Faust singt Mezzosopran -Louise Bertins Oper „Fausto“ ist eine Entdeckung

Bru Zane, BZ 1054; EAN: 8 055776 01014 4

Im letzten Jahr brachte das Forschungsteam Palazzetto Bru Zane die Anthologie „Compositrices“ heraus – Werke von 21 französischen Komponistinnen umfasst die editorische Großtat, sie ist nichts weniger als ein Streifzug durch die feminine Musikgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Glücklicherweise verfolgen die Spürnasen um Alexandre Dratwicki dieses Projekt weiter und sind dabei auf Louise Bertin gestoßen. Deren Biographie, wenn auch teilweise nur auf Spekulationen beruhend, ist in mancher Hinsicht ungewöhnlich. Bertin, 1805 geboren, wuchs in einer bürgerlichen Familie auf. Die Eltern – der Vater, Inhaber der angesehenen Zeitung „Journal des débats“, die Mutter, eine begabte Pianistin – förderten die künstlerischen Ambitionen der malenden, dichtenden und musizierenden Tochter. Die Autodidaktin, die wegen einer Kinderlähmung auf Krücken angewiesen war, entschied sich fürs Komponieren und nahm Unterricht bei den Lehrkoryphäen François-Joseph Fétis und Anton Reicha. Bei letzterem lernte sie Berlioz kennen, mit dem sie sich anfreundete und der ihr als Zeichen der Wertschätzung den Gesangszyklus Les nuits d’été widmete.

In einer Zeit, als Frauen in der Regel Werke für den Hausgebrauch oder kleine Besetzungen kreierten, wagte sich Bertin an größere Formate und komponierte immerhin vier Opern. Die letzte jedoch – La Esmeralda nach Victor Hugo – führte 1837 zum frühen Ende ihrer Karriere, bedingt durch Vorwürfe, Berlioz habe ihr bei der Partitur geholfen und die Aufführung sei nur durch familiäre Beziehungen zu Stande gekommen. Infolgedessen mied sie bis zu ihrem Tod 1877 die Öffentlichkeit, publizierte allerdings noch Gedichte.

Gute Kritiken bekam Louise Bertin hingegen für ihren 1831 im Pariser Théâtre-Italien in Starbesetzung uraufgeführten Fausto. Trotzdem wurde er nach drei Vorstellungen abgesetzt und verstummte: bis ihn der Palazzetto Bru Zane 2023 gleich im Dreierpaket wiedererweckte, bei einem Konzert in Paris mit paralleler CD-Einspielung der Urfassung und anschließend szenisch im Aalto-Theater in Essen.

Fausto ist die erste Opernadaption des Goethe-Schauspiels und dass sie von einer Frau komponiert wurde, die auch das französische, für die Gepflogenheiten des Théâtre-Italien ins Italienische übersetzte Libretto verfasste, macht sie zu einer musikgeschichtlichen Besonderheit. Orchestrale Dramatik, romantisches Gefühl und Buffo-Elemente – deswegen die Gattungsbezeichnung „Semiseria“ – sind kennzeichnend für Bertins Vertonung. Einflüsse bedeutender Vorbilder, etwa von Mozart, Weber und Rossini, verbinden sich mit stilistischer Individualität, wie die Wahl eines Mezzosoprans für die Titelpartie (die Premiere sang allerdings ein Tenor), dem weitgehenden Verzicht auf zeittypische Bravour und dem eigenwilligen Finale: keine pompöse Apotheose, sondern nur ein Tam-Tam-Schlag, dann Stille. Der Dirigent Christophe Rousset, der die Rezitative selbst am Klavier begleitet, überträgt seine Begeisterung und Versiertheit in historischer Aufführungspraxis auf die Originalklangformation Les Talens Lyrique und ein erlesenes Ensemble. Karine Deshayes und Karina Gauvin singen Faust und Margarita mit viel Empfindung und Belcantokultur. In den terzenseligen Duetten harmonieren ihre Stimmen aufs Schönste, nur unterscheiden sie sich vom Timbre her kaum. Den Mephisto gibt Ante Jerkunica mit tiefschwarzem, wendigem Bass. Zu einem Kabinettstück gerät seine Szene über die Vielfalt weiblicher Schönheiten, die an Leporellos Registerarie in Don Giovanni erinnert. Einen spektakulären Auftritt legt Nico Darmanin als Valentin hin. In der einzigen explizit virtuosen Rolle brennt der Tenor ein Koloraturenfeuerwerk ab und brilliert mit schneidigen Spitzentönen. Eine dicke Empfehlung also für diesen auch in den Nebenrollen treffend besetzten Fausto, der – wie beim Palazzetto üblich – in einem informativen und schön illustrierten CD-Buch präsentiert wird.

[Karin Coper, April 2024]

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