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[Rezensionen im Vergleich] Eine Stunde ein Wimpernschlag – Schubert in Vollendung

Das Trio Ars et Labor im Münchner Freien Musikzentrum

In einer Zeit der Fragmentierung und selbstdarstellerischen Veräußerung, in welcher die Mainstream-Medien in ihrem aussichtslosen Überlebenskampf zu den Knechten einflussreicher Geldgeber mutiert sind und notgedrungen weit überwiegend Hofberichterstattung betreiben, erfüllt ein unabhängiges Medium wie The New Listener eine unentbehrliche Funktion im Bereich der Musik, die außer durch das Abfeiern von Stars, Events und Skandälchen sowohl in den völlig dekadenten Öffentlih-Rechtlichen Anstalten als auch in den Feuilletons und der sogenannten Fachpresse fast durchweg ignoriert wird. Ein Konzert wie das den Trio Ars et Labor aus Perugia, das eben nicht aus Stars, sondern schlicht aus höchstkarätigen, traumwandlerisch aufeinander eingespielten Musikern besteht, wird eben nicht nur nicht von den etablierten Kritikern der ‚Weltstadt mit Herz’ ignoriert, sondern findet quasi außerhalb des Betriebs statt. Diese Musiker müssten im Herkulessaal in einer der großen Reihen spielen, doch sie treten im Abschlusskonzert eines Symposiums im Freien Musikzentrum statt, einer wunderbaren Institution, die Münchner Konzertgängern – sofern sie auf klassische Konzerte spezialisiert sind – so gut wie kein Begriff ist. Und dort war nun am Samstag, den 8. Oktober das letzte Klaviertrio von Franz Schubert in einer Vollendung zu hören, wie dies alle Anwesenden in ihrem Leben noch nicht erlebt hatten – jenes Franz Schubert, der seinerzeit von den hochnäsigen Wienern ebenso ignoriert wurde wie dies heute Musikern widerfahren kann, die sich nicht vom Starsystem auspressen und hypen lassen. Oliver Fraenzke als Chefredakteur von The New Listener gebührt entsprechender Dank für seine Neugier und Courage, das klassische Musikleben quasi von unten aufzurollen, und er hat den einmütigen Eindruck, den die Zuhörer dieses singulären Konzerts mitnahmen, treffend wiedergegeben, soweit dies möglich ist. Ja, die Zeit stand still für mehr als eine Stunde, und wer dabei war, konnte sich glücklich schätzen, einen Schubert gehört zu haben, wie er zumindest seit Celibidaches Wirken mit dieser Kraft der Verinnerlichung als erlebter Gesamtzusammenhang in München nicht zu hören war – also für mehr als zwei Jahrzehnte.

Die Schweizer Pianistin Christa Bützberger, Mentorin und Seele des Ars et Labor-Projekts in einem Land, dessen kultureller Verfall noch weit offenkundiger als hierzulande ist, hat zehn Jahre lang bei Celibidache studiert. Sie gehört zu den wenigen, die offensichtlich verstanden haben, was Celibidache lehrte und vorlebte. Zu Beginn erklang die knappe, dreisätzige Duo-Sonate von Heinz Tiessen (1887-1971), eines der großen expressionistischen Meisterwerke dissonanter Freitonalität der Berliner Szene in der Weimarer Republik, und bis heute nicht auf Tonträger eingespielt. Wie lange wird es wohl noch dauern, bis Tiessen und seinem Schüler Eduard Erdmann der Rang als zwei der bedeutendsten deutschen Komponisten des 20. Jahrhunderts eingeräumt wird? Im Dritten Reich massiv unterdrückt, hatten sie nie eine Lobby, die sich um die Verbreitung ihrer Werke kümmerte, wie dies jüdischen Komponisten und einigen prominenten Vertretern zuteil wurde. Aber dafür ist es nie zu spät, wenn auch der posthume Ruhm dem Komponisten selbst nicht mehr in den Schoß fällt – doch das gilt ja auch für Schubert. Sara Gianfriddo und Christa Bützberger vermittelten uns mit ihrer so innig musikalischen wie herausfordernd wagemutigen Wiedergabe weit mehr als nur einen nachhaltigen Eindruck, welch großartiges Kaliber musikalischer Erfindung und Gestaltung hier der Vergessenheit entrissen wird. Tiessen gehörte keiner Schule an. Einflüsse des avancierten Richard Strauss und Arnold Schönbergs sind hier zu etwas vollkommen Eigenem, in seiner Authentizität Mitreißendem und zutiefst Berührendem transformiert, und die teils extremen technischen Schwierigkeiten sollten kein Duo von Rang abschrecken, sich mit dieser Musik zu beschäftigen, die mit einer Bewusstheit ohnegleichen durch den freitonalen Raum moduliert und keinen Wunsch offenlässt außer dem, sie so oft wie möglich auf einem solchen Niveau hören zu können.

Danach – ohne Pause – das Klaviertrio in Es-Dur op. 100 von Franz Schubert in der Originalfassung, also ohne die Kürzungen im Finale, die Schubert in seiner Verzweiflung, nicht einmal von seinen besten Freunden verstanden zu werden, für die Drucklegung – die er gerade nicht mehr erleben sollte, und die den Beginn seines Durchbruchs im großen Format markieren sollte – vornahm. So erst kann dieser Satz – und damit das ganze Werk – in seiner ganzen Fülle und nur wieder von Bruckner erreichten großen Dimension wirken. Man muss erlebt haben, wie die Geigerin Sara Gianfriddo und die Cellistin Héloïse Piolat wie zu einem Wesen verschmolzen in der Tongebung, Phrasierung und subtilsten Elastizität des Tempos, und wie Christa Bützberger – auf dem nun wahrlich nicht optimalen Yamaha-Flügel des FMZ – das Ganze trug, jede Schattierung hörbar machend, ohne dass auch nur ein Moment Selbstzweck würde. Alles dient der Formentwicklung als Ganzes. Die ergreifende Innigkeit hat überhaupt nichts zu tun mit schmachtender Sentimentalität, und ebenso nichts mit abstrakter Nüchternheit. Die Hörer wurden mit dem Dreiklangsmotiv des Beginns in Empfang genommen und mit der Coda des Finalsatzes entlassen. Was dazwischen war, entzieht sich in der Essenz jeder Beschreibung. Als hätte man ein ganzes Leben, in vier Stationen gegliedert, in einer guten Stunde durchschritten, durchlitten, durchlebt. Die frappierende Makellosigkeit der Aufführung zu bestaunen ergab sich sozusagen keine Gelegenheit, da der Spannungsbogen so unwiderstehlich und bruchlos errichtet wurde, dass jeder Gedanke, der einen Aspekt herausgegriffen und gesondert bewundert hätte, sich zerstörerisch auf das Erleben ausgewirkt hätte.  Jedoch sei erwähnt, dass die Modulationen mit einer Feinsinnigkeit und visionären Gestaltungskraft einmaliger Qualität ausgehört uns ausmusiziert wurden, dass die das Metrum transzendierende Artikulation keinen Anflug von Schwere zuließ, dass die Tongebung auch im fernsten Pianissimo noch substanziell und im machtvollsten Fortissimo nie grob war, dass in all der Manifestation unerschöpflicher Mannigfaltigkeit nie ein Effekt um des Effekts willen produziert wurde, der Rhythmus aufs Natürlichste ausschwang, die Musik ihren ganz eigenen Sog frei entfalten konnte, bei aller Disziplin des gemeinsamen Erfassens eine ideale Freiheit der Gestaltung erreicht wurde. Die Zeit verging wie im Fluge, sozusagen eine Stunde ein Wimpernschlag.

[Christoph Schlüren, Oktober 2016]

[Rezensionen im Vergleich] Und die Zeit steht still

Den musikalischen Abschluss des dreitätigen interdisziplinären Symposiums „Vergleichzeitigung. Resonanzen durch Musik“ vom 06. bis 08. Oktober 2016 im Münchner Freien Musikzentrum bildet ein Konzert des Trios Ars et Labor aus Perugia mit Christa Bützberger am Klavier, Sara Gianfriddo an der Violine und Hélioïse Piolat als Cellistin. Auf dem Programm steht das große letzte Klaviertrio Franz Schuberts, Es-Dur D. 929, sowie zuvor die Duo-Sonate op. 35 für Violine und Klavier von Heinz Tiessen.

Welch ein musikalischer Höhepunkt ist dieses Konzert nach dem Symposium über Vergleichzeitigung, an welches es so nahtlos anschließt. Nicht nur, dass die Pianistin des Trios Ars et Labor, Christa Bützberger, selbst am Vortag noch einen Vortrag über die Aktualisierung und Vergleichzeitigung in Schuberts Es-Dur-Klaviertrio D. 929 hielt, nein, auch wurde die lang theoretisch besprochene musikalische Phänomenologie hier in der Praxis erlebbar.

Das Symposium schloss die Phänomenologie von mehreren Seiten aus ein, am ersten Tag gab es interdisziplinäre Vorträge aus den Bereichen der Religionswissenschaft, der Psychologie und der Philosophie, vor allem wurden hierbei die transzendierenden Zustände des menschlichen Bewusstseins beim Hören von Musik thematisiert sowie der Vorgang im menschlichen Gehirn. Der zweite Tag widmete sich hauptsächlich der Musik, nach einer eröffnenden Performance von Gunter Pretzel auf der Bratsche folgte der phantastische Vortrag von Christa Bützberger, die einem das harmonische Geschehen in der Musik Schuberts (und auch allgemein) so greifbar nahe bringen und auch die Liebe zu dieser Musik vermitteln konnte. Prof. Dr. Wolfgang-Andreas Schultz weckte die Erinnerungen an die elementare Formlehre, gerade die kadenzierenden Schlüsse in ihrer Mannigfaltigkeit zeigte er anhand einer Sonate von Mozart. Christoph Schlüren sprach über „Korrelation und Transzendenz in der Musik“, stieß dabei gewagt etliche Thesen über die Entwicklung der abendländischen Musik wie die „Gewöhnungs-Theorie“ (Konsonanzen und Quinten-Zirkel seien bloße Konditionierung und nicht naturgegeben) um und konnte auf voller Linie überzeugen. Einen nie so erlebten Zugang zur Musik legte Juan José Chuquisengo dar, der peruanische Meister rekonstruierte Stück für Stück ein berühmtes Klavierwerk, angefangen bei der Rhythmik, welche er das Publikum in Takte und Schläge einteilen ließ (womit er auf absolute Überforderung stieß, welche Überraschung bei solch hoch gebildeten, musikalisch professionellen und teils prominenten Zuhörern!). Später folgten absichtlich verfälschte Tonhöhen, dann ein Harmoniegerüst und erst nach über einer halben Stunde kam das Publikum langsam erstaunt auf die simple wie überraschende Lösung: Es handelte sich um Clair de Lune von Chaude Debussy – das grundlegende Verständnis von Musik wurde hier innerhalb einer Stunde revolutioniert! Ein religionswissenschaftlicher Vortrag über Rituale rundete den Tag ab. Der dritte Tag brachte einen grandiosen medizinisch-psychologischen Vortrag von Prof. Ernst Pöppel über die Beeinflussung des musikalischen Zeitmaßes durch das Gehirn, eine Podiumsdiskussion mit dem nun 80 Jahre alt gewordenen Hans Zender, bei welchem sogar Zuschauer vor Empörung über das Unverständnis dieses eigentlich angesehenen Komponisten (dem am Vortag ein ganzes Konzert der Musica Viva gewidmet war) den Saal verließen, ein Gespräch zwischen Prof. Dr. h.c. Peter Michael Hamel und Christoph Schlüren sowie eine von Hamel geleitete kollektive Stimmimprovisation mit dem Publikum.

Das Konzert des Trios Ars et Labor am Abend des 08. Oktober beginnt mit der Duo-Sonate von Heinz Tiessen, dem wichtigsten Lehrer von Sergiu Celibidache („ich habe alles von Tiessen gelernt“) sowie von Eduard Erdmann, dem unangefochten größten deutschen Pianisten, von welchem Aufnahmen erhalten sind. Das 1925 entstandene dreisätzige Werk Tiessens ist ein absolutes Meisterstück des Expressionismus und geht in freier Tonalität an die Grenzen des Korrelierbaren (oder sogar darüber hinaus?). Dieses selten gespielte Werk höre ich heute das erste Mal und kann offen gestehen, es bei einmaligem Hören noch nicht vollständig durchdrungen zu haben – so komplex und vertrackt, in solch einem gewaltigen allumfassenden Bogen, dessen zentrifugale Kräfte an die Grenzen des Wahrnehmbaren reichen. Doch glaube ich, dennoch relativ viel von der Musik zu verstanden zu haben, und dies ist nicht mein Verdienst, sondern das der Musiker. Die verzweigten Melodien sind von fein gefühlter Phrasierung, die stark erweiterte Harmonik absolut nachvollziehbar. Plötzlich ziehen dichte Wolken auf und es donnert musikalisch, doch auch das heftigste Aufbegehren bleibt geschmeidig und ohne grobe Härte.

Im direkten Anschluss gibt es Schuberts letztes Klaviertrio Es-Dur D. 929, welchem er die Opuszahl 100 verliehen hat. Dieses Stück sollte Schuberts Durchbruch sein, wenngleich er diesen nicht mehr erlebte, einen Monat vor der finalen Drucklegung verstarb der Meister viel zu früh. Doch hatte er es selbst noch einige Male hören dürfen, die Kritik war begeistert, doch einige Freunde nannten den Finalsatz zu lang. So nahm Schubert zwei große Kürzungen in der Durchführung vor, über einhundert Takte fielen – scheinbar für alle Zeit – aus dem Text heraus und wurden nicht mitgedruckt. Erst in den 1970er-Jahren wurde in einer neuen Ausgabe das wiederentdeckte Manuskript berücksichtigt und die eigentliche Fassung wiederhergestellt, diese ist heute zu hören. Und die Welt hat was verpasst: Welche Magie steckt in den gestrichenen Passagen, welch unfassbare harmonische Genialität und welch ein finalkonvergenter Höhepunkt, der an einer Stelle die Themen aller Sätze zusammenlaufen und damit verblüffen lässt!

Das Trio verzaubert! Ich übertreibe nicht, zu sagen, dass dies mit Abstand der beste Schubert ist, den ich je gehört habe. Die Musiker fühlen alle Nuancierungen der harmonischen Spannung und setzen diese auf einmalige Weise um, dass es einem direkt den Boden unter den Füßen wegzuziehen scheint. Jedes Spannungsverhältnis ist von innen heraus gefühlt, die Übergänge geschmeidig fließend und zu keiner Zeit gibt es nur den geringsten Abfall an Energie. Und wenn nicht schon beim ersten Satz, so bleibt spätestens im Andante con moto die Zeit stehen – die während der Vorträge so viel besprochene Zeitlosigkeit ist hier am eigenen Leib zu erfahren. Sogar den weiträumigen vierten Satz spielen die Musiker in einem Zug ohne Ecken und Kanten in unwiderstehlich organischer Formung. Vom Klavier aus hält Christa Bützberger das Trio musikalisch zusammen und leitet mit größter Geschmeidigkeit. Ihr Spiel ist farbenreich in unzähligen dynamischen wie artikulatorischen Abstufungen, dabei von ungezwungener Leichtigkeit und mit einer atemberaubenden Zuneigung zur Musik, die in jedem Ton spürbar wird. Einen lockeren Ton hat Sara Gianfriddo an der Violine, sie schwingt sich spielerisch in die Höhen und besticht mit einem erhabenen und doch so nahen Ton voll von innerem Gefühl und unverfälschtem Ausdruck. Am Violoncello begeistert Hélioïse Piolat, selten ist eine so unprätentiöse Cellistin zu hören, sie stellt sich nicht mit übermäßigem Vibrato und überzogenen Dynamiken zur Schau, wie es so oft zu hören ist, sondern vertraut der Feingliedrigkeit und dem zentrierten Bewusstsein über die Musik, womit sie ausnahmslos überzeugt. Die Musiker beherrschen auch den Raum und vermögen, ihn komplett auszufüllen: Einmal will ich mich fast umdrehen, da ich mir sicher bin, das Klavier in seiner hohen Lage hinter mir gehört zu haben. So sind die drei Musikerinnen bei aller Synchronizität und ihrem unzertrennlich verbundenen Zusammenwirken doch auch noch Individuen, die ihren Teil zur Musik beitragen und wie von unterschiedlichen Ecken des Raums auf das Publikum eindringen.

Nach dem Konzert ist es lange still, so in den Bann genommen sind die Zuhörer noch, und auch nach dem tosenden Applaus bleibt das Publikum wie gefesselt – nur langsam wird gewahr, dass dieser unvergleichliche Abend bereits vorüber ist.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2016]