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Busonis Größe – ein Artikel von Heinrich Pfitzner

Der nachfolgende Artikel ist ein historisches Dokument, das hier zum ersten Mal in deutscher Sprache veröffentlicht wird. Er entstammt der US-amerikanischen Zeitschrift The Midwestern Magazine, in deren April-Ausgabe des Jahres 1911 er erschienen ist (S. 101f.). Anlass war ein Konzert Ferruccio Busonis in Des Moines, der Hauptstadt des Bundesstaates Iowa. Heinrich Pfitzner, der Autor des Artikels, war der ältere Bruder Hans Pfitzners. Er wurde 1867 in Moskau geboren, wuchs in Frankfurt am Main auf, wo er an Dr. Hoch’s Konservatorium studierte, und lebte seit 1891 in den Vereinigten Staaten, nur unterbrochen von kurzen Lehrtätigkeiten in Koblenz 1893 und am Stern’schen Konservatorium in Berlin von 1898 bis 1901. Er erwarb sich in Amerika den Ruf eines vortrefflichen Pianisten und Musikpädagogen, arbeitete teils als Professor an verschiedenen Bildungseinrichtungen, teils als selbstständiger Klavierlehrer und gründete 1907 in Des Moines ein eigenes Konservatorium. Seine Spur verliert sich 1935 in Tupelo, Mississippi. Spätestens 1940 muss er gestorben sein, da im US-Zensus dieses Jahres seine Ehefrau als verwitwet geführt wird. Heinrich Pfitzners Artikel über Busonis Größe dokumentiert nicht nur den überwältigenden Eindruck, den dieser große Musiker auf einen „Mann vom Fach“ ausgeübt hat, sondern fasst in Kürze grundlegende Bedingungen musikalischer Darbietungskunst zusammen. Er ist ein zeitloses Dokument und sei als solches nun der Leserschaft deutscher Zunge erstmals präsentiert. (D. Red.)

Alle veröffentlichten Berichte über Busoni beschreiben ihn übereinstimmend als größten Interpreten der Gegenwart, wenn nicht aller Zeiten; aber seit ich ihn am 6. März [1911] zum ersten Mal gehört habe, kann ich nicht umhin festzustellen, dass der grundlegende und krönende Faktor seiner Überlegenheit nie erwähnt worden ist. Und gerade dieser eine Punkt ist von äußerster Wichtigkeit – nicht nur, um dem Künstler gerecht zu werden, sondern auch im Interesse der Kunstwelt. Es ist ganz richtig, dass Busonis technische Fertigkeit sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht wunderbar und wohl unerreicht ist; wobei ich hinzufügen möchte, dass seine Technik sich besonders durch das erfolgreich angewandte Prinzip auszeichnet, „auf den Punkt zu kommen“, dass sie von einem „Zielbewusstseins“ durchdrungen ist, das sich in einer meisterhaften Sparsamkeit der Kräfte und in einer völligen Abwesenheit all jener schauspielerischen Manierismen äußert, denen sich so viele der besten Darsteller hingeben. Es ist auch wahr, dass diese großartige Technik gekrönt wird (denn die Tonerzeugung ist nichts anderes als das Endergebnis – die Blüte – der Technik) durch die vollkommenste Modulation des Anschlags; das bedeutet die Fähigkeit, mit gleicher Vollkommenheit jede Art von Ton zu erzeugen, sowohl in Bezug auf die Farbe als auch auf die Stärke; ganz zu schweigen von bestimmten einzigartigen Tricks des Pedalspiels, die eine gründliche Kenntnis des Klaviers als Mechanismus zeigen, aber nichts mit Talent, Genie oder sogar Technik zu tun haben. Ferner ist es auch wahr, dass Busoni sogar in Bezug auf die musikalische Phrasierung ein Altmeister ist, der, wie von vielen Kritikern erwähnt wurde, „das Klavier zum Sprechen bringen kann“ und „musikalische Beredsamkeit besitzt“ wie kein anderer; in welcher Hinsicht niemand außer ihm selbst (nach dem, was ich durch Lektüre und mündliche Überlieferung weiß) mit Liszt persönlich verglichen werden kann. Nicht zuletzt ist es wahr, dass seine bloße Persönlichkeit jeden als die eines wahren Genies beeindruckt; wozu ich noch hinzufügen darf, dass bei all seiner beherrschenden Präsenz eine herzergreifende Aufrichtigkeit und Einfachheit an ihm ist, die das Kennzeichen wahrer Größe ist; und dass diese Eigenschaften ihn wie keinen anderen befähigen, seine Zuhörer alles über die Tatsache vergessen zu lassen, dass da ein Mensch am Klavier sitzt. Alle diese Eigenschaften, in solcher Vollkommenheit und Kombination, genügen gewiss, um Busoni zu einem phänomenalen Künstler zu machen; aber sie machen ihn noch nicht zu dem wirklich unvergleichlichen Busoni, der er ist; denn er besitzt noch eine andere und viel bedeutendere Eigenschaft, die ihm seine überragende Stellung auf diesem Gebiet verschafft; und das ist: seine einzigartige Gabe der konzentrierten genialen Auffassung, verbunden mit der Kraft, diese in die Tat umzusetzen. Das bedeutet: Busoni begreift eine musikalische Komposition in ihrer Gesamtheit, als eine Einheit („platonische Idee“ wäre zur Charakterisierung gewissermaßen der geeignetste Begriff), und er behandelt sie dementsprechend; jedes Teilchen der Komposition, vom größten Bestandteil bis hinunter zum einzelnen Ton, erhält seinen passenden Platz im Rahmen des Tonbildes; keinem von ihnen wird auch nur ein Quäntchen mehr oder weniger Bedeutung zugemessen, als es vom Standpunkt der perfekten Proportion und der eigentümlichen Konzeption der gesamten Komposition aus zulässig ist. Das Ergebnis ist eine unvergleichliche Wirkung auf den Zuhörer, sie sei bewusst oder unbewusst. Am Ende der Wiedergabe erschließt sich ihm die Komposition in ihrer Gesamtheit, die ihr zugrunde liegende Idee in toto; so wie man ein Bild sehen würde, von dem ein Schleier allmählich weggezogen wurde, bis es ganz freigelegt ist; oder, um ein vielleicht beredteres Gleichnis zu gebrauchen: während der Wiedergabe steigt man unablässig einen Berghang hinauf, und am letzten Ton steht man auf dem Gipfel des Berges und überschaut – mit einem Blick zurück – aus der Vogelperspektive die gesamte Strecke, die man zurückgelegt hat. Es ist diese Fähigkeit des konzentrierten, genialen Erfassens einer Komposition als Einheit, verbunden mit der Kraft, sie zur Geltung zu bringen, was Busoni wirklich unvergleichlich macht, denn gerade diese besondere Eigenschaft (und nicht die bloße Meisterschaft in Technik, Anschlag, Schattierung und Phrasierung, von Pedaltricks ganz zu schweigen) ist sein hervorstechendes Merkmal und zugleich der höchste Wert des ausführenden Künstlers. Die Kultivierung und Ausnutzung dieser Qualität bedeutet nichts weniger als den höchsten Triumph der Kunst der Wiedergabe und eine Demonstration ihrer einzig wahren Theorie – was sie auch sein muss, denn sie steht in vollkommener Übereinstimmung mit dem Wesen der Kunst, des Genies und der genialen Schöpfung, wie diese schon von den größten Denkern der Menschheit beschrieben worden sind: Platon, Kant und Schopenhauer.

[Heinrich Pfitzner, April 1911]

Maeckel auf der Probe

„Liszt plus“ lautet der Titel des Konzerts von Professor Gregor Weichert am Nachmittag des 3. April 2016 im Johannissaal des Schloss Nymphenburg in München. Das Konzert der Reihe „Klavierspielkunst – Stationen der Musikgeschichte“, veranstaltet von Jürgen Plich, enthält Werke von Liszt, nämlich zwei Legenden, Die Zelle in Nonnenwerth und die Polonaise aus dem Stanislaus-Oratorium, sowie von Louis Vierne Le glas und von César Franck Prélude, Choral et Fugue. Zwei Intermezzi von Johannes Brahms, dessen Todestag begangen wird, bilden die Zugabe.

Vor einiger Zeit besprach ich für The New Listener das Buch „Das organische Klavierspiel“ von O. V. Maeckel, eine in Vergessenheit geratene Methode eines zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirkenden und damals hoch angesehenen Klavierpädagogen, der versuchte, die noch nie in Worte gefasste Methode der großen Klaviervirtuosen wie Franz Liszt zu entschlüsseln und authentisch zu unterrichten. Herausgeber des im Staccato-Verlag erschienenen Reprint ist Gregor Weichert, emeritierter Professor in Münster, der selber nach Maeckels Methode spielt und lehrt. So lasse ich mir natürlich die Chance nicht nehmen, seinem Konzert im Münchner Schloss Nymphenburg beizuwohnen und die praktische Umsetzung von Maeckels Methode unter die Lupe zu nehmen.

Wie auch der Pädagoge des frühen 20. Jahrhunderts ist Weichert ein großer Anhänger von Franz Liszt und Erforscher auch von dessen geistig-spiritueller Seite. Da verwundert nicht, dass sowohl Liszt als auch das Religiöse das Konzertprogramm einem roten Faden gleich durchziehen. Zwei Legenden von großen Heiligen, die Zelle in Nonnenwerth, und eine Polonaise aus dem lediglich als Klavierparticell vorliegenden Stanislaus-Oratorium des Chopin-Freundes machen den ersten Teil des Recitals aus, Francks Prélude, Choral et Fugue sowie das Totengeläut, Le glas, des für seine Orgelsymphonien berühmten Franck- und Widor-Schülers Louis Vierne den zweiten. Kurze Moderationen Weicherts vermitteln leger und gekonnt sein fundiertes Wissen und tiefes Verständnis der gespielten Werke.

Der Klang verzaubert und erstaunt gleichermaßen von der ersten Sekunde an: Professor Gregor Weichert entlockt dem Broadwook & Sons Full Concert Grand von 1896 einmalige Schattierungen und einen sauberen, klaren und vollendet abgerundeten Ton. Tatsächlich manifestiert sein Spiel nach der Klaviermethode von O. V. Maeckel eine ganz eigene Art des Anschlags, der ein unerwartetes Hörerlebnis hervorruft. Besonders auffällig sind hierbei die weittragenden Gesangslinien (die 3. Spielart nach Maeckel) sowie die genauestens durchbalancierten Akkorde (wovon Maeckels zweites Kapitel handelt). Zu keiner Zeit scheint sich Weichert sonderlich anzustrengen, er geht nur mit dem nötigen Druck in die Tasten hinein, wodurch niemals Härte entsteht, alles geschieht aus der Entspanntheit der Muskeln und aus der natürlichen Schwerkraftenergie heraus.

Darüber hinaus ist für das Spiel von Gregor Weichert innere Ruhe und Gelassenheit bezeichnend, aus welcher heraus die Musik entstehen kann. Locker und entspannt nimmt Weichert selbst die virtuosesten Passagen und lässt sie in aller Einfachheit entstehen, ohne isolierte, nachdrückliche Effekte nötig zu haben.

Ein Stück, das noch besonders hervorgehoben werden sollte, ist die Polonaise aus dem Stanislaus-Oratorium von Franz Liszt. Welch eine fortschrittliche harmonische Kraft in diesem Stück liegt, das ist wirklich faszinierend – niemals hätte man bei solch einer Musik an Franz Liszt gedacht, viel eher an einen späteren Neuerer. Besonders manche scheinbar falschen Noten stechen hervor, die im Gesamtkontext jedoch einen Sinn ergeben und nur punktuell fast wie „Blue Notes“ wirken. Nicht weniger beachtlich sind aber auch die restlichen Werke: die beiden programmbeladenen Legenden, Viernes düsteres und stimmungsgeschwängertes Le glas, welches wohl niemanden kalt lassen kann – vor allem nicht in solch einer reflektierten Darbietung -, und die chromatisch schillernde Virtuosität der Musik von César Franck, die rein musikalischen Zwecken dient. Unfassbar fesselnd geraten insbesondere die beiden Intermezzi von Johannes Brahms, welche es als Zugabe gibt, wie gewohnt in innerer Lockerheit und meditativer Ruhe – und umso stärker mit echt empfundenem Gefühl und Reife der Gestaltung.

So leitet Weichert direkt über in den nächsten Klaviernachmittag, der am 8. Mai mit seinem ehemaligen Schüler und nunmehr Kollegen sowie Veranstalter Jürgen Plich stattfinden wird. Bei „Brahms plus“ gibt es dessen dritte Sonate sowie die 3 Phantasiestücke Op. 111 von Robert Schumann. Auf dieses Konzert bin ich sehr gespannt.

[Oliver Fraenzke, April 2016]