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Konzert im Zeichen Tschechiens

Zum zweiten Mal hintereinander spielten die Münchner Philharmoniker unter ihrem slowakischen Gastdirigenten Juraj Valčuha am Freitag, den 05. Februar 2016, ein Programm mit böhmischer Musik: die Tondichtung „Vodnik“ („Der Wassermann“) Op. 107 von Antonín Dvořák (1841 – 1904), das Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken H 271 von Bohuslav Martinů (1890 – 1959) und die „Sinfonietta“ von Leoš Janáček (1854 – 1928).

Wie man dem in jeden Programmpunkt sehr sorgsam einführenden Programmheft entnehmen konnte, war es stets ein Anliegen der Münchner Philharmoniker und ihres Vorgängerorchesters seit 1893, sich als Botschafter tschechischer (bzw. tschechoslowakischer) und polnischer Musik zu erweisen. Dank Juraj Valčuha, der seit der Saison 2005/06 die Philharmoniker immer wieder dirigiert, kamen während der drei Tage vom 4. bis zum 6. Februar jeden Abend in der Philharmonie des Gasteigs wieder einmal tschechische Werke zum Erklingen.

Klug konzipiert war das Programm, das neben zwei der meistgespielten böhmischen Komponisten – Dvořák und Janáček – mit Martinů einen zwar auch als modernen Klassiker anerkannten, aber in München eher weniger zu hörenden Landsmann präsentierte. Es hatte allerdings am Abend des 5. Februar den Anschein, als ob die Darbietung der zwei erstgenannten Komponisten auch ein gewisses Verbleiben in Routine mit sich brachte, was vor allem die Sinfonietta von 1926, eines der fesselndsten Werke Janáčeks, betraf. Immerhin gehörte der eröffnende Satz „Fanfaren“ sowie der Schluss von „Das Rathaus“ mit den darin enthaltenen zwölf Trompeten zu den aufregendsten Momenten dieses Abends. Hinsichtlich des zweiten Satzes, der „Burg“, sind vor allem die Streicher und die Holzbläser positiv zu erwähnen, sowie Valčuha, der kein allzu rasches Tempo nehmen ließ. Allerdings hätten einige Gruppen kultivierter agieren können, so zum Beispiel die Posaunen, deren gestopfte, für diesen Satz charakteristische Achtel mehr Akzentuierung vertrügen. In seinem Textbeitrag zur Sinfonietta schreibt Tobias Niederschlag, es zeichne das Werk aus, auf spätromantische Mischklänge zu verzichten und eher auf klar abgetrennte Instrumentengruppen zu setzen. Derart orientierten sich denn auch die Philharmoniker und Valčuha, ohne jedoch zu kantig zu klingen, die Wechsel zwischen den Gruppen kamen stets sehr fließend. Was das „Königin-Kloster“ angeht, so waren die Themen und deren Wechsel durch die Instrumente zwar sehr plastisch vorgetragen, wobei eine etwas innigere Atmosphäre, die gerade dieses lyrische Herzstück der Sinfonietta ausmacht, nicht geschadet hätte. Das gilt auch für den vierten Satz, die „Straße“. Dieses Scherzo wurde, wie die übrige Sinfonietta auch, mit Ernst und Sicherheit in der Phrasenbildung und Formkontur vorgetragen, allerdings fehlte etwas vom suggestiven Bild der „Straße und was in ihr wimmelte“ (wie Niederschlag den Komponisten zitiert). Und das ist nicht unerheblich, wenn man bedenkt, dass dieses letzte Werk für Janáček ein sehr persönliches war. Spannend wurde es dann, wie schon angemerkt, im Schlusssatz, der sich immer weiter steigert und wo die Philharmoniker bereits vor der Kulmination in die Fanfaren zu ihren besten Momenten an dem Abend fanden.

So erhielt die Sinfonietta insgesamt eine beachtenswerte Wiedergabe, die ihre Schwächen in der mangelnden musikalischen Tiefe und ihre Stärke in der formal klaren Gestaltung sowie in der Kompaktheit der Instrumentengruppen hatte. Anders verhielt es sich bei Dvořáks 1896 komponiertem Vodnik. Diese für eine symphonische Dichtung schon recht lange Komposition wurde von Marcus Imbsweiler eingehend erörtert, vor allem bezüglich der einzelnen musikalischen Motive, deren Zuordnung zu den Figuren in der Schauergeschichte Karel Jaromír Erbens und deren seelischer Darstellung in der Musik. Die entsprechenden Figuren kamen auch deutlich zum Vorschein, vor allem das Motiv des Wassermanns war von gewichtiger Bedeutung, wogegen die Thematik der Mutter in den hohen Streichern eher farblos klang. Was in der ersten Hälfte des Werkes etwas auf der Strecke blieb, war der formale Zusammenhalt zwischen den einzelnen Episoden dieser Symphonischen Dichtung, die an sich einer Rondoform orientiert. Einige Instrumentengruppen hatten auch ihre Schwierigkeiten mit der Klangbalance. In diesem Fall waren es – und das ist kein billiges Stereotyp dieser häufig unterschätzten Gruppe – die Bratschen, die, nimmt man den eigenen Anspruch des Orchesters an sein Niveau ernst, einen runderen Gesamtklang hätten bringen können (die Akustik des Gasteig trug keine Schuld daran). Von überzeugender Dramatik waren die wohldosierten Tutti-Ausbrüche, wobei gerade die an diesem Abend seltenen Einsätze des Schlagwerks hervorstachen. Ab der zweiten Hälfte wurde die Klimax spürbar, welche die Verdichtung der Themen und die allgemeine Steigerung mit sich brachte (woran auch der seltene Einsatz einer zweiten Basstuba Anteil hat). Auch gelang es Valčuha von hier ab besser, die Gestaltung einzelner Abschnitte sorgfältiger darzustellen. Sei es der leise, aber hier bedeutsame Schlag des Tamtams, der wohl den Mord am Kind symbolisiert, oder der resignierte Schluss der Dichtung, den wenige tiefe Instrumente inklusive Posaunen pointiert, aber nicht zu lange wiedergaben.

Oftmals neigen selbst große Symphonieorchester dazu, weniger bekannte Werke unterprobt und unausgereift zur Aufführung zu bringen. Glücklicherweise kam ein solcher Eindruck beim Mittelwerk, dem 1938 komponierten Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken H 271 von Bohuslav Martinů, nicht auf. Martinů, der am 8. Dezember 1890 in Polička in Böhmen geboren wurde, hatte das Schicksal eines Nomaden: Er musste, bedingt durch die beiden Weltkriege, von seiner Heimat nach Paris, in die USA und von dort, obwohl keineswegs kommunistisch, aufgrund der Repressionen der Mc-Carthy-Ära nach Basel übersiedeln, wo er am 28. August 1959 starb. Als dementsprechend kosmopolitisch, frei und humanistisch ist sein Schaffen zu verstehen, so beschreibt es Wolfgang Stähr im Programmheft. Mit dem rein äußerlich klassizistischen Doppelkonzert ist zumindest ein Glanzstück entstanden, das an diesem Abend bei den Münchner Philharmonikern eine Sternstunde erlebte (was auch die notwendige, aber lange Umbauzeit nach dem Vodnik kompensierte). Obgleich der erste Satz Poco allegro mit seinen tendenziell freitonalen Themen noch recht sperrig klang, konnte man schon das Potential ahnen, das in diesem Werk steckt, das die Streicher mit dem Pauker und dem Pianisten überzeugend vortrugen. Emotional packend gelang der zweite Satz Poco allegro, welchen der Komponist „Den Märtyrern von Lidice“ widmete, wo es zu einem Massaker durch die NS-Wehrmacht gekommen war. Hierbei erhält der Pianist zwar Gelegenheit, als dritte Instanz zwischen den beiden Streichorchestern hervorzutreten. Doch verhielt er sich ganz und gar unpianistisch im eigentlichen Sinne, was man als kluge Zurückhaltung zugunsten der Musik verstehen kann. Der Höhepunkt kam dann mit dem Finale, Allegro. Hier zieht Martinů alle satztechnischen und kontrapunktischen Register seines Könnens und formt einen komplexen Satz mit hohen Ansprüchen, der formal sehr geschlossen wirkt, und den die Philharmoniker unter dem einfühlsamen Dirigat Valčuhas voller Hingabe musizierten. Wenn es etwas zu kritisieren gibt, dann vielleicht, dass die Musiker gelegentlich das konzertante Konzept klarer betonen hätten können, indem sie die Trennung zwischen den beiden Streichorchestern mehr akzentuierten. Dies fiel jedoch nicht sehr ins Gewicht bei dem Niveau, das die Streicher (inklusive Bratschen) in diesem Binnenstück des Abends erreichten, was uns, was sicher ausbaufähig ist, auf weitere Aufführungen im Sinne musikalischer Völkerverständigung nicht nur zwischen Tschechien und Deutschland hoffen lässt.

[Peter Fröhlich, Februar 2016]

Mit böhmischen Pauken und Trompeten

Die Münchner Philharmoniker spielen am 04., 05. und 06. Februar 2016 in der Philharmonie des Gasteig München unter Juraj Valčuha Werke aus Tschechien, auf dem Programm stehen „Vodník“ (Der Wassermann) von Antonín Leopold Dvořák, das Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken von Bohuslav Martinů sowie die Sinfonietta von Leoš Janáček. Für The New Listener besuche ich die dritte und letzte der Vorstellungen.

Nur schlecht besucht ist die Philharmonie im Gasteig am Abend des 06. Februar, das rein böhmische Programm scheint kein besonderer Publikumsmagnet zu sein. Es ist sehr bedauerlich, dass diese Werkauswahl auf kein größeres Interesse stößt, ist sie doch mehr als spannend und vielseitig: Der Wassermann, Vodník, die erste der (nach der letzten Symphonie entstandenen) fünf späten Tondichtungen Dvořáks, ist ein mitreißendes Werk in ausgereiftem und vollendetem Personalstil, das durch absolute Ausreizung des einprägsamen Grundmaterials lange Zeit im Kopf zu bleiben vermag. Doppelbödige Kantabilität und schroffe Gewalt wechseln einander ab in einer wilden Handlung, die im Mord an der Tochter gipfelt. Einen ganz anderen Weg beschreitet Martinů in seinem an das barocke Concerto Grosso angelehnten Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken, das mit rhythmischer Durchschlagskraft und voller orchestraler Wirkung trotz kleiner Besetzung besticht. Stets ein klanglicher Höhepunkt ist die Sinfonietta Janáčeks, in deren Randsätzen neben der eh bereits großen Orchesterbesetzung noch dreizehn weitere Trompeten, zwei Tenortuben und zwei Basstrompeten zum Einsatz kommen (später hat Chatschaturian in seiner bombastischen Dritten Symphonie etwas Vergleichbares versucht). Die Sinfonietta ist ein monolithisches Spätwerk voll sanglicher Melodik, mit virtuoser Instrumentation, als Hörerfahrung immer wieder zutiefst beeindruckend.

Mit dieser pathosbeladenen Musik gelingt es dem Dirigenten Juraj Valčuha, den Münchner Philharmonikern wieder eines zurückzugeben, was in letzter Zeit selten anzutreffen war: die Spielfreude. Man denke beispielsweise an den vollkommen unterprobten Prokofieff-Zyklus unter Gergiev oder ein erstaunlich farbloses Prélude à l’après-midi d’un faune von Debussy, wo wenig Hingabe zur Musik zu spüren war. Heute ist dies anders, das Orchester hat Lust und Spaß an dem mächtigen Programm und spielt wieder aus vollem Herzen. Besonders farbenreich erscheint die Musik Antonín Dvořáks, der schlichten und dauerpräsenten Motivik gewinnen die Philharmoniker etliche feine Farbnuancen ab und genießen immer wieder die volltönenden Höhepunkte. Das Orchester kennt und mag die musikalische Sprache des Tschechen und weiß, dies ansprechend umzusetzen. Besonders erfreulich gestalten sich die häufigen phraseninternen Instrumentenwechsel, die perfekt aufeinander abgestimmt sind und eine imaginativ räumliche Wirkung evozieren.

Weniger Verständnis zeigen die Streicher für die eigentümliche Musik von Bohuslav Martinů, dessen Stil uns noch immer unvertraut und neuartig erscheint. Was auch bei Dvořák und Janáček als Grundtendenz vorliegt, wird hier zum Extrem: Es ist stets zu laut, und wiederholt werden Pianoangaben schlicht nicht beachtet, dafür ist die Musik im Forte zu pauschal mächtig, zu wenig differenziert ausgestaltet und kontrastlos, wodurch einige Längen entstehen. Hinzu kommt eine ungünstige Aufstellung mit Klavier und Pauken hinter den Streichern, wobei der Pianist den Dirigenten frontal anschauen kann. Resultat der Kombination der beiden Aspekte ist, dass die beiden Solisten kaum hörbar sind (und das, obwohl ich einen akustisch sehr guten und mittigen Platz habe). Zwar stimmt es, dass die Pauke eher eine ergänzende Rolle spielt als solistisch hervorzutreten, aber der Klaviersolist sollte doch als zentrale Säule stets deutlich vernehmbar sein. Die grundsätzliche Aufteilung in zwei antiphonisch agierende Streichorchester wird dadurch geradezu hinfällig, und man nimmt die konzertierend wettstreitende Teilung kaum wahr. Allem Anschein nach ist den Veranstaltern der Pianist auch nicht wichtig, wird dieser (wie auch der Paukist) doch nicht einmal im Programm erwähnt. Der Pianist hat das Konzert auch scheinbar nicht wirklich als Solistenstück erarbeitet, seine Stimme klingt eher nach einem soliden Accompagnement denn nach der zentralen Rolle im Wechselspiel mit den beiden Streichorchestern als drittem Widerpart. Natürlich liegt hier kein Klavierkonzert im klassischen Sinne vor und der Flügel spielt bis auf kurze kadenzartige Abschnitte im Mittelsatz eher innerhalb des Orchesters denn solistisch hervorgehoben, doch hier wurde eine Nivellierung erreicht, die den Charakter verfälscht.

Als sich nach der Pause die dreizehn zusätzlichen Blechbläser erheben, senkt sich auch das letzte Programmheft und der „kollektive Astmaanfall“, der zwischen den Sätzen eines Konzerts nicht mehr aus dem heutigen Konzertleben wegzudenken ist, ist plötzlich ausgeblendet. Der späte Stil von Leoš Janáček wirkt so verblüffend attraktiv, so unmittelbar und so wirkungsvoll, das sich einfach keiner dieser Musik entziehen kann. Er ist schlicht und volkstümlich, aber doch enorm ausgearbeitet und von riskanter Komplexität. Hier können sich die Musiker einmal austoben, und das nutzen sie voll aus; Valčuha versucht erst gar nicht, das Orchester zurückzuhalten. Der enorme Blechapparat, der normalerweise auf die ersten Kiekser nur warten lässt, intoniert absolut lupenrein und gibt sich freudig schmetternd, das Holz wartet mit virtuosen Läufen auf (immer wieder herrlich, wenn Flöte und Piccolo ihre rasenden Linien ziehen, die von anderen Holzbläsern aufgegriffen werden), auch die Harfe tritt mit brillanten Einsätzen hervor, das Schlagwerk ist gut abgestimmt und die Streicher bewältigen ihre rhythmisch verzwickten Passagen mit imponierender Lockerheit. Hier zeigt sich einmal, dass die Münchner Philharmoniker doch ein wirkliches Spitzenensemble sein können, das ganz vorne mitspielen kann – schwer verständlich, dass sie dies in letzter Zeit ein paar Mal vergessen ließen. Sehr hoffe ich darauf, sie in nächster Zeit öfter mit solch hinreißender Spiellaune und musikalischem Gestaltungswillen zu hören wie heute bei Dvořák und Janáček. Juraj Valčuhas oft schon übermäßiges Pathos wirkt bei diesen Stücken teils auch recht förderlich, wenngleich er Martinů zerbröckeln lässt. Er kann durchaus für große Effekte und Prägnanz garantieren, so dass ich mich bis heute an sein Konzert mit Rudolf Buchbinder im Concerto in F von George Gershwin von 2014 zurückerinnere, das nicht zuletzt dank seines Enthusiasmus zu einem unvergleichlichen Erlebnis geworden ist. Dies tut den Münchner Philharmonikern nach wie vor gut, aber dennoch wäre es generell wünschenswert, den animierenden Vorwärtstrieb etwas im Zaum zu halten und eben wenigstens nicht durchgängig ungebändigt walten zu lassen.

Das Publikum ist am Ende des Konzertabends nicht zu Unrecht begeistert – noch immer unter der enormen Unmittelbarkeit der Sinfonietta stehend. Solch ein Werk live zu hören, ist etwas ganz Besonderes und wird mich noch einige Zeit begleiten.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]