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[Rezensionen im Vergleich] Drei Hände, drei Gehirne

Der argentinische Pianist Hugo Schuler präsentiert am 3. Februar 2018 zwei Ausschnitte aus seiner frisch erschienenen CD „Goldberg+“ und andere Werke im Freien Musikzentrum München. Auf dem Programm stehen Bachs Präludien und Fugen Fis-Dur BWV 858 und fis-Moll BWV 859, Reinhard Schwarz-Schillings Klavier-Sonate, „Soñé que tú me Ilevebas“ von René Vargas Vera, ein Impromptu von Santiago Santero, Heinrich Kaminskis Präludium und Fuge f-Moll und Johann Sebastian Bachs Chaconne d-Moll in Brahms‘ Transkription für Klavier linke Hand.

In den letzten Wochen und Monaten kam ich in den Genuss mehrerer überzeugender Konzerte, doch was am 3. Februar 2018 im Freien Musikzentrum München zu hören ist, übertrifft all die anderen um Längen. Die spärlich besetzte kleine Halle reißt Hugo Schuler von den ersten Tönen an in seinen Bann und entlässt sie erst nach dem ohne Pause gespielten Mammutprogramm. Schuler lässt keine Zeit für Applaus zwischen den Stücken, zu wichtig ist ihm der große Bogen, den er über den gesamten Abend spannt. Die Reise beginnt mit Bach (Präludien und Fugen Fis-Dur BWV 858 und fis-Moll 859), setzt sich mit Schwarz-Schillings Klavier-Sonate von 1968 als „Bachs Widerhall im 20. Jahrhundert“, wie Schuler es titulierte, fort und reicht bis zu zeitgenössischer Musik aus Argentinien, René Vargas Veras „Soñé que tú me Ilevebas“. Hier ist der Wendepunkt und es geht in rückläufiger Reihenfolge von Argentinischem (Santiago Santeros Impromptu von 2006) über eine grandios freie Bach-Hommage (Kaminskis Präludium und Fuge f-Moll aus dem Klavierbuch III von 1935) zurück zu Bach, oder zumindest einer Transkription seiner Musik, zu Brahms‘ Version der Violinsolo-Chaconne d-Moll für die linke Hand.

Über Schwarz-Schilling und Kaminski wurde bereits in der Rezension zu Schulers CD berichtet, René Vargas Veras „Soñé que tú me Ilevebas“ ist ein folkloristisches, sanftes Stück in himmlischer Harmonie, Santeros Impromptu nutzt Cluster und scharfe Dissonanzen auf eine ruhige und innige Weise. Trotz einer leichten Überlänge erreicht der Komponist eine innerlich aufbegehrende und dabei fokussierte, schwebende Wirkung, die Eigenständigkeit und Charakter besitzt.

Hugo Schuler tritt menschlich, offen und souverän auf, ist sogar vom Applaus der nur etwa 15 Zuhörer überwältigt, strahlt große Sympathie aus. Pianistisch ist er überragend, besser noch als bei seinen letzten – nicht minder bravourösen – Auftritten und vielleicht (womöglich wegen des Live-Effekts) noch offenkundiger die Musik erspürend als auf seiner CD. Die Vielstimmigkeit in den kontrapunktischen Werken realisiert er auf unerhörte Art und Weise, selbst die Chaconne-Transkription für die linke Hand klingt, als spiele er sie mit zumindest drei Händen und drei Gehirnen. Dieser Effekt gelingt ihm dadurch, dass er jeder Stimme eine besondere Klang-Nuance verleiht und sie so von den anderen abhebt, wenngleich er sie stets in Beziehung zueinander setzt. Die einzelnen Stimmen gestaltet er detailreich differenziert in ihrer Phrasierung und Artikulation, einzelne Noten hebt er aus der Reihe fallend durch gegensätzlichen Anschlag ab, was so unerwartete wie stimmige Effekte erzeugt und die Konzentration hochhält. Die Fugen-Sujets sind ausnahmslos hervortretend vernehmbar, selbst die stark variierten und metamorphosierenden Einsätze bei Kaminski. Schwarz-Schillings Klavier-Sonate besticht auch durch ihre rhythmischen Prägnanz und beinahe rockige Akkorde, und und fesselt mit ihrem überirdischen Mittelsatz, der sich von der Ein- zur Vierstimmigkeit aufschwingt. Die argentinischen Stücke nimmt Schuler in meditativer Konzentration, schafft dabei wirkungsvolle Kontraste zum restlichen Programm. Die Chaconne ertönt unprätentiös und ohne jeglichen veräußerlichenden Effekt, eine Reduktion auf das Wesentliche und der Musik Dienliche, die so gar nichts Asketisches hat. So beendet Hugo Schuler einen Abend, der seines Gleichen sucht.

[Oliver Fraenzke, Februar 2018]

[Rezensionen im Vergleich] Suggestiv fesselnder Gestalter

Hugo Schuler spielt am 3. Februar im Münchner Freien Musikzentrum

Anlässlich des Erscheinens seiner neuen Doppel-CD mit Bachs Goldbergvariationen und Stücken von Jacob Froberger (1616-1667) und Nachfolgern wie Heinrich Kaminski (1886-1946) oder Reinhard Schwarz-Schilling (1904-1986) – die Rezensionen sind bei „The-New-Listener“ nachzulesen -, gab der argentinische Pianist Hugo Schuler sein diesjähriges München-Konzert im Freien Musikzentrum. Zwar verirrten sich – wie üblich – nur wenige Leute dorthin, wer aber da war, wurde mit einem schlichtweg grandiosen Musikerlebnis belohnt. Zu Beginn zwei Präludien und Fugen aus Bachs Wohltemperiertem Klavier BWV 858 und BWV 859, dann kam die herrlich dicht geformte Sonate von Reinhard Schwarz-Schilling von 1968, gefolgt von einem Liebeslied des Argentiniers René Vargas Vera: „Sone mi tu me llevabas“. Ohne Pause ging es dann weiter zu einem Impromptu (2006) des zeitgenössischen argentinischen Komponisten Santiago Santero, das einen ganz erstaunlichen Kontrapunkt setzte zu all der bisher gehörten Polyphonie in seiner auf intensivste Klanglichkeit abgestellten Struktur. Nach Kaminskis Präludium und Fuge von 1935 – dieses Meisterwerk feinverästelten Kontrapunkts  zeigte noch einmal sehr eindringlich, welche Möglichkeiten nach Bach im 20. Jahrhundert die Polyphonie einem Komponisten wie Heinrich Kaminski bot! – folgte zum Abschluss die berühmte Bach˚sche Chanconne in der Bearbeitung für die linke Hand von Johannes Brahms, mit suggestiv fesselnder gestalterischer Kraft dargeboten. Keine Zugabe, was allerdings aus vielen Gründen völlig einsichtig war. So ging ein sehr großer Klavierabend zu Ende, der die Hoffnung wachhält auf ein möglichst baldiges Wiedersehen und Wiederhören mit Hugo Schuler – vielleicht in einem diesem Ausnahme-Pianisten adäquateren Raum und in einer Konzertreihe, die ihm entsprechend öffenlichkeitswirksam  unter die Arme greifen kann!

[Ulrich Hermann, Februar 2018]

Unerschöpfliche Frische

Das Duo Violeta Barrena und Ottavia Maria Maceratini spielt am 20. Oktober 2017 zum zweiten Mal gemeinsam im Münchner Freien Musikzentrum. Auf dem Programm stehen die c-Moll-Sonate Op. 30 Nr. 2 für Violine und Klavier von Ludwig van Beethoven, vier Sätze aus der E-Dur-Partita BWV 1006 (ohne Loure und Menuett) von Johann Sebastian Bach sowie die Sonate A-Dur von César Franck.

Einmal mehr wird das „Münchner Wohnzimmer erstklassiger Musik“ Schauplatz für ein absolutes Klassik-Highlight. Nach ihrem Duo-Debut im Februar sind Ottavia Maria Maceratini und Violeta Barrena zurück auf der kleinen Bühne und spielen drei in jeder Hinsicht herausfordernde Werke.

Das Programm beginnt mit Beethovens c-Moll-Violinsonate, ein reifes Werk mit unerhörten Klüften harmonischer Fortschreitung und bemerkenswerten melodischen Wanderungen zwischen den Stimmen. Gerade der erste Satz brodelt regelrecht unter den Fingern der beiden Musikerinnen, unentwegt werfen sie sich gegenseitig die Themen zu und dies in größter Gelassenheit und Freude am Entstehenden. Welch gegensätzliche Welt der zweite Satz zu eröffnen vermag, und wie subtil Barrena und Maceratini darauf eingehen! – bis hin zum unvermittelten Wechsel zu den raschen letzten beiden Sätzen.

Um der oft führenden Position des Klaviers bei Beethoven und Franck entgegenzuwirken, spielt Violeta Barrena (aufgrund des langen Programms nur) vier Sätze aus Bachs Partita für Violine Solo E-Dur BWV 1006: Präludium, Gavotte, Bourrée und Gigue. In himmlischen Glanz erstrahlt das Präludium, beinahe fidelhaft-volkstümlich tönen die beiden dargebotenen Mittelsätze und freudig virtuos endet die Gigue. Barrena demonstriert auf erstklassige Weise, wie Mehrstimmigkeit auf einem Melodieinstrument funktioniert. Gerne hätten wir das gesamte Werk gehört, die Überlänge der ersten Konzerthälfte hätten wir freudig in Kauf genommen!

Nach wie vor berüchtigt ist César Francks einzige Violinsonate, der die Pianisten mit Ehrfurcht entgegentreten und die meist zu einer sprudelnden Zurschaustellung virtuoser Fähigkeiten degradiert wird. Anders am heutigen Tag: Selten wird die impressionistische Neigung Francks so deutlich wie in diesem Konzert, die Sonate erhält große innere Ruhe und Zartheit. Maceratini entlockt dem Flügel solch sanfte Klänge, wie es wohl keiner diesem alten und nicht gerade erstklassigen Instrument zugetraut hätte. Die ausladenden Figuren bereiten einen breiten Klangteppich für Barrena, um sich voll zu entfalten – eine Gelegenheit, die fesselnd ausgenutzt wird. Der zweite Satz überrumpelt nicht und beginnt auch nicht zu poltern, sondern glüht von innen her, wühlt auf und bleibt doch stets im Zaum gehalten. Wahrlich sprechend gelingt der dritte Satz, die Recitativo-Fantasie, vor allem für die „singende Geige“ eine beträchtliche Herausforderung. Glorreich endet die Sonate durch das triumphierende Finale, das in den kanonischen Imitationen Melodieführung des Klaviers und abgehörtes Zusammenspiel verlangt und heute sogar einmal verwirklicht.

Als Zugabe gibt es Astor Piazzollas Libertango, so rasch wie ich ihn noch nie zuvor gehört habe, was auf eine ganz eigene Art doch stimmig gelingt, und sein Oblivion, wieder zurückführend in die meditative Ruhe.

Die durchgehende Frische ist das, was den heutigen Abend besonders ausmacht und die Stücke so unverbraucht und neuartig erklingen lässt. Sie rührt von kleinen, aber merklichen Experimenten, wie sie so beinahe nie gewagt werden und dem ganzen eine eigene Note verleihen. Sei es eine ungewöhnliche Phrasierung, eine Fokussierung auf eine Unterstimme oder ein Detail im Tempo, sie ziehen sich durch den ganzen Abend. Und meist gehen sie auf, verleihen dem Werk gleich einem zärtlichen Duft eine eigentümliche Besonderheit.

Es bleibt zu hoffen, noch wesentlich mehr von diesem Duo zu hören, das so gut zusammenwirkt, als hätten sie seit Ewigkeiten gemeinsame Bühnenerfahrung. Die Harmonie überträgt sich auf den Hörer, es kann von einem wahrhaften Erlebnis gesprochen werden.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2017]

Unverbrauchte Frische

Rebekka Hartmann und Margarita Oganesjan spielen am 28. Oktober 2016 im Konzertsaal des Freien Musikzentrums München Quatre Pièces de Clavecin von Jean-Philippe Rameau in neuer Instrumentierung von Eugène Ysaÿe, die zehnte Violinsonate von Ludwig van Beethoven G-Dur Op. 96 sowie die Sonate A-Dur von César Franck.

Das Freie Musikzentrum München ist in Insider-Kreisen schon längere Zeit zu einer Art Wohnzimmer für qualitativ hochwertige klassische Konzerte avanciert. So wird auch heute wieder in familiärer Runde ein beeindruckendes Konzertprogramm mit herausfordernden Werken von herausragenden Musikern dargeboten: Rebekka Hartmann und Margarita Oganesjan spielen Werke von Rameau (in Bearbeitung von Ysaÿe), Beethoven und Franck.

Die beiden jungen Musikerinnen legen sich kein barockes Korsett an in den von Ysaÿe für Violine und Klavier instrumentierten Quatre Pièces de Clavecin, die ursprünglich der Feder Jean-Philippe Rameaus entstammen. Mit funkensprühender Lebendigkeit und hinreißendem tänzerischen Frohmut erhalten die vier Stücke eine glänzende Leichtigkeit. Erstaunlich zurückhaltend und innig hingegen wird der Kopfsatz von Beethovens viersätziger G-Dur-Violinsonate Op. 96 genommen, hier bezaubern aufrichtige Empfindung und verhaltene Zartheit. Vor allem im zweiten Satz scheint es beinahe, als würde die Zeit stillstehen, bis einen das fidele Scherzo wieder in eine vollkommen andere Welt katapultiert. Nach der Pause gibt es noch die berühmt-berüchtigte Violinsonate César Francks in A-Dur, ein wahrlich monströses Werk, welches die meisten Ausführenden vor strukturell schier unlösbare Aufgaben stellt. Vom ersten Moment an brodelt es förmlich, wenn Margarita Oganesjan ihr nebelverhangenes Klaviervorspiel beginnt, und wenn Rebekka Hartmann zum ersten Strich ansetzt. Es beginnt eine fesselnde Reise, die den Hörer durch harmonisch dicht verzweigte Passagen führt, durch virtuose – doch zugleich nie rein äußerliche – Lawinen von unbändiger Energie und durch einfühlsame Kantilenen in selten erreichter Schönheit. Auch hier verliert der Hörer jegliches Gefühl von Dauer und ist direkt überrascht, wenn nach gut dreißig Minuten „schon“ das Ende erreicht ist.

Zweimal bisher durfte ich, schon vor längerer Zeit, die beiden Solistinnen gemeinsam erleben und war dort bereits beeindruckt von ihrem fabelhaft abgestimmten Zusammenspiel und ihren musikalischen Fähigkeiten. Doch ihre heutige Darbietung ist noch einmal eine Steigerung gegenüber allem bisher gehörten: Die Musikerinnen spielen nicht nur zusammen, sie atmen zusammen, fühlen zusammen und denken scheinbar auch zusammen – alles ist in einer unzertrennbaren Einheit, die Übergänge zwischen den Instrumenten geschehen so unmittelbar fließend, dass die Umbruchsstelle oft kaum erkennbar ist, an welcher der Wechsel gerade stattfand. Rebekka Hartmann führt dem Vibrato wieder seine ursprüngliche Rolle zu: Als stärkstes Mittel des Ausdrucks mit entsprechend sparsamer Verwendung und nicht als omnipräsentes Obligo für jeden Ton. Ihr Spiel zeichnet sich durch lebendiges Gefühl und geschmeidigen Ausdruck aus, der sich von jeder Mechanisierung befreit hat und nun ungezwungene Bahnen wandeln kann. Margarita Oganesjan spielt mit einem markanten und doch orchestralen, warmen Anschlag, dem auch eine gewisse Weichheit nicht fehlt. Und flexibler als je zuvor passt sie sich jedem von der Musik verlangten Ausdruck an, singt geigerisch in den Kantilenen, perlt spielerisch in den virtuosen Passagen und mischt durch genauestes Hören ihre Akkorde präzise ab. Das Resultat dieses Zusammenspiels ist eine unverbraucht frische Darbietung von drei unterschiedlichen Werken aus verschiedensten Epochen. Diese würden zweifelsohne mehr Hörer verlangen als die wenigen Anwesenden, die den ohnehin kleinen Konzertsaal des Freien Musikzentrums nicht einmal zur Hälfte füllten.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Eine Stunde ein Wimpernschlag – Schubert in Vollendung

Das Trio Ars et Labor im Münchner Freien Musikzentrum

In einer Zeit der Fragmentierung und selbstdarstellerischen Veräußerung, in welcher die Mainstream-Medien in ihrem aussichtslosen Überlebenskampf zu den Knechten einflussreicher Geldgeber mutiert sind und notgedrungen weit überwiegend Hofberichterstattung betreiben, erfüllt ein unabhängiges Medium wie The New Listener eine unentbehrliche Funktion im Bereich der Musik, die außer durch das Abfeiern von Stars, Events und Skandälchen sowohl in den völlig dekadenten Öffentlih-Rechtlichen Anstalten als auch in den Feuilletons und der sogenannten Fachpresse fast durchweg ignoriert wird. Ein Konzert wie das den Trio Ars et Labor aus Perugia, das eben nicht aus Stars, sondern schlicht aus höchstkarätigen, traumwandlerisch aufeinander eingespielten Musikern besteht, wird eben nicht nur nicht von den etablierten Kritikern der ‚Weltstadt mit Herz’ ignoriert, sondern findet quasi außerhalb des Betriebs statt. Diese Musiker müssten im Herkulessaal in einer der großen Reihen spielen, doch sie treten im Abschlusskonzert eines Symposiums im Freien Musikzentrum statt, einer wunderbaren Institution, die Münchner Konzertgängern – sofern sie auf klassische Konzerte spezialisiert sind – so gut wie kein Begriff ist. Und dort war nun am Samstag, den 8. Oktober das letzte Klaviertrio von Franz Schubert in einer Vollendung zu hören, wie dies alle Anwesenden in ihrem Leben noch nicht erlebt hatten – jenes Franz Schubert, der seinerzeit von den hochnäsigen Wienern ebenso ignoriert wurde wie dies heute Musikern widerfahren kann, die sich nicht vom Starsystem auspressen und hypen lassen. Oliver Fraenzke als Chefredakteur von The New Listener gebührt entsprechender Dank für seine Neugier und Courage, das klassische Musikleben quasi von unten aufzurollen, und er hat den einmütigen Eindruck, den die Zuhörer dieses singulären Konzerts mitnahmen, treffend wiedergegeben, soweit dies möglich ist. Ja, die Zeit stand still für mehr als eine Stunde, und wer dabei war, konnte sich glücklich schätzen, einen Schubert gehört zu haben, wie er zumindest seit Celibidaches Wirken mit dieser Kraft der Verinnerlichung als erlebter Gesamtzusammenhang in München nicht zu hören war – also für mehr als zwei Jahrzehnte.

Die Schweizer Pianistin Christa Bützberger, Mentorin und Seele des Ars et Labor-Projekts in einem Land, dessen kultureller Verfall noch weit offenkundiger als hierzulande ist, hat zehn Jahre lang bei Celibidache studiert. Sie gehört zu den wenigen, die offensichtlich verstanden haben, was Celibidache lehrte und vorlebte. Zu Beginn erklang die knappe, dreisätzige Duo-Sonate von Heinz Tiessen (1887-1971), eines der großen expressionistischen Meisterwerke dissonanter Freitonalität der Berliner Szene in der Weimarer Republik, und bis heute nicht auf Tonträger eingespielt. Wie lange wird es wohl noch dauern, bis Tiessen und seinem Schüler Eduard Erdmann der Rang als zwei der bedeutendsten deutschen Komponisten des 20. Jahrhunderts eingeräumt wird? Im Dritten Reich massiv unterdrückt, hatten sie nie eine Lobby, die sich um die Verbreitung ihrer Werke kümmerte, wie dies jüdischen Komponisten und einigen prominenten Vertretern zuteil wurde. Aber dafür ist es nie zu spät, wenn auch der posthume Ruhm dem Komponisten selbst nicht mehr in den Schoß fällt – doch das gilt ja auch für Schubert. Sara Gianfriddo und Christa Bützberger vermittelten uns mit ihrer so innig musikalischen wie herausfordernd wagemutigen Wiedergabe weit mehr als nur einen nachhaltigen Eindruck, welch großartiges Kaliber musikalischer Erfindung und Gestaltung hier der Vergessenheit entrissen wird. Tiessen gehörte keiner Schule an. Einflüsse des avancierten Richard Strauss und Arnold Schönbergs sind hier zu etwas vollkommen Eigenem, in seiner Authentizität Mitreißendem und zutiefst Berührendem transformiert, und die teils extremen technischen Schwierigkeiten sollten kein Duo von Rang abschrecken, sich mit dieser Musik zu beschäftigen, die mit einer Bewusstheit ohnegleichen durch den freitonalen Raum moduliert und keinen Wunsch offenlässt außer dem, sie so oft wie möglich auf einem solchen Niveau hören zu können.

Danach – ohne Pause – das Klaviertrio in Es-Dur op. 100 von Franz Schubert in der Originalfassung, also ohne die Kürzungen im Finale, die Schubert in seiner Verzweiflung, nicht einmal von seinen besten Freunden verstanden zu werden, für die Drucklegung – die er gerade nicht mehr erleben sollte, und die den Beginn seines Durchbruchs im großen Format markieren sollte – vornahm. So erst kann dieser Satz – und damit das ganze Werk – in seiner ganzen Fülle und nur wieder von Bruckner erreichten großen Dimension wirken. Man muss erlebt haben, wie die Geigerin Sara Gianfriddo und die Cellistin Héloïse Piolat wie zu einem Wesen verschmolzen in der Tongebung, Phrasierung und subtilsten Elastizität des Tempos, und wie Christa Bützberger – auf dem nun wahrlich nicht optimalen Yamaha-Flügel des FMZ – das Ganze trug, jede Schattierung hörbar machend, ohne dass auch nur ein Moment Selbstzweck würde. Alles dient der Formentwicklung als Ganzes. Die ergreifende Innigkeit hat überhaupt nichts zu tun mit schmachtender Sentimentalität, und ebenso nichts mit abstrakter Nüchternheit. Die Hörer wurden mit dem Dreiklangsmotiv des Beginns in Empfang genommen und mit der Coda des Finalsatzes entlassen. Was dazwischen war, entzieht sich in der Essenz jeder Beschreibung. Als hätte man ein ganzes Leben, in vier Stationen gegliedert, in einer guten Stunde durchschritten, durchlitten, durchlebt. Die frappierende Makellosigkeit der Aufführung zu bestaunen ergab sich sozusagen keine Gelegenheit, da der Spannungsbogen so unwiderstehlich und bruchlos errichtet wurde, dass jeder Gedanke, der einen Aspekt herausgegriffen und gesondert bewundert hätte, sich zerstörerisch auf das Erleben ausgewirkt hätte.  Jedoch sei erwähnt, dass die Modulationen mit einer Feinsinnigkeit und visionären Gestaltungskraft einmaliger Qualität ausgehört uns ausmusiziert wurden, dass die das Metrum transzendierende Artikulation keinen Anflug von Schwere zuließ, dass die Tongebung auch im fernsten Pianissimo noch substanziell und im machtvollsten Fortissimo nie grob war, dass in all der Manifestation unerschöpflicher Mannigfaltigkeit nie ein Effekt um des Effekts willen produziert wurde, der Rhythmus aufs Natürlichste ausschwang, die Musik ihren ganz eigenen Sog frei entfalten konnte, bei aller Disziplin des gemeinsamen Erfassens eine ideale Freiheit der Gestaltung erreicht wurde. Die Zeit verging wie im Fluge, sozusagen eine Stunde ein Wimpernschlag.

[Christoph Schlüren, Oktober 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Und die Zeit steht still

Den musikalischen Abschluss des dreitätigen interdisziplinären Symposiums „Vergleichzeitigung. Resonanzen durch Musik“ vom 06. bis 08. Oktober 2016 im Münchner Freien Musikzentrum bildet ein Konzert des Trios Ars et Labor aus Perugia mit Christa Bützberger am Klavier, Sara Gianfriddo an der Violine und Hélioïse Piolat als Cellistin. Auf dem Programm steht das große letzte Klaviertrio Franz Schuberts, Es-Dur D. 929, sowie zuvor die Duo-Sonate op. 35 für Violine und Klavier von Heinz Tiessen.

Welch ein musikalischer Höhepunkt ist dieses Konzert nach dem Symposium über Vergleichzeitigung, an welches es so nahtlos anschließt. Nicht nur, dass die Pianistin des Trios Ars et Labor, Christa Bützberger, selbst am Vortag noch einen Vortrag über die Aktualisierung und Vergleichzeitigung in Schuberts Es-Dur-Klaviertrio D. 929 hielt, nein, auch wurde die lang theoretisch besprochene musikalische Phänomenologie hier in der Praxis erlebbar.

Das Symposium schloss die Phänomenologie von mehreren Seiten aus ein, am ersten Tag gab es interdisziplinäre Vorträge aus den Bereichen der Religionswissenschaft, der Psychologie und der Philosophie, vor allem wurden hierbei die transzendierenden Zustände des menschlichen Bewusstseins beim Hören von Musik thematisiert sowie der Vorgang im menschlichen Gehirn. Der zweite Tag widmete sich hauptsächlich der Musik, nach einer eröffnenden Performance von Gunter Pretzel auf der Bratsche folgte der phantastische Vortrag von Christa Bützberger, die einem das harmonische Geschehen in der Musik Schuberts (und auch allgemein) so greifbar nahe bringen und auch die Liebe zu dieser Musik vermitteln konnte. Prof. Dr. Wolfgang-Andreas Schultz weckte die Erinnerungen an die elementare Formlehre, gerade die kadenzierenden Schlüsse in ihrer Mannigfaltigkeit zeigte er anhand einer Sonate von Mozart. Christoph Schlüren sprach über „Korrelation und Transzendenz in der Musik“, stieß dabei gewagt etliche Thesen über die Entwicklung der abendländischen Musik wie die „Gewöhnungs-Theorie“ (Konsonanzen und Quinten-Zirkel seien bloße Konditionierung und nicht naturgegeben) um und konnte auf voller Linie überzeugen. Einen nie so erlebten Zugang zur Musik legte Juan José Chuquisengo dar, der peruanische Meister rekonstruierte Stück für Stück ein berühmtes Klavierwerk, angefangen bei der Rhythmik, welche er das Publikum in Takte und Schläge einteilen ließ (womit er auf absolute Überforderung stieß, welche Überraschung bei solch hoch gebildeten, musikalisch professionellen und teils prominenten Zuhörern!). Später folgten absichtlich verfälschte Tonhöhen, dann ein Harmoniegerüst und erst nach über einer halben Stunde kam das Publikum langsam erstaunt auf die simple wie überraschende Lösung: Es handelte sich um Clair de Lune von Chaude Debussy – das grundlegende Verständnis von Musik wurde hier innerhalb einer Stunde revolutioniert! Ein religionswissenschaftlicher Vortrag über Rituale rundete den Tag ab. Der dritte Tag brachte einen grandiosen medizinisch-psychologischen Vortrag von Prof. Ernst Pöppel über die Beeinflussung des musikalischen Zeitmaßes durch das Gehirn, eine Podiumsdiskussion mit dem nun 80 Jahre alt gewordenen Hans Zender, bei welchem sogar Zuschauer vor Empörung über das Unverständnis dieses eigentlich angesehenen Komponisten (dem am Vortag ein ganzes Konzert der Musica Viva gewidmet war) den Saal verließen, ein Gespräch zwischen Prof. Dr. h.c. Peter Michael Hamel und Christoph Schlüren sowie eine von Hamel geleitete kollektive Stimmimprovisation mit dem Publikum.

Das Konzert des Trios Ars et Labor am Abend des 08. Oktober beginnt mit der Duo-Sonate von Heinz Tiessen, dem wichtigsten Lehrer von Sergiu Celibidache („ich habe alles von Tiessen gelernt“) sowie von Eduard Erdmann, dem unangefochten größten deutschen Pianisten, von welchem Aufnahmen erhalten sind. Das 1925 entstandene dreisätzige Werk Tiessens ist ein absolutes Meisterstück des Expressionismus und geht in freier Tonalität an die Grenzen des Korrelierbaren (oder sogar darüber hinaus?). Dieses selten gespielte Werk höre ich heute das erste Mal und kann offen gestehen, es bei einmaligem Hören noch nicht vollständig durchdrungen zu haben – so komplex und vertrackt, in solch einem gewaltigen allumfassenden Bogen, dessen zentrifugale Kräfte an die Grenzen des Wahrnehmbaren reichen. Doch glaube ich, dennoch relativ viel von der Musik zu verstanden zu haben, und dies ist nicht mein Verdienst, sondern das der Musiker. Die verzweigten Melodien sind von fein gefühlter Phrasierung, die stark erweiterte Harmonik absolut nachvollziehbar. Plötzlich ziehen dichte Wolken auf und es donnert musikalisch, doch auch das heftigste Aufbegehren bleibt geschmeidig und ohne grobe Härte.

Im direkten Anschluss gibt es Schuberts letztes Klaviertrio Es-Dur D. 929, welchem er die Opuszahl 100 verliehen hat. Dieses Stück sollte Schuberts Durchbruch sein, wenngleich er diesen nicht mehr erlebte, einen Monat vor der finalen Drucklegung verstarb der Meister viel zu früh. Doch hatte er es selbst noch einige Male hören dürfen, die Kritik war begeistert, doch einige Freunde nannten den Finalsatz zu lang. So nahm Schubert zwei große Kürzungen in der Durchführung vor, über einhundert Takte fielen – scheinbar für alle Zeit – aus dem Text heraus und wurden nicht mitgedruckt. Erst in den 1970er-Jahren wurde in einer neuen Ausgabe das wiederentdeckte Manuskript berücksichtigt und die eigentliche Fassung wiederhergestellt, diese ist heute zu hören. Und die Welt hat was verpasst: Welche Magie steckt in den gestrichenen Passagen, welch unfassbare harmonische Genialität und welch ein finalkonvergenter Höhepunkt, der an einer Stelle die Themen aller Sätze zusammenlaufen und damit verblüffen lässt!

Das Trio verzaubert! Ich übertreibe nicht, zu sagen, dass dies mit Abstand der beste Schubert ist, den ich je gehört habe. Die Musiker fühlen alle Nuancierungen der harmonischen Spannung und setzen diese auf einmalige Weise um, dass es einem direkt den Boden unter den Füßen wegzuziehen scheint. Jedes Spannungsverhältnis ist von innen heraus gefühlt, die Übergänge geschmeidig fließend und zu keiner Zeit gibt es nur den geringsten Abfall an Energie. Und wenn nicht schon beim ersten Satz, so bleibt spätestens im Andante con moto die Zeit stehen – die während der Vorträge so viel besprochene Zeitlosigkeit ist hier am eigenen Leib zu erfahren. Sogar den weiträumigen vierten Satz spielen die Musiker in einem Zug ohne Ecken und Kanten in unwiderstehlich organischer Formung. Vom Klavier aus hält Christa Bützberger das Trio musikalisch zusammen und leitet mit größter Geschmeidigkeit. Ihr Spiel ist farbenreich in unzähligen dynamischen wie artikulatorischen Abstufungen, dabei von ungezwungener Leichtigkeit und mit einer atemberaubenden Zuneigung zur Musik, die in jedem Ton spürbar wird. Einen lockeren Ton hat Sara Gianfriddo an der Violine, sie schwingt sich spielerisch in die Höhen und besticht mit einem erhabenen und doch so nahen Ton voll von innerem Gefühl und unverfälschtem Ausdruck. Am Violoncello begeistert Hélioïse Piolat, selten ist eine so unprätentiöse Cellistin zu hören, sie stellt sich nicht mit übermäßigem Vibrato und überzogenen Dynamiken zur Schau, wie es so oft zu hören ist, sondern vertraut der Feingliedrigkeit und dem zentrierten Bewusstsein über die Musik, womit sie ausnahmslos überzeugt. Die Musiker beherrschen auch den Raum und vermögen, ihn komplett auszufüllen: Einmal will ich mich fast umdrehen, da ich mir sicher bin, das Klavier in seiner hohen Lage hinter mir gehört zu haben. So sind die drei Musikerinnen bei aller Synchronizität und ihrem unzertrennlich verbundenen Zusammenwirken doch auch noch Individuen, die ihren Teil zur Musik beitragen und wie von unterschiedlichen Ecken des Raums auf das Publikum eindringen.

Nach dem Konzert ist es lange still, so in den Bann genommen sind die Zuhörer noch, und auch nach dem tosenden Applaus bleibt das Publikum wie gefesselt – nur langsam wird gewahr, dass dieser unvergleichliche Abend bereits vorüber ist.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Hochdramatische Feuertaufe und Quintettorchester

Im britischen Klassikmagazin Gramophone gab es eine Rubrik, in welcher Kritikernestor Robert Layton Kritiken jüngerer Kollegen nachträglich kritisch unter die Lupe nahm und sozusagen Kritik an der Kritik übte. Das ist sicher eine originelle Idee, und mehr Kritik an der Kritik wäre dringend allgemein vonnöten. Nun haben wir zwar nicht vor, dergleichen bei The New Listener einzuführen, doch mit dem Eklat um die Kritik von Josef Rottweiler zum Konzert im Freien Musikzentrum München am 22. April liegt ein Fall vor, dem weitere Klarstellung gut tut. Da der Verfasser dieser Zeilen im Konzert auch zugegen war, möchte er nunmehr eine dritte Stimme hinzufügen, um das Spektrum des Wahrgenommenen zu erweitern.

Das Konzert, in dessen erster Hälfte der in München lebende peruanische Meisterpianist Juan José Chuquisengo erstmals als Komponist vor die deutsche Öffentlichkeit trat, begann mit einem Arrangement Chuquisengos von Mariano Mores’ (1918-2016) populärer Milonga ‚Taquito militar’ für Violine und Klavier, vortrefflich im spielerischen Charakter erfasst von Rebekka Hartmann und Ottavia Maceratini. Danach spielte Frau Maceratini eine rauschhafte Klavierfantasie von Chuquisengo, die sie elf Tage zuvor in Zürich zur sehr erfolgreichen Uraufführung gebracht hatte (siehe die entsprechende Zürcher Kritik bei The New Listener) – und die sie hier noch differenzierter und souveräner zu gestalten verstand: ‚Guerrero Andino’, ein technisch äußerst herausforderndes, ungeheuer klangschönes Werk, das eine immense Stilbreite quasi indigener Stilelemente vorstellt, ohne je Volksweisen zu zitieren, und nach Ansicht vieler prädestiniert, ein erfolgreiches Repertoirestück zu werden.

Dem folgte die Uraufführung der 2014 entstandenen und 2015 überarbeiteten ‚Tango-Metamorphosen’ von Chuquisengo für Streichquintett unter der sehr musikalischen Leitung des Komponisten. Er erwies sich darin auch als durchaus begabter Dirigent, der sicher noch das rechte durchgehende Maß zwischen Aktion und Geschehenlassen finden muss – ein paar Mal hatte man den Eindruck, dass er so sehr beim Zuhören war, dass er fast das Dirigieren vergessen hätte. Umso inniger glückte vieles in dieser Aufführung. An einigen besonders komplexen Stellen in diesem so überreichen, hochdramatischen, wahrhaft symphonisch gebauten großen einsätzigen Werk, das ursprünglich als Hommage an Astor Piazzolla betitelt war, kam es zu kleineren Unfällen, und einmal stieg eine Beteiligte für längere Zeit aus und spielte trotzdem weiter, was für ein paar Takte harmonisches Chaos sorgte. So etwas ist bei Uraufführungen immer wieder passiert, es gehört sozusagen zum Abenteuer der Feuertaufe dazu, und doch kann man den Musikern, die in kürzester Zeit (bedingt durch Erkrankung zunächst zur Mitwirkung vorgesehener Kollegen) das kontrapunktisch und rhythmisch sehr komplexe Werk erstaunlich gut umzusetzen verstanden, nur hohen Respekt zollen, und das Publikum war zutiefst ergriffen und begeistert von dieser so wild ungestümen wie zärtlich gesangvollen Musik, die organisch zielsicher unterschiedlichste Aggregatzustände durchwandelt. Chuquisengo hat das Zeug zu ganz Großem und dürfte als Komponist bald zu hohen Ehren kommen.

Nach der Pause spielten zunächst Rebekka Hartmann und Shasta Ellenbogen drei wunderschön einfache Canzonettas vom großen neuseeländischen Meister Douglas Lilburn (1915-2001), wobei die so einfache Pizzicato-Begleitung der Bratsche in der ersten Canzonetta rhythmisch sehr unstet ausfiel. Ansonsten war der Vortrag sehr ausdrucksvoll und fesselnd. Im folgenden Duo für zwei Violinen, im Zusammenspiel nicht ganz so beglückend, konnte man Lilburns große Kunst freier kontrapunktischer Gestaltung bewundern. Wer nicht ideologiebelastet an diese Musik herangeht, also sich nicht damit aufhalten muss, dass zu dieser Zeit Boulez, Nono oder Xenakis viel „modernere“ Musik geschrieben haben, kann erfahren, welch große Kunst in vollendeter Einfachheit und auch erfüllter Sparsamkeit der Mittel liegen kann.

Gestalterischer Höhepunkt des Konzerts war zweifellos das erste Klavierkonzert in C-Dur von Beethoven in der Streicherfassung Vinzenz Lachners. Ja, es war wirklich erstaunlich, wie orchestral das Quintett erklang, und man kann von Ottavia Maria Maceratini nur sagen, dass man lange herumreisen muss, um jemanden zu hören, der dieses Konzert heute ähnlich überzeugend darbieten könnte. Wenn viele Zuhörer hier von Weltklasse sprachen, kann man ihnen nur gelassen beipflichten. Sicher, der langsame Satz vertrüge mehr Ruhe und eine tiefere Erforschung der introvertierten Dimension, der Schattenanteile der Musik; und das Finale war an der absoluten Tempoobergrenze orientiert, das war kein Allegro mehr, sondern ein Presto – aber so gespielt, so artikuliert war es einfach bezwingend. Schwierig allerdings für die Streicher, in dem rasanten Tempo zu entsprechendem Klang zu finden, da müsste man es wohl noch ein paar Mal spielen. Ganz besonders gelungen war auf jeden Fall der Kopfsatz, und insgesamt war das alles von einer frappierenden Musikalität und organisch entwickelten Logik des Aufbaus, eine echte Freude. Wir sind sehr gespannt, was wir von diesen Musikern noch hören werden.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, April 2016]