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Tristan Meets Prokofieff

Hochschule für Musik und Theater München: Klavierfestival 2017
Studierende der Klasse Professor Antti Siirala

Am Donnerstag, den 2. Februar 2017 fand in der Hochschule im Rahmen des Klavierfestivals 2017 ein Abend mit Studierenden von Professor Antti Siirala statt.
Um es gleich vorweg zu sagen: Klavier spielen können sie natürlich alle, und wie! Aber das Spannende an diesem Klavier-Abend ist halt die Möglichkeit des Vergleichs.
Nicht bezüglich der Auswahl der Stücke, die von Johann Sebastian Bach bis zu Lowell Liebermann reichte, einem Komponisten, der 1961 geboren wurde und in Amerika lebt, sondern auch hinsichtlich der sehr persönlichen Art, mit der jede Spielerin, jeder Spieler sich und die Musik vorstellte.

Gabriel Reichert begann mit Bachs Toccata aus der Partita Nr. 6 in e-moll BWV 830. Man würde gerne noch mehr gerade von dieser Partita hören von diesem jungen Musiker. Natürlich hat es der erste besonders schwer, denn alles Andere folgte ja noch.

So sprang Yi Yi gleich buchstäblich ins kalte Wasser mit dem Stück „Gargoyles op.29“ von Lowell Liebermann. (Auch ich musste nachschauen, was Gargoyles eigentlich heißt.: Wasserspeier!) In dem Stück faszinierte mich persönlich der zweite Teil „Adagio semplice, ma con molto rubato“ am meisten. Es klang besonders gesanglich und war am unmittelbarsten zugänglich.

Erica Guo gefiel mit den ersten 12 Préludes op. 28 von Frédéric Chopin, von denen ja einige besonders bekannt sind und sicher einige Zuhörerinnen und Zuhörer an eigene Klavier-Versuche gemahnten.
Insgesamt kamen die Stücke gesanglich und mit schön gestaltetem Ton daher.

Vor der Pause bekamen wir von Junhyung Kim die „Trois mouvements de Pétrouchka“ von Igor Stravinsky zu hören. Natürlich sind diese drei Stücke ein Reißer, den uns Junhyung Kim auch mund- und hörgerecht servierte. Ein Entertainment für Herz und Ohren, mit aller körperlichen Energie dem Steinway-Flügel nicht nur entlockt, sondern auch knackig dargeboten. Die ziemlich einfachen, aber sehr eingängigen Melodien, mit denen Stravinsky seinen Pétrouchka da auftreten lässt, verfolgen einen natürlich noch in der Pause, auch die ganze rhythmische Attitüde ist aufs Beste in den Händen des Pianisten aufgehoben. Das Vergnügen, das er selbst am Spielen hat, überträgt sich durchaus auf die Zuhörer.

Nach der Pause zunächst die herrlichen Variationen f-moll Hob. XVII: 6 von Joseph Haydn. Ho-Yel Lee spielte sie mit feinstem Gespür für Melodik und Harmonik. Auch sein „Anschlag“ – welch ein grausiges Wort für dieses „Fingerspitzengefühl“ – ließ die Musik des so oft unterschätzten Joseph Haydn zur vollen Blüte kommen. Nach der Stravinsky’schen Musik war kaum ein größerer Gegensatz denkbar.

Amadeus Wiesensee hatte Liszts Transkription von Richard Wagners „Isoldens Liebestod“ aus Tristan und Isolde aufs Programm gesetzt. Mir schwante Schauerliches on solchen Unterfangens, aber: Wie groß war die Überraschung, als Wiesensee schon mit den ersten Anfangsakkorden dem Flügel einen wirklich magischen Klang entlockte, den er durchaus bis zum allerletzten verklingenden Ton beibehielt. Die Magie dieser Musik wurde in einem Maß erlebbar, die ich keinem der jungen Spielerinnen und Spieler zugetraut hätte. Aber Amadeus Wiesensee und sein – mir von früheren Konzerten bereits bekanntes – wunderbar ausgehörtes und erlebtes Klavierspiel machte die Wagnerschen Melodien und Harmonien zu einem unerhörten Erlebnis.

Was konnte danach denn überhaupt noch kommen? Nun. Die Choreographie des Abends – klug ausgewählt – brachte mit So-Hyang In und ihrem Stück, nämlich der 8. Sonate in B-Dur op.44 von Sergej Prokofieff, eines der beeindruckendsten Klavierwerke des 20. Jahrhunderts als Abschluss. Wie So-Hyang In dieses ungeheuerliche, dreisätzige Meisterwerk mit all ihrem Können und ihrer Kunst im großen Konzertsaal der Musikhochschule zur Aufführung brachte, verdient hohe Anerkennung und brachte ihr viele Bravos und Hervorrufe ein.
Diese achte von Prokofieffs Klaviersonaten – Emil Gilels gewidmet – ist ein Koloss. Mit einem langsamen Andante dolce beginnend, kommt es über ein Andante sognando (ein träumerisches Andante) zum letzten Satz, der nicht nur Vivace überschrieben ist, sondern der Spielerin alles an Kraft und Präsenz, aber auch an kluger Disposition abverlangt, was möglich ist. Diese Musik von Sergej Prokofieff  bewegte mich so sehr, dass ich sie – kaum zu Hause angelangt – sofort noch einmal bei Youtube  anhören musste, was natürlich nur ein schwacher Abglanz der Darbietung sein sollte, die mir an diesem Abend in der Münchner Musikhochschule geschenkt wurde.

[Ulrich Hermann, Februar 2017]

Ungesucht sich versenkende Gelassenheit

Wiesensee Süllberg 2015-12

Diesen Namen muss man sich merken: Der 1993 in Würzburg geborene, in München lebende Pianist Amadeus Wiesensee begeisterte das Publikum einer Weihnachts-Matinée in der Kulinarik-Hochburg Süllberg in Hamburg-Blankenese mit einem so vielseitigen wie anspruchsvollen Recitalprogramm. Ich hatte schon mehrfach zuvor Kollegen von ihm schwärmen gehört: Den musst du hören. Der wird seinen Weg machen. Eine ganz und gar außergewöhnliche Begabung. – Ich kann dem nach diesem Auftritt nur zustimmen. Anscheinend handelt es sich übrigens bei Amadeus Wiesensee mindestens um eine Doppelbegabung: Derzeit Student in der Klasse von Antti Siirala an der Münchner Musikhochschule, kann Wiesensee auch bereits ein abgeschlossenes Philosophiestudium vorweisen und wurde mit dem prestigeträchtigen ‚Amalia-Preis für neues Denken’ ausgezeichnet. Sein Spiel zeigt sich geprägt durch Reflexion, Diskretion, Balance, Wohlklang und Liebe fürs Detail, und nie hat man den Eindruck, dass ihm zwischendurch einmal gedankenlos exekutierte Passagen oder gar Anflüge von Selbstdarstellung unterlaufen würden.
Wiesensee begann sein Recital, für welches ihm ein nuancenreicher, wohlintonierter Bechstein-Flügel der besseren Sorte zur Verfügung stand, mit Johann Sebastian Bachs Englischer Suite in e-moll. Schon hier fiel sofort sein Augenmerk für Durchsichtigkeit, klare Hervorhebung der Hauptstimmen, melodische Kontinuität und über alledem eine wohltuende Balance der Kräfte auf, ein durchgehendes Bedürfnis nach stimmiger Proportionierung und eine geschmacksichere Sorgfalt im Stilistischen. So gespielt, entsteht die oft gestellte Frage, ob man Bach auf einem modernen Flügel spielen solle, erst gar nicht. Man findet bei ihm keine Gould’schen Extravaganzen, bei aller gefassten Innigkeit auch keine romantisierende Sentimentalität oder neoklassizistische Biederkeit, und fast überall ist der durchgehende, natürliche Fluss der Musik gewährleistet.
Es folgte Beethovens Es-Dur-Sonate Opus 27 Nr. 1, das Geschwisterwerk der sogenannten Mondschein-Sonate. Auch hier herrscht Ausgewogenheit allerorten, klare Orientierung innerhalb der verschränkten Gesamtarchitektur, bewusst abgewogener Wohlklang, und eine alles durchdringende Redlichkeit der Auffassung, der nichts so fremd ist wie der törichte Schein der Prätention.
Amadeus Wiesensee ist kein typischer Virtuose, sondern vor allem ein Musiker, der alles zu erfassen und umzusetzen sucht und darin einen wunderbar zauberhaften, poetischen Zugang vermittelt. Bei Beethoven darf das Drama noch vehementer, bei aller bereits vorhandenen Leidenschaftlichkeit noch entschiedener in den Konflikt getrieben werden. Doch schon hier, wie auch später bei Brahms und vor allem natürlich Skriabin, erweist er sich in stürmischeren Momenten und resolut vorwärtsdrängenden Passagen auch als trefflicher Tastentiger mit kraftvoller Pranke, die allerdings fast immer sehr dosiert und kultiviert zum Einsatz kommt.
Von Skriabin kombinierte Wiesensee die Neunte Sonate, die sogenannte ‚Schwarze Messe’, mit dem Poem ‚Vers la flamme’, also zwei himmlische Höllentrips. Erstaunlich, wie lange er vermochte, die Dynamik wie fast schon illusorisch vorgeschrieben auf niedriger Flamme zu halten, bevor die Entfesselung des Geschehens so zugespitzt war, dass er alle Zurückhaltung aufgab. Hier liegt unendliches Verfeinerungspotential, und es ist Wiesensee zuzutrauen, dass er uns künftig mit einer feinnervigen Sensibilität beglückt, wie sie allenfalls Sofronitzky in dieser Musik zu übermitteln vermochte – und außerdem mit einem Bewusstsein der zugrundeliegenden Struktur, das sich in dieser Musik fast nie dem Hörer mitteilt.
Den Schlussteil bildeten die 1892 komponierten sieben Fantasien op. 116 von Johannes Brahms. Die meisten Pianisten, seien sie noch so arriviert, sind musikalisch in diesen Stücken hoffnungslos verloren und ergehen sich in willkürlichen Manierismen, Aufwallungen und Verdämmerungen jenseits aller metrischen Fassbarkeit. Wiesensee geht einen anderen Weg – den der Klarheit, Aufrichtigkeit, Natürlichkeit und weitgehenden Verinnerlichung. Auch wenn vieles noch charakteristischer, noch klarer erstehen, das Korrelieren der einzelnen Phrasen zu übergeordneten Bögen noch vertieft werden kann – er ließ hier, wo die Beherrschung des Pianistischen alleine so offensichtlich nicht ausreicht, alle seine jungen Kollegen weit hinter sich – jedenfalls alle die, die ich in den letzten Jahren gehört habe.
Als Zugaben waren der November aus Tschaikowskys ‚Jahreszeiten’ und ein Arrangement von Bachs Choralvorspiel ‚Nun komm der Heiden Heiland’ zu hören – letzteres wahrhaft ergreifend in der ungesucht sich versenkenden Gelassenheit und puren Schönheit der Darbietung.
Amadeus Wiesensee hat alle Anlagen, inklusive einer gerade für sein Alter erstaunlichen und weit überdurchschnittlichen Reife, um sich zu einem der im positivsten Sinne prägenden Musiker seiner Generation zu entwickeln. Bereits jetzt vermag er, auf durchaus unspektakulär fesselnde Weise ein Publikum einen ganzen Abend lang in Bann zu halten, zu berühren und auf eine poesiedurchtränkte Reise mitzunehmen.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley; Dezember 2015]