend! Aber immerhin, der Saal tobte vor Applaus und zum Dank für die Ovationen des Publikums wandte sich das Orchester charmant an alle Seiten, verbeugte sich sogar. Ich wünsche mir sehr, dass diese erfolgreiche Premiere jener Akademie keine Eintagsfliege bleibt und noch weitere so einzigartige Probenphasen und Konzerte, nicht nur in der Elbphilharmonie, möglich sein werden!

[Peter Fröhlich, Juli 2018]

Magische Flötenklänge an der Mosel

Das Theater Trier brachte DIE ZAUBERFLÖTE von Wolfgang Amadeus Mozart, in einer Inszenierung von Heinz-Lukas Kindermann am 28. Juni 2018 zum vorletzten Mal zur Aufführung. Das Philharmonische Orchester der Stadt Trier wirkt ebenso mit wie die Statisterie (einstudiert von Christian Niegl) und der Opernchor und Extrachor des Theater Trier unter Leitung von Generalmusikdirektor Victor Puhl. Die Bühne machte Heinz Hauser, Carola Vollath war für Kostüme verantwortlich, die Choreographie stammte von Darwin José Diaz Carrero und Robert Przybyl. Die Rollen waren folgendermaßen besetzt: Sarastro: Irakli Atanelishvili, Tamino: James Elliot, Papageno: Bonko Karadjov, Königin der Nacht: Frauke Burg, Pamina, deren Tochter: Eva Maria Amann, Monostatos: Fritz Spengler, Erste Dame: Evelyn Czesla, Zweite Dame: Sotiria Giannoudi, Dritte Dame: Silvia Lefringhausen, Sprecher: Franz Grundheber, Erster Priester: Carsten Emmerich, Zweiter Priester: Fernando Gelaf, Erster Knabe: Tobias Stephanus, Zweiter Knabe: Héloise Neuberg, Dritter Knabe: Miao Yan Law, Altes Weib (Papagena): Helena Steiner, Erster geharnischter Mann: Gor Arsenyan, Zweiter geharnischter Mann: László Lukács.

Die Zauberflöte in heutigen Zeiten zu inszenieren, erscheint auf den ersten Blick wie ein aussichtsloses Unterfangen. Auch nach über 200 Jahren erfreut sich das letzte Bühnenwerk Mozarts ungebrochener Beliebtheit, was es schwierig macht, eine originelle und erfrischende Inszenierung auf die Beine zu stellen. Nichts desto weniger unternahm das Theater Trier zum Abschluss seiner Saison 2017/18 genau diesen Versuch. Heraus kam eine gleichermaßen interessante, ja kluge, und durchaus phantasievolle Adaption jener Oper, die der ehemalige Intendant des Theaters dieser Stadt, Heinz-Lukas Kindermann, hervorbrachte. Dieser Regisseur, immerhin schon über achtzig Jahre alt, hat nicht nur die Antikenfestspiele Triers ins Leben gerufen, sondern wirkt darüber hinaus (wie sich aus dem informativen, aber nicht überladenen Programmheft entnehmen lässt) regelmäßig in Wien, unter anderem als Präsident des österreich-bayerischen Forums, das sich für die Bewahrung berühmter Opernbüsten und Fresken einsetzt.

Was geschah nun in der Trierer Zauberflöte? Statt konservativem Pomp oder minimalistisch-„moderner“ Kargheit kam hier ein reflektiertes und stellenweise auch schillerndes Szenario zum Vorschein, das die Phantasie der Kinder anregt und Erwachsene zum Nachdenken einlädt. Das Bühnenbild ziert vor allem ein großdimensionierter Spiegel, der nicht nur verschiedenste Effekte erzielte (in Verknüpfung mit übriger Bühnentechnik), sondern auch eine symbolische Hintergründigkeit evoziert, gleichsam, als solle sich jeder einzelne Charakter dieses Singspiels immer wieder reflektieren. Auch andere Facetten der Inszenierung fallen positiv auf: Bei der Arie „Wie stark ist nicht dein Zauberton“ war es seit Schikaneders Zeiten zumeist üblich, Menschen in allerlei Tierkostümen tanzen zu lassen. Kindermann jedoch projiziert stattdessen leuchtende Augenpaare in den Hintergrund, was der recht heiteren Arie eine dunklere, unheimlichere Strömung verleiht und angenehm kitschfrei wirkt.

Reflektiert, ja eigenwillig, wirken denn auch die Kostüme: Zwar bekommt man den Eindruck, als hätte sich Carola Vollath hauptsächlich an Kleidungen des spätviktorianischen England orientiert. Das allein wäre aber zu kurz gedacht. Nahezu jede Szene ist gekennzeichnet durch einen detailgenauen Wechsel der Kostüme, welche den Fortgang der Handlung nachempfinden. Trägt etwa Tamino zu Beginn der Oper noch ein schlichtes Streifenhemd mit einer Latzhose dazu, so zeichnet der edle weiße Umhang am Ende den Helden aus, der seine Prüfungen nun endgültig bestanden hat. Auch die Choreographie der beiden Tänzer Darwin José Diaz Carrero und Robert Przybyl hatten ihre besondere Note. Sparsam eingesetzt, sorgten deren Bewegungsmuster für kräftig-eigenständige Akzente, mal für ein Schmunzeln, mal für Nachdenklichkeit.

An Mühen und Kosten wurde nicht gegeizt, was für ein vergleichsweise kleines Theater wie das von Trier doch beachtlich ist. Auch musikalisch und schauspielerisch merkte man nahezu jedem Mitwirkenden seine Freude an, was vielleicht auch der Tatsache zu verdanken ist, dass es sich hierbei um die letzte Produktion unter der Stabführung von Generalmusikdirektor Victor Puhl handelt. So erklang etwa die Ouvertüre unter seinem Dirigat sehr zügig und schwungvoll. Einzelne Instrumente leuchteten hier besonders hervor, so etwa die Flöten oder die Oboen, und glichen ein paar wenige Läufe im Seitenthema aus, die übereilt vorüberhuschten.

In der ersten Nummer sind es dann die drei Damen Evelyn Czesla, Sotiria Giannoudi und Silvia Lefringhausen, welche stimmlich gut miteinander verschmolzen und auch sichtlich ihre Freude daran hatten, als personifizierte Vamps aus dem Varieté verführerisch aufzutreten. Heimlicher Star des Abends war Bonko Karadjov, der mühelos die meisten Lacher der Zuschauer für sich zu gewinnen verstand. Sei es in der berühmten „Vogelfänger“-Arie, die als kleine Überraschung einen alternativen Text von Michael Ende enthält, sei es aber auch in „Bei Männern, welche Liebe fühlen“, in der seine robuste und kantige Stimme auch lyrisch wurde und sehr schön mit seiner Partnerin Eva Maria Amann harmonierte. Seinen komödiantischen Höhepunkt jedoch fand Karadjov in „Ein Mädchen oder Weibchen“, was er zu einer wahren Farce umgestaltete. So schnappte sich der Sänger keck den Taktierstab von Monsieur Puhl und bot seine eigene Version dieser heutzutage etwas bieder erscheinenden Arie, was dann selbstbewusst lächerlich und sympathisch wirkte.

Nicht zu vergessen sei sein Kompagnon James Elliot als Tamino. Hatte dieser anfangs noch seine Schwierigkeiten, so war dies spätestens bei der „Bildnisarie“ vergessen: Hier zeigte sich sein lyrisch-einfühlsamer und zugleich energischer Tenor englischer Schule. Überhaupt wuchs er den Abend stets über sich hinaus, auch schauspielerisch, und erwies sich als zuverlässiger und musikalischer Partner gerade in Ensemblenummern. Am eindrucksvollsten zeigte sich dies im langen Dialog mit dem Sprecher der Eingeweihten, wo Mozart ein begleitetes Rezitativ komponierte. Hier konnte das Theater einen prominenten Gast und gebürtigen Trierer an jenem Donnerstag begrüßen: Franz Grundheber, der hier trotz seines hohen Alters einen starken und einprägsamen Auftritt hinlegt. Als ungewöhnlich und jenseits vieler gängiger Darstellungsmuster erwies sich die Königin der Nacht, Frauke Burg. So erschien ihr erster Auftritt in „Oh zittre nicht“ nur anfangs als „grandios“. In Wahrheit wirkte sie wie eine fremde Macht, nicht von dieser Welt, ein Eindruck, den Burg durch ihre fluoreszierend-helle Stimme und ihre sichere Führung unterstrich. Schade nur, dass nicht nur an dieser Stelle das Bühnenbild einen erheblichen Haken offenbarte: So wirkungsvoll der Spiegel optisch war, so problematisch erwies er sich für viele Sänger, die dahinter agierten, was sich auf die Textverständlichkeit auswirkte. Wie gut, dass dann die Höllenarie auf dem vorderen Bühnenteil stattfand: Hier offenbarte Frauke Burg eine ganz andere Seite: Die rachsüchtige und zugleich um ihre Macht fürchtende Königin verkörpert sie hier voll und ganz überzeugend. Anstatt auf bloße Bravour zu setzen, wie dies einige Koloratursopräne tun, verstand es Frauke Burg von Anfang bis Ende, Gänsehaut sowie einen Klang voll düsterer Energie und eine Spannungskurve zu erzeugen, wozu ihre bewussten Rubati beitrugen.

Als ebenbürtiger Gegenpol agierte Eva Maria Amman als Pamina: Mit ihrer vollen und intonationssicheren Stimme wusste sie sich auf vielfältige Weise in Szene zu setzen. Ihren größten Auftritt jedoch hatte sie in „Ach, ich fühls“. Die todtraurige Stimmung dieser Arie über den scheinbaren Verlust der Liebe wusste sie nicht nur einzufangen, sondern auch erlebbar zu machen. Bis in die kleinste dynamische Facette sang, rief und hauchte sie ihre Töne voller musikalischer Inbrunst aus. Wiederum als Antipode trat ihr erster Partner des Abends, Fritz Spengler als durchtriebener Moor Monostatos auf. Hier erwies es sich als originelle Idee, statt dem üblichen Spieltenor einen Countertenor zu nehmen. Spengler versteht es, durch die helle Sopranlage seiner Stimme, der Figur eine ironische Leichtigkeit zu verpassen, hinter der Komplexe und Abgründe lauern. Spätestens in seiner Arie „Alles fühlt der Liebe Freunden“ wird das deutlich: Hier zeigte der junge Countertenor, was Monostatos eigentlich umtreibt: Er möchte lieben und geliebt werden, was ihm seinerzeit allerdings allein wegen seiner Hautfarbe verwehrt blieb.

Als Sarastro bestach der georgische Sänger Irakli Atanelishvili. Zwar merkte man ihm seinen sprachlichen Akzent deutlich an, dem musikalischen Genuss tat das jedoch keinen Abbruch. Sowohl bei „O Isis und Osiris“ als auch bei „In diesen heil´gen Hallen“ sang er gleichermaßen kräftig und sonor und mit runder Stimmführung, auch strahlte er trotz seines jungen Alters schon die Autorität aus, welche zum Charakter des Sarastro dazugehört. Präsent, aber auch nicht allzu drollig, sind die drei Knaben auf der Bühne. Auch wenn deren höchste Stimme manchmal Mühe hat, hervorzutreten, so waren die Kinder doch sorgfältig einstudiert. Leider herrschte bei den zwei Geharnischten ein klangliches Ungleichgewicht, hier war es der tiefere der beiden, welcher sich nicht so recht durchzusetzen vermochte, obgleich ja sonst alles stimmte. Auch geriet hier die Begleitung durch das sonst so grundsolide Orchester matt, da der Fluss innerhalb der Polyphonie etwas fehlte. Umso erfreulicher dann der große Schlussauftritt Papagenos, indem dann auch die junge Helena Steiner als Papagena sich stimmlich entfalten durfte und davor eine Spiellust offenbarte, die einen zum Schmunzeln bringt. Und was wäre schließlich eine Zauberflöte ohne Chor? Hier sorgte der verstärkte Opernchor des Theater Trier für einige große Auftritte sowie einen wirkungsvollen Schluss, insbesondere die Männerstimmen überzeugen.

Fazit: Natürlich handelt es sich bei diesem Theater nicht um ein großes Opernhaus wie beispielsweise in Wien, was entsprechend bemerkbar wird, und doch haben die Trierer doch eine mehr als beachtliche, unverkrampfte und alles andere als herkömmliche Zauberflöte kreiert und damit anderthalb Monate lang für ein ausverkauftes Haus gesorgt – zu Recht, wenn man alleine die Leistungen von diesem Abend bedenkt, an dem das Publikum schon gar nicht mehr aufhören wollte zu applaudieren. Emmanuel Schikaneder und Mozart wären sicher stolz auf so viel Zuspruch gewesen!

[Peter Fröhlich, Juli 2018]

Konzert im Zeichen Tschechiens

Zum zweiten Mal hintereinander spielten die Münchner Philharmoniker unter ihrem slowakischen Gastdirigenten Juraj Valčuha am Freitag, den 05. Februar 2016, ein Programm mit böhmischer Musik: die Tondichtung „Vodnik“ („Der Wassermann“) Op. 107 von Antonín Dvořák (1841 – 1904), das Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken H 271 von Bohuslav Martinů (1890 – 1959) und die „Sinfonietta“ von Leoš Janáček (1854 – 1928).

Wie man dem in jeden Programmpunkt sehr sorgsam einführenden Programmheft entnehmen konnte, war es stets ein Anliegen der Münchner Philharmoniker und ihres Vorgängerorchesters seit 1893, sich als Botschafter tschechischer (bzw. tschechoslowakischer) und polnischer Musik zu erweisen. Dank Juraj Valčuha, der seit der Saison 2005/06 die Philharmoniker immer wieder dirigiert, kamen während der drei Tage vom 4. bis zum 6. Februar jeden Abend in der Philharmonie des Gasteigs wieder einmal tschechische Werke zum Erklingen.

Klug konzipiert war das Programm, das neben zwei der meistgespielten böhmischen Komponisten – Dvořák und Janáček – mit Martinů einen zwar auch als modernen Klassiker anerkannten, aber in München eher weniger zu hörenden Landsmann präsentierte. Es hatte allerdings am Abend des 5. Februar den Anschein, als ob die Darbietung der zwei erstgenannten Komponisten auch ein gewisses Verbleiben in Routine mit sich brachte, was vor allem die Sinfonietta von 1926, eines der fesselndsten Werke Janáčeks, betraf. Immerhin gehörte der eröffnende Satz „Fanfaren“ sowie der Schluss von „Das Rathaus“ mit den darin enthaltenen zwölf Trompeten zu den aufregendsten Momenten dieses Abends. Hinsichtlich des zweiten Satzes, der „Burg“, sind vor allem die Streicher und die Holzbläser positiv zu erwähnen, sowie Valčuha, der kein allzu rasches Tempo nehmen ließ. Allerdings hätten einige Gruppen kultivierter agieren können, so zum Beispiel die Posaunen, deren gestopfte, für diesen Satz charakteristische Achtel mehr Akzentuierung vertrügen. In seinem Textbeitrag zur Sinfonietta schreibt Tobias Niederschlag, es zeichne das Werk aus, auf spätromantische Mischklänge zu verzichten und eher auf klar abgetrennte Instrumentengruppen zu setzen. Derart orientierten sich denn auch die Philharmoniker und Valčuha, ohne jedoch zu kantig zu klingen, die Wechsel zwischen den Gruppen kamen stets sehr fließend. Was das „Königin-Kloster“ angeht, so waren die Themen und deren Wechsel durch die Instrumente zwar sehr plastisch vorgetragen, wobei eine etwas innigere Atmosphäre, die gerade dieses lyrische Herzstück der Sinfonietta ausmacht, nicht geschadet hätte. Das gilt auch für den vierten Satz, die „Straße“. Dieses Scherzo wurde, wie die übrige Sinfonietta auch, mit Ernst und Sicherheit in der Phrasenbildung und Formkontur vorgetragen, allerdings fehlte etwas vom suggestiven Bild der „Straße und was in ihr wimmelte“ (wie Niederschlag den Komponisten zitiert). Und das ist nicht unerheblich, wenn man bedenkt, dass dieses letzte Werk für Janáček ein sehr persönliches war. Spannend wurde es dann, wie schon angemerkt, im Schlusssatz, der sich immer weiter steigert und wo die Philharmoniker bereits vor der Kulmination in die Fanfaren zu ihren besten Momenten an dem Abend fanden.

So erhielt die Sinfonietta insgesamt eine beachtenswerte Wiedergabe, die ihre Schwächen in der mangelnden musikalischen Tiefe und ihre Stärke in der formal klaren Gestaltung sowie in der Kompaktheit der Instrumentengruppen hatte. Anders verhielt es sich bei Dvořáks 1896 komponiertem Vodnik. Diese für eine symphonische Dichtung schon recht lange Komposition wurde von Marcus Imbsweiler eingehend erörtert, vor allem bezüglich der einzelnen musikalischen Motive, deren Zuordnung zu den Figuren in der Schauergeschichte Karel Jaromír Erbens und deren seelischer Darstellung in der Musik. Die entsprechenden Figuren kamen auch deutlich zum Vorschein, vor allem das Motiv des Wassermanns war von gewichtiger Bedeutung, wogegen die Thematik der Mutter in den hohen Streichern eher farblos klang. Was in der ersten Hälfte des Werkes etwas auf der Strecke blieb, war der formale Zusammenhalt zwischen den einzelnen Episoden dieser Symphonischen Dichtung, die an sich einer Rondoform orientiert. Einige Instrumentengruppen hatten auch ihre Schwierigkeiten mit der Klangbalance. In diesem Fall waren es – und das ist kein billiges Stereotyp dieser häufig unterschätzten Gruppe – die Bratschen, die, nimmt man den eigenen Anspruch des Orchesters an sein Niveau ernst, einen runderen Gesamtklang hätten bringen können (die Akustik des Gasteig trug keine Schuld daran). Von überzeugender Dramatik waren die wohldosierten Tutti-Ausbrüche, wobei gerade die an diesem Abend seltenen Einsätze des Schlagwerks hervorstachen. Ab der zweiten Hälfte wurde die Klimax spürbar, welche die Verdichtung der Themen und die allgemeine Steigerung mit sich brachte (woran auch der seltene Einsatz einer zweiten Basstuba Anteil hat). Auch gelang es Valčuha von hier ab besser, die Gestaltung einzelner Abschnitte sorgfältiger darzustellen. Sei es der leise, aber hier bedeutsame Schlag des Tamtams, der wohl den Mord am Kind symbolisiert, oder der resignierte Schluss der Dichtung, den wenige tiefe Instrumente inklusive Posaunen pointiert, aber nicht zu lange wiedergaben.

Oftmals neigen selbst große Symphonieorchester dazu, weniger bekannte Werke unterprobt und unausgereift zur Aufführung zu bringen. Glücklicherweise kam ein solcher Eindruck beim Mittelwerk, dem 1938 komponierten Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken H 271 von Bohuslav Martinů, nicht auf. Martinů, der am 8. Dezember 1890 in Polička in Böhmen geboren wurde, hatte das Schicksal eines Nomaden: Er musste, bedingt durch die beiden Weltkriege, von seiner Heimat nach Paris, in die USA und von dort, obwohl keineswegs kommunistisch, aufgrund der Repressionen der Mc-Carthy-Ära nach Basel übersiedeln, wo er am 28. August 1959 starb. Als dementsprechend kosmopolitisch, frei und humanistisch ist sein Schaffen zu verstehen, so beschreibt es Wolfgang Stähr im Programmheft. Mit dem rein äußerlich klassizistischen Doppelkonzert ist zumindest ein Glanzstück entstanden, das an diesem Abend bei den Münchner Philharmonikern eine Sternstunde erlebte (was auch die notwendige, aber lange Umbauzeit nach dem Vodnik kompensierte). Obgleich der erste Satz Poco allegro mit seinen tendenziell freitonalen Themen noch recht sperrig klang, konnte man schon das Potential ahnen, das in diesem Werk steckt, das die Streicher mit dem Pauker und dem Pianisten überzeugend vortrugen. Emotional packend gelang der zweite Satz Poco allegro, welchen der Komponist „Den Märtyrern von Lidice“ widmete, wo es zu einem Massaker durch die NS-Wehrmacht gekommen war. Hierbei erhält der Pianist zwar Gelegenheit, als dritte Instanz zwischen den beiden Streichorchestern hervorzutreten. Doch verhielt er sich ganz und gar unpianistisch im eigentlichen Sinne, was man als kluge Zurückhaltung zugunsten der Musik verstehen kann. Der Höhepunkt kam dann mit dem Finale, Allegro. Hier zieht Martinů alle satztechnischen und kontrapunktischen Register seines Könnens und formt einen komplexen Satz mit hohen Ansprüchen, der formal sehr geschlossen wirkt, und den die Philharmoniker unter dem einfühlsamen Dirigat Valčuhas voller Hingabe musizierten. Wenn es etwas zu kritisieren gibt, dann vielleicht, dass die Musiker gelegentlich das konzertante Konzept klarer betonen hätten können, indem sie die Trennung zwischen den beiden Streichorchestern mehr akzentuierten. Dies fiel jedoch nicht sehr ins Gewicht bei dem Niveau, das die Streicher (inklusive Bratschen) in diesem Binnenstück des Abends erreichten, was uns, was sicher ausbaufähig ist, auf weitere Aufführungen im Sinne musikalischer Völkerverständigung nicht nur zwischen Tschechien und Deutschland hoffen lässt.

[Peter Fröhlich, Februar 2016]

Spätwerke zweier Romantiker

Anlässlich seines zweiten Semesterabschlusskonzerts für den Winter 2015/16 am 1. Februar 2016 in der Großen Aula der Ludwig Maximilians Universität führt der UniversitätsChor München unter der Leitung Verena Eggers späte Chorwerke aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Es sind die Kantate „Hör mein Bitten“ WoO15 (1844/47) sowie der Psalm 42 „Wie der Hirsch schreiet“ op. 42, MWV A 15 (1837/38) von Felix Mendelssohn-Bartholdy, gefolgt von der Messe in Es-Dur D 950 von Franz Schubert. Begleitet wird der Chor vom Collegium Musicum München; Solisten sind Katja Stuber (Sopran), Florence Losseau (Alt), Roman Payer und Philip Carmichael (Tenöre) sowie Manuel Adt (Bariton).

Die größeren Chorwerken der beiden Komponisten Schubert und Mendelssohn- Bartholdy aufzuführen erfordert nicht nur eingehendes musikalisches Verständnis und Qualifikation von Chor, Solisten und Orchester, sondern eröffnet auch die Möglichkeit, aus der Masse der vielen Aufführungen und Tonträger-Einspielungen der genannten Werke hervorzustechen. In dieser Hinsicht haben der über 250 Mann starke Chor der LMU München und sein Stammorchester, das aus Orchesterakademisten bestehende Collegium Musicum München, im Großen und Ganzen beträchtliche Arbeit geleistet.

Sowie das posthum veröffentlichte „Hör mein Flehen“ von Mendelssohn-Bartholdy den Abend eröffnete, erlebte man zunächst eine souveräne Katja Stuber, deren Stimme sich einfühlsam und mit vielseitigem Timbre in den Text fügte. Das Orchester spielte von Beginn an sauber und mit großenteils ausgewogener Balance. Besonders hervorzuheben sind die Streicher, die mit dem Vibrato sehr sparsam umgingen und eine daher umso tragfähigere Klangbasis schufen. Spätestens in der zweiten Textstrophe („Die Feinde sie droh´n und heben ihr Haupt“) kam es allerdings zu leichten Problemen in der Textverständlichkeit, nicht wegen des Chores, der sich trotz seiner Größe zu beherrschen wusste und immer sehr genau artikulierte, sondern aufgrund des von der Dirigentin nicht im Zaum gehaltenen Orchesters, das die Sänger streckenweise glatt übertönte. Insgesamt aber fällt dies trotzdem nicht übermäßig ins Gewicht bei dem schnörkellosen und stringenten Dirigierstil von Anna Verena Egger.

Im populären Psalm 42 konnten sich alle Musiker noch mehr entfalten. So zählten der Eingangs- und Schlusschor („Wie der Hirsch schreiet“, „Was betrübst du dich, meine Seele“ (Reprise)) zu den schönsten Darstellungen des Abends. Vor allem ersterer dürfte durch das sehr harmonische Zusammenwirken von Chor und Orchester bei vielen Zuhörern gar für Gänsehaut gesorgt haben. Das Schlussstück überzeugte in den wohlgemessenen Achtelläufen des Orchesters, welche den Chorhymnus polyphon begleiten. Diese klangen weder gehetzt noch an den Rand der Spielbarkeit getrieben. In den Nummern dazwischen glänzte immer wieder Frau Stuber, die es nach wie vor verstand, zwischen lyrischen Tonfällen und einer dem geistlichen Werk angemessenen Dramatik der Situation zu wechseln. Gerade die Arie „Meine Seele dürstet nach Gott“ erhielt durch ihre Stimme und dank dem ihr angepassten Orchester viel Leben und glaubwürdigen Ausdruck. Die einzelnen Stimmen des Chores bekamen nun auch Gelegenheit, die Früchte der Probenarbeit eines ganzen Semesters zu präsentieren. In erster Linie waren es die Soprane und Altistinnen, die ein intonationssicheres, dynamisch ausgewogenes und homogenes Klangbild ermöglichten und zumal in „Denn ich wollte gern hingehen“ die Solistin trefflich begleiteten. Die Männerstimmen waren insgesamt weitgehend zufriedenstellend, hätten aber hie und da etwas mehr aus sich herausgehen können. Vor allem die Tenöre hatten in hoher Lage einige Male ihre Probleme, was allerdings weniger in den Werken der ersten Konzerthälfte als danach in der Schubert-Messe auffiel.

Jedoch bestach die Darbietung dieses im Todesjahr Schuberts entstandenen Werkes durch sorgfältige Einstudierung und auch dadurch, dass man die musikalischen Raffinessen dieser Messe keineswegs unterschätzte. Der Programmhefttext, worin Katharina Smiatek, Johannes Harth-Kitzerow und Felix Klossek solide über Entstehung und wesentliche musikalische Elemente der Werke informierten, hob gelegentlich die düsteren Stellen dieser Messe hervor. Ebenso erfuhr man auch, wie verhältnismäßig umfangreich die Schlussfugen des Glorias und des Credos im Kontext der damaligen Zeit geraten sind. Jedoch entstanden nie die von Robert Schumann anhand des Finales von Schuberts großer C-Dur-Symphonie konstatierten „himmlischen Längen“, da jeder einzelne Messeabschnitt dramaturgisch schlüssig und mit Hingabe musiziert wurde. Das liegt nicht nur an der eigenwilligen, symmetrisch intelligenten Wiederholungstechnik Schuberts, über die das Programmheft auch aufklärt, sondern auch an der konsequent straffen, aber niemals akademisch langweiligen Leitung Frau Eggers.

Die Fuge des Gloria enthält viele chromatischen Linien, die jede Chorstimme wohldosiert vortrug, ohne die Artikulation zu verschmieren. Ein geringer Wermutstropfen ergab sich im Mittelteil des Gloria, Andante con moto, in den Blechbläsern, denen trotz ihrer verhältnismäßig kleinen Größe von je 2 Hörnern und Trompeten sowie 3 Posaunen wiederholt unterlief, den Chor an einigen Stellen zu übertönen. Hier muss Frau Egger mehr auf der Begleitfunktion bestehen. Im „Et incarnatus est“ des Credos treten erstmals zwei solistische Tenöre zur Sopranistin hinzu, in diesem Fall Roman Payer und Philip Carmichael, was ein stimmiges Terzett ergab, wobei Herr Carmichael, der hier seinen einzigen Auftritt hatte, im Vergleich zu seinem Kollegen um einiges ausgereifter sang. Als weniger glücklich erwies nach einem schönen Sanctus das Solistenquartett im Benedictus. Während Manuel Adt eine passable Baritonstimme vorweisen kann, hörte man von Florence Losseau als Mezzosopran schlichtweg recht wenig bis gar nichts (zumindest im hinteren Teil der Aula). Es mag daran liegen, dass sie hier von den anderen Solisten zugedeckt wurde, zumal sich ihre Lage im Agnus Dei zwar nur geringfügig, aber merklich besserte und auch sie eine durchaus sichere Stimmführung bewies. Hingegen boten der Chor und das Orchester ein ausgezeichnet vorbereitetes „Dona nobis pacem“, das sie bis zum Schluss intensiv musizierten, wobei sie gerade in dem Moment besonders diszipliniert blieben, als ein Chormitglied kurz vor Konzertende kollabierte.

Glaubt man dem Applaus und der allgemeinen Begeisterung, so hat der Chor, der seit 65 Jahren besteht und mit ähnlich ausgerichteten Ensembles international sehr gut vernetzt ist, zusammen mit Solisten und Orchester ein stimmiges und ereignisreiches Konzert gegeben, das trotz einiger Schwächen überzeugte und die Messlatte für das kommende Semester hoch legt.

[Peter Fröhlich, Februar 2016]

[Rezensionen im Vergleich 4a:] Von Argentinien zu Bach und wieder zurück

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Der hierzulande noch unbekannte junge argentinische Klaviervirtuose Hugo Schuler gab am Sonntag, den 31. Januar 2016, um 20 Uhr, ein Klavierrecital im Freien Musikzentrum München und führte dabei Werke von Johann Sebastian Bach, Heinrich Kaminski, Reinhard Schwarz-Schilling sowie Julio García Cánepa und Alberto Ginastera auf.

Vorab sei gesagt: wie schön, dass uns das Freie Musikzentrum die Begegnung mit so außergewöhnlichen Musikererscheinungen wie Hugo Schuler oder zuletzt der legendären Pianistin Beth Levin aus Brooklyn ermöglicht. Man hätte viel mehr Publikum verdient, doch ist es nicht leicht, in einer Musikmetropole wie München auf sich aufmerksam zu machen.

Die Verknüpfung der beiden Komponenten Bach und Argentinien unterstreicht eine Tradition, die bereits seit Astor Piazzolla besteht. Doch am vorgestrigen Abend erreichte sie in Münchens Freiem Musikzentrum einen künstlerischen Höhepunkt, was auch einem ausgefeilten Konzept der Veranstalter zu verdanken ist. So war es Herrn Christoph Schlüren in seiner Konzerteinführung ein Anliegen, das Kontrapunktische von Bach bis hin ins 20. Jahrhundert zu verfolgen und mit argentinischer Musik zu kontrastieren.

Die Verkörperung der Symbiose von elaboriertem Kontrapunkt und lateinamerikanischer Lebensfreude ist Hugo Schuler selbst, eine der hoffnungsvollsten Pianistenbegabungen Argentiniens, der in seiner Heimat bereits als ein Spezialist auf dem Gebiet der Kontrapunktik und insbesondere Bachs gilt. Bereits in der ersten Konzerthälfte konnte er dies in den allbekannten Goldberg-Variationen BWV 988 Johann Sebastian Bachs beweisen. Wenn man bedenkt, dass dieses vielgespielte Spätwerk des Komponisten im Originaltitel eine Clavier Übung bestehend in einer ARIA mit verschiedenen Verænderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen darstellt, muss man gleich vorweg klären, dass Schuler sich an zwei Dinge nicht hielt: An die 2 Manuale, was aber nur Vertreter historisch informierter Aufführungspraxis gelegentlich berücksichtigen (und instrumental auf dem Konzertflügel unmöglich gewesen wäre), sowie an die Wiederholungsvorschriften, um die Länge des Recitals in menschlichen Grenzen zu halten. Durchweg glänzt der Argentinier durch absolute Texttreue und ein Gedächtnis, das jede Note dieses Konzerts auswendig wiederzugeben vermochte. Und durch eine beachtliche Musikalität: Die themengebende Aria nimmt er betont langsam, er lässt sich Zeit, jede Stimme, jede Artikulation und Verzierung ohne Routine auszuformulieren. Auch jeder noch so nebensächliche Akkord erhält bei ihm Bedeutung und wird Teil der logischen Entwicklung dieses Anfangs. Bei den meisten Variationen selbst nimmt Schuler den eigentlichen Zweck der Übung ernst und verbindet teils sehr rasche Tempi mit absoluter Tastensicherheit. Andererseits kann man nicht sagen, dass sein Spiel irgendwie auch nur ansatzweise trocken gelehrsam klänge, sondern schlicht belebt und jeweils mit Bedacht auf den Charakter jeder Variation. Wobei es natürlich einzelne Abschnitte gibt, die durch ihre starke motorische Ähnlichkeit in der Gestaltung charakteristische Gruppen bilden wie beispielsweise die Var. 9 bis 12. Immer wieder zeigt Schuler sehr originelle Ansätze, wie etwa in Var. 1, wo viele Pianisten das Tempo recht schnell nehmen, während er es gemäßigt nimmt und der Variation somit Raum für Entwicklung lässt. Seine eigentliche Stärke, die Kontrapunktik, wird ihm in manchen Stellen etwas zum Nachteil, so etwa in Var. 15 (die erste Variation in g-Moll). Da Schuler hier den kanonischen Charakter hervorhebt, geht der thematische Zusammenhalt im Gewebe leicht unter, trotz seiner artikulatorischen Kompetenzen. Allerdings sind dies Marginalien angesichts der Souveränität, mit der er den Zyklus beherrscht. Seine Anschlagstechnik, mal sehr direkt, mal sehr weich, doch meistens genau abgestimmt, fügt sich sehr harmonisch dieser anspruchsvollen Musik. Besonders intensiv gelingt ihm Var. 25, deren Lamentocharakter er dezent wiedergibt. Gleichzeitig betont Schuler die dissonanten Akkorde und gestaltet am Ende der Variation einen bewussten Höhepunkt auf dem Ton d3, was angemessen und auch logisch klingt und einen gewissen Mut erfordert, wenn man bedenkt, dass Bach und seine Zeitgenossen kaum dynamische Vorgaben machten.

Insgesamt handelte es sich um eine höchst erbauliche Darbietung der Goldberg-Variationen, welche an manchen Stellen noch etwas mehr Tiefe vertragen hätte, aber durch ihr durchdachtes und technisch ausgereiftes Spiel überzeugte. Die nach der Pause folgenden Komponisten Heinrich Kaminski (1886–1946) und Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985, Vater des Bundesministers a.D. und Hohen Repräsentanten der Vereinten Nationen in Bosnien-Herzegowina Christian Schwarz-Schilling), verbindet nicht nur ihr Lehrer-Schüler-Verhältnis, sondern auch die Tatsache, dass sie in der europäischen Kunstmusik des 20. Jahrhunderts ihre eigene, durchweg humane Musiksprache finden wollten, auch als Haltung gegen die Weltkriege und den Hass, der sie umgab. Speziell Kaminski, so Schlüren, schuf eine neue Art des Kontrapunkts und der Metrik, die beide sehr melismatisch durchbildet sind. Das klangliche Ergebnis in Kaminskis Präludium und Fuge (in der ersten Hälfte der 1930er Jahren komponiert) bietet neben emphatisch auf- und abrollenden Stimmenverläufen auch jede Menge Ornamentik, die Schuler sehr organisch zu entfesseln vermag. Obgleich die Fuge an sich auf klarem f-Moll fußt, enthält sie viele chromatische Verwicklungen und geht mit ihrem tonalen Geflecht und ihrer Stimmverknüpfung sehr frei um. Schuler gelingt es, diese Musik Gestalt werden zu lassen, ohne ihre im weiteren Verlauf durchaus auch zerklaffende Struktur zu kaschieren. Gleiches gilt für die 1968 entstandene Klaviersonate von Schwarz-Schilling, die Herr Schlüren als klanglich am Orchester und in ihrem Klangcharakter und der eigenwilligen Dissonanzbehandlung als an Sibelius in seinen kühnen Werken wie ab der 4. Symphonie erinnernd beschreibt. Nicht zu Unrecht, und das eröffnende Vivace zeigt sowohl Ansätze eines Sonatenhauptsatzes wie einer Fuge und basiert selbst im Seitensatz auf dem Hauptmotiv des Anfangs, welches Schuler, wie vorgeschrieben, martellato spielt. Sind die strukturelle Bündigkeit und Technik nach wie vor die Stärken des argentinischen Klaviertalents, so ist es die Fähigkeit zur verfeinerten Lautstärken-Verteilung, an der der junge Pianist noch feilen müsste, gerade in der Sonate mit ihren zahlreichen dynamischen Gegensätzen und Überraschungen. Im zweiten Satz, Larghetto cantabile, hat Schuler damit kein Problem. Dieses meditative Intermezzo erscheint in seiner phrygischen Thematik und der renaissanceartigen Stimmführung bewusst schlicht geformt. Dabei versteht Schuler es abermals, klanglichen Leerlauf zu vermeiden durch sein pointiertes Spiel (das er bewusst-unbewusst durch Mitsummen begleitete). Unter seinen Händen erfüllen sich die Anweisungen Schwarz-Schillings, der „keine Unterbrechung des Flusses“ und den „Eindruck eines Gesamt-Zeitmaßes“ fordert. Für symphonische Symmetrie sorgt der dritte Satz, auch ein Vivace, der die Motivik des ersten aufgreift, gleichwohl anders weiterentwickelt und auf knappem Raum allerlei Formelemente, auch die einer Passacaglia, hervorbringt. Überflüssig zu erwähnen, dass Schuler auch dieses stürmische Finale vollendet beherrschte.

Mit den letzten beiden Komponisten würdigte Hugo Schuler seine Heimat und bewies, dass er nicht nur komplex durchstrukturierte Musik beherrscht. Die Suite A Don Benito, die der argentinische Komponist Julio García Cánepa, derzeit Dekan im Departamento de Artes Musicales in Buenos Aires, komponierte, bezieht sich auf drei Gemälde des berühmten argentinischen Malers Benito Quinquela Martin (1890-1977): I. Barco en el Astillero (Das Schiff in der Werft), II. A pleno sol (In voller Sonne), III. Cemeterio de Barcos (Friedhof der Schiffe). Allein die Auswahl der Titel vermittelt einen abstrakten Eindruck, den Cánepa in seinem Werk deutlich und stimmungsvoll artikuliert. Das dritte Stück dominiert eine markante Basslinie, die aber immer verkürzter erklingt, bis das ganze Spiel in einen einzigen Cluster mündet. Diese eigenwillige Schöpfung gibt Schuler satztechnisch lupenrein wieder, zudem vermag er es, die morbide Stimmung der Suite angemessen entstehen zu lassen. Gegensätzlicher dazu könnte das letzte Werk des Abends, die drei Danzas argentinas Op. 2 (1937) von Alberto Ginastera, der heuer seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, nicht sein. Herr Schlüren bezeichnet dieses Werk gar als Stück im Stilo popolare. In gewisser Weise spannt Schuler mit dieser Wahl nun einen Bogen zu Bach, wie man schon dem ersten Tanz, dem Danza del viejo boyero (Tanz des alten Hirten) entnimmt. Dieser Tanz ist wesentlich von einer perpetuierenden Motorik geprägt, wie sie in vielen Toccaten Bachs, aber auch bei Sergej Prokofieff auftaucht. Die darauffolgende Danza de la moza donosa (Tanz des schönen Weibes) orientiert sich an den Rhythmen des Tango wie der Habanera und könnte leicht ins Triviale abgleiten, würde Schuler diesen Satz, der einige harmonischen Spannungen birgt, nicht mit solch unbestechlicher Konzentration vortragen und in seinen Nuancen geschmackssicher auskosten. Die abschließende Danza del gaucho matrero (Tanz des vogelfreien Gauchos) bestätigt final die Dreiersymmetrie: Ähnlich vital wie der erste Tanz, birgt dieser wilde Kehraus deutlich mehr verschachtelte Rhythmen und Harmonien, geht aber immer mehr in eine offensichtliche C-Dur-Apotheose über, die Hugo Schuler mit all seiner Fingerfertigkeit zelebriert, ohne je den geringsten Eindruck selbstverliebter Virtuosität zu machen.

Bei solch einem originellen und zugleich hintersinnigen Programm bleibt nur zu wünschen, dass Hugo Schuler, der kommende Bach-Exeget Argentiniens, auch weiterhin hier in Europa auf sich aufmerksam machen wird.

[Peter Fröhlich, Februar 2016]

Bach im Guckglas des 19. Jahrhunderts

SWR Music, 93.338, EAN: 4 010276 027997

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Infolge der im 19. Jahrhundert einsetzenden Bachpflege setzten sich viele Musiker auch produktiv mit dem barocken Meister auseinander, so Ignaz Moscheles in seinen Arrangements von Präludien aus dem Wohltemperierten Klavier (WTK) mit einem concertierenden zweiten Klavier Op. 137b, Carl Reinecke in seinen vierhändigen Bach-Variationen Op. 24 oder Robert Schumann in seinen Sechs Fugen über den Namen BACH Op. 60. Diese Schöpfungen präsentiert das Duo d´Accord (Lucia Huang und Sebastian Euler) in der vorliegenden SWR-Produktion.

Dass Johann Sebastian Bach ab etwa 1828 vor allem seit Felix Mendelssohn-Bartholdys Leipziger Wiederaufführung der Matthäus-Passion eine bis heute andauernde Renaissance erfuhr, ist bekannt. Was jedoch die künstlerischen Ergebnisse der Beschäftigung mit Bach angeht, hat in vielen Fällen die heutige Hörerschaft noch nicht erreicht. Umso ehrenwerter ist das Experiment, welches die ARD-Preisträger Huang und Euler, als Duo seit 1999 bestehend, sich in der vorliegenden CD vorgenommen haben.

Gezielt wählten die beiden Künstler Moscheles, Reinecke und Schumann aus, die man in dem breiten Pool der Bachbearbeiter und –nachahmer als durchaus selbstkritische, gleichwohl entschlossene Verehrer des barocken Übervorbildes sehen kann. Der Booklettext, den Huang und Euler selbst beisteuern, zeichnet sich durch Facettentiefe und einen klaren strukturellen Faden aus: Von allgemeinen Anmerkungen zur einsetzenden Bachpflege und deren Eigenheiten führen sie über Ignaz Moscheles zu Carl Reinecke, stellen hier den Zusammenhang zu Schumann her, um schließlich ihre Bearbeitung von dessen Fugen Op. 60 für vierhändiges Klavier und ihre eigenen Absichten zu erklären. Kurzum, ein Text von Niveau, Eloquenz und Informationswert.

Besonders interessant ist im Booklet der Hinweis auf die Marotte jener Zeit, Transformationen Bach’scher Kompositionen bzw. Werke auf Bach’scher Basis mit theatralischen Effekten, überschäumender Dynamik und jeder Menge Rubato anzureichern. Bereits in den ersten beiden Tracks dieser CD ist erfahrbar, wie Moscheles diese Methoden in seinen Huldigungen an Bach anwandte. Prachtvoll klingt zu Beginn die Bearbeitung des 5. Präludiums D-Dur aus WTK II (BWV 874), welchem der Salieri-Schüler in seinem Op.137b (auch betitelt als Melodisch-kontrapunktische Studien) ein konzertantes Klavier mit gehobenen technischen Ansprüchen hinzufügt. Die Künstler betonen den Schwung dieses nachgeschaffenen Präludiums, hetzen jedoch nie, was ja auch die Tempobezeichnung Allegro non troppo nahelegt. Ihr Spiel zeichnet sich durch eher sachlichen Ton, einen manchmal sehr scharfen Anschlag, gerade bei vollen Akkorden, sowie eine durchkalkulierte Strategie der Dynamik aus. Es folgt eine weitere Bearbeitung Moscheles’, nämlich des 24. Präludiums in h-Moll aus WTK I (BWV 869), mit dem Untertitel Erste Bearbeitung im strengen Styl. Der Notentext zeichnet sich mehr durch Verhaltenheit als Strenge aus, gleichzeitig sorgt Moscheles für subtil gesteigerte Komplexität, die sich aus filigran miteinander verzahnten Rhythmen beider Klaviere ergibt. Hier erzeugt das Duo einen durchgehenden Fluss (Tempo Andante), lässt es sich aber nicht nehmen, deutliche Ritardandi gegen Ende auszukosten sowie die Schlussakkorde lange verklingen zu lassen.

Erstmals folgt eine Schumannsche Fuge aus Op. 60, nämlich die erste in B-Dur. Es handelt sich bei diesen Fugen, im Gegensatz zu Moscheles und Reinecke, um keine Bearbeitung, sondern um ein originales Werk, welches sich freilich stilistisch und motivisch hörbar am Leipziger Meister orientiert. Erklärtermaßen bemühten sich Euler und Huang darum, mit dem Original Schumanns für Orgel sehr behutsam umzugehen und es nur da zu verändern, wo es aus instrumentalen Gründen unumgänglich ist. Das Ergebnis ist ein einziges Accelerando und Crescendo in dieser ersten Fuge, von Behutsam-Dunkel bis hin zu Wuchtig-Scheppernd, im abschließenden B-Dur Akkord gar etwas detonierend, was wohl am Subkontra-B liegt.

Nach diesem Tripelmuster 2x Moscheles – 1x Schumann ist die ganze CD (bis auf eine Ausnahme!) aufgebaut, was vielschichtige dramaturgische Gründe hat, die der Hörer zwar nicht unbedingt kennen muss, deren Sinn sich jedoch innerhalb der Gruppierung intuitiv erschließt. Die Präludien sind in ihren Stimmungen und strukturellen Eigenschaften jeweils sehr ähnlich zueinander, um stets von einer Fuge Schumanns ergänzt zu werden. Die Ergebnisse sind zumeist unterhaltend und erfrischend (so etwa in der Bearbeitung des populären Präludiums Nr. 1 in C-Dur, WTK I, BWV 846), können aber auch zugleich sehr herausfordernd werden. Dies trifft zuweilen auf die komplexen Gebilde Schumanns zu, die der ausgefeilten Kontrapunktik eines Anton Bruckner in nichts nachstehen. Doch auch hier gibt es Beispiele, die für angenehme Kontraste sorgen, wie die dritte Fuge in g-Moll, die keinerlei äußerlichen Effekt präsentiert – und deren ruhigen Fluss das Duo d´Accord überzeugend rüberbringt (Bezeichnung: mit sanften Stimmen). Monotonie kommt keine auf, da Huang und Euler jede dieser Tripel-Gruppen auf eigene Weise gestalten. Allgemein spielen die beiden Künstler mit Sinn für Gleichmäßigkeit, Logik in der Formentwicklung, bisweilen einer Tendenz zum knalligen Anschlag sowie klanglicher Hintergründigkeit. Selbst in der letzten Fuge Schumanns in B-Dur, deren Massivität schon ins Extreme geht, merkt man das qualitative Zusammenspiel sowie das musikalische wie missionarische Engagement, mit dem die beiden vorgehen.

Nun ist Reinecke ganz am Ende nur mit einem Werk vertreten, nämlich mit den Variationen über eine Sarabande von Bach Op. 24 (aus der 1. Französischen Suite in d-Moll, BWV 812). Doch fällt sein Werk umso mehr ins Gewicht, da es sich von den teils besonders das Sinnliche beschwörenden Klangwelten seiner beiden Vorläufer distanziert und damit einen weiteren, umso differenzierteren Blickwinkel auf Bach offen legt. Gleichwohl finden sich in den acht Variationen Merkmale des 19. Jahrhunderts, wie eine teils auffällig ausgeklügelte Harmonik, kompakte Akkorde, eine anspruchsvolle Technik sowie entwickelnde Variationen. Obwohl es zu einer großangelegten Stretta kommt, bleibt Reinecke in seiner Orientierung konsequent und lässt seinen Zyklus so ruhig enden, wie er begonnen hat. Das Duo d´Accord betont auch hier in jeder Variation deren Eigenständigkeit und zeigt abermals seine Fähigkeit, Klangfarben und Stimmung intensiv zu exponieren. Damit entspricht auch dieses Werk dem Grundsatz, dem sich das Duo Euler/Huang verschrieben hat: Klangfreude am Alten durch das Neue zu erzeugen. So bietet diese CD einen lohnenswerten Blick auf eine womöglich immer noch belächelte und umstrittene, aber seinerzeit sehr innovative Praxis, die sich zu erkunden lohnt: Bach in eigener Weise zu huldigen, sei es durch Neubearbeitung oder Neukomposition.

[Peter Fröhlich, Januar 2016]

Brahms’sche Poesie für Violoncello und Klavier

NAXOS 8.573489, EAN: 7 47313 34897 8

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Neben den beiden Cellosonaten von Johannes Brahms spielen der junge, preisgekrönte Cellist Gabriel Schwabe und dessen nicht weniger namhafter Klavierpartner Nicholas Rimmer erstmals sechs Lieder des Komponisten, bearbeitet für ihre Besetzung, ein. Gefördert wurde die von Radio Bremen koproduzierte Aufnahme durch die Deutsche Stiftung Musikleben.

Von den vielen Aufnahmen der beiden Sonaten für Violoncello und Klavier Op. 38 in e-Moll und Op. 99 in F-Dur tendieren nicht wenige dazu, entweder sehr pauschal schwelgerisch die Solostimme herauszustellen oder schnell und trocken bis hin zu nichtssagend zu sein. Umso erfreulicher ist es, wie der noch nicht einmal dreißigjährige Schwabe und der nicht minder kompetente Rimmer beide Sonaten in ihrer Essenz klug und mit viel Innenleben deuten: Allgemein heben sie die Eigenständigkeit jeder Stimme klar hervor, gestalten die Themen, Verläufe und das Tempo so, dass sich immer eine geschlossene Struktur hieraus ergibt, ohne dabei jemals akademisch zu wirken. Dank dieser durchdachten Herangehensweise klingen beide Sonaten größtenteils „perfekt“, als ob es selbstverständlich und leicht wäre, so zu musizieren – was es natürlich nicht ist.

Prinzipiell gilt das auch für die eigentliche Novität dieser CD, die sechs ausgewählten Lieder aus verschiedenen Schaffensphasen des Komponisten in Cello-Arrangements. Dadurch, dass Brahms, dessen Liederzyklen immerhin ein Drittel seines gesamten Schaffens ausmachen, diese eher knapp und klanglich homogen schrieb, hatten die beiden Musiker sowohl in ihrer Bearbeitungspraxis als auch in ihrer Ausführung leichtes Spiel. Anders gesagt, erscheint es für Schwabe und Rimmer keine große Herausforderung, den Liedbearbeitungen Charakter zu verleihen und sie in ihrer individuellen Stimmung auszudeuten. Interessant ist die Auswahl der Lieder, welche die Künstler vornahmen und worüber der ausführliche und musikwissenschaftlich kompetente Booklettext von Oliver Fraenzke bestens informiert. Wie er schreibt, arbeitete das Duo daran, bewusst Lieder mit weiter entstehungszeitlicher Bandbreite (aus den Jahren 1866 bis 1885) zu wählen, die sich zudem in Melodieführung und Transponierbarkeit eignen und nach Bearbeitung für Cello und Klavier eigenständige, aber dennoch urtexttreue Werke bilden würden.

Die Mainacht (Op. 43, Nr. 2) wird zu einer dreiteiligen Nocturne, in deren Mittelteil sie das Pathos des originalen melancholischen Liedtextes („ …aber ich wende mich, / Suche dunklere Schatten“) angemessen zum Ausdruck bringen. Schwungvoll klingt die Botschaft (Op. 47, Nr. 1), was bisweilen auch für die Liebesglut (auch Op. 47, Nr. 2) gilt, wobei das Duo auch hier auf Klarheit der Stimmen setzt. Sind diese nun Werke aus den 1860er Jahren, so entstand Verzagen (Op. 72, Nr. 4) 1877. Dieses Lied beinhaltet eine noch komplexere Faktur sowohl durch die ständige 32stel-Bewegung als auch durch den weniger strophischen als entwickelnd durchkomponierten Aufbau. Und hier schaffen es Schwabe und Rimmer, ein vergleichsweise gemessenes Tableau aus diesem Lied zu formen, das in seiner Originalgestalt oftmals zu affektiert und dramatisch vorgetragen wird. Die in den 1880er Jahren entstandenen Lieder Sommerabend (Op. 85, Nr. 1) und Nachtigall (Op.97, Nr. 1) haben sowohl einen pastoralen Text als auch einen eher lyrischen Klangcharakter gemein. Auch hier kann man das Spiel der beiden Musiker und deren Sinn für die richtige Atmosphäre einfach nur makellos nennen, selbst in einigen wenigen Spitzentönen des Cellos, die um keinen Deut intensiver vibriert werden dürften.

In den mehr herausfordernden Sonaten spielen beide Künstler äußerst sicher und mit vollem Ton, nicht ohne Risiken einzugehen. Im Allegro non troppo der ersten Sonate erklingt das Grundthema sicher und gemessen, wogegen die Überleitung zum Seitenthema in h-Moll mit sehr viel Emotion durchdrungen ist. Bisweilen bewegen sie sich klanglich an der Grenze aller Sicherheit, behalten aber dennoch die Kontrolle und sorgen so beim Zuhörer für einige Spannung. Erfreulicherweise wird das Cello selbst in den lauteren Passagen nie zugedeckt. Auch die heiklen Akkordsprünge beider Instrumente in der Durchführung glücken vollkommen. Die Überleitung zur Reprise zeichnet sich durch Ruhe und Beherrschung im Zusammenspiel aus und bekräftigt wiederum die Ausgewogenheit zwischen klanglichen Gegensätzen. Im Allegretto quasi menuetto heben Schwabe und Rimmer das Tänzerische des Themas deutlich hervor, ohne je ins Vulgäre zu verfallen. Charakteristisch für dieses Menuett ist mithin die Leichtigkeit, die das Duo dem Stück angedeihen lässt, während das fis-Moll-Trio deutlich sensibler, jedoch gefasst wiedergegeben wird. Bezüglich des finalen Allegros klärt Fraenzke darüber auf, dass Brahms lange kein passendes Finale einfiel und die schließlich komponierte Fuge und ihr komplexes Gewebe problematisch für die Durchhörbarkeit werden könne. In der Tat geben auch Schwabe und Rimmer sich hörbar Mühe, ein zudeckendes Klangvolumen zu vermeiden, wobei sie auch hier ihr oftmals kraftvolles Spiel beibehalten. Allerdings nutzen sie geschickt die weniger kontrapunktischen Passagen, um dynamische wie auch artikulatorische Abwechslung einzubringen, wodurch dieses Finale, fernab jeglicher polyphonen Etüde, zu einem lebendigen Kehraus wird.

Ähnlich souverän gestaltet das Duo die zweite Sonate: das eröffnende Allegro vivace klingt in den Tremoli des Klaviers vital, Schwabe verzichtet in den Cellosynkopen zu Satzbeginn auf pathetische Gesten, behält aber seinen ausdrucksstarken Ton bei. Da dieser Kopfsatz, im Vergleich zum Vorgängersonate, viel mehr auf Motivkombinationen setzt, macht ihn das in seiner Struktur auch zerklüfteter. Schwabe und Rimmer verstehen es, einen erlebbaren Gesamtzusammenhang herzustellen, nicht ohne die verschiedenen Facetten und Klangfarben des Satzes ausgiebig auszuloten. Im Adagio affettuoso schreiten die Pizzicati des Cellos gemessen, dabei weder zu langsam noch zu forciert voran, was der melancholischen Stimmung sowie der Formbalance sehr zugute kommt. Obgleich der folgende Satz ein Allegro passionato ist, heben die Musiker weniger das Leidenschaftliche als das Geschwinde hervor. Schwabe reißt gar einzelne Töne seiner Stimme nur noch scharf an und verleiht diesem Scherzo somit einen zusätzlich makabren Charakter. Die Cellomelodie des Trios wird zwar kantabel hervorgehoben, das Tempo jedoch drosseln Schwabe und Rimmer kaum. Und: niemals klingt es irgendwo überhetzt. Die wohl größte Herausforderung dieser Sonate ist das abschließende Allegro molto: Die absichtliche Belanglosigkeit des F-Dur-Themas fordert viele Kammermusiker insofern, diesem eine tiefere Bedeutung abzugewinnen. Nun nehmen Schwabe und Rimmer die Satzbezeichnung ziemlich wörtlich, sprich, auch hier wird der Kehrauscharakter nachdrücklich betont. Das Nebenthema in a-Moll hat auch etwas Ironisches (wie vielerorts bei Schostakowitsch). Auch hier setzen die beiden Musiker die Kontraste klug ein, indem sie z. B. die erste Episode dieses Rondos im Tempo drosseln, um mehr Tiefe hineinzubringen. Schlussendlich dominiert jedoch das Motorische des Satzes (zumal aufgrund der omnipräsenten Klaviertriolen), ohne jedoch mechanisch zu wirken. So setzt auch dieser Schlusssatz ein Markenzeichen für zwei junge Musiker, die die Cellosonaten durch ihr lebhaftes und bewusstes Musizieren in angemessener Gestalt und Individualität entstehen lassen und diese CD zu einem sehr empfehlenswerten Ereignis innerhalb der reichen Diskographie machen. 

[Peter Fröhlich, Januar 2016]

Cellovirtuose und Autodidakt

Hyperion CDA68063, EAN: 0 34571 28063 9

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Im Rahmen der Reihe „The Romantic Cello Concerto“, Vol. 7 präsentiert der Cellist Alban Gerhardt zusammen mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter der Leitung Stefan Bluniers gewichtige Werke des Cellisten Wilhelm Fitzenhagen (1848 – 1890), also neben seiner vielgespielten Bearbeitung von Tschaikowskys Rokokovariationen Op. 33 vor allem Eigenkompositionen: seine beiden Cellokonzerte, die Resignation Op. 8 sowie die Ballade Op. 10.

Sowie man das erste Cellokonzert hört, ist keineswegs zu leugnen, dass Fitzenhagen ein Meister seines Instruments war und diesem auch eigene Erfindungen zuzueignen wusste. Der erste Satz seines 1870 entstandenen Konzerts op. 2, Allegro moderato, lebt von einer einfallsreich durchgesponnenen Sololinie des Cellos, bei der sich technische wie dramaturgische Raffinessen gut die Waage halten. Zu Fitzenhagen als Komponist schreibt Nigel Simeone im durchweg informativen Booklet, er habe „größere (…) Ambitionen“ gehegt. In Bezug auf das Orchester hat sich der kompositorische Autodidakt dabei auf das Nötigste beschränkt, da er ihm, trotz einiger Momente orchestraler Eigenständigkeit, lediglich eine begleitende Rolle zuweist. Gleiches gilt für das Andante, einer lyrische Kantilene. Im abschließenden Allegro (quasi moderato) ist das Wechselspiel zwischen Solist und Orchester balancierter entwickelt, obgleich Fitzenhagen niemals den konzertanten Grundgedanken seines Konzertes hintenanstellt. Größere symphonische Dimensionen, wie etwa bei Dvořák, sucht man hier natürlich vergebens.

Nicht zu Unrecht schreibt Simeone, dass im darauffolgenden a-Moll-Konzert op. 4 ein Bezug zu Schumann besteht, und das Werk unterscheidet sich sowohl in Tonart als auch Agogik und Stimmung deutlich von seinem Vorgänger. Jedenfalls setzt Fitzenhagen das Orchester wie einzelne Instrumente (wie nun auch die Harfe im Mittelsatz) gezielter ein, um der Musik mehr Tiefe und Dramatik zu verleihen. Seine Weiterentwicklung als Komponist merkt man auch an der Führung der Cellostimme, deren Virtuosität nun weniger auf artistischen Effekten als Ausgestaltung der Ideen basiert. Auch der Mittelsatz, wieder ein Andante, beschränkt sich auf kein bloßes begleitetes Lied für Violoncello und Orchester, sondern enthält ebenfalls konzertante Momente sowie einen dramatischen Mittelteil. Originell im umfangreichen und durchaus komplexen Schlusssatz Allegro moderato ist der Dialog des Solisten mit dem ersten Cellisten des Orchesters, eine Praxis, die nun weit auf Konzerte des 20. Jahrhunderts vorausblickt. Auch die Kadenz ist strukturell mehr in die Thematik eingebunden als im früheren Geschwisterwerk, was zur Entstehungszeit dieses Konzerts allerdings keine Besonderheit mehr war.

Um hier nun auch die Ausführenden der CD zu erwähnen: Als würdiger „Partner“ des Solisten Alban Gerhardt erweist sich das Deutsche Symphonieorchester Berlin unter der kontrollierten Stabführung Stefan Bluniers. Auch wenn keine besonderen technischen Herausforderungen an den Klangkörper bestehen, verstehen die Musiker es, stets die ideale Balance zwischen Begleitung und Eigenständigkeit zu finden und insgesamt sauber spielen. Alban Gerhardt zeigt in seinem Spiel durchweg konsequenten Gestaltungswillen, unterschätzt jedoch gelegentlich die horrenden Anforderungen seines Instrumentes, wodurch gerade besonders virtuose Passagen etwas unrein klingen und ein manchmal etwas hölzerner Eindruck entsteht.

Zu Tschaikowskys Variationen über ein Rokokothema Op. 33, das Werk, mit dem Fitzenhagen über die Zeiten hinweg präsent geblieben ist, gibt es nichts Neues zu sagen. Hier lohnt sich wieder das Studium des Booklets, wo Simeone sehr präzise die Veränderungen beschreibt, die der Bearbeiter am Werk Tschaikowskys vornahm, und welche Konsequenzen in Bezug auf die Originalgestalt sich daraus ergaben. Auch hier gilt: Gerhardt gibt sich Mühe, dem Werk Charakter zu verleihen, was in den Variationen meistens gelingt, jedoch im Finale eher auf der Strecke bleibt, denn zu etüdenhaft und gehetzt klingt sein Spiel hier.

Sehr innovativ ist Fitzenhagens Ballade op. 10. Nicht nur die Fähigkeit zur Instrumentierung hat hier ein neues Niveau erreicht. Die Tatsache, dass es sich hier um ein einzelnes Konzertstück handelt, gibt dem Werk mehr Raum zur strukturellen Entfaltung. Dabei stört es nicht allzu sehr, dass Fitzenhagen oftmals auf bloße Motivwiederholung setzt. Die beschließende Resignation op. 8, ein geistliches Lied ohne Worte, zeigt einmal mehr, wie ernsthaft dem Komponisten daran gelegen war, die Kenntnisse um sein Instrument mit künstlerischer Eigenschöpfung zu verknüpfen. In der Tat handelt es sich weder um ein endlos düster gestimmtes Tongemälde noch um eine sentimentale Zugabe, sondern um ein formal geschlossenes Werk, welches Gerhardt und das Orchester mit gemessener Ernsthaftigkeit wiedergeben.

Zusammenfassend leistet die vorliegende Einspielung das unbestreitbare Verdienst, hörenswerte unbekannte Werke zu Tage zu fördern. Fitzenhagen selbst blieb dabei ein Musiker, der als Cellist ohne Zweifel glänzend war, als Komponist zwar durchaus große Ideen und Arbeitswillen hatte, aber eine unverwechselbare künstlerische Stimme nicht finden konnte.

[Peter Fröhlich, Januar 2016]

Lichter aus der Ferne

Ars produktion, ARS 38 157, EAN: 4260052 381571

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Gemeinsam mit dem Folkwang Kammerorchester Essen unter seinem Chefdirigenten Johannes Klumpp erweckt die Geigerin Kathrin Ten Hagen, teils mit dem Bratscher Itamar Ringel als Solopartner, Werke nordeuropäischer Komponisten zum Leben. Es erklingen Kompositionen von Ole Bull, Pēteris Vasks, Kurt Atterberg, Anders Eliasson und Jean Sibelius.

Nach ihren Eastern Impressions erschien die zweite CD Kathrin Ten Hagens mit dem Titel Northern Lights, in welchem die preisgekrönte Geigerin den Hörer mitnimmt auf eine Reise durch diverse skandinavische Tonlandschaften. Was schon im ausführlichen und sehr persönlichen Booklettext von Daniel Knaack (im Gespräch mit beiden Künstlern und dem Dirigenten) anklingt, zeichnet jeden einzelnen Ton dieser Aufnahme aus: Absolute Hingabe, sei es durch tiefste Verinnerlichung oder äußerste Leidenschaft, verbunden noch dazu mit technischer Virtuosität, Perfektion ohne Perfektionismus, selbst in noch so schwierigen Passagen der Werke; kurz, absolute Tadellosigkeit. Allein deshalb verdient die vorliegende Aufnahme eine Würdigung in The-New-Listener.

Neben der spielerischen Qualität als positivem Faktor sind es auch die Vielfalt, die individuell gestaltete Auswahl der Werke und deren kompositorische Reife, die dabei nicht nur die geographische Provenienz gemein haben, sondern auch eine Aura des Geheimnisvollen, Entfernten, frei jedoch von Kälte. Oder in den Worten des Booklets: „die Weite, Unendlichkeit und zugleich unmittelbare menschliche Nähe.“

Der hohe Anspruch eines jeden Werks legt dabei die wochenlange Arbeit der Musiker offen, mit der sie dieses keineswegs selbstverständliche Ergebnis hervorbrachten. Am wenigsten fesselt noch die Eröffnung: Solitude sur la Montagne (oder Sæterjentens søndag) des Norwegers Ole Bull, der dazu eigentlich nur die Melodie schrieb, während sein Zeitgenosse Johan Severin Svendsen den Streichersatz dazu beisteuerte. Dieses dreiminütige Werk, das nicht von ungefähr an Solveigs Wiegenlied von Edvard Grieg erinnert, könnte leicht zum bloßen musikalischen Souvenir verkommen, würden die Musiker nicht daraus eine innige Elegie gestalten.

Als Einstieg eignet sich die Solitude insofern, da sie gleich darauf zum ersten großen Opus dieser Reihe überleitet, zu Vox amoris von Pēteris Vasks. Der lettische Zeitgenosse verbindet in diesem Werk von 2009 einen Hochgesang der Liebe mit einem Hymnus auf die Schöpfung und auf Gott. Insgesamt handelt es sich um ein dreiteiliges Werk, das Transzendenz und Passion bis hin zur Schmerzgrenze verbindet, wobei aber alles eine Einheit bildet, ohne irgendeine hörbare Kluft. Ten Hagen und die Kammermusiker nehmen sich für jede Nuance in Vox amoris Zeit, für jede Entwicklung bzw. Steigerung und verstehen es, dem Werk ein breites Ausdrucksspektrum angedeihen zu lassen, von äußerst zart und weich bis zu herausfordernd intensiv und energisch.

Verhaltener wiederum ist das mittlere Werk, diesmal aus Schweden: Die Suite Nr. 3 op. 19 für Violine, Bratsche und Streichorchester von Kurt Atterberg. Das Sujet, welches Atterberg verwendete, ist belgischer Herkunft, nämlich Sœur Béatrice von Maurice Maeterlinck. Es erzählt die tragische Geschichte einer Ordensschwester, die ihr (privates) Glück in der Welt sucht und dabei ein Martyrium durchläuft. Doch ist Atterbergs Musik bei aller Ernsthaftigkeit keineswegs düster. Sowohl das Prelude als auch die Pantomime haben ihre Basis in den choralartig gesetzten Streichern. Auch hier zeigt das Folkwang Kammerorchester seine musikalische Einfühlsamkeit in der Begleitung. Und die solistische Chemie zwischen Itamar Ringel, bei dem sich jeder Bratscherwitz von selbst verbietet, und Kathrin ten Hagen überzeugt durch gegenseitige Achtung und Gleichwertigkeit. Das gilt natürlich auch für die Vision, laut Booklet eine Art Danse macabre, wo die beiden Solisten stets die Balance halten, eben auch in schnellen Passagen.

Einen äußerlich radikalen Bruch und auch den Höhepunkt der Northern lights bildet das Konzert für Violine und Streichorchester eines anderen Schweden: Anders Eliasson. Obgleich man ihn für ein Enfant terrible halten könnte beim ersten Hören dieser Musik, handelt es sich doch in Wahrheit um ein so kühnes wie ungemein vielschichtiges und konsequent durchstrukturiertes Werk, dessen ersten Satz Allegro con fuoco die Künstler ohne jegliche Ermüdung und unnötige Dramatisierung, aber mit viel Energie und Flexibilität gestalten. Eliasson leugnet gerade hier nie seine frühe Tätigkeit als Jazztrompeter sowie seine komplette kompositorische Unabhängigkeit. Im zweiten Satz Lento zeigt sich die atmosphärische Verwandtschaft zu den übrigen Opera der CD: das Lichterhafte, das Entfernte, das Gelassene. Das abschließende Presto vereint allerlei technische und kontrapunktische Einfälle, die vielleicht gelegentlich ein wenig an Ives oder Bartok erinnern mögen, zu einem großen Ganzen, an dem nichts überflüssig wirkt. Auch hier geben sämtliche Musiker nochmals ihr Bestes, angeführt von einer stets agilen Kathrin ten Hagen, die selbst in heikelsten Lagen mit ihrer großen Sicherheit besticht.

Nun bestünde die Gefahr, dass sich das letzte Werk, die späte Suite für Violine und Streichorchester op. 117 von Jean Sibelius, wie eine glatte Zugabe anhören könnte. Nicht so bei diesen Künstlern und ihrem selbstkritischen Maestro Johannes Klumpp. Jedes Tempo wird als solches ernst genommen, zugleich gestaltet Sibelius seine Musik leicht und frühlingshaft. Besonders der Schluss Im Sommer. Vivace, überrascht durch Ten Hagens absolute Beherrschung der Sechzehntelläufe, denen sie zudem Charakter zu verleihen versteht. Nichts daran klingt gehetzt.

Auch wenn diese Nordlichter bereits vor einem Jahr erschienen, sei diese wunderbare Aufnahme – nicht nur für Weihnachten – hier noch einmal ausdrücklich empfohlen.

[Peter Fröhlich, Dezember 2015]

Weihnachten auf hohem Niveau

audite 95.741; ISBN: 4 022143 957412

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Kürzlich erschienen bei Deutschlandradio Kultur Mitschnitte der 1950er- und 60er Jahre mit Weihnachtsliedern aus aller Zeit, gesungen von Größen dieser Zeit wie Dietrich Fischer-Dieskau, Rita Streich, Elisabeth Grümmer, Erna Berger und vielen mehr.

Bereits zum zweiten Mal veröffentlicht das Label audite eine CD, die Weihnachten mit historischen Aufnahmen zelebriert – nach „Stille Nacht“ mit dem RIAS Kammerchor unter Uwe Gronostay. historisch insofern, als auch hier Beiträge zum Fest der Liebe aus den Aufnahmestudios der RIAS, aufgenommen 1972 bis 1986, herausgegeben wurden.

Nun, in der vorliegenden Sammlung, geht das Label noch zwei Dekaden weiter zurück und präsentiert Weihnachtslieder und –duette aus den Archiven zwischen 1950 und 1964. Allgemein ist erstens zu loben, dass RIAS und audite trotz der großen zeitlichen Distanz hier eine hervorragende Aufnahmequalität vorlegen können. Schließlich waren die Bedingungen zur Herstellung eines Mitschnittes so kurz nach dem Krieg nicht gleich die besten, wie man dem schönen und bewusst kurz gehaltenen Booklettext von Rüdiger Albrecht entnehmen kann. Und zweitens kommt, trotz einiger zeittypischen musikalischen Manierismen, keine falsche Nostalgie oder gar Schwulst auf, was sowohl der behutsamen Bearbeitungspraxis der Lieder als auch kompetenten Künstlern zu verdanken ist. Und drittens sind auf dieser CD die bloße Ansammlung heutiger Weihnachtsdauerbrenner wie Jingle Bells und deren abgestumpfter Varianten vergeblich zu suchen! Vielmehr finden sich neben den volkstümlichen Liedern (darunter natürlich auch bekanntere wie Es wird schon gleich dunkel) einige Neuentdeckungen (wie das Duett Christlied von Johann Friedrich Reichardt) oder moderne Eigenschöpfungen wie Stille Nacht von Charlotte Kaufmann – nicht zu verwechseln mit dem populären Lied aus dem Salzburger Lungau.

Den Anfang macht das Hendel-Quartett (unter dessen Primarius Georg Friedrich Hendel) mit der Altistin Annelies Westen. Sehr stimmbetont, bisweilen etwas altlastig, aber mit Einfühlungsvermögen und dezenter Streicherbegleitung sind es vier Marienlieder (wie auch Maria durch ein’n Dornwald ging), die in die besinnlich-kammermusikalische Thematik der CD einführen. Zeitbedingt wohl mögen die leichten Silbenschleifer sein, die daraufhin Maria Reith sich in Maria auf dem Berge in ihrer Darbietung leistet, dennoch ist auch sie weit weg von glattem Perfektionismus und singt dezent emotional und nuancenreich. Ein bisschen an Elisabeth Schwarzkopf erinnert Gunthild Weber mit ihrer Stimmfarbe in den beiden darauffolgenden Wiegenliedern, und auch sie singt sehr lyrisch. In den bereits erwähnten Liedern von Christine Kaufmann weiß die junge Rita Streich die moderne harmonische Färbung mit einem hochsensiblen, elegischen Ton sehr stimmig zu erfassen. Spätestens bei den folgenden vier Duetten mit Ursula Lüders (Sopran) und Josephine Varga (Alt) sollte zu hören sein, wie kunstvoll die damaligen Arrangeure wie Albert Becker bekanntere Weihnachtslieder wie Joseph, lieber Joseph mein bearbeitet haben, ohne jemals deren schlichten Charakter zu entstellen. Wie bei dem Niveau der vorhergehenden Nummern zu erwarten, stimmt auch hier im Wesentlichen alles, vor allem die stimmliche Chemie zwischen beiden Sängerinnen.

Sind die Lieder der ersten CD-Hälfte bislang auf kammermusikalische oder Tasten-Begleitung beschränkt gewesen, so erklingt in Das himmlische Menuett erstmals ein Orchester, hier das Radio-Orchester Berlin unter dem legendären Fried Walter. Rüdiger Albrecht bezeichnet dieses Orchesterlied als „ein Kuriosum. Es zeigt uns tanzende Engel im Himmelssaal, die das Jesuskind zu freudigsten Sprüngen animieren.“ Auch wenn es sich bei diesem Tanz um eine Ausnahme handelt, was die Liedgattung anbelangt, so kommt doch selbst hier ein eher liedhafter Charakter zum Vorschein. Obgleich der Text sehr süßlich und naiv erscheint, weiß zum einem der Komponist Mark Lothar dank erlesener, leichter Instrumentierung Kitsch zu umgehen, zum anderen schafft Erna Berger mit ihrem gleichermaßen kräftigen wie kindlichen Sopran eine feinsinnige Balance zwischen Leichtigkeit und verhaltenem Ernst. Danach folgen wieder etliche Lieder, die sich der Betrachtung des Jesukindes widmen. Dementsprechend erklingt wiederum spärliche Begleitung, wie zum Beispiel zurückhaltende Lautentupfer, mit denen Gerhard Tucholski Margot Guilleaume in zwei Wiegenliedern begleitet. Die Stärke dieser beiden Beiträge liegt neben der Schmucklosigkeit in der Textverständlichkeit.

Deutlich farbiger sind die weiteren Nummern, die Walther Ludwig und dem jungen Dietrich Fischer-Dieskau, der dieses Jahr 90 geworden wäre, vorbehalten sind. Für eine pastorale Atmosphäre sorgen in Kommt all herein, ihr Engelein ausgesuchte Instrumente wie Fagott und Englischhorn nebst drei Streichern, während Ludwig dieses Idyll mit seinem etwas zu ausgeprägten Heldentenor dominiert. Ausgeglichener und schlichter, dafür zäher im Fluss klingt er in O Jesulein mild, o Jesulein zart. Der unverkennbare Ton Fischer-Dieskaus bestimmt drei weitere Beiträge, stets begleitet vom Streichquartett Berlin (Primarius: Rudolf Schulz). Obgleich der berühmte Bariton schon hier künstlerische Reife erlangt hatte und den Liedern eine wehmütige Schönheit verleiht, entsteht durch sein Timbre und seinen betonungsstarken Textvortrag ein etwas pathetischer Eindruck, der der weihnachtlich-schlichten Atmosphäre einen einigermaßen hölzernen Beigeschmack verpasst.

Dafür überzeugen wieder die kammermusikalischen Arrangements von Von Himmel hoch, ihr Engel kommt und Es ist ein Ros entsprungen, die ihre Lieblichkeit den beiden Blockflöten und dem lyrischen Sopran Elisabeth Grümmers verdanken. Die letzten drei Nummern dürfen zwei Klangkörper des RIAS der frühen 1960-Jahre bestreiten. Zunächst begeistert das Studioorchester mit einer luziden Version Herbert Baumanns von Ave Maria zart, du edler Rosengart. Bei so vielen Sopranen könnte es zwar schwerfallen, individuelle Künstler zu erkennen, doch selbst Lisa Otto, die letzte neue Sängerin auf dieser CD, überzeugt in nur zwei Minuten völlig dank ihrer unaufgeregten Stimme und Tongebung. Das Unterhaltungsorchester des Studios, wiederum mit Rita Streich, schließt direkt an. Die Überraschung ist hier, dass ein einziges Mal ein deutlich größeres Orchesteraufgebot erklingt, vor allem in der Einleitung zu Süßer die Glocken nie klingen. Jedoch bleibt auch hier die Singstimme im Vordergrund und Streich beweist ihre stimmliche Bandbreite im Unterschied zu ihrer Darbietung der Kaufmann-Lieder. Einen würdigen Abschluss mit den gleichen Künstlern bereitet eine feine Version des sonst eher monumentalen Lutherliedes Vom Himmel hoch.

Eine wunderschöne Weihnachtslieder-Sammlung, die durch ihren Facettenreichtum und ihren durchweg weihnachtlichen und zarten Charakter begeistern dürfte. Erfreulich ist zumal die Tatsache, dass all die genannten großen Sänger von damals trotz ihres vollen Terminkalenders Zeit fanden, ihre Musikalität in den Dienst des Christfestes zu stellen. Eine musikalische Bereicherung nicht nur für den Heiligen Abend !

[Peter Fröhlich, Dezember 2015]

[Rezensionen im Vergleich 3b] Himmel und Hölle mit Sibelius

ISBN: 978-3-89487-941-9 (Henschel), 978-3-7618-2371-2 (Bärenreiter)

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Der Musikkritiker und Journalist Volker Tarnow verfasste anlässlich des 150. Geburtstags von Jean Sibelius, stattfindend am 8. Dezember 2015, die aktuellste Biographie, erschienen beim Henschel Verlag.

Eine biographische Würdigung des wohl bedeutendsten finnischen, aber schwedisch aufgewachsenen Komponisten Jean Sibelius ist eine sehr zu begrüßende Unternehmung, allein schon angesichts der immer noch spärlichen Literatur und Forschung zu dieser faszinierenden Persönlichkeit im deutschsprachigen Raum. Umso erfreulicher ist es dann auch, wenn Volker Tarnow auch bislang unübersetzte finnische Quellen wie beispielsweise Tagebucheinträge mit einbezieht. Herausgekommen sei dabei, so die Verlagsinformation, eine „Biografie, die ebenso den Menschen wie den Künstler im Fokus hat und zugleich eine ganze Epoche skizziert.“

Im Großen und Ganzen betrachtet erfahren hier tatsächlich ein Künstlerleben und dessen Zeitumstände eine eingehende Betrachtung, teilweise um kleinste Details und um literarisch-künstlerische wie historische Aspekte des damaligen Europa und Skandinaviens bereichert. Mehr noch, Tarnow versteht es, in einem Stil zu schreiben, der alles andere als trocken wirkt und den Leser in einem clever inszenierten Drama um den einzigartigen Künstler und Menschen Sibelius mitzureißen versteht.

Dabei mutet es jedoch etwas befremdlich an, dass viele Stellen (vor allem zeittypische Rezensionen) mit Belegen gespickt sind, während wiederum andere Passagen es scheinbar nicht nötig haben, nachgewiesen zu werden. Anders gesagt: Tarnow spart nicht damit, Behauptungen aufzustellen, die der nachvollziehbaren Grundlage entbehren. So lautet ein Beispiel von S. 127: „Dass der Geförderte (…) drei Monate lang in Berlin blieb und Sauern mit Persiko trank, (…) schockierte Freund Carpelan und Frau Aino doch ziemlich.“ Gewitzt konterkariert Tarnow dann in Bezug auf weitere Geldspenden, die Sibelius erhielt: „(…) niemals davor und danach tätigte Finnland eine bessere Investition.“

Sätze von solcher Art finden sich immer wieder, es fängt bereits beim Inhaltsverzeichnis der chronologisch aufgebauten Biographie an, wo romantisierende und modische Begrifflichkeiten wie „Karelische Träume“ und „Beethoven-Matrix reloaded“ einzelne Abschnitte aus Sibelius‘ Leben zu versinnbildlichen scheinen. Das sind allerdings nur sprachliche Kleinigkeiten, die ins Auge fallen. Tarnow gibt sich hinter seiner plakativen Inszenierung sehr wohl alle Mühe, ein differenziertes Bild von Jean Sibelius zu zeichnen, was ihm zum guten Teil auch gelingt. Es wirkt sogar ziemlich sympathisch, einen im Grunde eher egomanischen Komponisten zu skizzieren, der es trotz aller Tiefen und Abstürze im Leben am Ende zu etwas gebracht hat. Gleiches gilt für andere gewichtige zeitgenössische Kollegen Sibelius’ und deren Haltung zu ihm. Ein überraschendes Beispiel hierzu liefert Gustav Mahler, dessen Vorurteile gegen skandinavische Musik – für einen Weltkomponisten! – hier schonungslos präsentiert werden (vgl. S.160). Was dabei immer wieder unterschwellig ins Auge fällt, ist eine recht tendenziöse Art, die immer wieder Kopfschütteln auslöst. Es geht gar nicht so sehr um den häufig kolportierten Alkoholismus des Komponisten; der Autor möchte, trotz aller literarischen Raffinesse und Reflexion, Sibelius doch als den einzig ganz großen Musiker des 20. Jahrhunderts darstellen, während alle Musiker seinerzeit, trotz aller Würdigung, diesen Status niemals erreichen können. Warum sonst sollte Tarnow solche Sätze äußern wie ganz am Ende auf S. 277: „Irgendwann wird es sich herumsprechen, dass mit ihm die wahre Avantgarde begann, die Musik der Zukunft.“ Sicherlich war Sibelius eine singuläre Erscheinung und sowohl seinerzeit als auch in der Folge einflussreicher, als es manch deutschsprachiger Musikwissenschaftler eingestehen wollte. Dennoch könnte man bei Sätzen wie dem eben zitierten meinen, es handle sich mehr um einen Anti-Adorno-Reflex als um ein differenziertes Künstlerporträt.

Auch wenn es sich hier um keine wissenschaftliche Arbeit handelt, so hat diese Biographie doch deutlich ehrgeizige intellektuelle Ansprüche. Nun werden die daraus resultierenden Erwartungen, wie man vielleicht meinen könnte, keineswegs regelmäßig enttäuscht. Stimmig etwa beschreibt Tarnow den inneren Identitätskonflikt des Komponisten, was seine schwedischen und finnischen Wurzeln anbelangt, wodurch zumindest einige Charakterwidersprüche erklärt werden können. Besonderen Wert legt der Autor auch auf Seismogramme wichtiger Freundschaften, die der Komponist Zeit seines Lebens pflegte, wie zum Dirigenten Robert Kajanus. Doch sind auch diese Versuche nicht gänzlich frei von Überzeichnungen, zumal auch hier oftmals von einem Sibelius die Rede ist, der sich aller Förderung zum Trotz als undankbarer, zugleich auch eifersüchtiger Künstler und Freund erwies, wohingegen Kajanus offenbar von unendlicher Gutmütigkeit war (siehe etwa S. 165).

Erwähnenswert sind auch die musikalischen Analysen seiner Symphonien sowie zahlreicher anderen Opera. Besonderes Augenmerk legt der Autor auf Gelegenheitswerke, Kammermusik sowie Bühnen-Auftragswerke wie Kuolema oder die vielgespielte Karelia-Suite. Nicht zu vergessen sind die Beschreibungen seiner zahlreichen Liederzyklen, wobei Tarnow gerne das literarische Milieu der Liedtexte in Augenschein nimmt, dabei auch kompetente Einblicke in skandinavische Lyrik gibt. Sieht man auch hier von dem Eindruck, Sibelius immer wieder alleingültig zu glorifizieren, sowie der ziemlich blumigen Wortwahl ab, so kommen doch auch für gestandene Sibelius-Experten einige neue Erkenntnisse ans Tageslicht. Gerade in den Beschreibungen der Symphonien verfolgt Tarnow einen roten Faden, an dem sich Sibelius’ künstlerischer Werdegang ablesen lässt, und liefert informatives, aber niemals langweilendes Wissen beispielsweise zur Fassungs- und Deutungsproblematik der 5. Symphonie in Es-Dur Op. 82. Gleichzeitig findet sich auch hier wieder das oben beschriebene Problem: Tarnow behält seinen fantasievollen, ja kapriziös interpretierenden Erzählstil auch in den Analysen bei, wodurch bisweilen ein religiös verbrämter Beigeschmack entsteht (vgl. S. 227: „Sie [die Sinfonie Nr.5] verweist auf Kräfte, die größer sind als der Mensch, von ihm aber geahnt und ehrfürchtig bewundert werden können.“).

Als Fazit ist zu vermerken, dass die vorliegende Lektüre in ihrem Inhalt mit Bedacht zu genießen sei. Doch ist Tarnows schillernder Beitrag zum Jubiläumsjahr im Großen und Ganzen lohnend und verdienstvoll und möge die Beschäftigung mit Sibelius sowie dessen wissenschaftliche Würdigung gerade auch nach dem Jubiläum noch weiter vorantreiben!

[Peter Fröhlich, Dezember 2015]

Pfiffige Bläser auf Pionierreise

Arcana A 391, ISBN: 3 760195 733912

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Das Bläserensemble Zefiro spielt unter Leitung seines Gründers Alfredo Bernadini Werke von Michael und Franz Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart, Friedrich Witt, Gioacchino Rossini, Gaetano und Giuseppe Donizetti, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Franz Schubert und Louis Spohr.

Nicht ohne Augenzwinkern wird man schon den Titel der vorliegenden CD des Labels Arcana, nunmehr Teil des Outhere music-Imperiums, zur Kenntnis nehmen. Dabei ist es ein durchweg seriöses Anliegen, welches der versierte Oboist Alfredo Bernadini mit einigen Gleichgesinnten hier zum Ausdruck bringen möchte. Es handelt sich, wie man dem sehr ausführlichen und historisch fundierten Booklettext Bernadinis entnehmen kann, um zweierlei: Zum einem um die Tatsache, welch eigenständige, aber gerne unterschätzte Rolle Bläserensembles und -orchester in der Musikgeschichte spielten; zum anderen um die Faszination des neuzeitlichen Europa für morgenländische Exotismen in der Kunst, die generell als „Türkerien“ bezeichnet wurden. Beide Phänomene, sowohl an und für sich als auch in der Symbiose, interessierten diverse namhafte Komponisten, und die daraus resultierenden künstlerischen Ergebnisse haben nun Bernadini und dessen Zefiro-Ensemble zu einem Konzeptalbum vereinigt.

Den Start dieser Pioniertat, die im Januar diesen Jahres in der Gustav Mahler-Halle in Toblach mitgeschnitten wurde, macht Michael Haydn mit einem Türkischen Marsch für Bläser. Dafür, dass dieser Meister oft auf die Rolle des Salzburger Dommusikmeisters eingeschränkt erscheint, beweist der Marsch erstaunliche Frische und Einfallsreichtum, was die Zefiri mit Neugier und Spielfreude direkt umsetzen. Einen angenehmen Kontrast dazu bietet die Introduzione zum zweiten Teil der Sieben letzten Worte des Erlösers am Kreuze von Franz Joseph Haydn in einer Fassung für Bläser. Sehr zu loben ist bei den authentischen Instrumenten und deren Nachbildungen das Wiener Kontrafagott von Augustin Rorarius, welches Maurizio Barigione rein und stimmig beherrscht, was gerade bei historischen Instrumenten und deren Stimmung nicht selbstverständlich ist.

Insgesamt ist es der reizvolle Wechsel zwischen Wiederentdeckungen und „Altbekanntem“ (in neuem Gewand), was die CD so lohnenswert macht. Hierzu trägt ein weiterer Komponist im Schatten seines prominenten Bruders bei: Giuseppe Donizetti. Zwar musste Bernadini dessen Marsch für Mahmud in F-Dur entsprechend bearbeiten, doch ist dies eine von zwei Ausnahmen auf der CD, zumal es sich hier um Musik handelt, die sich nicht hinter dem Werk Gaetanos zu verstecken braucht.

Vor allem jedoch ist es der musikalische Anspruch, den Bernadini und seine Musiker bei aller Liebe zu historischen Details verfolgen. Besonders beim Concertino für Oboe und Harmoniemusik von Friedrich Witt – lange fälschlicherweise Carl Maria von Weber zugeschrieben – beweisen die Mitwirkenden, dass sie mehr können als nur musikalische Baisers zu bieten. Mit Leichtigkeit, Ernst und Sinn für das Konzertante geben sie dieses Kleinod wieder.

Auch ein Nocturno in C-Dur MWV P.1 Felix Mendelssohn-Bartholdys, das dieser mit gerade 15 Jahren schrieb, weist eine ähnliche Großanlage auf. Wenn hier das Allegro vivace eintritt, macht sich der Begriff „Harmoniemusik“ auf andere Art bemerkbar: Mit stetem klanglichen Zusammenhalt präsentieren die Zefiri einen symphonischen „Frühwurf“ des Komponisten, der trotz seiner großen Anlage keineswegs überladen, sondern transparent und durchdacht wirkt. Lediglich an einigen leisen Stellen vergreift sich die Flöte mal, doch wäre es kleinlich, daraus ein großes Manko zu konstatieren.

Gelegenheit zur solistischen Gestaltung erhalten die Hornisten Dileno Baldin und Francesco Meucci in den ersten zwei Minuten der Kleinen Trauermusik Franz Schuberts D 79. Gerade für alte Hörner ist es nicht leicht, einen sauberen und musikalischen Duktus zu finden, zumal in einer Tonart wie es-Moll. Das gelingt den beiden Musikern hier jedoch tadellos. Im gemessenen Grave-Rhythmus und unsentimental formen sie diese Trauermusik, auch zusammen mit anderen Bläsern, als schönen Gegenpol zum vorhergehenden Nocturno. Nichtsdestoweniger ist es die eher heitere Seite, die das Ensemble Zefiro insgesamt hauptsächlich vertritt, so auch beim großen Abschluss der CD, dem Notturno Op. 34 von Louis Spohr. Nicht umsonst erinnert der erste Satz in C-Dur dieses sechssätzigen Werkes wiederum an Haydns Türkischen Marsch. Umso differenzierter komponiert ist das folgende Menuetto allegro, in c-Moll stehend, zugleich auch beschwingter. Ganz im Stile seiner Zeit klingt das Thema des dritten Satzes, eines Andante von variazioni. Und gerade hier zeigen die einzelnen Musiker, wie viel Leben, Virtuosität und Facettenreichtum sie aus ihren Instrumenten hervorlocken können, zumal man nicht unbedingt den Eindruck bekommt, es handle sich hier um radikale „historische Aufführungspraxis“.

Keine Türkerie, aber sehr wohl ein historischer Exotismus ist die folgende Polacca mit Trio, und auch hier fehlen niemals die Spielfreudigkeit und klangliche Ausgewogenheit des Ensembles. Geht man davon aus, dass ein Nocturno eher ruhig und dunkel zu klingen habe, so erfüllt diesen Stereotyp am ehesten das darauffolgende Adagio, welches die Zefiri mit gleichmäßigem Fluss sowie mit Ernst ohne Schwere zu spielen vermögen. Doch schließt Bernadini seinen Booklettext nicht umsonst mit folgendem Satz: „Es mag überraschen, dass so viele laute Instrumente für eine Nocturne vorgesehen sind… Aber wer sagt denn, dass die Zeit der Nacht beständig ruhig sein soll?“ Die Antwort liegt im letzten Track der CD, dem Finale vivace, einem Rondo. Darin offenbaren die Musiker, vor allem die Klarinetten, nochmals ihr ganzes technisches und musikalisches Können, ohne dabei zu eilig oder gar lärmend zu klingen, und beschließen somit ihre pfiffige Pionierreise durch die Zeit, die zugleich ein kleiner Beitrag zum eher vernachlässigten Repertoires ist, würdevoll ab.

[Peter Fröhlich, Dezember 2015]

Pique dame symphonisch

BR-Klassik 900129, ISBN: 4 035719 001297

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Die jüngste Einspielung der Oper „Pique dame“ von Peter Iljitsch Tschaikowsky nach der gleichnamigen Novelle von Alexander Puschkin (Libretto von Modest Iljitsch Tschaikowsky) unternahm Mariss Jansons mit dem Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks sowie dem Tölzer Knabenchor.

Mit der bereits vor einem Jahr, im Oktober 2014, erfolgten konzertanten Live-Einspielung von Peter I. Tschaikowskys „Pique dame“ hat Mariss Jansons, der langjährige und verdiente Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, einmal mehr eine Ausnahme gemacht: nämlich in Bezug auf seinen Grundsatz, keine Opern zu dirigieren. Nicht so sehr die aufwändige Einstudierung eines Werkes dieses Genres mag dies begründen, sondern auch die Tatsache, dass eine zusammenhängende und musikalisch wirklich stimmige Darbietung sehr selten gelingt. Umso mehr erfreuen die wenige Seitensprünge des lettischen Maestro in jenes Fach, wie bereits im Jahr 2006 seine fulminante Leitung von Schostakowitschs „Lady Macbeth des Mzensker Kreises“ in der Amsterdamer Oper (mit Eva-Maria Westbroek in der Titelrolle) bezeugte. Nun ist die hier vorliegende Einspielung rein konzertant, was der Konzentration aufs rein Musikalische umso zuträglicher ist.

Das Ganze in einen abendfüllenden Bogen im Sinne eines Symphoniekonzerts zu spannen, bleibt jedoch die andere Herausforderung, welche Jansons anscheinend mitbedacht hat. Schon im ersten Akt verweilt er nirgends zulange, treibt in entscheidenden Momenten die Spannung dieser abgründigen Oper voran und verliert sich nie zu sehr in musikalischen Episoden. Darin liegen grundsätzlich die Stärken des BR-SO-Chefs. Natürlich entsteht dadurch hin und wieder der Eindruck von strenger Glätte, ähnlich wie sie bei Jansons’ großem Vorbild Jewgeni Mrawinsky zu hören ist und wie sie sich bereits im Vorspiel der „Pique dame“ vernehmen lässt. Das eröffnende Motiv der Introduktion in den Klarinetten und Fagotten etwa erklingt etwas zu schwungvoll, der anschließende Seufzer der Streicher dafür mit mehr Atem und Einfühlung.

Natürlich tragen zum Gelingen eines solchen Werkes die Sänger entscheidend bei. In den Hauptrollen wirken Misha Didyk, der beliebte ukrainische Tenor, dem der Hermann von Anbeginn seiner Karriere an auf den Leib geschnitten wurde, der jedoch im deutschen Sprachraum bisher kaum mit Engagements präsent ist, sowie in der Rolle der Lisa die gebürtige St. Petersburgerin Tatiana Serjan, die sich seit ihrem Debüt in Turin 2002 zu einer Expertin bezüglich Verdi und Puccini entwickeln konnte, und nicht zuletzt die Kirow-Veteranin Larissa Djadkowa, die mit ihren über 60 Jahren die Idealbesetzung für die Gräfin liefert. Auch die anderen Beteiligten glänzen in ihren jeweiligen Rollen, so etwa Oksana Volkova, die in dieser Aufnahme zwei Rollen, die der Polina und des Milovzor (des Daphnis im zentralen Schäferspiel), meistert und sich in Akt 1/Nr. 7 (Duett Lisa-Polina) als Partnerin Serjans mehr als ebenbürtig erweist. Sehr schön auch Alexey Markov als Fürst Jeletzkij, allerdings weniger als Rivale Hermanns denn als Verehrer Lisas. Seine Arie (Akt 2/Nr.12) gelingt so überzeugend, dass sie für einen Moment die fatal-deterministische Grundstimmung der Oper vergessen lässt. Auch ordentlich, wenngleich etwas blass erscheint Alexey Shishlyaev als Graf Tomskij, wenn er die berühmte Ballade der drei Karten (Akt 1/Nr. 5) singt.

Die drei Letztgenannten sind Beispiele dafür, dass gerade auch die Nebenrollen mit Sorgfalt besetzt wurden. Das ist umso wichtiger, wenn man bedenkt, dass insbesondere die beiden Hauptrollen immens gefordert und umso mehr auf ebenbürtige Partner angewiesen sind. Tatsächlich geben Didyk und Serjan vor allem in den dramatischen Partien buchstäblich alles, bis hin zur Bereitschaft zum extremen Vibrato in den Spitzenlagen. Man möchte meinen, dass gerade der Kraftaufwand Didyks an die Grenze der Überforderung stößt, andererseits passt diese Haltung zur Grundstimmung wie zur Klimax der Oper.

Vor allem die kontinuierlichen, motiv-gebundenen Steigerungen innerhalb eines Aktes wie auch im Gesamten sind das, was wiederum Jansons souverän beherrscht. Besonders die Schlussszenen eines jeden Aktes erleben jeweils eine regelrechte Stretta, wo der Maestro alle Register des BR-Sinfonieorchesters zieht. Die ruhigeren Stellen zwischendrin, auch die wenigen heiteren, laufen insgesamt in plausiblem Tempo ab, sind ordentlich gestaltet und stimmlich gut austariert, wie z.B. die das Schäferspiel umrahmenden Chorpassagen in Akt 2/Nr. 14. Nun muss man dazu sagen, dass Tschaikowsky dies insofern „leicht“ gestaltet, als er in seinen letzten Lebensjahren ein einmalig ausgereiftes Gespür für die Instrumentierung besaß und alles an den richtigen Platz – mit genauem Sinn für Effekt und Suspense – zu setzen wusste. Anders gesagt, ist das reine Notenspielen und die Technik nicht die unbedingte Herausforderung für das Orchester und den Dirigenten. Vielmehr kommt es – wie Jansons selbst gesagt hat – darauf an, Gestalt, Atmosphäre und somit klangliche Tiefe zu erzeugen. Gerade letzteres klappt nicht immer überzeugend und sorgt so für einige Durststrecken. Trotz dieses Makels leidet die Spannungskurve nicht wesentlich darunter.

Im Übrigen sei das knappe Booklet empfohlen. Nicht nur bietet der Einführungstext von Alexandra Maria Dielitz auch für Kenner der „Pique dame“ neue und vielschichtige Perspektiven. Auch hilft er Neueinsteigern insofern gut beim Mitlesen und Mithören der Oper, als essenzielle Motive erläutert werden und der quasi symphonische Zusammenhang so stets präsent ist. Wenn man dann noch die Textübersetzung mitliest, sind auf dieser Aufnahme knappe 160 Minuten Musik und Drama vielleicht nicht vom Allerbesten, nicht von Referenzstatus, aber mit Liebe zum Werk und mit einem engagierten Gesamtensemble mitzuerleben. Eventuell wird man sich wie das Publikum dieser Live-Aufnahme fühlen, welches die Leistungen der Orchestermusiker und Sänger mit lebhaften Ovationen belohnte.

[Peter Fröhlich, November 2015]

[Rezensionen im Vergleich 2b] Junge Klänge am Ursprung der Donau

Das Landesjugendorchester Baden-Württemberg unter der Leitung von Johannes Klumpp spielt am 11.November Werke von Schnittke, Tschaikowsky und Schostakowitsch.

Mit jugendlichen Orchesterklangkörpern lassen sich gut und gerne musikalische Nachwuchsförderung und künstlerische Zukunftsgestaltung, aber auch die drei berüchtigten Ds (Drill, Druck und Disziplin) verbinden. Letzteres ist für eine solide musikalische Reifung scheinbar unabdingbar. Um einen frischen und überzeugenden Klang auf die Beine zu stellen, braucht es aber, entgegen gewisser Ansichten, die ersten beiden Ds nicht zwingend, wie das Landesjugendorchester Baden-Württemberg in der Mozarthalle Donaueschingen bewiesen hat.

Natürlich dürfte es bei den Probenphasen der jungen Musiker sicherlich auch Stress, Frustmomente und Durststrecken gegeben haben, zumal bei so einem Werk wie der 10. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch. Es ist nur allzu verständlich, wenn die Kinder und Jugendlichen, wie aus informierter Quelle zu erfahren war, sich vor drei Jahren noch nicht an dieses Mammutwerk gewagt haben. Umso erstaunlicher und vielversprechender gelang das Ergebnis!

Zu Beginn des Abends erklang der Tango aus der Suite zur Filmmusik „Agonie“ (1974/81) von Alfred Schnittke. Was sich wie eine kleine salonmusikalische Aufwärmübung anhören mag, haben die Musiker bezwingend ernst genommen. Mag dieser Tango auch keine extravaganten Herausforderungen bieten, so ist es doch die ausgefeilte und reizende Instrumentation Schnittkes, die an diesem Abend sehr schön herüberkam, vor allem in den Klarinetten. Doch auch die ersten Violinen, die sehr klangvoll, aber nie zu dick musizierten, und allen voran das Solo des Konzertmeisters der ersten Hälfte, Johannes Ascher, sind zu loben. Gerade er hat mit seinem dezenten Vibrato, seiner eleganten, durchaus sensiblen Tongebung und sachtem Artikulationsvermögen ein Talent offenbart, welches ihm später noch einen großen Weg eröffnen könnte. Etwas störend leider fiel die den Tango eröffnende und abschließende Celesta auf, die in ihrer Phrasierung ziemlich mechanisch klang. Insgesamt jedoch hat das Orchester – unter dem beherzt animierenden, schlagtechnisch vielleicht noch nicht komplett ausgereiften Dirigat von Klumpp – mit Beherrschung und Neugier gespielt, seriös, ohne den Tangocharakter zu verleugnen, sowie mit einem klaren Verständnis für das Verhältnis zwischen Begleitung und Solo.

Gerade letzteres kam ihnen in den vielgespielten Rokoko-Variationen Op. 33 von Peter Iljitsch Tschaikowsky zugute. Auch zu diesem attraktiv solokonzertanten Werk lieferten sie eine äußerst dezente Begleitung, aber auch eine nicht zu überhörend facettenreich-kraftvolle Tondynamik (gerade in den energischen Passagen), welche zumal in der Variation 7 wie in der Coda traumhaft geriet. Bei einem Cellisten wie Jakob Spahn war das auch notwendig, da sich dessen Spiel als durchaus vielfältig und risikofreudig erwies. Allgemein zu loben bei Spahn ist die sehr reine und sichere Intonation, wobei er für das eröffnende Moderato semplice noch etwas zu laut klang, im Laufe der ersten Variationen jedoch zusehends umsichtiger agierte. Der Eindruck, gelegentlich etwas zu viel zu wollen, hat sich besonders in der Variation 3 (Andante sostenuto) gezeigt. Die enormen technischen Herausforderungen der Coda schließlich hat er sehr souverän gemeistert, doch selbst hier dürfte er künftig noch Einiges zu verfeinern wissen. An dieser Stelle muss übrigens angemerkt werden, dass während der Wiedergabe das Fell der kleinen Trommel im Hintergrund leicht mitvibrierte, was durch vorübergehende Entfernung des Instruments hätte vermieden werden können. Da sich nun das Publikum – sicherlich mit den manchen Eltern, Angehörigen und Freunden der Künstler – sehr begeistert zeigte von dieser Darbietung, wurde ebenjener Schlussteil als Zugabe noch einmal gegeben. Und wieder offenbarten Solist wie Orchester eine ungebremste, völlig routinefreie Spielfreude, bei der das Ergebnis sogar noch etwas besser geriet also zuvor.

Weiterhin kann insofern von Routine keine Spur sein, wenn man den Worten zuhört, die Maestro Klumpp dem großen sinfonischen Hauptwerk voranstellte: Angesichts des düsteren biographischen Hintergrunds, vor dem Schostakowitsch seine Symphonie Nr. 10, Op. 93 schrieb, sei dieses Werk den Musikern und ihrem Dirigenten immer näher gegangen, je mehr sie sich damit befassten. Wortwörtlich, so Klumpp, bringe Schostakowitsch eine regelrechte Volksklage aufgrund der „Säuberungen“ und des Krieges in seiner Musik zum Ausdruck – Worte, die nach den jüngsten Ereignissen in Beirut und Paris im Nachhinein sehr nachdenklich stimmen können.

Die Musiker jedenfalls legten sich nun intensiv ins Zeug und hatten jegliche vorerwähnte Scheu vor der Monumentalität der Symphonie abgelegt, aber nicht den Respekt vor dem Werk selbst. So klang das dunkle Unisono der tiefen Streicher zu Beginn des Moderato alles andere als „schön“ und umso überzeugender. Was nun jedoch am Anfang etwas zu breit erschien, gewann mit dem Hinzukommen der Violinen und Bratschen deutlich an Expressivität und Fluss. Wieder einmal zu loben ist die Klarinette, sobald sie mit dem ersten Seitenthema beginnt, sowie das Blech, wenn das erste Tutti erdröhnt. Das zweite Thema, von der sonst sehr schön spielenden Flöte vorgestellt, geriet fast an die Grenze zur unfreiwilligen Komik, woran sicher das vorgeschrieben gesteigerte Tempo nicht unschuldig ist. Beim großen Höhepunkt des Kopfsatzes, dem im Tam-Tam kulminierenden Tutti, kamen die jugendlichen Musiker an die Grenzen ihrer physischen Kräfte. Dennoch schafften sie es, diesen circa 20 Minuten langen Satz unter einen mitvollziehbaren Spannungsbogen zu zwängen – was auch die rein kompositorisch sehr lange Coda betrifft. Hier bewies das Orchester seine kollektive Musikalität, dank dem Dirigenten Johannes Klumpp, der die Entwicklung mit klarem Sinn für Stringenz und Kontinuität ausgestaltete.

Bereits erwähnte Furchtlosigkeit steigerte sich im zweiten Satz Allegro in Risikofreudigkeit. Wie auch im ersten Satz haben die Musiker unter Klumpp einige Mühe, bei dem Tempo des Satzes nicht zu entgleisen. Wie aber nun schon fast zu erwarten, haben sie sich auch hier wacker geschlagen, was auch für die Kontrabässe gilt angesichts ihrer berüchtigten hohen Begleitung in Daumenlage zur Satzmitte. Und auch die leisen Stellen kurz vor Ende klangen gut. Ganz am Schluss natürlich, wo die Darbietenden „alles“ geben, lässt sich zwischen drei- und vierfachem forte kein wirklicher Unterschied mehr feststellen. Umso gelungener kam der Anfang des Allegretto, der ja oftmals Gefahr läuft, nach einem belanglosem Walzer zu klingen. Dieses Manko weiß das Jugendorchester zu verhindern, indem es das Thema mit angemessener Tiefe artikuliert, ohne die Trostlosigkeit des Klangmilieus zu kaschieren. Mit entsprechend angemessener Klage stimmte die Klarinette das zentrale d-es-c-h-Motto jenes Satzes an. Das sogenannte ELVIRA-Motto hingegen gelang mehrmals hintereinander nicht so schön im ersten Horn – man darf annehmen, dass die Gruppe an diesem Abend wohl etwas ermüdet war von den Tourneestrapazen. Obwohl die Musiker den Satz im allgemeinen zu gestalten wussten, machte der Schluss einen etwas seelenlosen Eindruck – man erinnerte sich jedoch an die Trostlosigkeit des Satzes insgesamt.

Im Finale bot das Orchester nochmals sämtliche Fähigkeiten auf, um einen befreienden Kehraus zu kreieren. Sehr schön gelang die lange Oboenkantilene im breiten, fast etwas rhapsodischen Andante, gerade vor dem Hintergrund des wiederum recht heterogenen Streicherbasses. Und mit vielen Ecken und Kanten startete der Hauptteil des Satzes, das Allegro: Die Phrasenwechsel gerade dieser abschließenden Achterbahnfahrt klangen sehr abrupt. Dafür wurde das Tempo erfreulicherweise um keinen Deut zu schnell genommen, wodurch das Orchester bessere Möglichkeiten zur Ausgestaltung hat, andererseits der Spannungsbogen leicht schwächelte – was letztlich angesichts der sonst begeistert aufgenommenen Symphonie kaum der Rede wert sein dürfte.

Zu recht, wo dieser Abend ein in jeder Hinsicht vielversprechendes Jugendorchester Baden-Württemberg mit einer sehr beachtlichen Leistung und einem für weitere gemeinsame Hochleistungen prädestinierten Dirigenten bot. Mögen die Kinder und Jugendlichen weiterhin ihre Begeisterung am bewussten Musizieren vertiefen!

[Peter Fröhlich, November 2015]

Der junge Wilde Finnlands

ODE 1270-2, ISBN: 0 761195 127025

Kuula_Cover

Mit Orchesterwerken Toivo Kuulas leistet das Philharmonische Orchester Turku, unter der Leitung von Leif Segerstam, einen Beitrag zur Pflege finnischer Komponisten. Gespielt werden dessen beiden Südosterbothnischen Suiten (Nr. 1, op. 9 und Nr. 2, Op. 20) sowie der Festmarsch Op. 13 und Preludium und Fuge Op. 10.

Jean Sibelius, der in diesem Jahr seinen 150. Geburtstag feiert, polarisiert bis heute Musiker und Musikwissenschaftler vor allem im deutschen Sprachraum, was seiner internationalen Reputation, ja Vergötterung als DER Komponist Finnlands nicht schadet, diese sogar gewissermaßen verstärkt. Umso erfreulicher und abwechslungsreicher ist es, wenn der Fokus hin und wieder dann auf dessen Zeitgenossen fällt und deren Talent Tribut zollt – wie zum Beispiel Toivo Kuula, einem viel zu früh abberufen Komponisten (1883 – 1918). Zu früh, da er im Zuge von likörseligen Feierlichkeiten zum Ende des finnischen Bürgerkrieges erschossen wurde – wie der solide, leider nur in Englisch und Finnisch verfasste Booklettext von Kimmo Korhonen verrät. Und Kuula war einer, der zweifelsohne großes Talent hatte.

Ein seinem Temperament entsprechendes, zugleich genrebedingt plakatives Beispiel ist der eröffnende Festmarsch Op. 13 (Juhlamarssi). Bereits hier erweist Kuula seinem Ruf als Melodiker und finnischer Patriot alle Ehre. Das beginnende C-Dur-Thema im Horn weist bereits auf ein fernes Idyll voraus, auf das man im Jahre 1910 noch flehentlich wartete (und das in seiner Motivik sicher nicht zufällig an die Alphornweise „Hoch auf´m Berg, tief im Tal grüß ich dich viel tausend Mal!“ im Schlusssatz von Brahms´ 1. Symphonie in c-Moll Op. 68 erinnert). Gekonnt spinnt der Komponist seinen dreiteiligen Hymnus weiter und spart dabei nicht mit direkten Perkussionseffekten, bei deren Lärm es der Phantasie des Hörers überlassen bleibt, ob man dahinter Schlachtsalven des Krieges oder Gewehrspaliere im Zuge der gewonnenen Freiheit heraushören soll. Nun wäre es ungerecht zu sagen, der Juhlamarssi lebe nur von seiner Vordergründigkeit; Kuula beherrscht, zur Zeit der Komposition 27 Jahre alt, alle Facetten des Orchesters und die Fähigkeit zum Kontrast. Besonders schön gelingt dies im Mittelteil, wenn die Hymne und die wirklich permanenten Beckenschläge sich beruhigen. Denn dort stimmen die Klarinetten eine Art Trio an, das Melancholie in e-Moll sowie zarte Geigeneffekte in sich vereint. Auch die Philharmoniker aus Turku, die hier unter der Leitung von Leif Segerstam zu hören sind, geben den Zauber dieses etwas kurzen Mittelteils schön wieder. In gleicher Weise stürzen sie sich mit Inbrunst auf die eigentlichen Marschabschnitte, wobei gerade bei solch einem Werk und einem Dirigenten wie Segerstam etwas mehr Differenzierung zwischen den Lautstärken wünschenswert wäre, kurz etwas weniger des Guten. Das gilt besonders für die Trompeten, die vor allem bei den Spitzentönen hörbar an ihre Grenzen gelangen.

Deutlich mehr musikalischen Atem offeriert die größtenteils 1906/07 entstandene Erste Südostbottnische Suite Nr. 1, Op. 9, benannt also nach dem zentralwestfinnischen Bundesstaat, der am Ostufer der bottnischen Meerbusens liegt. Gleich beim ersten Satz Landschaft (Maisema) treten einerseits sowohl die sehr intonationssicheren Holzbläser als auch die tiefen Streicherbässe, also Bratschen bis Kontrabässe hervor. Andererseits hört man von den laut Partitur zupfenden Violinen gleich zu Beginn so gut wie nichts, was auch später im Satz auffällt. Das Herz des Stückes, das sehr elegische Englischhornsolo, trägt der Solist Satu Ala zwar mit einem guten, bewusst schlichten Ton vor (mit einer sehr dezenten Streicherbegleitung). Jedoch lässt er dieses (gerade für die Tempobezeichnung Moderato) zu schnell vorüberziehen, wodurch der Eindruck von etwas abgeflachter Tiefe der Empfindung entsteht, insbesondere durch die eher geringen dynamischen Abstufungen. Überhaupt zählt die Differenzierung der Dynamik eher zu den Schwächen zumindest in Maisema, etwa auch bei dem ans Solo anschließenden Streicherchoral, wo von Beachtung des pianissimo keine Rede sein kann. Allerdings hebt Segerstam diese Mängel gegen Ende etwas auf, wenn die Pizzicati eher zu hören sind und er das den Satz beschließende Largamente dezent wörtlich nimmt.

Dass sich Kuula in seinem Werk auf finnische Folklore konzentriert, beweist auch das daraufhin erklingende Volkslied (Kansanlaulu). Die bloße Streicherbesetzung lässt nicht zufällig an ähnlich besetzte Werke Edvard Griegs, Johan Svendsens oder Jean Sibelius’ denken. Eine sehr melancholisch gefärbte e-Moll-Melodie, zuerst im Solocello, später in den Violinen, wird von einem harmonisch vielfarbig angereicherten Choralsatz begleitet, der dem Stück einen sehr schlichten Glanz verleiht. Die Tatsache, dass der Klangkörper aus Turku hier eher ein Moderato denn das vorgegebene Adagio zum Tempo nimmt, kann man verschieden beurteilen, immerhin handelt es sich hier ja um ein Volkslied – und dieses sollte nicht zu prätentiös klingen. Von einem ähnlichen Charme ist der darauf erklingende südostbottische Tanz (Pohjalainen tanssi) mit seiner schlichten dorischen Weise und der etwas eigenwilligen melodischen Bauart. Gerade dieses Mittelstück der Suite lebt von seiner Schlichtheit und einer bis dahin ungewohnten dynamischen Ausgeglichenheit, gerade was die Integration der Pauken anbelangt. Ebenfalls sehr einfalls- und kontrastreich ist das vierte Stück der Suite, der Teufelstanz (Pirun Polska). In seiner Anlage deutlich ein Scherzo, bietet dieser Satz nicht nur ein metrisch unbestimmtes Thema (trotz Dreivierteltakt), sondern auch eine bemerkenswerte musikalische Entwicklung, bei der auch die Orchesterfarben eine Rolle spielen. Einzig die Holzbläser treten beim Fortissimo des Scherzos zu sehr in den Hintergrund, fallen aber im Trio dafür umso schöner ins Gewicht.

Den großangelegten Schlusssatz der ersten Südostbottnischen Suite, Lied der Dämmerung (Hämärän laulu) empfanden zwei bedeutsame Lehrer Kuulas aus Bologna, Enrico Bossi und Luigi Torchi, als wunderbar, kritisierten aber dessen Orchestrierung. Wahrscheinlich bezogen beide sich auf die Tatsache, dass Kuula bereits vom monumentalen Beginn des Satzes an bemüht war, bei aller Spannung einen dennoch differenzierten Klang aufgrund der reichhaltigen Form zu erzielen. Eine pavaneartige Melodie im alla-breve-Metrum baut sich Stück für Stück zu einer eher dunklen Hymne auf und wird in ihrer Schlichtheit darin kontrastiert, dass Kuula auch hier seine akkordischen Raffinessen spielen lässt. Dem gegenüber steht ein luzides Thema im Englischhorn, welches dem Finale einen eher tänzerischen Charakter verleiht, obgleich auch hier bereits eine hymnische Steigerung eintritt. Alsbald wechselt das Geschehen wieder ins Tempo primo, der archaische Anfang kehrt wieder, nur breiter und pathetischer und mündet schließlich in einem Beckenschlag, woraufhin das Ganze, mit letzten Partikeln der motivgebenden Quarte d-d-a, leise erlischt. Die heterogene Form von Hämärän laulu hat gleichermaßen ihre Stärken und Schwächen; zumindest bemüht sich Leif Segerstam mit den Turkuer Philharmonikern, diese unter einen Bogen zu zwängen und mechanische Stereotypen zu vermeiden, was größtenteils auch gelingt.

Dass die zweite Südostbottnische Suite sieben Jahre später entstanden ist (1912/13), hört man am fortgeschrittenen kompositorischen Handwerk Kuulas. Sehr reizvoll und anfangs pittoresk erklingt die Ankunft der Braut (Tulopeli), wenn die Hörner mit einem Signal in Mahlerscher Manier beginnen und aus dem darin enthaltenen Motivmaterial ein immer mächtiger orchestriertes Fugato formen. Leider gerät zwar das Orchester mit dem Streichereinsatz deutlich ins Schleppen, gewinnt dafür jedoch bei vollem Tuttieinsatz wieder an Tempo. Erfreulich ist die hier wohlbedachte Steigerung gegen Ende, was vor allem die dynamische Auskostung bis hin zum fff anbelangt. Der darauffolgende Regen im Walde (Metsässä sataa) zeigt besonders deutlich, zu welch raffinierten Instrumentationslösungen Kuula in der Lage war. Über einem huschenden Streichersatz werfen die in ihrer Besetzung erweiterten Holzbläser modal gefärbte Signale in den Raum, die dem Ganzen eine besondere Exotik verleihen. Die Beschäftigung Kuulas mit Debussy ist hier deutlich zu spüren, gleichwohl offenbart der Komponist vor allem in der Mitte des Satzes seine eigene Handschrift, wenn sich klare Tutti-Konturen ergeben. Die Philharmoniker nehmen das Allegro durchaus wörtlich, schaffen es jedoch auch, die besondere Atmosphäre dieses Satz wiederzugeben.

Wie auch in der ersten Suite haben die Streicher einen Satz alleine. Wieder ist es die auffällige Nähe zu anderen nordisch-romantischen Vorbildern, die der dritte Satz, ein Menuett (Minuee), suggeriert, ohne dass jedoch auch nur der geringste Eindruck von Nachahmung etwa Griegs entstünde. Das Prinzip ist hier ähnlich wie in Tulopeli: ein zierliches Thema gibt dem Satz ein Gerüst, welches immer größer und breiter wird bis hin zum Schluss. Da hätte es den recht klangfreudigen Ausführenden nicht geschadet, wenn sie das Moderato nicht allzu wörtlich genommen und dem Satz etwas mehr Schwung verpasst hätten. Ausgewogener klingt der Tanz der Waisenkinder (Orpolasten polska), der in seiner kompakten Kürze und originellen Instrumentierung eine nahezu schwerelose Melancholie ausstrahlt. Gerade mit diesem Intermezzo beweist Kuula seinen herrlichen Facettenreichtum.

Das abschließende Irrlicht (Hiidet virvoja viritti) bekräftigt, ähnlich dem Schlusssatz der ersten Südostbottnischen Suite, allein schon durch seinen Titel wiederum die monumentale Ader des Komponisten. Abgesehen von dem arg vibrierend eröffnenden Cellosolo bietet der Satzanfang in den ersten drei Minuten dennoch eine klanglich sehr abwechslungsreiche (dank zweier Harfen und Celesta), gleichwohl deutlich dramatischere Szenerie als das Vorhergehende. Nachdem daraufhin das dunkle Cellothema wieder ertönt und die klangliche Schärfe des Tuttis zu einem ersten Höhepunkt findet, beginnt der Satz eher zu fließen, sprich in einen Kehraus zu führen. Kuula verleugnet auch hier nie seine gereifte Meisterschaft der Instrumentierung, alles klingt luzide und leicht. Zunächst. Dass der Schein aber trügt, merkt man mit einem schleichenden Wechsel, harte Klangballungen nehmen immer weiter zu, es entsteht eher eine Nähe zum Symphoniker Sibelius und dessen fluoreszierenden Klangkaskaden. Wie mittlerweile zu erwarten, kommt es auch hier zu einem machtvollen Höhepunkt, schließlich hält das Geschehen inne. Zuletzt ergibt sich auch hier die dreiteilige Form-Symmetrie, das Ende kommt dann überraschend schlicht und ohne äußerliche Dramatik daher.

Anhand der beiden Suiten hat sich gezeigt, wie entscheidend Toivo Kuula sich in wenigen Jahren entwickelte, aber auch, wie gleichermaßen finnisch und kosmopolitisch, wie gleichermaßen temperamentvoll und einfühlsam-differenziert seine künstlerische Gestaltung war. Das letzte Beispiel dieser CD, Präludium und Fuge Op. 10 (1909), belegt dies nochmals eindrucksvoll. Über einem Bass-Ostinato, das hier leider etwas zu leise erklingt, intonieren die Klarinetten und Oboen eine einfache achttaktige Melodie in c-moll, auf deren Basis sich das formal sehr geschlossene Präludium aufbaut und ebenso wieder abklingt. Die Kontinuität gelingt dem Orchester passabel, das Largamente in der zweiten Hälfte kommt verhalten. Einen kraftvollen Bogen spannt die Fuge, die sowohl alle Elemente der Bach-geschulten Kontrapunktik (c-Moll-Soggetto, gekonnte Dux-Comes-Behandlung), als auch eine konsequente Ausschöpfung des Orchesterapparates bereithält. Vor dem Hintergrund der mehr fantasiegesteuerten Suiten erscheint eine solche Tonschöpfung natürlich etwas trocken als Konklusion. Allerdings wäre Toivo Kuula nicht er selbst, wenn er nicht auch dieser Fuge einige dramatische Akzente verpassen würde, außerdem ist seine Orchesterfuge auch insofern eigenständig, als sie auf wirkungsvolle (Schlagwerk-)Effekte etwa der Bach-Bearbeitungen eines Schönberg oder Elgar verzichtet.

So bleibt abschließend folgendes Resümee zu ziehen: Mit Toivo Kuula haben die Philharmoniker aus Turku und ihr unermüdlicher Maestro Leif Segerstam einem Komponisten, dem trotz geringer Lebenszeit ein sehr bemerkenswertes Œuvre gelang, beeindruckend Respekt gezollt. Mag auch ihre Darbietung nicht frei von Schwächen und Unausgereiftheiten sein, so ist diese CD dennoch ein eindrucksvolles, beredtes Zeugnis der künstlerischen Neugier eines der weltweit ältesten Orchester überhaupt, das mit Kuula dem jungen Wilden der Epoche des kulturellen Aufbruchs einer finnischen Identität huldigt.

 [Peter Fröhlich, November 2015]