Schlagwort-Archive: Musikverein Wien

Jetzt hat er uns geprüft: Das Bruckner Orchester Linz unter der Leitung von Marek Janowski im Musikverein Wien

Im Bruckner-Jahr hat das Publikum die Möglichkeit zur eingehenden Beschäftigung mit den Symphonien von Anton Bruckner. Die Aufführung seiner 5. Symphonie durch das Bruckner Orchester Linz unter der Leitung von Marek Janowski am 8. März 2024 im Wiener Musikverein gab dabei Gelegenheit, einige grundlegende Überlegungen anzustellen.

Gedenktafel an der Kirche Maria Treu, Wien.

Zunächst überraschte und überzeugte das Bruckner Orchester Linz von den ersten Noten an mit etwas, das man tatsächlich Bruckner-Klang nennen kann: ruhige Bogengeschwindigkeit auch bei zunehmend rascheren Tempi und sparsames Vibrato bei den Streichern und ein in jeder Dynamik kompakter, nie überbordener Bläserklang ließen erst aufhorchen und dann vertieft zuhören. Es steht völlig außer Frage, dass dieses Orchester ein echtes Bruckner-Orchester ist, und in der Lage, den besonderen Anforderungen einer Bruckner-Partitur im Hinblick auf dunkle, grundierte Tongebung, langen Atem und Perspektive weiter Klangflächen gerecht zu werden.

Marek Janowski kann man mit höchstem Respekt einen großen Dirigenten der alten Schule nennen, wenn man eine solche in Gegensatz zu einer neuen, bzw. modernen Schule stellen könnte, allein ermangelt es wohl einer solchen. Marek Janowski zeigt eindrücklich, was ein wirklicher Dirigent ist, dem es um das Werk geht und darum, jederzeit mit sicherer Hand und angemessener Zeichengebung einen musikalischen Fluss zu ermöglichen und zu steuern.

Es gibt nicht viele Dirigentinnen und Dirigenten der jüngeren Generation, die dies vermögen, oder überhaupt das Bedürfnis nach einer solchen Berufsauffassung zeigen – was gerne als Aufforderung verstanden werden darf, sich doch wirklich um eine fundierte dirigentische Bildung und Ausbildung mit etwas Demut vor den zu dirigierenden Werken und ihren Komponisten zu bemühen, und sich nicht von frühen und raschen Karriereerfolgen entweder blenden zu lassen oder sich solche zum Vorbild zu nehmen.

Janowski zeigt uns, dass der Dirigierberuf eine Substanz hat, die nicht wegdefiniert werden kann, hochaktuell und gleichzeitig kaum noch vorhanden, und nicht den Schwankungen von Moden oder dem Geschmack des Social-Media-Publikums unterworfen ist, sondern zeitlose Anforderungen stellt, und was es heißt, nicht einem volatilen Erregungsgrad, wodurch auch immer hervorgerufen, beim jederzeit applausbereiten Publikum zu dienen.

Dies vorausgeschickt, muss nun aber trotzdem konstatiert werden, dass der Abend nicht so verlief wie zunächst erhofft. Bruckners 5. Symphonie gilt von jeher als seine schwierigste, vor allem, weil das Finale aus scheinbar unübersichtlichen Kontrapunktstücken besteht, bevor es dann glücklich in einen überwältigenden Schlusschoral mündet, der nicht nur als Coda den letzten Satz, sondern die ganze Symphonie zusammenfasst, abrundet und beschließt. Das kann nur Bruckner.

Beginnen wir mit dem 1. Satz. Die ersten Takte ließen unbedingt klanglich aufhorchen, selten und schon lange nicht mehr so gehört, doch schon bald störte beim ersten „Bewegter“, wo Bruckner das künftige Allegro-Tempo als Referenz vorschreibt, ein etwas zu gewolltes accelerando die natürlich Entwicklung.

Es gibt wohl eine Tradition, hier das Tempo zugunsten eines dramatischen Effekts anzuziehen, doch widerspricht dies nicht nur der Vorgabe Bruckners, sondern überhaupt dem alten Gesetz und klassischen Prinzip der Tempoproportion, dem sich Bruckner als vermeintlicher Romantiker – kaum unpassender kann dieser Begriff sein als im Zusammenhang mit dieser Symphonie – hier verschreibt, und dem auch sein wiederum vermeintlicher Antagonist Brahms, zum Beispiel in seiner 1. Symphonie, gehorcht hat.

Nun, einer Partitur mit ihren innewohnenden Gesetzen strikt zu gehorchen ist nicht jedermanns Sache; zu gerne und zu leicht stellt man auch unmerklich den Komponisten hintenan und sich selbst vor das Werk, was das Publikum oft dankbar mit einem anerkennenden Seufzer angesichts eines erkennbaren sogenannten Gestaltungswillens des Interpreten honoriert.

Marek Janowski ist jedoch erkennbar kein Egomane, dem die Partitur in dieser Beziehung egal wäre, sondern als Dirigent immer ein Diener des Werks und Metierbeherrscher, jedoch scheint er hier der obengenannten Tradition zu folgen, die aus Althergebrachtheit noch nicht das Bedürfnis oder die Gelegenheit hatte, eine Bruckner-Partitur nicht nur als Empfehlung anzusehen, und sogar als eine Art Verfügunsgmasse, mit der man irgendetwas anstellen muss, um sie zur Wirkung zu bringen. Nun hat man mit Bruckner‘schen Symphonien bekanntermaßen schon zu seinen Lebzeiten alles Mögliche angestellt, und es fehlt auch heute noch oft, und das ist eine bittere Erkentnis, eine Befreiung von falschen Traditionen, durch die Bruckner nicht mehr als irgendetwas interpretiert, sondern wirklich durchgehört und dann entsprechend musiziert wird. Das gab es vereinzelt hier und da, doch liegt das schon eine Zeit zurück und ist wohl nicht durchwegs auf fruchtbaren Boden gefallen.

So braucht man zunächst viel Vertrauen in Bruckner, um sich auf die Mächtigkeit seiner Symphonien einzulassen und die absolute Klarheit seiner Partituren zu erkennen, und sie letztlich ausschließlich aus den Gesetzlichkeiten des Tonsatzes entstehen zu lassen.

Beim Beginn des 1. Satzes, störte also das so willkürlich-traditionelle wie traditionell-willkürliche accelerando die auskomponierte, also nicht interpretierbare, Tempoproportion, auch wurde die höchste Spannung des dem Allegro unmittelbar vorausgehenden Adagios mit seinen dominantischen Nonen-Akkorden bedeutungslos überspielt anstatt seine Funktion als unmittelbarer Auslöser des Allegros hörbar zu machen, um das Tempo nun gänzlich ohne Berücksichtigung des Tempoverhältnisses noch weiter zu beschleunigen, vielleicht in der Hoffnung, diese gefürchtete „symphonische Riesenschlange“ (so der unvermeidliche Hanslick) am Ende nicht zu lang werden zu lassen.

Musik hält oft einiges aus; so sind Symphonien von Beethoven vergleichbar eingreifenden Ansätzen gegenüber, die meist als Geschmacksfragen abgetan und dadurch einer substanziellen Diskussion enthoben werden, durchaus resilient. Bruckner hat solchen Eingriffen weniger entgegenzusetzen, scheint es, und so zerfiel der 1. Satz nach und nach, doch noch unmerklich, da das Heilsuchen in schnellen Tempi, in der Coda auf die Spitze getrieben, und in oberflächlicher Dramatisierung zumindest den Effekt hatte, über die verlorengehenden Details hinwegzuwischen. Bruckner ist aber kein Dramatiker, sondern ein Symphoniker.

Und so war kaum etwas irgendwann die musikalische Konsequenz des Vorhergegangenen. Das ging an, solange man als Hörer nicht den wunderbaren Klang des Orchesters vom ersten Beginn vermisste, der mit zunehmender Länge des ersten Satzes nach und nach seine innere Gefasstheit, und damit von seiner ureigenen Bruckner-Orchester-Linz-Qualität, verlor.

Wirklich virulent wurde dieses wie ein Riss in einer Mauer fortschreitende Phänomen mit dem zweiten Satz, der denn auch als nicht gelungen bezeichnet werden muss. Es existiert hier eine immerwährende Diskussion darüber, ob der Beginn eigentlich im vogegebenen alla-breve Metrum in sechs oder in vier geschlagen werden soll. Das mit vier Takten beginnende Streicher-Pizzicato ist in triolischen Vierteln notiert, das dann einsetzende Thema in duolischen Vierteln.

Die erste Meinung, durchaus schwierig umzusetzen, geht dahin, gegen die Triolen des Pizzicatos der Streicher vier zu schlagen, was zu einer starken – aber so komponierten – metrischen Spannung führt, die von der mit dem Thema einsetzenden Oboe komplettiert wird. Eine andere, pragmatischere Meinung, der Marek Janowski hier folgt, findet es besser, sechs zu schlagen, weil es einfacher für die Streicher sei, und auch im Verlauf des Satzes seine Vorteile habe. Oder man argumentiert gar, Bruckner habe falsch notiert – welch köstlich-naive Vorstellung!

Es war nun sehr interessant zu beobachten, was daraus folgte. Das Tempo ist zu Beginn als „Sehr langsam“ bezeichnet, resultierte an diesem Abend dann aber durch im Tempo nicht ganz stabile Triolen-Viertel, hörbar am unweigerlichen Davonrennen der Sextolen-Achtel, die das erste Thema in das zweite überleiten, in ein dahinfließendes Andante, und wurde durch dieses etwas zu rasche Tempo, bedingt durch das nicht stattgefundene Gegen- und Übereinander von Triolen und Duolen beim Beginn, zur Ursache einer durchgehend wachsenden klanglichen inneren Nervosität der Ausführung.

Auch das zweite Thema, mit „Sehr kräftig, markig“ bezeichnet, brachte keine Ruhe ins Spiel, vielmehr zog der Dirigent ganz ohne Not oder Partituranweisung das Tempo noch einmal an und versäumte so schon zu Beginn, dem Werk den breiten Atem zu geben, den es braucht, um auch der Steigerung zum Schluss hin ihre ganz von innen kommende Wirkung zu ermöglichen.

Das Werk bekam keine Zeit, sich vollends zu entfalten, und das Ergebnis war nun, wo Ruhe in der Bewegung hätte sein müssen, eine eigenartige, nervöse Unruhe und klangliche Instabilität, die sich durch den gesamten zweiten Satz zog; dies mit der äußerst eigentümlichen Folge, dass das Publikum, von dieser inneren Unruhe zunehmend erfasst, nach dem zweiten Satz plötzlich zaghaft und fast ratlos applaudierte, als wenn es sich von seiner eigenen Nervosität zu befreien suchte (und keineswegs, weil es die Regel, zwischen den Sätzen nicht zu klatschen, etwa nicht gekannt hätte).

Was dem zweiten Satz so abträglich war, störte beim dritten Satz viel weniger, da Bruckner hier deutliche Tempoveränderungen zwischen den Ideen, bzw. Themen, vorschreibt, die die robuste Materie des Scherzos sogar fördern; eine gewisse Willkür in der Tempowahl ist hier sowohl weniger auffällig, als auch schwerer zu bewerkstelligen, und kann sich nicht so negativ auswirken wie in den beiden vorangegangenen Sätzen.

Das Orchester nahm intuitiv die Möglichkeit wahr, im Verlaufe dieses Satzes wieder zu einer gewissen Solidität zu finden, wenn auch das Versprechen der ersten Takte des ersten Satzes nicht wieder eingelöst werden konnte. Hier sei am Rande empfohlen, zumindest die ersten Holzbläser im forte und fortissimo zu verdoppeln, da das wunderbare Blech das Holz in dieser Lautstärke meist überdeckte, trotz der unfassbar guten Akustik des Musikvereins, die großen Ton und Transparenz im Klang gleichermaßen begünstigt – es fällt wahrhaftig schwer, dort zu sitzen und nicht zu glauben, dass es irgendwo auf der Welt eine bessere Akustik geben könnte.

Der letzte Satz verging dann, wie es nach dem Verlauf der ersten drei Sätze zu erwarten war: der Beginn mit den Zitaten der vorigen Sätze wurde schnell abgehandelt, die Klarinette warf lustvoll und etwas zu keck (es ist eben noch kein Mahler) das zukünftige Hauptmotiv des Finales ein, das sich dann mehr oder weniger, aber immer kraftvoll artikuliert, entfaltete.

Der vorherrschende Kontrapunkt des Satzes ist in einer heilsamen Weise bestimmend, da er sui generis keine zu schnellen Tempi zulässt und deutlich ausformuliert sein möchte. Gleichwohl fand die große Form des Satzes nicht mehr statt, der große Faden war längst gerissen und verloren, es blieb beim Klein-Klein, bis sich am Ende in der Choral-Coda alles doch glücklich miteinander versöhnte.

Das Publikum spendete beherzten und anhaltenden Beifall, denn es hatte das Glück, ein an sich wunderbares Bruckner-Orchester mit einem hervorragenden Dirigenten, der eine absolute Zierde für die Profession und unbedingt ein Vorbild für die nachwachsende dirigentische Generation ist, zu erleben, dessen Ausführung gleichwohl von obsoleten Traditionen und einer diesen innewohnenden, ganz unangebrachten Angst, das Ende der Symphonie nicht zu erreichen, geprägt war.

Es sind eben doch keine symphonischen Riesenschlangen, und auch keine symphonisch-oberösterreichischen Hügellandschaften, sondern lediglich große, sehr große Symphonien, die dem Gedanken der persönlichen Interpretation, dem Gedanken, der Interpret sei frei und solle oder könne etwas mit einem Stück „machen“, klare Grenzen setzen. Das war an diesem Abend zu lernen, und das ist schon einmal eine Erkenntnis für das Brucknerjahr, die Hoffnung für die Zukunft der Bruckner-Praxis weckt.

Ein Wunsch für das laufende Bruckner-Jahr wäre, dass sich die Aufführenden immer neu mit den Partituren und den diesen innewohnenden Gesetzlichkeiten auseinandersetzen und diese umzusetzen versuchen, und gerne daran scheitern, ohne sich in einfache Antworten oder Routine zu retten. Diesmal hat uns Bruckner geprüft, und es hat noch nicht ganz gereicht.

[Jacques W. Gebest, März 2024]

Wien würdigt Kalevi Aho zum 74. Geburtstag

Nur wenige Komponisten unserer Zeit können auf ein so umfangreiches Schaffen zurückblicken wie der 1949 im finnischen Forssa geborene Kalevi Aho, Autor von 17 Symphonien, mehr als doppelt so vielen Instrumentalkonzerten und gut sechs Dutzend Werken für kammermusikalische Besetzungen vom Solostück bis zum Sextett. Einige dieser Werke gehören zu den meistgespielten zeitgenössischen Kompositionen ihrer jeweiligen Gattungen. So erlebte beispielsweise das Schlagzeugkonzert Sieidi in den zehn Jahren seit seiner Premiere 2012 bereits über 120 Aufführungen. In seiner Heimat ist Aho längst eine etablierte Größe des Musiklebens, wie nicht zuletzt das seit 2016 in seiner Geburtsstadt veranstaltete Festival Musica Kalevi Aho verdeutlicht. Aber auch außerhalb Finnlands weiß man den Meister zu würdigen. In Wien nahmen Musiker und Musikwissenschaftler den 74. Geburtstag des Komponisten am 9. März 2023 zum Anlass, mit einem Kammerkonzert und einer Gesprächsrunde an den beiden vorangegangenen Tagen gleichsam in das Jubiläum hinein zu feiern. Kalevi Aho wirkte an beiden Veranstaltungen mit.

Im Konzert, das am 7. März im Gläsernen Saal des Wiener Musikvereins stattfand, spielten das Violinistenehepaar Rémy und Iris Ballot, auch bekannt als Dirigent und Konzertmeisterin des Wiener Klangkollektivs, und die Pianistin Anika Vavić. Zwei Kompositionen Kalevi Ahos bildeten den Rahmen des Programms. Dazwischen waren Werke verschiedener anderer Komponisten zu hören: von Ahos verehrtem Lehrer Einojuhani Rautavaara, vom Übervater der finnischen Musik Jean Sibelius und von den beiden russischen Meistern Sergej Prokofjew und Dmitrij Schostakowitsch – die meisten davon mit einem mehr oder weniger deutlichen Bezug zu Wien. Nur in den Fünf Stücken für zwei Violinen und Klavier, einem Arrangement verschiedener Nummern aus Ballettsuiten und Filmmusiken Schostakowitschs durch Lewon Atowmjan, fanden alle drei Instrumente zusammen. Das übrige Programm bestand aus Solo- und Duowerken. Man hätte den Abend schwerlich eindrucksvoller eröffnen können als mit Rémy Ballots Darbietung von In memoriam Pehr Henrik Nordgren, einem Solostück, das Kalevi Aho 2009 zu Ehren des im Jahr zuvor gestorbenen großen Komponistenkollegen geschrieben hat. Ballot ließ die Musik sich mit rhapsodischer Spontaneität entfalten, ohne darüber den strengen, konsequenten Aufbau des Werkes zu vergessen. Die melismatischen Abschnitte und die choralartigen Doppelgriffpassagen gingen auseinander hervor wie Vorgesang und Responsorien, es entstand die bezwingende Wirkung eines schamanischen Trauerrituals. Hervorgehoben verdient noch zu werden, mit welcher Sicherheit Ballot eine äußerst leise Passage in höchster Lage meisterte, in der die Musik sich kaum mehr hörbar vor dem rauschenden Hintergrund des Bogenstrichs abspielt. Anika Vavić, die Ballot in Prokofjews Fünf Melodien op. 35a eine einfühlsame Begleiterin war, zeigte in der Suggestion diabolique op. 4/4 des gleichen Komponisten ihre Virtuosität, bevor sie sich in Sibelius‘ Impromptu op. 5/6, dem Tempo di valzer aus Prokofjews Klaviersonate Nr. 6 und Schostakowitschs Lyrischem Walzer & Romanze aus den Puppentänzen op. 91b als Meisterin der Charakterisierungskunst erwies. Durch alle Stücke, die gewissermaßen die Ausstrahlung des Wiener Walzers in andere Musikkulturen verdeutlichen, pulste jener dezente Schwung, der den Walzer erst zum Walzer macht. Ausgezeichnet gelang der Pianistin die verschiedenen Lagen des Klaviers gegeneinander abzuheben, sodass die einzelnen Stimmen miteinander dialogisierten und sich zeigte, wie farbig die Komponisten auf dem Klavier „instrumentieren“ konnten. Dieses klangliche Feingefühl kam auch den zwei Stücken Der Tod der Gottesmutter und Zwei Dorfheilige aus Einojuhani Rautavaaras Klavierzyklus Ikonen sehr zugute. Vavićs sicheres rhythmisch-melodisches Gespür ließ zudem die volksmusikalischen Wurzeln der Musik deutlich werden. Als drittes Stück Rautavaaras war eine Erinnerung an dessen Wiener Studienjahre zu hören, die den dritten Satz seiner Suite Lost Landscapes für Violine und Klavier bildet und nach der damaligen Wohnadresse des Komponisten Rainergasse 11, Vienna heißt. In dieser tiefempfundenen Elegie fand Anika Vavić in Iris Ballot ihre Partnerin an der Violine, und die Aufführung zeigte, dass Frau Ballot ihrem Manne im feinfühligen Gestalten der Phrasen, in der Sorgfalt der Tongebung und im Erfassen der melodischen Bögen nicht nachsteht. Die bereits erwähnten Schostakowitsch-Bearbeitungen hätten sich auch als heiterer Kehraus geeignet, doch damit sollte das Konzert noch nicht zu Ende sein. Der Abschluss blieb einer Uraufführung vorbehalten. Kalevi Ahos Fragen für zwei Violinen entstanden 2022 als Auftragswerk anlässlich der Hochzeit von Iris und Rémy Ballot. Das gut zehnminütige Stück ist ein veritables Gespräch in Tönen. Ein Instrument „fragt“, das andere „antwortet“, die Motive wechseln zwischen ihnen hin und her, werden variiert und fortgesponnen, wie man im Gespräch von einem ins andere kommt. Im Laufe des Werkes tauschen die beiden Violinen wiederholt die Rollen. Auch gibt es Abschnitte, die weniger nach Frage und Antwort klingen als nach gemeinsamer Erörterung eines Sachverhalts. Aho ist hier ein höchst feinsinniges und abwechslungsreiches Duo gelungen, das zwei einander ebenbürtige, technisch starke Spieler, die zeigen wollen, wie gut sie aufeinander hören können, vor lohnende Aufgaben stellt. Die Ballots haben sich „ihr“ Werk ganz zu eigen gemacht und brachten es aufs erfreulichste zum Sprechen, wobei zwischen beiden eine bewundernswerte Ausgeglichenheit herrschte. Eine solch innige Verbindung mit- und ein solch behutsames Eingehen aufeinander dürfte dem Komponisten als Ideal wohl vorgeschwebt haben.

Das Konzert bestand nicht nur aus musikalischen Beiträgen. Durch den Abend führte Peter Kislinger, der wohl beste Kenner des Ahoschen Schaffens in Österreich, der einem größeren Publikum vor allem durch seine Beiträge im Österreichischen Rundfunk (Ö1) als Förderer zeitgenössischer und Entdecker wertvoller, in Vergessenheit geratener Musik der Vergangenheit bekannt ist. Seine lebendigen Einführungen in die jeweiligen Stücke gaben dem Konzert ebenso zusätzlichen Wert wie die wiederholten kurzen Gespräche mit dem Komponisten. Kalevi Aho sprach u. a. über seine Freundschaft mit Pehr Henrik Nordgren und über Einojuhani Rautavaara, der gerade deswegen ein sehr guter Lehrer war, weil er es verstand, sich in die Werke seiner Schüler hineinzuversetzen und sie zu ermutigen, ihren eigenen Stil zu entwickeln. Auch über Ahos gegenwärtige Projekte konnten die Zuhörer etwas erfahren. Der Komponist hat gerade den Kopfsatz seiner Achtzehnten Symphonie vollendet, auch sei ein Orchesterwerk in Arbeit, das die Fragen aufgreift, aber anders weiterführt.

[Korrektur, 16. März 2023: Nach Mitteilung der Kalevi Aho Society wurde das Doppelkonzert für Violine, Violoncello und Orchester, welches am Anfang die Fragen zitiert, bereits am 18. Dezember 2022 vollendet.]

Am folgenden Tage leitete Dr. Andreas Holzer an der Universität für Musik und darstellende Künste eine Gesprächsrunde, an der neben Kalevi Aho auch Rémy Ballot, Peter Kislinger und die junge japanische Komponistin Reina Yoshioka teilnahmen. Angelpunkte des Gesprächs waren fünf Punkte, die Aho einst in einem Artikel als Aufgaben für die Komponisten unserer Zeit ausgemacht hatte:

1) Die Wiederentdeckung des Publikums
2) Die Suche nach einem Ausweg aus einer hermetischen Avantgarde samt Stärkung der Verbindung zur Vergangenheit
3) Die Stärkung der gesellschaftlichen Dimension von Musik
4) Die Entwicklung von Strategien, den Elfenbeinturm abzutragen
5) Der Komponist müsste fähig sein, der Musik tiefe emotionale Ausdrucksqualitäten zu verleihen

Aho berichtete aus dem finnischen Musikleben, wo zeitgenössische Musik ein fester Bestandteil regulärer Konzerte ist und nach wie vor zahlreiche neue Opern mit der Aussicht entstehen, in den namhaften Theatern des Landes zur Aufführung zu gelangen. Er selbst möchte Musik schreiben, die vom Publikum gern gehört und von Musikern gern gespielt wird. Sein erster Zuhörer ist er selbst: „Ich komponiere Musik, die ich selbst hören möchte.“ Als regelmäßig mit Aufträgen bedachter Komponist, trifft er sich sich vor der Arbeit an einem bestellten Werk mit den Musikern, für die es entstehen soll: „Zuerst kommen die Musiker zu mir und spielen mir vor. Dann denke ich an ihre Persönlichkeit und versuche so zu schreiben, dass das Werk für die Musiker sitzt. Wenn es für einen Musiker sitzt, dann wird es auch für andere Musiker annehmbar sein können.“ Aho gehört nicht zu denjenigen Komponisten, die um jeden Preis originell sein wollen: „Der Stil hängt davon ab, was man sagen möchte. Ich möchte nicht in einem Personalstil komponieren, denn dann verfällt man in Klischees. Ich mache mir klar, was ich sagen möchte. Der Stil kann sich von Werk zu Werk ändern, was sich nicht ändert, ist die Persönlichkeit des Komponisten.“ Dies ist einer der Gründe, warum der mitteleuropäische Modernismus, wie er sich letzten Endes in der Darmstädter Schule manifestierte, für ihn etwas Altmodisches ist. Großen Einfluss auf sein Schaffen hatte dagegen das Studium ursprünglicher musikalischer Phänomene außerhalb Europas: „Die Lösungen für Probleme fand ich nicht im mitteleuropäischen Modernismus, sondern ich habe mich mit Indischer und Arabischer Musik befasst. Ich habe seitdem oft arabische Instrumente verwendet und ein Buch über arabische Rhythmen geschrieben.“ Mit Jean Sibelius hat sich Aho viel beschäftigt. Er kennt sein Schaffen gut, sieht sich ihm durchaus innerlich verwandt, orientiert sich aber nicht bewusst an ihm. Auch denkt er beim Komponieren nie an etwas Finnisches. Seine Werke schreibt Aho seit langem sofort ins Reine, ohne Skizzen zu machen. „Ich fange an und mache weiter bis zum Schluss. Wenn ich beginne, weiß ich noch nicht, wie es sich entwickelt. Ich habe nur zweimal versucht, nach einem Plan zu schreiben. Habe ich etwa zwei Drittel des Stückes fertig, kann ich ungefähr sagen, wie es enden wird.“ Mitunter kristallisiert sich die jeweilige Gattung erst im Laufe des Kompositionsprozesses heraus. Interessanterweise entstand keine der ersten vier Symphonien des heute vor allem als Symphoniker bekannten Komponisten unter dem Vorsatz eine Symphonie zu schreiben. Zu seiner Ersten sagt Aho: „Ich wollte nur ein großes Werk für Orchester schreiben. Da sagte mein Lehrer Einojuhani Rautavaara: Das ist eine Symphonie.“ Auf die Frage, wie er den Begriff „Symphonie“ definiert, antwortet der Komponist: „Eine Symphonie ist ein großes Orchesterwerk, in dem der Komponist zeigt, was er kann, in dem er seine Gedanken kristallisiert.“ Kritik äußerte Aho an Konzertagenturen, die die von ihnen geförderten Musiker davon abhalten, sich mit zeitgenössischer Musik zu befassen. Er erzählte, wie ihn eine Geigerin um ein Violinkonzert bat, er sie jedoch aufgrund anderer Aufträge um zwei Jahre vertrösten musste. Nach der Fertigstellung des Werkes traf er die Geigerin wieder, doch sagte sie ihm diesmal, sie fühle sich noch nicht reif für moderne Musik. „Sie hatte eine andere Agentur.“

Vergnüglich waren Peter Kislingers Berichte über das Verhalten der Wiener Kritik im Laufe der Jahre gegenüber Werken zeitgenössischer finnischer Komponisten. Die von ihm zitierten Rezensionen boten wunderbares Anschauungsmaterial hinsichtlich des Umgangs der Kritiker mit dem Konzertpublikum. So erfuhr man vom einen Kritiker, dass das Wiener Publikum viel zu gebildet und anspruchsvoll sei, als dass solche Anbiederungsversuche, wie sie von Komponisten wie Rautavaara und Aho unternommen würden, Aussicht auf Erfolg hätten. Ein anderer Kritiker widersprach dem, denn die Musik habe dem Publikum gefallen – sie könne deshalb wenig taugen.

Rémy Ballot sprach aus eigener Praxis über das Erfassen des Zusammenhangs innerhalb einer Komposition – eine Sache, die ja nicht nur den Autor des Stückes und seinen Vermittler betrifft, sondern eminente Auswirkungen auch auf die Zuhörer hat. Denn wie kann ein Hörer ein Stück als ein Ganzes erleben, wenn es dem Musiker nicht gelingt, den Zusammenhang der Musik deutlich zu machen? „Der Klang ist nicht die Musik. Der Klang kann Musik werden. Er kommt von einem inneren Prozess her.“ Erst wenn es dem Musiker gelingt, Kontinuität in die Klänge zu bringen, das Hervorgehen eines klanglichen Phänomens aus dem anderen nachzuvollziehen, kommt eine lebendige Aufführung zustande. Wer unter den Zuhörern dieses Gesprächs das Konzert Tags zuvor miterlebt hatte, wusste nun, warum der Eindruck ein so vorteilhafter war!

Am 9. März, seinem 74. Geburtstag, reiste Kalevi Aho aus Wien ab. Und man hofft, dass die altehrwürdige Musikmetropole auch den 75. Geburtstag des Meisters angemessen zu würdigen versteht.

[Norbert Florian Schuck, März 2023]