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Spätromantische Entdeckungen: Leo Blech und Hans Sommer

Drei Ersteinspielungen würdigen die fast vergessenen Komponisten Leo Blech und Hans Sommer

Leo Blech: „Alpenkönig und Menschenfeind“, 2 CD’s

Capriccio; Bestellnr.: C5478, EAN: 845221054780

Leo Blech: „Complete Orchestral Works“

Capriccio, Bestellnr.: C5481, EAN: 845221054810

Das Theater Aachen feiert im kommenden Jahr den 200. Geburtstag und arbeitet seine Vergangenheit schon im Vorfeld auf. Dafür stehen zwei Meldungen: 2023 wird die Büste von Herbert von Karajan wegen seiner Nähe zum nationalsozialistischen Regime aus dem Foyer entfernt. Ein Jahr früher erhält Leo Blech die Ehrenmitgliedschaft, die ihm 1937 aufgrund seiner jüdischen Herkunft entzogen wurde, posthum wieder zurück. Beide Dirigenten begannen von Aachen aus ihre Karriere. Doch während Karajan ohne Unterbrechung zum Pultstar mit Kultstatus aufstieg, wurde der 1871 in der Domstadt geborene Blech, der als Chefdirigent der Staatsoper seit 1913 im Berliner Musikleben eine führende Rolle spielte, 1937 zwangspensioniert. Nach Jahren im Exil kehrte er 1949 in gleicher Position an sein altes Haus zurück, doch nach seinem Tod 1958 wurde er vergessen. Erst 2015 erinnerte der Verlag Hentrich & Hentrich im Rahmen der Reihe Jüdische Miniaturen an den Musiker, der sich neben seiner Dirigententätigkeit auch als Opernkomponist hervortat. Zunächst in Aachen mit zwei tragischen Einaktern, dann in Dresden mit der volkstümlichen Idylle Das war ich!, mit der ihm der Durchbruch gelang. Deren Erfolg wurde 1903 noch übertroffen von der ebenda uraufgeführten Oper Alpenkönig und Menschenfeind nach Ferdinand Raimunds Wiener Zauberspiel. Sie steht in der Tradition der spätromantischen Märchenopern und der Nachfolge von Blechs Lehrer Engelbert Humperdinck. Die Handlung: der seine Familie tyrannisierende Rappelkopf wird von einem guten Geist mittels eines Zaubertricks – er nimmt die Identität des Griesgrams an, der wiederum in Gestalt des guten Onkels erleben muss, wie unerträglich er sich allen gegenüber verhält, – auf den rechten Weg geführt. Das Stück bietet musikalische Abwechslung: volkstümliche Melodien treffen auf Wagnerreminiszenzen, sinfonische Tonmalereien – etwa der Sonnenuntergang oder das Alpenglühen –, auf eine Genreszene mit Tanz und Blasmusik, und auch ein operettenhaftes Couplet ist dabei. Das Stadttheater Aachen hat Alpenkönig und Menschenfeind anlässlich von Leo Blechs 150. Geburtstag wieder zur Aufführung gebracht und in fast gleicher Besetzung auf CD verewigt. Das Ensemble bewegt sich sicher zwischen spielopernhafter Natürlichkeit und charaktervoller Gesangskultur. Genannt seien stellvertretend Sonja Gornik und Anne-Aurore Cochet, deren Stimmen sich im eröffnenden lyrischen Frauenduett homogen verbinden und die Baritone Ronan Collett und Hrólfur Saemundsson, die der zentralen Schwurszene zwischen Alpenkönig und Menschenfeind dramatische Konturen geben. Auf den Spuren seines historischen Vorgängers schwelgt GMD Christopher Ward mit dem Sinfonieorchester Aachen in den illustrativen Naturschilderungen, zaubert Stimmungen und subtile Klangfarben. Ergänzt wird die Gesamtaufnahme durch eine CD mit Blechs kompletten Orchesterwerken aus seiner Frühphase. Ward dirigiert die sinfonischen Dichtungen, die ihren Namen Waldwanderung, Trost in der Natur und Die Nonne alle Ehre machen, mit gleicher Kompetenz und Leidenschaft wie die Oper. Abgerundet wird diese Einspielung durch zwei Chöre, Sechs Kinderlieder und das Solo Wie ist doch die Erde so schön in der unerwartet konservativen Instrumentation von Bernd Alois Zimmermann. 

Hans Sommer: „Orchestral Songs“

Pentatone, 1 CD, Bestellnr.: 5187 023, EAN: 8717306260237

Zu den deutschen Tonschöpfern, die lange von der Fachwelt vernachlässigt wurden, zählt auch Hans Sommer (1837–1922). Er begann seine berufliche Laufbahn als Mathematikprofessor und schuf seine erste Komposition als bereits anerkannter Wissenschaftler. Daneben engagierte er sich für die Rechte von Künstlern und trat als Mitbegründer GEMA für den Urheberschutz ein. Sommers Oeuvre umfasst vorwiegend Vokalmusik, darunter 10 Opern, von denen nur Rübezahl und der Sackpfeifer von Neiße in modernen Zeiten aufgeführt wurde. Zu seinen wichtigen Werken gehören Orchesterlieder, vergleichbar mit denen seines jüngeren Vorbilds Richard Strauss, der Sommer schätzte und förderte. Etliche von ihnen gibt es mittlerweile in verschiedenen Einspielungen. Das Label Pentatone aber hat eine Auswahl vorwiegend mit CD-Premieren veröffentlicht, die alle Schaffensperioden umfasst. Sie sind stilistisch in der Spätromantik verwurzelt und natürlich auch von Wagner beeinflusst. Ihre Qualitäten bringt ein kundiges, mit Liedgesang vertrautes Vokalquartett ans Licht. Der Tenor Mauro Peter trägt die Heine-Vertonung Nachts in der Kajüte mit Emphase vor, Innigkeit verströmt Sopranistin Mojca Erdmann in den volkstümlichen Weisen aus der Oper Lorelei. Vokale Variabilität und beste Diktion offenbaren der Mezzo Anke Vondung und der Bariton Benjamin Appl in den Stücken auf Goethe-Gedichte. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Leitung von Guillermo Carcia Calvo steuert die exquisite Instrumentalbegleitung bei. Die gelungene CD endet kammermusikalisch intim. Im Zyklus Hunold Singuf für Klarinettenquintett versieht Appl die ersten drei Strophenlieder mit vielen Nuancen, bevor alle zusammen das Trinkchanson Istud Vinum zum fröhlichen Rausschmiss anstimmen.

[Karin Coper, Juli 2024]

Ein traditionell untraditionelles Requiem

NEOS 11732; EAN: 4 260063 117329

Der Livemitschnitt der Uraufführung von Wolfgang Rihms Requiem-Strophen mit Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung des vorgestern verstorbenen Mariss Jansons erschien dieses Jahr bei NEOS. Solisten sind Mojca Erdmann, Anna Prohaska und Hanno Müller-Brachmann.

Wolfgang Rihm zählte schon immer zu den mutigen Komponisten, zu denjenigen, die sich nicht in einer Stilrichtung verlieren oder sich für stumpfen Modernismus selbst beschränken. Tradition und Novität stehen insofern gleichberechtigt nebeneinander. Das erkennen wir auch in den 2015/2016 komponierten Requiem-Strophen für Soli, gemischten Chor und Orchester, deren Uraufführung aufgenommen und nun bei NEOS veröffentlicht wurde. Allein die Textauswahl lässt aufhorchen, denn Rihm bezieht Verse von Rilke, Michelangelo, Bobrowski und Sahl in die traditionelle Missa mit ein und verschmelzt die geistlichen und weltlichen Sphären. In diesem Vorgehen stehen die Requiem-Strophen (benannt nach dem letzten der verwendeten Texte von Sahl) jedoch nicht allein: bereits im Kindesalter erlebte Rihm Orchestermusik für den Kirchengebrauch als Öffnung bis Entgleisung im positiven Sinne und schrieb (beginnend 1984 mit ‚Dies‘) selbst mehrere sakrale Werke mit weltlichen Bezügen.

Musikalisch begehren die Requiem-Strophen überraschenderweise überhaupt nicht auf, anders als in den meisten Requien hält sich sogar das Dies Irae zurück. Damit sucht Rihm die bewusste Nähe zu Faurés Requiem, das er nach eigenen Angaben besonders schätzt. Die Reflexion des Menschen an sich ist es, die im Zentrum dieser Komposition steht, und nicht die apokalyptische Vorstellung des jüngsten Gerichts. Schmerz, Trauer und Melancholie werden seziert und psychologisch durchexerziert, bevor sie in die Musik einfließen.

All dies bringt Rihm in einem frei fließenden Klangstrom ohne tonale Bindung zum Tönen, was Nachdenklichkeit, Unsicherheit und gewisse innere Furcht evoziert, ganz ohne den äußeren Schrecken zu betonen. Kontraste schafft der Komponist in erster Linie durch Orchestrierung und geschickten Wechsel der Gesangspartien mit rein instrumentalen Passagen. Dennoch verliert der Hörer schnell den Halt und wird fortgetragen von den freitonalen Ergüssen, ohne sich der Formgestaltung unmittelbar bewusst zu werden: vielleicht liegt dies daran, dass kaum wiederkehrende Motive ins Ohr gehen; vielleicht aber auch daran, dass das Ohr nie durch klare harmonische Abphrasierungen (Kadenzen) zur Ruhe kommt, sondern immer weiter beansprucht wird – wie in einem Satz mit 200 Wörtern ohne Punkt und Komma. Dies betrifft aber nicht allein die Musik Rihms, sondern stellt sich allgemein als Problematik Neuer Musik dar, die ohne konventionelle Harmonik und deren Gesetzmäßigkeiten der Spannung und Entspannung arbeitet. Ich bin gespannt darauf, welche Lösungsansätze die nahe Zukunft bringt und welche tatsächlich zum gewünschten Ergebnis führen.

Aufs Ganze gesehen gelingt es Rihm, eine Grundspannung aufrechtzuerhalten und zu einem schlüssigen Ende zu gelangen, welches das 80-minütige Werk in gewisser Einheit erstrahlen lässt, verbunden durch die zwingende Stimmung der Musik und die stilistische Einzigartigkeit des Komponisten.

Gerade in Anbetracht der bekanntlich kurzen Probenzeit der Musica-Viva-Konzerte ist erstaunlich, was Mariss Jansons in dieser Liveaufnahme der Uraufführung von 2017 auf die Bühne bringt. Man bedenke allein die hochkomplexen vierstimmigen Chorsätze, die in faszinierender Ausgewogenheit erklingen und die nur schwer fasslichen Linien des Orchesters, dessen Harmonien in stetiger Mehrdeutigkeit schweben und eine potentielle Auflösung suchen. Gewollten Dissenz hören wir in den beiden nie allein auftretenden Sopranpartien gesungen von Mojca Erdmann und Anna Prohaska, die gegeneinander ausgespielt werden und so der Rolle des traditionellen Sopran-Solos hämen. Umso prominenter erscheint der Solo-Bariton Hanno Müller-Brachmann, der mit gleich drei großen Partien betraut wird und diesen in inniger Ergriffenheit und mit klar markiertem Timbre Leben einhaucht. Das Orchester strotzt vor Perfektion, die jedoch stellenweise steril wirkt und den Hörer nicht mit einbezieht, dafür aber jedes noch so kleine Detail aus der Partitur ans Licht zaubert und ihm den exakten Stellenwert beschert.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2019]

Mehta macht Mozart – 3 Mal

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Drei Mal Wolfgang Amadeus Mozart gibt es am 22., 24. und 26. März 2016 in der Philharmonie im Gasteig. Zubin Mehta dirigiert die Münchner Philharmoniker und den Philharmonischen Chor München in der Serenade für 12 Bläser und Kontrabass B-Dur KV 361 „Gran Partita“, dem Requiem für Soli, Chor, Orgel und Orchester d-Moll KV 626 in der Fragmentfassung ohne die Vervollständigungen seiner Schüler Franz Xaver Süßmayr und Joseph Eybler sowie die Motette „Ave verum corpus“ KV 618. Der Chor ist von Andreas Herrmann einstudiert, die Solisten sind Mojca Erdmann, Okka von der Damerau, Michael Schade und Christof Fischesser.

Seit 2004 bereits darf sich Zubin Mehta als erster Ehrendirigent der Münchner Philharmoniker in deren über 120-jähriger Geschichte bezeichnen. Nun ist er wieder einmal bei „seinem“ Münchner Orchester und widmet drei Konzertabende voll und ganz Wolfgang Amadeus Mozart, der im Januar diesen Jahres 260 Jahre alt geworden wäre.

Ungewohnt leer ist die Bühne in der ersten Hälfte des Konzerts am 24. März, für welches ich, für The New Listener, eine Karte in den mittleren Rängen erworben habe. Das unausgefüllte Podium hängt allerdings nicht mit einer Krankheitswelle bei den Musikern zusammen, sondern mit der kammermusikalischen Besetzung des ersten Werks: Lediglich dreizehn Musiker verlangt die Serenade B-Dur KV 361 mit dem Titel „Gran Partita“. Die Philharmonie im Gasteig kommt der kleinen Aufstellung bedauernswerterweise überhaupt nicht entgegen, der Klang erscheint bereits in den Blöcken G, H, I und J – immerhin zur ersten und zweiten Preiskategorie gehörend – distanziert und fahl. Vermutlich haben die vorderen Blöcke, auch durch die tiefgestellten Klangsegel, eine annehmbarere Akustik, was allerdings auch auf Kosten der weiter hinten gelegenen Plätze geht. Zubin Mehta dirigiert Mozart mit kleinen und nur auf das Nötigste beschränkten Bewegungen, jegliche übermäßige Zutat ist ihm fremd. Das kommt dem Zusammenspiel und der Präzision seines Ensembles zugute, die Musiker wirken durchwegs aufeinander abgestimmt und erstaunlich synchron, was bei reiner Bläseraufstellung (plus dem hinzugefügten Kontrabass) alles andere als einfach ist. Alle Mitwirkenden können ihr enormes Können in den solistisch gesetzten Passagen unter Beweis stellen – mehr als einmal wird die Serenade in der Literatur als Konzert für dreizehn Solisten bezeichnet. Besonders in den leisen Passagen zeigen Bläser und Kontrabass einen enormen Reichtum an Klangschattierungen, doch gerade in den extrovertierten Momenten könnten sie etwas mehr aus sich herausgehen und bräuchten nicht in der Zurückhaltung zu verharren. Das beeinflusst nämlich nicht zuletzt den Farbenreichtum, der durch den Raum schließlich eh bereits gedämpft ist.

Nach der Pause füllt sich die Bühne, nun befinden sich ein für Mozart’sche Verhältnisse volles Orchester, ein Chor, ein Orgelpositiv und vier Gesangssolisten auf der Bühne. Im Rahmen dieser Konzerte wird das Fragment gebliebene Requiem KV 626 gespielt, das letzte Werk des großen Genies. Auf Geheiß seiner Witwe Constanze wurde das Werk zeitnah nach seinem Tod von seinen Schülern Franz Xaver Süßmayr und Joseph Eybler vervollständigt, sprich, das nur acht Takte umfassende Lacrimosa vollendet und Domine Jesu, Hostias, Sanctus, Benedictus und Agnus Dei nach den verbleibenden Skizzen konstruiert. So konnte das Requiem dem anonym gebliebenen Besteller überbracht werden, um den sich nach wie vor Mythen ranken, etwa, er sei an dem Ableben Mozarts schuldig oder zumindest daran beteiligt. Die Solisten im Münchner Gasteig sind Mojca Erdmann, Okka von der Damerau, Michael Schade und Christof Fischesser, sie alle weisen ein gutes Gespür für die Musik auf und singen ihre Soli mit Bravour. Lediglich Erdmann und Fischesser haben ein zu stur mechanisches und durchgängiges Vibrato, das dosierter und feinfühliger eingesetzt hätte werden müssen, vor allem auch, um beim Zusammenwirken aller vier Solisten durch die große Amplitude entstehende mikrotonale Spannungen zu vermeiden. Eine besonders außergewöhnliche und ansprechende Stimme weist Michael Schade auf, dessen Tenor als markig und prägnant sogleich erfreut. Chor und Orchester sind hier spürbar in ihrem Element, sie veranstalten ein sprühendes Feuerwerk an Farben und Ausdruck. Zubin Mehta bringt eine feine und auch in dichter Polyphonie durchhörbare Linie zum Vorschein, die wichtigsten Stimmen sind linear mitverfolgbar. Er achtet minutiös auf den großen, die Sätze zusammenhaltenden Bogen und verliert dennoch nicht das Detail und das Gefühl für das Wechselspiel aus Spannung und Entspannung.

Welch eine unfassbare Wirkung entsteht, wenn das Lacrimosa nach lediglich acht Takten zerfällt, die Soprane noch ohne ihre Mitstreiter weitersingen, aber auch sie nach zwei Takten ersterben! Das Wissen, dass dies das abrupte Ende eines der größten Kapitel der Musikgeschichte darstellt, lässt einen schaudern – der Abbruch ist wie das Zufallen des Sargdeckels, ein so unumkehrbares wie unaufgelöstes Ende. Solch eine Wirkung ist ansonsten nur noch im letzten Contrapunctus von Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“ zu erleben, jenem unübertroffenen polyphonen Werk, das nach ungefähr zehnminütiger Spielzeit plötzlich mitten in der Ausführung ausgerechnet des B-A-C-H-Sujets abbricht …

Direkt im Anschluss gibt Mehta noch die kurze Motette Ave verum corpus, die doch noch ein versöhnliches Ende bringt und den Hörer nicht in der Unaufgelöstheit lässt. Dennoch bleibt dieses enorme Gefühl eines schicksalhaften Endes bestehen und wird den Hörer auch noch aus dem Saal heraus begleiten. Nicht zuletzt, da Mehta das Requiem vor der Aufführung all jenen gewidmet hat, die auf der Welt leiden und hungern müssen, und dafür auf den Applaus verzichtet. Ohne das wohl verdiente „Brot des Künstlers“ verlässt er die Bühne, der Hörer verbleibt – überwältigt von dieser Musik.

[Oliver Fraenzke, März 2016]