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Kraft bis zur Grenze der Hörbarkeit

An einem kühlen Abend, dem wahrscheinlich letzten Rückfall des diesjährigen Winters, strebten vereinzelte Menschen mit eiligen Schritten durch dunkle Gassen, die Hände in den Seitentaschen der Mäntel, den Kopf eingezogen zwischen Kragen und Schultern. Das gemeinsame Ziel war ein etwas versteckt liegender Saal am Rande des 1. Wiener Bezirks; ein repräsentatives Haus, ein Palais aus der Gründerzeit, von derem einst selbstverständlichen Stolz kündend. In diesem Palais ein Saal, holzgetäfelt, anheimelnd, auch heute noch geschmacklich zu ertragen, findet eine vergangene Zeit peu à peu ihre neue Gegenwart.

Die vergangene Zeit ist die von Stefan Zweig besungene „Welt von gestern“, eingängig geschriebene Pflichtlektüre für alle, die verstehen wollen, warum in Wien manche Pflastersteine noch heute singen können, und des Buches Raunen von einem aufgelassenen Konzertsaal, dem legendären Bösendorfer-Saal in der Herrengasse, wo sich heute das einst erste Hochhaus Wiens befindet, damals, vorher, lang dahin, einer der Klavier- und Kammermusiktempel der Welt. Das letzte Konzert in jenem Saal wurde einst vom Rosé-Quartett gespielt, dessen Primarius der Schwager von Gustav Mahler war, und dessen Tochter Alma Rosé, nur um sich die letzte Schrecklichkeit des Vergehens jener Welt einmal mehr in Erinnerung zu rufen, in Auschwitz um ihr Leben gebracht wurde, wo sie – einer der absoluten Gipfel des Zynismus – das Mädchenorchester zu leiten hatte, das zumindest den Musikerinnen in einigen Fällen, wie Anita Lasker-Wallfisch und Esther Bejarano, das Überleben ermöglichte.

Die nun langsam entstehende Gegenwart ist der in seiner zweiten Saison befindliche Bösendorfer-Zyklus im Haus der Ingenieure in der Eschenbachgasse; und dieses Unterfangen der Klavierfabrik Bösendorfer ist aus vielen Gründen ein Glücksfall.

Die damalige Schleifung des alten Bösendorfer-Saales koinzidierte mit dem Bau und der Eröffnung des Wiener Konzerthauses, das ein Monopol zweier Konzerthäuser festigte, die zwar zu den akustisch immer noch feinsten, und natürlich überhaupt bedeutendsten, berühmtesten und schönsten (Wiens, und damit) der Welt gehören, nicht umsonst größter lokaler Stolz und Sehnsuchtsort der großen weiten Musikwelt, jedoch auch das in Wien immer schon jenseits des Starkults umtriebige und herzenskünstlerische Musikleben zu annullieren die Tendenz hatte. Anders gesagt: außerhalb der beiden großen Häuser und ihrer Konzertreihen fand und findet sich kaum ein Platz für die zahlreichen wunderbaren Künstlerinnen und Künstler, die es überall gibt, und den Bedarf der Menschen nach Musik, der von der Öffentlichkeit ausreichend wahrgenommen wird, und in dem das Publikum die Möglichkeit hat, zum Fachpublikum zu reifen, das sein Gehör an der Musik schult und nicht die Augen am neuesten angesagten Stern am wetterwendischen Musikhimmel.

Die große Wahrnehmung fehlt dem Bösendorfer-Zyklus sicher noch, wobei die Idee eines Geheimtipps durchaus ihren bleibenden Reiz hat, doch nimmt er in einer Stadt, in der nichts so hoch geschätzt wird wie Tradition, mit historischem Recht seine eigene Geschichte wieder auf, berichtet und bezeugt von Stefan Zweig („…Als die letzten Takte Beethovens verklangen, vom Rosé-Quartett herrlicher als jemals gespielt, verließ keiner seinen Platz… Man verlöschte die Lichter, um uns zu verjagen. Keiner der vier- oder fünfhundet Fanatiker wich von seinem Platz. Eine halbe Stunde, eine Stunde blieben wir, als ob wir es erzwingen könnten, durch unsere Gegenwart, dass der alte geheiligte Raum gerettet würde.“) und öffnet einen neuen Raum, eine neue Möglichkeit, außerhalb der Wiener Traditionshäuser Klavier- und Kammermusik auf höchstem Niveau zu hören. Bevor sich diese Zeilen also der Protagonistin des Abends zuwenden, sei also nachdrücklich und mit deutlicher Empfehlung auf die Existenz dieser Konzertreihe, die es schafft, als Projekt aus der Vergangenheit heraus Gegenwart zu schaffen, hingewiesen.

Nun zum Konzert selber, ein Klavierabend der Pianistin Martina Filjak, die, aus Kroatien stammend in Wien studierte und 2009 in Cleveland einen der wichtigsten Klavierwettbewerbe überhaupt in mehreren Kategorien gewann. Die Vita im Programmheft gab dem Publikum bereits die vorauseilende Möglichkeit zur Einschätzung ihrer Qualitäten, indem hier, einer allgemeinen Unsitte folgend, der Beschreibung der Karriere vorschusslorbeerend die Wertung durch in diversen Rezensionen gesammelte ausgesuchte Adjektive vorangestellt wurde. Dieser Salbe hätte es gar nicht bedurft, denn vom ersten Moment an zeigte Martina Filjak, aus welchem Holz sie geschnitzt ist: eine hochmusikalische und absolute Beherrscherin ihres Instruments, und künstlerisch und stilistisch in der Lage, einen großen Bogen vom Barock in die Gegenwart treffsicher zu spannen.

Beim Wort Barock müssen wir gleich innehalten. Händel und Bach auf einem modernen Flügel: ja geht denn das? – Ja, es geht, denn zuerst ist diese Musik, Händel’s Suite Nr. 7 in g-moll und die Chromatische Fantasie und Fuge in d-moll von Bach, zwar nicht für einen modernen Flügel geschrieben worden, und Originalklang-Anhänger mögen sich auch lieber aus Prinzip abwenden, als sich einer nicht neuen Erkenntnis zu öffnen: es ist in dieser Musik etwas Allgemeingültiges, etwas wie ein Tongebäude, ein Tonsatz, dessen Struktur und Bewegung per se überinstrumental ist, und eben auch auf einem modernen Instrument verwirklicht werden kann. Musik wird nicht vom Klang gemacht, sondern vom Menschen, und ein musikalischer Geist kann, wie hier Martina Filjak, diese Musik darstellen.

Der Pianistin gelang das sehr gut, ihre Fähigkeit zur gesanglichen Stimmführung im piano und in langsamen Sätzen ist außergewöhnlich, lässt ständig neu aufhorchen und machte besonders die Suite von Händel zu einem hellhörigen Erlebnis. Bach’s Fantasie erlag ein wenig, wie vorher schon die großgestigen Momente bei Händel, einer gewissen déformation professionelle, einer Art von großgestigem Pianismus, der dem letzten Gelingen des Ganzen etwas den Atem nahm; die Künstlerin ließ sich von diesem Momentum zu Ungunsten des sonst so gefassten Klangs mitreißen, was auch der Komplexität der Fuge nicht zugute kam, im Ganzen aber doch überstrahlt von der intimen Gesanglichkeit ihres Spiels.

Nach der Pause folgte der „Faschingsschwank aus Wien“ von Robert Schumann. Die Musik von Schumann ist technisch immens herausfordernd und der musikalische Zugang zu ihr manchmal sperrig, doch straft er jene in Wien Ansässigen Lügen, die immer noch dem Wahn erlegen sind, dass die größte Musik ausschließlich in Wien entstanden sei (ja, es gibt sie noch, diese Ansässigen, und wir verstehen uns untereinander ganz wunderbar). Das Werk und seine Aufführung bildete den künstlerischen Höhepunkt des Abends. Martina Filjak war hier ganz und gar in ihrem Element. Das Werk fordert pianistisch alles, ist ungeheuer komplex und kann nur mit entsprechendem Zugriff, großer Kraft und bei gleichzeitiger pianistischer Sensibilität, einer wirklichen Fähigkeit zur Gesanglichkeit bewältigt werden. Über alle diese Qualitäten verfügt die Pianistin auf höchstem Niveau, und das Publikum hörte und staunte.

Nach diesem Werk flachte die Kurve insofern ab, als sich die folgenden Werke von Skrjabin und Liszt beim besten Willen künstlerisch nicht auf der Schumann’schen Höhe befinden. Martina Filjak erläuterte die Entstehung des „Präludium und Nocturne“ von Skrjabin, einem Werk, das der Jüngling (op. 9) unter dem Eindruck des angstvollen Schreckens über eine Sehnenscheidenentzündung der rechten Hand für Klavier linke Hand komponierte. Ein etwas sentimentales, hörbar zum Selbstmitleid neigendes Werk, das im Werden jedoch zu einigem Schwung und starker Eindringlichkeit wächst, wiederum von der Pianistin linker Hand mit einem solchen Können zum Leben erweckt, dass das Staunen über sie das Mitleid für das Selbstmitleid des Komponisten bei weitem überlagerte. Liszt’s „Réminscences de Lucia Lammermoor“ sind dann ein virtuoses, salonhaftes Gewerke, das als wiederum souverän-phantastisch gespielte Zugabe durchging, jedoch seine beim Komponisten so oft zu ertragende Leere nicht verheimlichen konnte. Abermals reifte die Erkenntnis, dass Schumann eben doch der bessere Liszt ist.

Ein kleines Wunder folgte mit der Zugabe, denn Martina Filjak, ausdrücklich dankbar für das Format der Konzertreihe, den schönen und akustisch sehr angenehmen Saal, den hervorragenden Bösendorfer-Flügel (das darf erwähnt werden, obwohl der Rezensent dafür kein Geld von Bösendorfer erhält), der die klanglichen Facetten, zu denen die Pianistin bei diesem vielfältigen Repertoire fähig war, ermöglichte, sowie das im Hören gebannte geneigte Publikum, das von der Pianistin im Handumdrehen zum Fachpublikum gemacht wurde, gab und schenkte uns Arvo Pärt’s „Für Alina“. Der Pianistin abermals erstaunliche Fähigkeit zum gesanglichen Spiel, zum Klingenlassen an der Grenze zur Hörbarkeit, siegte im leisesten pianissimo über den parallel wahrnehmbaren Lärm eines zufällig auf der Straße vor dem Saal haltenden Autos, aus dessen Boxen Bässe sinnlos wummerten, die es jedoch, wie damals das abgedrehte Licht, nicht schafften, diese Gegenwart zu stören.

[Jacques W. Gebest, April 2024]

Ein Musizieren von edelster Art: Beth Levin spielt Mozart, Tiessen und Schubert in Wien

Am 22. März 2024 beendete Beth Levin mit einem Konzert im Bank Austria Salon des Alten Rathauses zu Wien ihre Mitteleuropa-Tournee, die sie am 12. des Monats nach Berlin und am 19. nach München geführt hatte (zum Berliner Konzert siehe den Bericht von Sara Blatt). Das Programm war in Wien dasselbe wie bei den Auftritten in Deutschland. Es begann mit Wolfgang Amadé Mozarts Sonate a-Moll KV 310 und endete mit Franz Schuberts Sonate G-Dur D 894. Ähnlich wie auf den Alben, die die Pianistin für Aldilà Records (Inward Voice, Hammerklavier live) und Navona Records (Personae, Bright Circle) eingespielt hat, kombinierte sie eine Repertoire-Erweiterung mit den beiden Klassikern. Allerdings handelte es sich dieses Mal – anders als bei den auf den genannten CDs zu hörenden Werken von Anders Eliasson und David Del Tredici – nicht um zeitgenössische Musik, sondern um ein lange verschollenes, erst vor kurzer Zeit wiederentdecktes Werk: Die Fünf Klavierstücke op. 21 von Heinz Tiessen entstanden 1915 und wurden im folgenden Jahr durch Tiessens Schüler Eduard Erdmann erstmals öffentlich gespielt. Was dann mit ihnen geschah, ist unklar. Wahrscheinlich verschwand das Manuskript durch unglückliche Umstände aus dem Gesichtskreis des Komponisten, sodass er annehmen musste, es sei verloren. Er vergab die Opuszahl 21 neu und wies sie dem Rondo G-Dur, der Orchesterfassung des Finales seines Amsel-Septetts op. 20, zu. Nur Die Amsel, das vierte Stück des ursprünglichen op. 21, tauchte noch einmal auf: 1923 erschien als Nr. 2 der Drei Klavierstücke op. 31 eine Neufassung, die sich so deutlich von der ursprünglichen Gestalt unterscheidet, dass man geneigt ist, eine Rekonstruktion aus dem Gedächtnis anzunehmen. Letztlich kamen die Klavierstücke op. 21 im Jahr 2019 wieder zum Vorschein. Der Sammler und Verleger Tobias Bröker hatte das Manuskript aus einem Nachlass erworben, es mit einem Notenschreibprogramm transkribiert und auf seiner Internet-Seite zum kostenlosen Herunterladen bereitgestellt.

Aufbauend auf der Harmonik des mittleren Richard Strauss und des frühen Arnold Schönberg fand Heinz Tiessen in den 1910er Jahren zu einem expressiven Kompositionsstil, der sich weitgehend abseits herkömmlicher Kadenzformeln bewegt, jedoch an der Tonalität als Zusammenhang stiftendem Grundgestaltungsmittel konsequent festhält. Die Klavierstücke op. 21 gehören zu den ersten Werken des Komponisten, in denen diese Ausdrucksweise zu voller Reife entwickelt erscheint. Hinter dem neutralen Titel verbirgt sich eine Satzfolge, deren einzelne Nummern durchaus als zusammengehörige Teile eines Ganzen erscheinen. Der erste Satz ist entsprechend als „Vorspiel“, der letzte als „Finale“ bezeichnet. Mit seinen wuchtigen Eingangs- und Schlussakkorden und den registerartigen Klangabstufungen wirkt das Vorspiel wie ein Orgelpräludium. Die an zweiter Stelle stehend Elegie und das ihr folgende Intermezzo sind bei langsamem Grundtempo von wellenartigen Bewegungen durchzogen. Die Harmonien flackern unruhig wie Mondlicht auf nächtlichem Meere. Anzunehmen, dass der gebürtige Königsberger Tiessen bei der Komposition dieser Stücke an die Ostsee dachte, erscheint nicht abwegig, da er in seiner kurz zuvor entstandenen Natur-Trilogie op. 18, einer dreisätzigen Tondichtung für Klavier, ganz ähnliche Stimmungen in Töne gefasst hat. Im vierten Stück, der bereits erwähnten Amsel, verarbeitet der Komponist originale Amselrufe zu einer schalkhaften, kapriziösen Musik, die sich deutlich von der Schwerblütigkeit der ersten drei Stücke abhebt. Das Finale ist der ausgedehnteste Satz des Werkes. Die Vortragsanweisung „Leidenschaftlich bewegt“ bedeutet nicht zwangsläufig „schnell“. Es ist kein agiles Finale nach Art klassischer Sonaten, sondern gleicht in seinem Duktus, wie auch im zweimaligen Wechsel emphatisch aufbrausender mit bedächtiger, ruhigerer Musik einer Rede in Tönen. Bekenntnishaft schließt sie im dreifachen Forte.

Eduard Erdmann hat einst das Klavier eine „unmögliche Maschine“ genannt, „zusammengesetzt aus Elfenbein, Holz, Filz, Draht und Stahl“, auf der „kein echtes Legato, kein Gesang“ möglich sei. Es gehört zu jenen Instrumenten, deren Klangerzeugung derjenigen der menschlichen Stimme am wenigsten verwandt ist. Mithin fordert es den Spieler durch seine Beschaffenheit dazu heraus, den Klang durch sein Spiel zu transzendieren, im wahrsten Sinne des Wortes „übersteigend“ zu musizieren. Die deklamatorische Melodik der Stücke Tiessens verlangt nach einen langem Atem, ihr orchestral anmutender Tonsatz nach einer feinen Abstufung der Tongebung. Um die Harmonik mit ihren alterierten Akkorden und abrupten Gegenüberstellungen entfernt verwandter Klänge adäquat darzustellen, braucht es einen wachen Sinn für tonale Beziehungen im Großen wie im Kleinen. Die Musik verlangt mithin nach Kantabilität, Farbigkeit und Spannung. Beth Levin ist definitiv die richtige Musikerin, den Stücken dazu zu verhelfen und ihnen neues Leben einzuhauchen.

Levins Spiel besitzt generell einen Zug ins Große, nicht nur hinsichtlich der tendenziell eher breiten Tempi, sondern auch im Bezug auf den Klangfarbenreichtum, den sie hervorzubringen in der Lage ist. Die „unmögliche Maschine“ verwandelt sich unter ihren Händen tatsächlich dergestalt, dass man von einem imaginären Orchester oder Chor sprechen möchte – und, mit Robert Schumann, von den Klavierstücken als „verschleierten Symphonien“. Es ist, als würde der mechanische Aspekt des Klavierspiels – das Ingangsetzen einer Hebel- und Hammerschlagapparatur durch das Drücken von Tasten – gänzlich aus dem Sinn geraten, als entstünde der Klang ganz direkt, wie aus einer menschlichen Kehle. Die Töne, die Beth Levin dem Klavier entlockt, haben die Präsenz scharf profilierter Charaktere, denen gegenüber man gar nicht anders kann als aufmerksam zu lauschen, gebannt von ihrer Persönlichkeit. So spielen heißt wahrlich auf dem Klavier singen!

Davon profitiert nicht nur das seit mehreren Generationen ungehörte Werk Tiessens. Auch Mozart und Schubert erklingen hier in einer Intensität, wie man sie selten zu hören bekommt. Mozarts a-Moll-Sonate entwickelt eine dämonische Energie sondergleichen, die alle Überlegungen, ob ein solches Spiel auch „historisch korrekt“ sei, gegenstandslos macht. Levin wirft die Frage, ob man sich in solch hemmende Gedanken begeben sollte oder nicht, gar nicht erst auf, sondern widmet sich hingebungsvoll der Darstellung der scharfen Kontraste, die das Stück durchziehen. Nicht weniger imponiert die tiefe Ruhe, aus der heraus sie Schuberts große G-Dur-Sonate sich entfalten lässt, um dann in der Durchführung des ersten Satzes ein zerklüftetes Hochgebirge aus Klängen zu errichten. Die abgründigen, tieftraurigen Seiten dieser Musik, verdeutlicht in abrupten Wechseln der harmonischen Richtung oder des Tongeschlechts, bringt sie trefflich zur Geltung, aber auch Schuberts musikantisches Element kommt nicht zu kurz. Im Finale der Sonate hört man gelegentlich die Gitarre durch, andere Abschnitte dieses Satzes klingen durch fein gegeneinander abgesetzte Außen- und Mittelstimmen wie Kammermusik.

Levins Tempi mögen verhältnismäßig langsam sein, aber es handelt sich nicht um Langsamkeit um der Langsamkeit willen, sondern um kluge Disposition: Die Pianistin will nach Möglichkeit alle klingenden Phänomene zur Geltung bringen und lässt sich folglich etwas mehr Zeit. Man merkt: Jeder einzelne Moment im Verlauf einer Komposition ist ihr wichtig, nichts soll unterbelichtet bleiben, alles genau so dargestellt werden, wie es seiner Funktion im Zusammenhang des Ganzen entspricht. Die Versenkung in die Feinheiten der Musik führt mitunter zu deutlich spürbaren Temposchwankungen. Aber auch diese wirken nicht willkürlich, sondern entstehen durch intensives Erleben der Harmonik während des Spiels. Levin musiziert mit einem Wagemut, der an Wilhelm Furtwängler erinnert – auch er ein Musiker, der sich vom Moment mitreißen lassen konnte und doch stets die Übersicht behielt. Wie im Falle des großen Dirigenten haben Beth Levins Beschleunigungen und Verlangsamungen immer ihre Grundlage in der musikalischen Struktur. Stets weiß die Pianistin, wohin sie will, welche Richtung die Musik nimmt. Alles folgt aufeinander in bezwingender Logik. Darum sind ihre breiten Tempi auch viel spannungsvoller als die rascheren mancher ihrer Kollegen. Zu ihrer Dynamik ist noch hinzuzufügen, dass sie laute Stellen wirklich liebt, denn diese klingen bei ihr nie grobschlächtig lärmend. Im Gegenteil wendet sie auf dieselben die gleiche Sorgfalt an wie auf die leisen, vernachlässigt auch bei höchster physischer Kraftentfaltung die Phrasierung nicht und lässt es selbst im härtesten Marcato nicht am Sinn für vokale Linearität fehlen. Gerade an solchen Stellen wird deutlich, dass wir es mit einem Musizieren von edelster Art zu tun haben.

Angesichts dieses Konzerts kann man nur hoffen, diese außergewöhnliche US-amerikanische Pianistin, eine der ganz großen Musikerinnen unserer Zeit, bald wieder einmal im deutschsprachigen Raum willkommen heißen zu können.

[Norbert Florian Schuck, März 2024]

Anmerkung (1. April 2024): Im Falle der Klavierstücke Tiessens spricht nichts dafür, dass der Komponist – wie der Herausgeber Tobias Bröker für möglich hält – das Opus zurückgezogen hätte. Tiessen hat selbst den unveröffentlichten Werken aus seiner Jugendzeit ihre Opuszahl belassen. Man kann also davon ausgehen, dass die Neubesetzung der Opuszahl 21 nicht aus freien Stücken, sondern aus einer Not heraus erfolgte: Nämlich, dass die Klavierstücke op. 21 für Tiessen unauffindbar waren und er nicht mehr damit rechnete, die im Werkverzeichnis klaffende Lücke durch den Fund des Manuskripts zu schließen. (N.F. Schuck)

„Der fromme Revolutionär“ in Wien – eine Ausstellung zum 200. Geburtstag Anton Bruckners

Österreichische Nationalbibliothek, Wien, Josephsplatz. Über dem Eingang in der Mitte ist das Transparent zur Ausstellung „Der fromme Revolutionär“ zu erkennen.

Am 20. März 2024 eröffnete die Österreichische Nationalbibliothek in Wien ihre Ausstellung Der fromme Revolutionär über Leben und Werk Anton Bruckners.

„Ich vermache die Originalmauscripte meiner nachbezeichneten Compositionen: der Symphonien, bisher acht an der Zahl – die 9te wird, so Gott will, bald vollendet werden, – der 3 großen Messen, des Quintettes, des Tedeum’s, des 150. Psalm’s und des Chorwerkes Helgoland – der kais. und kön. Hofbibliothek in Wien und ersuche die k. u. k. Direction der genannten Stelle, für die Aufbewahrung dieser Manuscripte gütigst Sorge zu tragen.“

Mit diesen Worten hatte Anton Bruckner in seinem Testament noch selbst den Grundstock zu einer Sammlung gelegt, die heute weltweit den größten Bestand an Dokumenten zu Leben und Schaffen des Komponisten darstellt und somit für die Bruckner-Forschung unerlässlich ist. Ursprünglich nur als Aufbewahrungsort der Autographen seiner Hauptwerke vorgesehen, vergrößerte die Österreichische Nationalbibliothek während der über zwölf Jahrzehnte nach Bruckners Tod ihre Sammlung um viele weitere Bruckneriana. Im Laufe der Zeit fanden so neben weiteren Kompositionshandschriften auch Briefe, Aufzeichnungen und andere persönliche Papiere Bruckners, Photographien, Konzertprogramme und künstlerische Rezeptionsdokumente (wie die bekannten Karikaturen Otto Böhlers) den Weg in die Nationalbibliothek.

Anlässlich der 200. Wiederkehr von Bruckners Geburtstag im Jahr 2024 kann seit dem 21. März noch bis zum 25. Januar 2025 im Prunksaal des Bibliotheksgebäudes am Josephsplatz die von Thomas Leibnitz, Präsident der Internationalen Bruckner-Gesellschaft, und Andrea Harrandt, Herausgeberin der Briefe Bruckners, kuratierte Ausstellung Der fromme Revolutionär besichtigt werden, die einen repräsentativen Überblick über die Bruckner-Sammlung der Nationalbibliothek verschafft, aber auch Gegenstände aus anderen Wiener Sammlungen sowie aus Privatbesitz zeigt. Erstmals finden sich dabei sämtliche Manuskripte der Symphonien Bruckners gemeinsam der Öffentlichkeit präsentiert. Die Partituren sind an charakteristischen Stellen aufgeschlagen, an denen Bruckners Arbeitsprozess deutlich wird. So zeigen Aufzeichnungen am Rande einer Seite aus der Achten Symphonie, wie der Komponist sich selbst Rechenschaft über jede einzelne Stimmführung eines bestimmten Taktes ablegt. Man sieht die Spuren des Abrasierens verworfener Noten und die Überklebungen von Stellen, an denen keine weiteren Rasuren möglich waren. Das Adagio der Siebten Symphonie ist an jener berühmten Stelle aufgeschlagen, an welcher Bruckner auf Anraten Arthur Nikischs und der Brüder Schalk Stimmen für Becken, Triangel und Pauken einklebte, um den Höhepunkt des Satzes zu markieren. Die mit Bleistift nachträglich auf dem Papierstreifen angebrachte Notiz „gilt nicht“ hat die Philologen bis heute nicht losgelassen. Ihr Urheber konnte nie bestimmt werden. Ja, es sieht sogar danach aus, dass die beiden Wörter von zwei unterschiedlichen Schreibern stammen. Eine für Bruckners Entwicklung zum unabhängigen Künstler besonders wichtige Notenhandschrift wird in dieser Ausstellung zum ersten Mal überhaupt öffentlich gezeigt: das sogenannte Kitzler-Studienbuch, das den Unterricht in freier Komposition dokumentiert, den Bruckner von dem Linzer Theaterkapellmeister Otto Kitzler zwischen 1861 und 1863 erhielt. Es enthält u. a. die vollständige Partitur des Streichquartetts in c-Moll. Bei der Auflösung von Bruckners Wohnung in die Hände Joseph Schalks gelangt, befand es sich lange Zeit im Besitz von dessen Nachkommen und wurde 2013 von der Nationalbibliothek erworben.

Aber nicht nur die Partituren Bruckners sind sehenswert. Auch an interessanten Zeugnissen seines Lebens fehlt es nicht. So finden wir etwa seinen Taufschein, sein Ehrendoktordiplom und die Verleihungsurkunde des Franz-Joseph-Ordens, einen Taschenkalender mit Bruckners täglichen Gebetsnotizen, Bruckners Reisepass, ausgestellt anlässlich seiner Urlaubsreise in die Schweiz („Besondere Kennzeichen: an der linken Seite des Halses eine Narbe“), Blätter, die Bruckner am Grabe Richard Wagners in Bayreuth aufgelesen hat, ein Passphoto von 1880, das der Komponist anscheinend besonders schätzte, da er es nachweislich zahlreichen Briefen an von ihm verehrte junge Frauen beilegte, und einen Brief Bruckners an Hans von Wolzogen aus dem Jahre 1885, durch welchen die Forschung definitiv belegen konnte, dass die Uraufführung der Siebten Symphonie in Leipzig ein großer Erfolg gewesen ist.

Was die Hörbeispiele anbetrifft, haben die Veranstalter der Ausstellung eine vorzügliche Wahl getroffen und zu Rémy Ballots bei Gramola erschienenem Symphonien-Zyklus gegriffen, der im letzten Jahr durch die Aufnahme der annullierten d-Moll-Symphonie (fälschlich „Nullte“ genannt) im Rahmen der St. Florianer Bruckner-Tage (zur Rezension siehe hier) abgeschlossen wurde.

Thomas Leibnitz merkte anlässlich der Eröffnung an, dass das Motto der Ausstellung die Gegensätze in Bruckners Wesen betont: Bruckner sei beides, sowohl ein frommer Mann, als auch ein Revolutionär gewesen. War er von den Zeitgenossen vor allem als radikal moderner Künstler wahrgenommen worden, so habe das Bruckner-Bild in der Zeit seit seinem Tode sich mehrfach gewandelt, wobei der Fromme und der Revolutionär als Pole erkennbar blieben. Im frühen 20. Jahrhundert wurde Bruckner zu einer Gallionsfigur konservativer politischer Kräfte, in der Zeit des Nationalsozialismus als deutsches Originalgenie gepriesen, das frühe Nachkriegsösterreich sah in ihm vor allem einen katholischen Künstler, wohingegen in den 1970er Jahren die neurotischen Züge seiner Persönlichkeit betont wurden. Die Ausstellung Der fromme Revolutionär strebe nicht danach, so Leibnitz, die Reihe dieser Bruckner-Bilder um ein weiteres zu erweitern, sondern Bruckner in der Vielseitigkeit und Widersprüchlichkeit seiner Person auf Grundlage des heutigen Forschungsstandes vorzustellen.

Nach Mitteilung von Johanna Rachinger, Generaldirektorin der Nationalbibliothek, und Andrea Harrandt werden gemäß geltenden Regeln die Manuskripte nach der Ausstellungseröffnung noch drei Monate lang im Original zu sehen sei. Bei mehrbändigen Werken (wie den meisten Symphonie-Handschriften) werden die Bände ausgewechselt, ansonsten wird man sich mit Faksimiles behelfen.

Die feierliche Eröffnungsveranstaltung am Abend des 20. März 2024 bot den anwesenden Gästen Großartiges in Ton und Wort. Clemens Hellsberg, Primgeiger im Orchester der Wiener Staatsoper und ehemaliger Vorstand der Wiener Philharmoniker, hielt einen Vortrag, in welchem er, angelehnt an Klaus Heinrich Kohrs‘ Buch Anton Bruckner. Angst vor der Unermesslichkeit, den Komponisten als einen krisenhaften Künstler schilderte, hin- und hergerissen zwischen seinem beständigen Drang zur grenzüberschreitenden Ausformulierung des Unermesslichen in Tönen und dem immer stärker hervortretenden Gedanken an den Tod – Grundgegensätze seines Denkens, die in der Neunten Symphonie in schärfster Konfrontation aufeinandertreffen und, da das Werk unvollendet blieb, letztlich zu keiner Lösung finden. Hellsberg nutzte im Laufe seiner Rede die Gelegenheit, mit diversen Legenden über Bruckner aufzuräumen. So wies er ausdrücklich Hans von Bülows Bezeichnung Bruckners als „halb ein Gott, halb ein Trottel“, die im Original „Halbgenie + Halbtrottel“ lautet, zurück, indem er Bruckners vorzügliche Leistungen in seinem Bildungsgang als Lehrer betonte. Aber auch einer Verklärung der weniger sympathischen Eigenschaften Bruckners trat er entgegen, war der Komponist doch, wie seine Briefe zeigen, mitunter durchaus zu störrischem Verhalten und ungerechten Äußerungen fähig (etwa gegen das Stift St. Florian und die Stadt Linz). Als besonders wichtig darf die Aufklärung über ein häufig angeführtes, Bruckner aber fälschlicherweise zugeschriebenes Zitat bezeichnet werden: „Weil die gegenwärtige Weltlage geistig gesehen Schwäche ist, flüchte ich zur Stärke und schreibe kraftvolle Musik“, soll Bruckner einmal gesagt haben. Tatsächlich handelt es sich um eine Äußerung Adalbert Stifters, die dieser am 17. Dezember 1860 in einem Brief an Gustav Heckenast niederschrieb und die eigentlich lautet: „Weil die gegenwärtige Weltlage Schwäche ist, flüchte ich zur Stärke und dichte starke Menschen und dies stärkt mich selber.“ Ein Schriftsteller hat dieses Zitat später auf Bruckner umgedichtet, unachtsame Autoren griffen es auf und gaben es als originalen Bruckner wieder.

Bruckner kam an diesem Abend selbst zu Wort in Form des langsamen Satzes aus dem Streichquartett c-Moll und des Scherzos aus dem Streichquintett F-Dur, gespielt vom Ballot-Quintett (Rémy Ballot und Iris Ballot, Violinen, Stefanie Kropfreiter und Nataliia Kuleba, Bratschen, und Marta Sudraba-Gürtler, Violoncello). Hinsichtlich der Feinabstufungen in Dynamik und Tempo, der Interaktion der einzelnen Stimmen miteinander, der Phrasierung und der schlüssigen Darstellung des musikalischen Verlaufs leistete das Ensemble, welches beide Werke bereits in veritablen Referenzeinspielungen vorgelegt hat, Hervorragendes und trug dadurch wesentlich zum Gelingen des Abends bei.

[Norbert Florian Schuck, März 2024]

Hoffnung, Versprechen, Gewissheit

Am 15. und 17. Dezember 2023 spielte das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich unter der Leitung von John Storgårds im Großen Musikvereinssaal Wien die Midnight Sun Variations der finnischen Komponistin Outi Tarkiainen, Ludwig van Beethovens Violinkonzert D-Dur op. 61 und Carl Nielsens Symphonie Nr. 5 op. 50. Als Violinsolist war Augustin Hadelich zu hören.

Die Welt ist voll mit hervorragenden Geigerinnen und Geigern, Virtuosen, die keine technische Schwierigkeiten kennen; Beherrscher ihres Instruments, wie es sie in dieser Zahl vielleicht noch nie gegeben hat. Jedoch gibt es in der absoluten Spitze, wo die technische Meisterschaft bereits allein im Dienst der Kunst steht, nur ganz wenige, die ein Werk nicht nur brillant darstellen können, sondern wirklich etwas zu sagen haben, hinter das Werk zurücktreten und ihr Instrument als Künstlerinnen und Künstler beherrschen.

Zu dieser außergewöhnlichen Kategorie gehört Augustin Hadelich, der in diesen Tagen, begleitet vom Niederösterreichischen Tonkünstlerorchester, in Wien mit dem Violinkonzert von Ludwig van Beethoven zu hören war – nach wie vor und für alle Zeiten das Konzert, mit dem man entweder den Olymp besteigt oder an ihm scheitert.

Sein phänomenales Spiel berechtigt zu jener seltenen Hoffnung, einmal wieder einen absoluten Geiger hören zu können, jemanden, der sich musikalisch und künstlerisch jenseits des Instrumentalen bewegt.

Fast war es also perfekt, doch fehlte die letzte und absolute Eindeutigkeit der Meisterschaft. Dies war zunächst, unabhängig vom Solisten, der Temponahme im ersten Satz geschuldet, und zwar nicht als Problem des musikalischen Pulses, sondern in seiner Organisation als Metrum: der Dirigent John Storgårds konnte oder wollte sich nicht entscheiden, ob er vier oder zwei schlagen sollte, vielmehr bevorzugte er es, sich frei dem jeweiligen musikalischen Augenblick anzupassen, die Kontinuität des Metrums damit einer gewissen instinktiven Willkür überlassend. Das entspricht eventuell einer modernen Ansicht des Dirigierens, ist im Ergebnis jedoch eine der Möglichkeiten, an der perfekten Balance eines Werkes wie dem Violinkonzert von Beethoven zu scheitern.

Details, die Zeit gebraucht hätten, um ihre vollkommene Schönheit zu entfalten, wie zum Beispiel der Pianissimo-Wendepunkt beim Einsatz der Trompeten am Ende der Durchführung, fielen diesem metrischen Mäandern zum Opfer. Hier muss leider auch bemerkt werden, dass dies, neben der typischen Routine und mutmaßlich mangelnden Probenzeit, die für ein Solokonzert grundsätzlich im Normalbetrieb vorgesehen ist, dazu führte, dass die ansonsten hervorragenden Tonkünstler ausgerechnet bei Beethoven ihr wirkliches Potenzial klanglicher und musikalischer Differenziertheit nicht entfalten konnten.

Der zweite Satz entbehrte dann in einer schönen Linearität leider des harmonischen In-die-Tiefe-Hörens und wurde so bereits am Beginn der Tiefe und einzigartigen Wirkung der frühen Erweiterung der harmonischen Perspektive beraubt, als es von G-Dur mit einem ganz kurzen Anklang von e-moll direkt auf den vermeintlichen Ruhepunkt auf Fis-Dur geht – weiter entfernt und scheinbar der Schwerkraft enthoben geht es kaum. Es ist dies ein Moment, dessen heute noch erhör- und erlebbaren Radikalität des seelischen Ausdrucks in dieser Aufführung nicht stattfand und dadurch nach nichts und wieder nichts klang: flach und ziellos, wie es eben passiert, wenn man nur auf die Melodie hört. Das innige Spiel des Solisten konnte das fehlende innere Momentum nicht mehr ausgleichen, die weiteren Töne und Klänge wurden nur noch schön aneinandergereiht anstatt zu einem Ganzen vereint.

Dem vollkommenen Gelingen des letzten Satzes stand dann ein etwas zu rasches Tempo im Wege, so dass die aus der erforderlichen inneren Ruhe entstehende Farbigkeit und Lebendigkeit des 6/8-Takts der geigerischen Brillanz geopfert wurde, was unter anderem dazu führte, dass die entwaffnend schöne Dialogstelle zwischen Fagotten und Solovioline zu vordergründig geriet und in ihrer Sensibilität nicht funktioniert hat.

Alles in allem hörenswert, teilweise beglückend, nur eben mit der leisen Einschränkung, dass Solist, Dirigent und Orchester letztlich im künstlerischen Konjunktiv blieben, letztere aufgrund von Routine und Augenblickswillkür; ersterer, künstlerisch auf diese Weise von letzteren unmerklich gebremst.

Denn alle in allem nur latent erscheinende Ungehörtheiten und Unbedachtsamkeiten summierten sich in ihrer Wirkung, so dass das Publikum für jetzt nur die Gewissheit eines großen Versprechens hören konnte, das nicht deutlich genug betont werden kann: Augustin Hadelich ist in der Tat als ein wunderbarer, technisch überwältigend makelloser Geiger eine wirklich große Hoffnung auf eine Form von künstlerischer Reife, wie man ihr nur selten, und in der jüngeren Vergangenheit kaum, begegnet. Sein Wachsen wird sich fortsetzen und noch wunderbare Früchte tragen.

Der Konzertnachmittag wurde ansonsten eingerahmt von zwei in Wien selten zu hörenden Werken, eröffnet von den „Midnight Sun Variations“ von Outi Tarkiainen, uraufgefürt 2019, sowie der 5. Symphonie von Carl Nielsen.

Das Werk von Outi Tarkianen besticht durch klare Formgebung und sehr differenzierte und klarer Instrumentation. Es will nicht, was es nicht kann, und kann oder will auch nicht den Einfluss des finnischen Übervaters Jean Sibelius verleugnen, man könnte sogar sagen, dass die Komponistin im Sinne der Tonmalerei und pastoralen Adaption der fernen nordischen Welten ihm Reverenz erweisend eine legitime Nachfolgerin des Meisters ist. Und schon Ravel empfahl einst einem jungen Komponisten, sich in der Imitation eines Vorbilds zu üben, da nur in der unbewussten Abweichung vom Original zu hören sei, ob der junge Komponist etwas zu sagen habe. Dies ist bei Tarkianen zweifellos der Fall, womit zu hoffen ist, dass es auch in Wien möglich sein wird, die weitere vielversprechende Entwicklung dieser Komponistin mitverfolgen zu können.

Die kraft- und effektvolle 5. Symphonie von Carl Nielsen entfaltete nach der Pause ein eindrückliches Psychogramm einer Zerissenheit zwischen ebenfalls pastoraler Stimmung und einer traumatisierenden Störung dieses Idylls. Auffallend ist, wie Nielsen einige motivische Details bis zur Redundanz repetiert, es im Ganzen jedoch im ersten Satz trotzdem schafft, zu einer geschlossenen Form zu finden. Der zweite Satz bleibt leider hinter dieser Geschlossenheit zurück und hinterlässt die Frage, ob er der Form entbehrt, oder, was wahrscheinlicher ist, ob die Aufführenden nur nicht in der Lage waren, diese entstehen zu lassen. Nielsen konnte hier, jedenfalls nach diesem Höreindruck, nicht an den großen Wurf seiner 4. Symphonie anknüpfen, sondern unterwirft sich hier unter Inkaufnahme der Gefahr, dieses Werk der Zeitlosigkeit zu entziehen, einer Ästhetik, die nicht immer die seine zu sein scheint.

Der Dirigent John Storgårds war nun aber in seinem Element und brachte das hier furios aufspielende Niederösterreichische Tonkünstlerorchester zur orchestralen Exzellenz.

[Jacques W. Gebest, Dezember 2023]

Erich Skoczek: die Wiederentdeckung eines Impressionisten der Orgel

Selbstverlag Andreas Willscher, Hamburg 2021; ISBN: 978-3-9823800-0-1

Die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts kennt die Namen zahlreicher Musiker, die durch Krieg, Vertreibung und politische Verfolgung einen gewaltsamen Tod gefunden haben. Mit der Auslöschung ihrer physischen Existenz ging in der Regel die Zerstörung ihres künstlerischen Erbes einher. Auch zahlreiche wertvolle Dokumente, die über den Lebenslauf der Künstler Auskunft hätten geben können, gingen verloren. Biographie und Schaffen wurden gleichermaßen fragmentiert.

Als ein solches Fragment stehen heute Leben und Werk des sudetendeutschen Komponisten Erich Skoczek vor uns, einem der konsequentesten Adepten des französischen Impressionismus im deutschsprachigen Kulturraum. Der 1908 im mährischen Olmütz geborene Skoczek hatte in Wien studiert und war dort in den späten 1920er Jahren als Orgelvirtuose zu Ansehen gelangt. Neben seinem musikalischen Wirken war er auch als Maler und Schriftsteller tätig. 1941 in seine Geburtsstadt zurückgekehrt, wurde er kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, im Mai 1945, während einer gegen die deutsche Bevölkerung gerichteten Verhaftungsaktion in das nahegelegene Konzentrationslager Hodolein deportiert, wo er wenig später zu Tode kam. Die tschechischen Behörden ließen seine Wohnung ausräumen, wobei auch die Manuskripte seiner Kompositionen auf den Müll geworfen wurden. Dass immerhin ein winziger Teil von Skoczeks Nachlass erhalten blieb, ist dem Organisten Anton(ín) Schindler zu verdanken, der sich die Bewilligung verschaffte, „zur Stampfe“ vorgesehene Papiere zu sichten. Durch seine Umsicht ist u. a. das umfangreichste heute noch vorhandene Werk Skoczeks, das 1928 komponierte Konzert für Orgel und großes Orchester op. 20, auf uns gekommen.

Nun hat es Andreas Willscher, einer der meistgespielten Orgelkomponisten unserer Zeit, Förderer wenig bekannten Repertoires und ausgewiesener Kenner der sudetendeutschen Musikgeschichte, unternommen, das Wissen über Erich Skoczek zusammenzutragen. Sein im Selbstverlag erschienenes, 170 Seiten umfassendes Buch dokumentiert nicht nur sämtliche bislang bekannte Quellen zu Skoczeks Biographie, sondern macht auch mit dem Großteil seiner erhaltenen Kompositionen bekannt. Nicht weniger als fünf Orgelstücke, die zu Lebzeiten des Komponisten veröffentlicht worden waren, finden sich bei Willscher vollständig abgedruckt, zwei davon auch in Fassungen für Klavier. Es sind:

Basilica di Roma op. 33

Eine holländische Mondnacht. Sinfonisches Intermezzo op. 39 (auch Fassung für Klavier 4-händig)

Deux piéces polytonales op. 42, Nr. 1: À Claude Debussy. Poème symphonique

Deux piéces polytonales op. 42, Nr. 2 Chanson

Eine Seelenwanderung op. 55 (auch Fassungen für Klavier 2-händig)

Studiert man diese Kompositionen, die zusammen etwa 2/3 des Bandes ausfüllen, wird sofort deutlich, dass Skoczek, der spätestens seit op. 42 seinen Vornamen zu „Eric“ französisierte, unter den deutschen und österreichischen Orgelkomponisten seiner Zeit eine der originellsten Erscheinungen gewesen ist. Sein großes Vorbild war offensichtlich Claude Debussy, dessen freie, von der klassischen Funktionsharmonik gelöste Akkordbildung und Stimmführung er auf die Orgel überträgt. Auch hinsichtlich der Registrierung gibt Skoczek sehr differenzierte Anweisungen. So nimmt es nicht Wunder, dass sich aus diesen Stücken ein wahres Füllhorn aparter, zauberischer Klänge ergießt.

Auszugsweise macht uns Willscher mit dem Orgelkonzert op. 20 und der Apotheose des Namens BACH op. 26 bekannt, einem Orgeltriptychon, in dessen Finale ein Sopransolo „Bach’s Verklärung im Himmel“ schildert. Als weitere musikalische Dokumente finden wir noch die einzig erhaltene Bassstimme des Chorwerks Christi Geburt op. 27 sowie den Anfang des von Skoczek erstellten Klavierauszugs einer Opernouvertüre von Arthur Johannes Scholz (1883–1945) mitgeteilt.

Als Musikschriftsteller lernen wir Skoczek mit einer kurzen Einführung in Beethovens letzte drei Klaviersonaten kennen, von der leider die Besprechung des Finales von op. 111 fehlt, sowie mit einem für eine Olmützer Zeitung verfassten Aufsatz über „Musik im Radio“, in welchem sich der Komponist zu den Verwendungsmöglichkeiten der verschiedenen Instrumente unter den Bedingungen des damaligen Rundfunks äußert und zu dem Schluss kommt: „Um die Feinheiten des Werkes feststellen zu können, muß man dieses aus erster Hand hören, das nur im Konzertsaal möglich ist, nicht durch den besten Radioapparat.“

Neben der Biographie des Komponisten, einem Verzeichnis seiner Werke (das 62 Opuszahlen umfasst), einer Übersicht über die Interpreten seiner Musik, und einer Sammlung zeitgenössischer Konzertkritiken, enthält der reich bebilderte Band weiterhin einen kurzen Abschnitt, in welchem sich Willscher kritisch mit den Thesen des Musikschriftstellers Anton Popovici auseinandersetzt, der 1935 eine kleine Monographie über Skoczek veröffentlicht hatte. Besonders dieser Teil des Buches lässt ahnen, über welch umfassende Kenntnisse der Orgelliteratur Andreas Willscher verfügt. Im Anhang finden sich außerdem das von Skoczek in seinem op. 26 vertonte Gedicht „Bach’s Verklärung“ von Grete Jank, sowie drei Improvisationsthemen, die der Retter des Orgelkonzerts, Anton Schindler, für Willscher aufgezeichnet hat.

Kritisch anzumerken wäre, dass das Buch besser hätte lektoriert werden müssen, denn leider sind einige Druckfehler stehen geblieben. Der erste findet sich bereits auf dem Einband, wo der Name des Komponisten „Scoczek“ geschrieben wird (was dazu führen kann, dass das Buch bei einer Suche schwerer gefunden wird). Auf S. 159 erfahren wir zwar die genauen Lebensdaten und einen knappen Lebenslauf des Komponisten des „Phantasiegemäldes mit Gesang in drei Aufzügen“ Der Zeitgeist oder Ein Besuch aus der Vorzeit von 1841, nicht aber dessen Namen Adolph Müller. Auch hätte man sich im Verzeichnis der Werke Skoczeks präzisere Angaben gewünscht. Zwar liest man dort die Titel aller bekannten Kompositionen (einige Opuszahlen konnten nicht zugeordnet werden) und auch, welche davon zu Lebzeiten gedruckt wurden, doch wird bei den anscheinend Manuskript gebliebenen nicht klar, welche verschollen und welche erhalten sind. So erhält man zum erhaltenen Orgelkonzert und zur fragmentarisch überlieferten Christi Geburt nicht mehr Informationen als zu anderen Kompositionen, deren Uraufführungsdatum bekannt ist. Gerade weil uns aus dem ganzen Buch die Liebe entgegenschlägt, mit der der Autor es geschrieben und gestaltet hat, wirken diese Einzelheiten störend! Dennoch muß betont werden, dass es sich um eine außerordentlich wichtige Veröffentlichung handelt, die Beachtung verdient. Musikwissenschaftler sollten sich davon zu weiteren Forschungen über Erich Skoczek anregen lassen, und Musiker dazu, seine Werke wieder zu Gehör zu bringen. Den Organisten hat Willscher hier genug Material an die Hand gegeben. Mögen sie es nutzen!

Um einen Eindruck von Skoczeks Klangwelt zu vermitteln, sei noch auf Auszüge einer Aufführung seines Orgelkonzerts durch die Mährische Philharmonie unter Petr Šumník mit Kateřina Chroboková an der Orgel hingewiesen:

Erich Skoczek – Concerto for Organ and Orchestra 1 – YouTube

Erich Skoczek – Concerto for Organ and Orchestra 2 – YouTube

Norbert Florian Schuck [Mai 2023]

Wien würdigt Kalevi Aho zum 74. Geburtstag

Nur wenige Komponisten unserer Zeit können auf ein so umfangreiches Schaffen zurückblicken wie der 1949 im finnischen Forssa geborene Kalevi Aho, Autor von 17 Symphonien, mehr als doppelt so vielen Instrumentalkonzerten und gut sechs Dutzend Werken für kammermusikalische Besetzungen vom Solostück bis zum Sextett. Einige dieser Werke gehören zu den meistgespielten zeitgenössischen Kompositionen ihrer jeweiligen Gattungen. So erlebte beispielsweise das Schlagzeugkonzert Sieidi in den zehn Jahren seit seiner Premiere 2012 bereits über 120 Aufführungen. In seiner Heimat ist Aho längst eine etablierte Größe des Musiklebens, wie nicht zuletzt das seit 2016 in seiner Geburtsstadt veranstaltete Festival Musica Kalevi Aho verdeutlicht. Aber auch außerhalb Finnlands weiß man den Meister zu würdigen. In Wien nahmen Musiker und Musikwissenschaftler den 74. Geburtstag des Komponisten am 9. März 2023 zum Anlass, mit einem Kammerkonzert und einer Gesprächsrunde an den beiden vorangegangenen Tagen gleichsam in das Jubiläum hinein zu feiern. Kalevi Aho wirkte an beiden Veranstaltungen mit.

Im Konzert, das am 7. März im Gläsernen Saal des Wiener Musikvereins stattfand, spielten das Violinistenehepaar Rémy und Iris Ballot, auch bekannt als Dirigent und Konzertmeisterin des Wiener Klangkollektivs, und die Pianistin Anika Vavić. Zwei Kompositionen Kalevi Ahos bildeten den Rahmen des Programms. Dazwischen waren Werke verschiedener anderer Komponisten zu hören: von Ahos verehrtem Lehrer Einojuhani Rautavaara, vom Übervater der finnischen Musik Jean Sibelius und von den beiden russischen Meistern Sergej Prokofjew und Dmitrij Schostakowitsch – die meisten davon mit einem mehr oder weniger deutlichen Bezug zu Wien. Nur in den Fünf Stücken für zwei Violinen und Klavier, einem Arrangement verschiedener Nummern aus Ballettsuiten und Filmmusiken Schostakowitschs durch Lewon Atowmjan, fanden alle drei Instrumente zusammen. Das übrige Programm bestand aus Solo- und Duowerken. Man hätte den Abend schwerlich eindrucksvoller eröffnen können als mit Rémy Ballots Darbietung von In memoriam Pehr Henrik Nordgren, einem Solostück, das Kalevi Aho 2009 zu Ehren des im Jahr zuvor gestorbenen großen Komponistenkollegen geschrieben hat. Ballot ließ die Musik sich mit rhapsodischer Spontaneität entfalten, ohne darüber den strengen, konsequenten Aufbau des Werkes zu vergessen. Die melismatischen Abschnitte und die choralartigen Doppelgriffpassagen gingen auseinander hervor wie Vorgesang und Responsorien, es entstand die bezwingende Wirkung eines schamanischen Trauerrituals. Hervorgehoben verdient noch zu werden, mit welcher Sicherheit Ballot eine äußerst leise Passage in höchster Lage meisterte, in der die Musik sich kaum mehr hörbar vor dem rauschenden Hintergrund des Bogenstrichs abspielt. Anika Vavić, die Ballot in Prokofjews Fünf Melodien op. 35a eine einfühlsame Begleiterin war, zeigte in der Suggestion diabolique op. 4/4 des gleichen Komponisten ihre Virtuosität, bevor sie sich in Sibelius‘ Impromptu op. 5/6, dem Tempo di valzer aus Prokofjews Klaviersonate Nr. 6 und Schostakowitschs Lyrischem Walzer & Romanze aus den Puppentänzen op. 91b als Meisterin der Charakterisierungskunst erwies. Durch alle Stücke, die gewissermaßen die Ausstrahlung des Wiener Walzers in andere Musikkulturen verdeutlichen, pulste jener dezente Schwung, der den Walzer erst zum Walzer macht. Ausgezeichnet gelang der Pianistin die verschiedenen Lagen des Klaviers gegeneinander abzuheben, sodass die einzelnen Stimmen miteinander dialogisierten und sich zeigte, wie farbig die Komponisten auf dem Klavier „instrumentieren“ konnten. Dieses klangliche Feingefühl kam auch den zwei Stücken Der Tod der Gottesmutter und Zwei Dorfheilige aus Einojuhani Rautavaaras Klavierzyklus Ikonen sehr zugute. Vavićs sicheres rhythmisch-melodisches Gespür ließ zudem die volksmusikalischen Wurzeln der Musik deutlich werden. Als drittes Stück Rautavaaras war eine Erinnerung an dessen Wiener Studienjahre zu hören, die den dritten Satz seiner Suite Lost Landscapes für Violine und Klavier bildet und nach der damaligen Wohnadresse des Komponisten Rainergasse 11, Vienna heißt. In dieser tiefempfundenen Elegie fand Anika Vavić in Iris Ballot ihre Partnerin an der Violine, und die Aufführung zeigte, dass Frau Ballot ihrem Manne im feinfühligen Gestalten der Phrasen, in der Sorgfalt der Tongebung und im Erfassen der melodischen Bögen nicht nachsteht. Die bereits erwähnten Schostakowitsch-Bearbeitungen hätten sich auch als heiterer Kehraus geeignet, doch damit sollte das Konzert noch nicht zu Ende sein. Der Abschluss blieb einer Uraufführung vorbehalten. Kalevi Ahos Fragen für zwei Violinen entstanden 2022 als Auftragswerk anlässlich der Hochzeit von Iris und Rémy Ballot. Das gut zehnminütige Stück ist ein veritables Gespräch in Tönen. Ein Instrument „fragt“, das andere „antwortet“, die Motive wechseln zwischen ihnen hin und her, werden variiert und fortgesponnen, wie man im Gespräch von einem ins andere kommt. Im Laufe des Werkes tauschen die beiden Violinen wiederholt die Rollen. Auch gibt es Abschnitte, die weniger nach Frage und Antwort klingen als nach gemeinsamer Erörterung eines Sachverhalts. Aho ist hier ein höchst feinsinniges und abwechslungsreiches Duo gelungen, das zwei einander ebenbürtige, technisch starke Spieler, die zeigen wollen, wie gut sie aufeinander hören können, vor lohnende Aufgaben stellt. Die Ballots haben sich „ihr“ Werk ganz zu eigen gemacht und brachten es aufs erfreulichste zum Sprechen, wobei zwischen beiden eine bewundernswerte Ausgeglichenheit herrschte. Eine solch innige Verbindung mit- und ein solch behutsames Eingehen aufeinander dürfte dem Komponisten als Ideal wohl vorgeschwebt haben.

Das Konzert bestand nicht nur aus musikalischen Beiträgen. Durch den Abend führte Peter Kislinger, der wohl beste Kenner des Ahoschen Schaffens in Österreich, der einem größeren Publikum vor allem durch seine Beiträge im Österreichischen Rundfunk (Ö1) als Förderer zeitgenössischer und Entdecker wertvoller, in Vergessenheit geratener Musik der Vergangenheit bekannt ist. Seine lebendigen Einführungen in die jeweiligen Stücke gaben dem Konzert ebenso zusätzlichen Wert wie die wiederholten kurzen Gespräche mit dem Komponisten. Kalevi Aho sprach u. a. über seine Freundschaft mit Pehr Henrik Nordgren und über Einojuhani Rautavaara, der gerade deswegen ein sehr guter Lehrer war, weil er es verstand, sich in die Werke seiner Schüler hineinzuversetzen und sie zu ermutigen, ihren eigenen Stil zu entwickeln. Auch über Ahos gegenwärtige Projekte konnten die Zuhörer etwas erfahren. Der Komponist hat gerade den Kopfsatz seiner Achtzehnten Symphonie vollendet, auch sei ein Orchesterwerk in Arbeit, das die Fragen aufgreift, aber anders weiterführt.

[Korrektur, 16. März 2023: Nach Mitteilung der Kalevi Aho Society wurde das Doppelkonzert für Violine, Violoncello und Orchester, welches am Anfang die Fragen zitiert, bereits am 18. Dezember 2022 vollendet.]

Am folgenden Tage leitete Dr. Andreas Holzer an der Universität für Musik und darstellende Künste eine Gesprächsrunde, an der neben Kalevi Aho auch Rémy Ballot, Peter Kislinger und die junge japanische Komponistin Reina Yoshioka teilnahmen. Angelpunkte des Gesprächs waren fünf Punkte, die Aho einst in einem Artikel als Aufgaben für die Komponisten unserer Zeit ausgemacht hatte:

1) Die Wiederentdeckung des Publikums
2) Die Suche nach einem Ausweg aus einer hermetischen Avantgarde samt Stärkung der Verbindung zur Vergangenheit
3) Die Stärkung der gesellschaftlichen Dimension von Musik
4) Die Entwicklung von Strategien, den Elfenbeinturm abzutragen
5) Der Komponist müsste fähig sein, der Musik tiefe emotionale Ausdrucksqualitäten zu verleihen

Aho berichtete aus dem finnischen Musikleben, wo zeitgenössische Musik ein fester Bestandteil regulärer Konzerte ist und nach wie vor zahlreiche neue Opern mit der Aussicht entstehen, in den namhaften Theatern des Landes zur Aufführung zu gelangen. Er selbst möchte Musik schreiben, die vom Publikum gern gehört und von Musikern gern gespielt wird. Sein erster Zuhörer ist er selbst: „Ich komponiere Musik, die ich selbst hören möchte.“ Als regelmäßig mit Aufträgen bedachter Komponist, trifft er sich sich vor der Arbeit an einem bestellten Werk mit den Musikern, für die es entstehen soll: „Zuerst kommen die Musiker zu mir und spielen mir vor. Dann denke ich an ihre Persönlichkeit und versuche so zu schreiben, dass das Werk für die Musiker sitzt. Wenn es für einen Musiker sitzt, dann wird es auch für andere Musiker annehmbar sein können.“ Aho gehört nicht zu denjenigen Komponisten, die um jeden Preis originell sein wollen: „Der Stil hängt davon ab, was man sagen möchte. Ich möchte nicht in einem Personalstil komponieren, denn dann verfällt man in Klischees. Ich mache mir klar, was ich sagen möchte. Der Stil kann sich von Werk zu Werk ändern, was sich nicht ändert, ist die Persönlichkeit des Komponisten.“ Dies ist einer der Gründe, warum der mitteleuropäische Modernismus, wie er sich letzten Endes in der Darmstädter Schule manifestierte, für ihn etwas Altmodisches ist. Großen Einfluss auf sein Schaffen hatte dagegen das Studium ursprünglicher musikalischer Phänomene außerhalb Europas: „Die Lösungen für Probleme fand ich nicht im mitteleuropäischen Modernismus, sondern ich habe mich mit Indischer und Arabischer Musik befasst. Ich habe seitdem oft arabische Instrumente verwendet und ein Buch über arabische Rhythmen geschrieben.“ Mit Jean Sibelius hat sich Aho viel beschäftigt. Er kennt sein Schaffen gut, sieht sich ihm durchaus innerlich verwandt, orientiert sich aber nicht bewusst an ihm. Auch denkt er beim Komponieren nie an etwas Finnisches. Seine Werke schreibt Aho seit langem sofort ins Reine, ohne Skizzen zu machen. „Ich fange an und mache weiter bis zum Schluss. Wenn ich beginne, weiß ich noch nicht, wie es sich entwickelt. Ich habe nur zweimal versucht, nach einem Plan zu schreiben. Habe ich etwa zwei Drittel des Stückes fertig, kann ich ungefähr sagen, wie es enden wird.“ Mitunter kristallisiert sich die jeweilige Gattung erst im Laufe des Kompositionsprozesses heraus. Interessanterweise entstand keine der ersten vier Symphonien des heute vor allem als Symphoniker bekannten Komponisten unter dem Vorsatz eine Symphonie zu schreiben. Zu seiner Ersten sagt Aho: „Ich wollte nur ein großes Werk für Orchester schreiben. Da sagte mein Lehrer Einojuhani Rautavaara: Das ist eine Symphonie.“ Auf die Frage, wie er den Begriff „Symphonie“ definiert, antwortet der Komponist: „Eine Symphonie ist ein großes Orchesterwerk, in dem der Komponist zeigt, was er kann, in dem er seine Gedanken kristallisiert.“ Kritik äußerte Aho an Konzertagenturen, die die von ihnen geförderten Musiker davon abhalten, sich mit zeitgenössischer Musik zu befassen. Er erzählte, wie ihn eine Geigerin um ein Violinkonzert bat, er sie jedoch aufgrund anderer Aufträge um zwei Jahre vertrösten musste. Nach der Fertigstellung des Werkes traf er die Geigerin wieder, doch sagte sie ihm diesmal, sie fühle sich noch nicht reif für moderne Musik. „Sie hatte eine andere Agentur.“

Vergnüglich waren Peter Kislingers Berichte über das Verhalten der Wiener Kritik im Laufe der Jahre gegenüber Werken zeitgenössischer finnischer Komponisten. Die von ihm zitierten Rezensionen boten wunderbares Anschauungsmaterial hinsichtlich des Umgangs der Kritiker mit dem Konzertpublikum. So erfuhr man vom einen Kritiker, dass das Wiener Publikum viel zu gebildet und anspruchsvoll sei, als dass solche Anbiederungsversuche, wie sie von Komponisten wie Rautavaara und Aho unternommen würden, Aussicht auf Erfolg hätten. Ein anderer Kritiker widersprach dem, denn die Musik habe dem Publikum gefallen – sie könne deshalb wenig taugen.

Rémy Ballot sprach aus eigener Praxis über das Erfassen des Zusammenhangs innerhalb einer Komposition – eine Sache, die ja nicht nur den Autor des Stückes und seinen Vermittler betrifft, sondern eminente Auswirkungen auch auf die Zuhörer hat. Denn wie kann ein Hörer ein Stück als ein Ganzes erleben, wenn es dem Musiker nicht gelingt, den Zusammenhang der Musik deutlich zu machen? „Der Klang ist nicht die Musik. Der Klang kann Musik werden. Er kommt von einem inneren Prozess her.“ Erst wenn es dem Musiker gelingt, Kontinuität in die Klänge zu bringen, das Hervorgehen eines klanglichen Phänomens aus dem anderen nachzuvollziehen, kommt eine lebendige Aufführung zustande. Wer unter den Zuhörern dieses Gesprächs das Konzert Tags zuvor miterlebt hatte, wusste nun, warum der Eindruck ein so vorteilhafter war!

Am 9. März, seinem 74. Geburtstag, reiste Kalevi Aho aus Wien ab. Und man hofft, dass die altehrwürdige Musikmetropole auch den 75. Geburtstag des Meisters angemessen zu würdigen versteht.

[Norbert Florian Schuck, März 2023]

Verlebendigte Wiener Klassik

Am 1. März 2023 spielte das Klangkollektiv Wien unter Leitung von Rémy Ballot im Großen Saal des Wiener Radiokulturhauses des ORF ein ganz im Zeichen der Wiener Klassik stehendes Programm. Auf Wolfgang Amadé Mozarts Große A-Dur-Symphonie KV 201 folgte die unter dem Namen La Reine bekannte Pariser Symphonie B-Dur Hob. I:85 von Joseph Haydn, bevor Franz Schuberts Symphonie Nr. 5 B-Dur D 485 den Abend beschloss. Der Verfasser dieser Zeilen war nicht selbst anwesend, sondern verfolgte das Konzert mittels Direktübertragung im Netz.

Wer das Konzert des Klangkollektivs im vergangenen November noch in angenehmer Erinnerung hat, als das Ensemble als reines Streichorchester zu hören war (nur in einem Werk durch die Soloflöte ergänzt), konnte sich nun davon überzeugen, dass es auch in größerer Besetzung vortrefflich spielt. Dirigent Rémy Ballot animierte die Bläser nicht weniger als die Streicher zu Höchstleistungen musikalischen Zusammenwirkens. Mit großer Liebe zum Detail sorgt er dafür, dass die Mittelstimmen nicht im Geschehen untergehen, dass man auch die langen Töne der Hörner und Holzbläser als Gesänge hört, die Teil am Ganzen haben. Er gehört zu denjenigen Dirigenten, die ihren Musikern vermitteln können, aufeinander zu hören. Alle wissen, wann sie wie stark hervorzutreten haben, wann sie führen, wann nur begleiten sollen, und sind während der Aufführung füreinander da. Ja, es ist echter Gemeinschaftssinn in diesem Orchester, dank Ballot, den man einen Meister des Ausbalancierens der Klanggruppen nennen muss.

Erfreuen konnte man sich auch an der kultivierten Artikulation des Orchesters. Man erlebte ein elegantes, lichtdurchflutetes Musizieren, aber ohne dass etwas glattgebügelt oder ruppig um der Ruppigkeit willen vorgetragen wurde. Hörte man Folgen von Staccato-Tönen, so waren es wirkliche Staccati, und doch herrschte ein Gefühl für die melodische Linie. Dieser Sinn für Melodie ließ auch die kontrapunktischen Stellen aufblühen. Das Klangbild war bei aller Grazie, die dem Ganzen inne wohnte, von einer angenehm kernigen Deutlichkeit. Solch ein Durchleben, solche Verlebendigung der Wiener Klassiker kann man nur wünschen in der heutigen Zeit häufiger zu hören.

[Norbert Florian Schuck, März 2023]

Klassisches vom Klangkollektiv Wien: Ballot dirigiert Mozart, Stamitz und Beethoven

Besprechung des Konzerts:

Wien, ORF RadioKulturhaus, 19. November 2022

  • Wolfgang Amadé Mozart: Eine Kleine Nachtmusik KV 525
  • Carl Stamitz: Flötenkonzert G-Dur
  • Ludwig van Beethoven: Streichquartett Nr. 16 F-Dur op. 135 (Fassung für Streichorchester)

Karin Bonelli, Flöte

Klangkollektiv Wien

Rémy Ballot, Dirigent

Zugleich Vorstellung der CD:

Ludwig van Beethoven: Streichquartette op. 131 und op. 135

Gramola, 99248; EAN: 9 003643 992481

Das erst vor wenigen Jahren von Norbert Täubl, dem Klarinettisten der Wiener Philharmoniker, und Rémy Ballot, dem Dirigenten der St. Florianer Brucknertage, ins Leben gerufene Klangkollektiv Wien hat sich rasch den Ruf eines der hervorragendsten Kammerorchester unserer Zeit erworben. Mehrere Mitschnitte von Konzerten des international zusammengesetzten Ensembles, dessen Repertoireschwerpunkt auf der Epoche zwischen Joseph Haydn und Franz Schubert liegt, sind bei Gramola auf CD erschienen. Sie zeugen gleichermaßen von der hohen Spielkultur, die in diesem Orchester herrscht, wie von der außerordentlichen Kapellmeisterbegabung Rémy Ballots. Wer sich am Abend des 19. November 2022 im großen Sendesaal des ORF RadioKulturhauses einfand, konnte ein weiteres Mal bestätigt finden, dass die Auftritte des Klangkollektivs zu den Höhepunkten des Wiener Musiklebens zählen. Das Orchester spielte unter Ballots Leitung in einer Besetzung von 16 Streichinstrumenten zuerst Eine kleine Nachtmusik von Wolfgang Amadé Mozart. Anschließend begleiteten die Streicher die Flötistin Karin Bonelli im Flötenkonzert G-Dur von Carl Stamitz, bevor am Ende des Programms mit dem chorisch gespielten Streichquartett Nr. 16 F-Dur op. 135 von Ludwig van Beethoven wieder ein reines Streichorchesterstück zu hören war.

Die Auswahl der Stücke ließ bereits erwarten, dass der Abend dem fließenden Übergang von kammermusikalischem und orchestralem Musizieren gewidmet war. Die Kleine Nachtmusik ist Mozarts einzige nur für Streicher geschriebene Serenade und auch als Quartett ausführbar, doch ihr Tonsatz ist über weite Strecken eindeutig der eines Orchesterwerks. Umgekehrt animiert Beethoven in seinen späten Quartetten das Kammerensemble an zahlreichen Stellen geradezu, sich als ein Orchester zu fühlen. Selbst in op. 135, dem anmutigsten dieser Werkgruppe, in dem das Pathos der vorangegangenen Quartette opp. 130–132 und der Großen Fuge op. 133 weitgehend in ein hintersinniges Spiel verwandelt scheint, finden sich solche quasi-orchestralen Takte, etwa in der Einleitung des Finales, wo die Frage „Muss es sein?“ mit bohrender Intensität gestellt wird. Es liegt also durchaus nahe, dieses Stück auch in größerer Besetzung vorzutragen. Carl Stamitz bildete zwischen den Werken seiner großen Zeitgenossen das entspannte Intermezzo. Sein Flötenkonzert versetzte die Zuhörer in die Welt des galanten Rokoko, als Orchester zum großen Teil tatsächlich noch in der Kammer spielten.

Rémy Ballot führt das Klangkollektiv sicher und unbeirrt durch diese Grenzregion zwischen Symphonik und Kammermusik. Dass er neben seiner Dirigententätigkeit auch als Kammermusiker wirkt, dürfte seinen Anteil daran haben. (An dieser Stelle sei auf die in jeder Hinsicht herausragende Aufnahme von Anton Bruckners Streichquartett und -quintett durch das Altomonte-Ensemble mit Ballot als Primgeiger hingewiesen.) Vor allem aber befähigt ihn sein Gespür für die Entwicklung melodischer Linien und die Darstellung polyphoner Strukturen dazu. Ballot ist kein Mann der schrillen Effekte. Wenn etwa Sforzati oder abrupte Wechsel von Forte und Piano vorgeschrieben sind – wie man dergleichen namentlich bei Beethoven immer wieder antrifft –, ist das für ihn nicht zwingend ein Anlass, dem Publikum rohe Kraft zu demonstrieren oder es durch die virtuose Darbietung scharfer Kontraste zu verblüffen. Er achtet vor allem darauf, in welcher Beziehung die entsprechenden Stellen mit ihrer Umgebung stehen. Sie werden nicht als isolierte Momente vorgeführt, sondern als Teile eines größeren Zusammenhangs begriffen, als Ereignisse, die eine Vor- und Nachgeschichte haben. Welche Funktion hat der durch das Sforzato hervorgehobene Ton innerhalb der Melodie, zu der er gehört? Welchen Verlauf nimmt die Periode, in der mehrfach die Lautstärke wechseln soll? Die Frage des richtigen Vortrags ist für Ballot offensichtlich immer mit der Frage nach der schlüssigen Wiedergabe der musikalischen Handlung verknüpft. Nichts überlässt er dem Zufall, jede Phrase erscheint auf ihre Stellung im großen Ganzen hin geprüft. Das „kammermusikalische“ und das „orchestrale“ Musizieren ergeben sich ganz natürlich aus der jeweiligen Situation im Verlauf der Musik. Es sind nicht Gegensätze, sondern Wechsel des Zustands. Eines geht aus dem anderen hervor. Die Differenziertheit im Vortrag, zu der Ballot sein Orchester animiert, ist nichts anderes als eine genaue Darstellung der Vielgestaltigkeit des Mozartschen und Beethovenschen Tonsatzes. Besonders loben muss man, wie wunderbar das Klangkollektiv die kontrapunktischen Abschnitte umsetzt. Wenn die Motive durch die Stimmen wandern, erlebt man in aller Deutlichkeit, wie trefflich die einzelnen Instrumentengruppen in Kontakt miteinander stehen, wie gut sie aufeinander zu hören wissen. So wird kein Themeneinsatz überdeckt. Jede Stimme kann führen, jede kann begleitend zurücktreten. Gesittete Dialoge geraten ebenso vorzüglich wie spannungsvolle Engführungen. Aber auch in einer mit kontrapunktischen Demonstrationen kaum aufwartenden Partitur wie der Kleinen Nachtmusik bewährt sich der Sinn des Dirigenten für Polyphonie, sodass durch die Aufführung deutlich wurde, wie feinsinnig Mozart auch in diesem schlicht gehaltenen Stück zu Werke gegangen ist.

Sehr aufschlussreich ist es, Dirigent und Orchester bei der Aufführung zuzusehen. Ballot achtet sorgsam darauf, dass die Kommunikation zwischen ihm und den Musikern nicht abreißt. Der Augenkontakt ist ihm sichtlich nicht minder wichtig als die Bewegungen der Hände. So dirigierte er den Anfang des Finales der Kleinen Nachtmusik beinahe nur mit den Augen und brachte die Hände erst beim ersten Forte ins Spiel. Seine Bewegungen sind im allgemeinen sparsam und immer präzise. Stärker ausladende Gesten hebt er sich für besondere Stellen auf. Die Orchestermitglieder achteten hellwach auf alle Zeichen und spielten hochmotiviert.

Zum reinen Streicherklang gesellte sich in Stamitzens Flötenkonzert Karin Bonelli, ebenfalls Mitglied des Klangkollektivs, als Solistin. Das Orchester hat hier weitgehend begleitende Funktion – auch in dieser Rolle agiert das Klangkollektiv tadellos –, während die Flöte eindeutig im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Stamitz führt die Solostimme regelmäßig durch den gesamten Tonraum des Blasinstruments und gibt damit Karin Bonelli ein geeignetes Betätigungsfeld, ihre Stärken zu zeigen. Das Spiel der Flötistin erfreut besonders durch ihre Fähigkeit, jedem Register eine charakteristische Klangfarbe zu verleihen, sodass, wenn sie zwischen den Lagen wechselt, dialogische Wirkungen entstehen. Noch deutlicher wurde dies in ihrem Zugabestück, dem Kopfsatz der Solosonate h-Moll von Carl Philipp Emanuel Bach.

Auch die Streicher spielten eine Zugabe nach dem abschließenden Beethoven-Quartett. Angesichts der anhaltenden Kriegshandlungen in der Ukraine, der Heimat dreier Mitglieder des Klangkollektivs, hatte man sich entschieden, den sorgsam gesetzten klassischen Rahmen zu verlassen und das Konzert mit einem Werk des 20. Jahrhunderts zu beenden, das auf eine lange Tradition der Verwendung als Trauermusik zurückblicken kann: Samuel Barbers Adagio for Strings. Wie intensiv die Aufführung auf das Publikum wirkte, zeigte sich daran, dass nach dem Verklingen des letzten Tons im Saal vollkommene Stille herrschte. Erst nach einer – gefühlt sehr langen – Pause sahen sich die Zuhörer in der Lage zu applaudieren, und sie taten es in spürbarer Begeisterung darüber, einen Konzertabend höchster Qualität erlebt zu haben.

Seit kurzem liegt eine Aufführung von Beethovens Quartett op. 135 durch das Klangkollektiv unter der Leitung Rémy Ballots auf einer CD vor, die, wie die anderen CDs des Orchesters, bei Gramola erschienen ist. Es handelt es sich um den Mitschnitt eines Konzerts im Penzinger Lorely-Saal vom 7. Oktober 2020, in welchem neben op. 135 auch das Quartett Nr.  14 cis-Moll op. 131 erklang. Dieses erlebte eine Wiedergabe, die seine ganze Vielgestaltigkeit in nahezu idealer Weise erfahrbar machte. Welch eine blühende Polyphonie in der einleitenden Fuge! Welch eine Leichtigkeit in den beiden scherzoartigen Sätzen! Der langsame Mittelsatz entfaltet sich in einem großen Bogen von knapp 17 Minuten Dauer, wobei die Variationen ganz natürlich auseinander hervorgehen. Zum Herzstück des Ganzen gerät der kurze sechste Satz, der im Wesentlichen eine langsame Einleitung zum Finale ist. Wie Ballot die Musik hier innehalten lässt und gleichzeitig eine enorme Spannung erzeugt, die sich erst im Schlusssatz entlädt, ist schlichtweg große Kunst. Das Finale wird, ohne übereilt zu wirken, mit unwiderstehlicher Energie musiziert, doch kommt im Seitensatz auch Ballots Meisterschaft im Gestalten schlüssiger Rubati zu tragen.

Die akustischen Bedingungen waren bei dieser Aufnahme nicht ganz so ideal wie jetzt im RadioKulturhaus, doch trübt dies den Gesamteindruck der CD angesichts der meisterlichen Darbietungen keineswegs. Wer erleben möchte, wie prächtig sich Beethovens späte Quartette als Streichersymphonien ausnehmen, dem sei diese Platte nachdrücklich empfohlen.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2022]

Eröffnungskonzert des neuen Bösendorfer-Saales in Wien mit Aris Alexander Blettenberg

Wien, Haus der Ingenieure (Eschenbachgasse 9)

Donnerstag, 29. September 2022, 19:30

Aris Alexander Blettenberg, Klavier

Ludwig van Beethoven (1770–1827)
32 Variationen über ein eigenes Thema WoO 80

Georges Bizet (1838–1875)
Variations chromatiques de concert

Ludwig van Beethoven
Polonaise op. 89

Julius Zellner (1832–1900)
Andante und Scherzo op. 13

Hans von Bülow (1830–1894) / Franz Liszt (1811–1886)
Dante-Sonett Tanto gentile e tanto onesta S. 479

Felix Draeseke (1835–1913)
Sonata quasi Fantasia op. 6

1872 richtete Ludwig Bösendorfer, der angesehenste Klavierfabrikant Österreichs, im Wiener Palais Liechtenstein einen Konzertsaal ein, der in den folgenden vier Jahrzehnten zu einer der wichtigsten Spielstätten der österreichischen Hauptstadt wurde. Weithin gerühmt wurde seine hervorragende Akustik. Keinem Geringeren als Hans von Bülow war es vorgehalten, den Saal am 19. November 1872 einzuweihen. Es folgten Auftritte zahlloser berühmter Musiker wie Franz Liszt, Richard Wagner, Anton Rubinstein, Hugo Wolf, Ignacy Paderewski, Eugen d’Albert, Richard Strauss, Ferrucio Busoni, Max Reger, Artur Schnabel und das Rosé-Quartett. Mit dem Abriss des Palais Liechtenstein endete die Reihe aufsehenerregender Konzerte im Jahr 1913.

Nun wird in Wien im Haus der Ingenieure ein neuer Bösendorfer-Saal eingeweiht. Das Konzert, mit dem Bösendorfer Artist Aris Alexander Blettenberg die Spielstätte am 29. September 2022 eröffnen wird, schlägt in mehrfacher Weise den Bogen zum historischen Konzert Hans von Bülows. Felix Draesekes Sonate op. 6 wird dabei erstmals in Wien zu hören sein. Das Werk, das 1870 mit einer Widmung an Bülow erschienen war, erfreute sich der besonderen Wertschätzung Franz Liszts, der es regelmäßig spielte und als bedeutendste Klaviersonate seit Schumanns op. 11 ansah.

Aris Alexander Blettenberg, geboren 1994 in Mühlheim an der Ruhr, ist Komponist, Dirigent und Pianist. Er gewann 2015 in Meiningen den Internationalen Klavierwettbewerb Hans von Bülow in der Kategorie Dirigieren vom Klavier und 2020 den Internationalen Beethoven Klavierwettbewerb Wien.

[Nobert Florian Schuck, September 2022]

Liveaufnahmen für Debussy

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 558; EAN: 4 260052 385586

„Pour le tombeau de Claude Debussy“ der Pianistin Judith Jáuregui beschäftigt sich mit Werken des französischen Meisters und seines Umfelds. Beginn und Ende des Albums stehen im Zeichen spanischer Komponisten, auf die Debussy großen Einfluss ausübte: Manuel de Falla, dessen Homenaje mit gleichem Titel ‚Pour le tombeau de Claude Debussy‘ wir hören, und Federico Mompou, von dem Jáuregui ‚Jeunes filles au jardin‘ aus Debussys Todesjahr 1918 spielt. In der Mitte des Programms finden wir Debussys Estampes L100 und L’Isle joyeuse, welche umgeben sind von zwei Komponisten, auf die sich Debussy seinerseits bezog: Franz Liszt, dessen Ballade Nr. 2 S.171 gespielt wird, und Frédéric Chopin, von dem Andante Spianato und Grande Polonaise Brillante op. 22 erklingen.

Im vergangenen Jahr hörten wir anlässlich des 100. Todestags von Claude Debussy zahlreiche Aufnahmen seines Werks; zum Ausklang dessen erschien nun Judith Jáureguis CD „Pour le Tombeau de Claude Debussy“, ein Mitschnitt ihres Livekonzerts vom 4. Oktober 2018 im Rahmen der Imperial in Concert Series in Wien. Jáuregui widmet sich Werken, die Debussy prägten, die Debussy komponierte und auf die Debussy Einfluss übte.

Zur ersten Kategorie, die für Debussy maßgeblichen Komponisten, zählen Franz Liszt und Frédéric Chopin. Besonders bei Liszt gibt sich schnell Jáureguis eigener Ton zu erkennen: Bereits in den ersten Takten verblüfft die Pianistin durch ein extrovertiertes und markiges Spiel. Sie hält die umherirrend chromatischen Läufe der linken Hand nicht in geheimnisvoller Dunkelheit, wie man sie meist hört, sondern stellt sie als aussagekräftige Figur in den Raum, zu der die rechte Hand später gleichwertig hinzutritt. Virtuos, aber ohne übermäßige Selbstzurschaustellung durchbrechen die rasanteren Passagen die Stimmung des Beginns, die Ruhepole nimmt Jáuregui nicht zu schleppend in sanglichem Zeitmaß. Chopins Andante Spianato gestaltet die Pianistin zu einem großen Einatmen vor der rasenden Grande Polonaise Brillante: Hier gelingen ihr die größten Kontraste zwischen absoluter Introversion und übermächtig rhythmischen Drang.

Jáureguis Debussy-Aufnahmen sollte man sich mehrfach anhören, um sich in ihre Darstellungsweise einzuhören. Denn sie überrascht durch offenes und vergleichsweise extrovertiertes Spiel, das so gar nicht zu dem üblichen Bild passt, was wir von Debussy haben. Doch es funktioniert! Vor allem Pagodes erscheint anfangs ungewohnt, besticht jedoch durch enormen Farbenreichtum und präzise abgestuften Klang. La soirée dans Grenade ruft sogleich Erinnerungen an das zuvor gehörte Stück de Fallas wach; in Jardins sous la pluie werden die Regentropfen regelrecht spürbar beim Spiel von Judith Jáureguis und man nimmt dieses Stück mit allen Sinnen wahr. L’Isle joyeuse ist der Pianistin förmlich auf den Leib geschrieben, die sprudelnde Energie und die fröhliche Stimmung schmeicheln ihrem Stil das Werk wird zur erquickenden Quelle, die Fernweh evoziert.

Fernweh nach Spanien vielleicht. Das Programm beginnt mit Manuel de Fallas Homanaje ‚Pour le tombeau de Claude Debussy“, welches ursprünglich für Gitarre komponiert wurde und einen Trauermarsch in Form einer langsamen Habanera darstellt – ein von Debussy sehr geschätzter und selbst mehrfach in Noten gesetzter Tanz. Beschlossen wird die CD durch Mompous ‚Jeunes filles au jardin‘. Judith Jáuregui nimmt die Musik temperamentvoll, in jedem Ton klingt Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit mit, dass sie das, was sie spielt, genauso meint. Dabei bleibt die wechselseitige Verbindung zwischen der französischen und der spanischen Musik unverkennbar.

[Oliver Fraenzke, März 2019]