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Musik und Mensch. Ein Gespräch mit Julius Berger

Wie funktioniert die Musik durch uns Menschen? Dieser Frage spürt der Cellist Prof. Julius Berger nach. Unser zweistündiges Gespräch über diese und damit verwandte Fragen, das wir am 18. Juni in Augsburg führten, sprengte alle Grenzen dessen, was in einer niedergeschriebenen Interviewform vermittelt werden könnte, weshalb es an dieser Stelle nur möglich ist, einen gewissen Teil davon wiederzugeben.

Wir beginnen medias in res im Sinnen über die Frage, wie wir Musik wie auch gesprochene Sprache in Zusammenhängen denken können, die durch den reinen Notentext überhaupt nicht abbildbar sind.

Julius Berger: Die Musik ist so vielschichtig, da ist das Gehörte nicht das Einzige: Es existiert auch das, was im immateriellen Raum steckt – also der Geist zwischen zwei Noten. Dort, wo am wenigsten hörbar ist, ist der Ausdruck am größten, wenn der Geist stark ist. Wenn Musiker zwei Noten ganz gleichgültig spielen, so entsteht kein Eindruck, auch wenn jeder Ton stimmt. In Wettbewerbs-Kommissionen habe ich oftmals versucht, meinen Kollegen verständlich zu machen, dass wir keinen Kriterienkatalog haben von „richtig“ und „falsch“. Jede Interpretation ist ja der Versuch einer Annäherung – und Gott sei Dank gibt es Annäherungen von verschiedenen Seiten. Aber dieses geistige Element, das Element einer inneren Vorstellung, durch das gewisse Dinge dann zum Tragen kommen … dass dann schon vor dem Beginn der Raum sich verändert. Zwei Noten können ausreichen, um vieles über den Interpreten auszusagen. Durch die Musik wird vieles in uns angestoßen, und manche Interpreten können einfach noch mehr in uns anstoßen, bewegen und somit den Menschen verändern.

Also ein rein mentaler Prozess?

Ja. Also in der Wirkung ein rein mental-geistiger Prozess.
Sagen wir es so: Wenn ich Musikfotografen sehe, möchte ich ihnen am liebsten sagen: „Fotografiert doch nicht die Interpreten, fotografiert das Publikum!“ Wie die Menschen vor dem Auftritt aussehen, und dann, wie etwas in sie ‚hineinfließt‘, wie sie sich wandeln. Glücklicherweise haben wir nun aktuell wieder Konzerte nach den unendlich langen Pausen durch den Lockdown. Konzerte mit Menschen, und für diese ist die Aufführung ja gedacht.

Und wie gelingt es nun den Musikern, diesen Geist in den eigenen Körper zu bekommen und von dort in die Instrumente, dass er auf das Publikum überfließen kann? Wie verbindet man diese scheinbaren Gegensätze?

Ein wichtiges Zitat diesbezüglich stammt von Harnoncourt: „Wir müssen auch wissende Musiker sein.“ Also wenn ich mich als Musiker hineinversetze in die Zeit, in der beispielsweise Beethoven gelebt hat, oder Bach – folglich in eine Zeit, die durch ganz andere Paradigma geprägt war als unsere – dann ist dies einerseits eine Wissensquelle, mehr aber noch eine Inspirationsquelle. Und wenn ich hier noch hinzufüge, was die Schüler dieser Meister ausgesagt haben, was beispielsweise Czerny über Beethoven berichtete und was er wahrnahm, dann lassen sich daraus wieder neue Tendenzen erkennen. Man muss dies alles nicht übernehmen, aber es liefert doch Informationen, durch die wir unsere Darbietung innerlich bereichern. Bei Meistern jüngerer Zeit kommen dann noch die Aufnahmen hinzu: Schostakowitsch beispielsweise nahm seine Cellosonate drei Mal auf mit drei unterschiedlichen Mitstreitern; und keine davon hält sich an seine eigene Tempobezeichnung. Auch dies sagt viel aus. Wissen gehört dazu, somit die stetige eigene Weiterentwicklung. Folglich unterwirft sich die eigene Sichtweise auf Stücke, die uns das gesamte Leben begleiten, einem kontinuierlichen Wandel. Leben ist Wandel. Und diesen mitzuvollziehen, das finde ich enorm wichtig. Damit komme ich auf Ihre Frage zurück, wie der Geist in den Menschen kommt: Er kommt auf die Weise, dass wir uns unaufhörlich weiter beschäftigen mit der Materie. Hinzutritt die Überzeugung, mit der wir unseren Fokus tarieren und diesen kompromisslos, also kompromisslos mit sich selbst, durchsetzen. Wir wissen nicht, ob wir mit dem die Wahrheit treffen, was wir mit unserer Überzeugung vertreten, müssen zunächst diese mit dem jahrelang antrainierten technischen Können verwirklichen und mit Hilfe dessen in uns festigen, bevor wir sie vermitteln können. Eine starke Vorstellung im Interpreten überträgt sich. Wenn eine Person den Raum betritt, so merkt man oftmals schon die Veränderung – oder es tut sich gar nichts. Dies meinte ich zuvor damit, dass sich vor dem Beginn, schon beim Auftreten, die Atmosphäre verdichtet. Daran glaube ich zutiefst; und das mache ich nicht an der Beobachtung anderer Menschen fest, sondern an den Überzeugungen, wie ich selbst weitergehe im Leben und wie es mich weiterträgt, wie es mich weiter befruchtet und mir Kraft zum Leben gibt; und sagt, was Leben ist.
Ich versuche hineinzuhören auch in den Sinn meines Seins. Der hört nicht in der Musik auf, er geht über in Fragen der Gesellschaft, der Politik und des Verhaltens. Ich will einen möglichst bewussten Umgang mit Natur, Umwelt und Mitmenschen erreichen. Ich denke sogar, dass uns die Pandemie gelehrt hat, was wir alles falsch machen. Natürlich beschert uns Corona und die dadurch entstehende Situation eine schlimme Zeit; aber es nur so zu bezeichnen, wäre zu eindimensional gedacht. Man muss auch sehen, was die Zeit von uns will, was sie uns sagt; und auch, was dadurch Positives entstehen kann. Mir hat diese schwierige Phase beispielsweise klargemacht, dass ich nicht immer nur ein Getriebener sein kann, der nur Dinge tut, die mir von außen vorgegeben werden. Ich konnte endlich Dinge tun, für die ich nie Zeit hatte: So entstand beispielsweise die Aufnahme des d-Moll-Konzerts BWV 1052 von Bach.
Ich erinnere mich an einen Ausspruch von Sofia Gubaidulina, mit der ich das Privileg hatte, oftmals zusammen wirken zu dürfen. Wir waren auf einem Festival und der Veranstalter beklagte das schlechte Wetter. Da fragte sie: „Wieso? Wir brauchen doch den Regen.“ Wenn man sagt, Sonnenschein sei ‚gutes Wetter‘, dann soll man einmal in die Wüste gehen, dort ist ‚gutes Wetter‘, wenn es regnet. Alles ist relativ, Einstein hat wieder einmal Recht.
Zu Bachs d-Moll-Konzert: Vor 30 Jahren hatte ich einmal in einer alten Eulenburg-Ausgabe, die mittlerweile durch eine Neuere ersetzt wurde, gelesen (und es gibt damit übereinstimmende Erkenntnisse aus der Musikwissenschaft), dass dieses d-Moll-Konzert eine Übertragung eines eigenen Konzerts für ein anderes Instrument sein muss, nämlich ein Streichinstrument. Die meisten gehen davon aus, dass es ursprünglich für Violine geschrieben war, da es viele E-Bariolagen gibt. Anders als die Violine hat das Cello keine E-Saite, weshalb jenes ausgeschlossen wird; aber das Cello Piccolo besitzt sehr wohl solch eine Saite. Bach hat dieses in Kantaten oft eingesetzt. Und besagte Eulenburg-Edition vermerkte dies, was sich in mir festsetzte. Diese kleine Bemerkung hat sich mir eingebrannt: Man müsse das Konzert einmal bearbeiten für das Cello Piccolo. Doch bis vor Corona dachte ich, nie die Zeit dafür aufbringen zu können. Und als die Zeit kam, erinnerte ich mich sofort und bin unmittelbar zur Tat geschritten. So ging ich die Klavierstimme am Cello durch und probierte, ob es überhaupt möglich wäre. Dass es kein einfacher Weg werden würde, dessen war ich mir gewahr, doch gerade die steinigen Pfade erweisen sich oftmals als die Besonderen und so machte ich mich daran, das Konzert umzuarbeiten. Hinzu kam ein anderes pandemiebedingtes Erlebnis, nämlich, dass ich am Karfreitag die Johannespassion aus der Thomaskirche in Leipzig in einer Kammermusikfassung hörte, die mich auf eine ganz neue Idee brachte. Ich rief Andrei Pushkarev an, mit dem ich über Gidon Kremer mehrfach zusammengetroffen war und mit dem ich unter anderem Gubaidulinas Sonnengesang aufgeführt habe. Eigentlich ist er nie erreichbar, da er nahezu immer tourt – doch wegen Corona befand auch er sich zu Hause und sagte sofort: „Julius, Du hast mich gerettet!“ An Aufführungen mit Orchester konnte man ja nicht denken, wir suchten nach einer Realisierung in dieser Zeit. Kurze Zeit später rief er mich an und zeigte mir bereits ein computergeneriertes Klangbeispiel, wie es denn wirken könnte mit Vibraphon und Marimba. Und er kenne zufälligerweise sogar jemanden, der das Marimba übernehmen könne [Pavel Beliaev]. Andrei richtete die Partitur für die beiden Instrumente ein, ich transkribierte die Cembalostimme für das Cello Piccolo. Dazu fanden wir eine Kirche mit hervorragender Akustik, so dass die oft missbräuchliche Bezeichnung Natural Sound diesmal zur Wirklichkeit avancierte: Hier haben die Tonmeister in der Tat nichts nachbearbeitet, nichts! Es klang genau so, wie es auf der CD zu hören ist. Es handelt sich um eine moderne Kirche in Dillingen, die zu einer christlichen Einrichtung für geistig behinderte Menschen gehört. Dort war auch meine Schwester zuhause, weshalb ich mit den Glaubensschwestern dort in freundschaftlicher Verbindung stehe. Die Stille und Idylle dort inspirierten uns, denn wir waren ganz für uns. Und die Schwestern haben sich rührend gekümmert.

Außerdem nahmen wir ein weiteres Konzert in d-Moll auf, ursprünglich von Alessandro Marcello geschrieben. Hier blieben wir ganz in der Tradition. Marcello schrieb es für Oboe, Bach arbeitete es für ein Tasteninstrument um, und wir griffen es wieder auf, um es für das Cello Piccolo zu setzen.
Hinzu nahmen wir noch die für uns wichtigsten, möglicherweise weil persönlichsten, und unseres Erachtens schönsten Choräle, die wir ebenfalls arrangierten.
Und wo wir gerade von Bearbeitungen sprechen: Bach verwendete das thematische Material des d-Moll-Konzerts BWV 1052 weiter, übernahm es in Kantaten. Beispielsweise im ersten und teils zweiten Satz von Wir müssen durch viel Trübsal BWV 146 und in Ich habe meine Zuversicht BWV 188. Das Symbol gefiel mir, einerseits des Wandels dieses Materials in der Zeit von Bach, andererseits als Botschaft für unsere Zeit.

Sie sprechen verschiedene Zeitebenen an und auch deren Metamorphose. Zuvor zitierten Sie Harnoncourt, der einen ganz besonderen Wandel der Betrachtung von historischer Zeit in der musikalischen Aufführung miterlebt oder besser mitgestaltet hat. Er wirkte ja bereits vierundzwanzigjährig unter Hindemith mit bei der ersten Aufführung von Monteverdis L‘Orfeo auf originalen Instrumenten, wurde später zu einer Ikone der heute sogenannten historischen Aufführungspraxis. Wie steht es nun um das Thema Bearbeitungen jeglicher Art, wenn man die Zeiten getrennt betrachtet, wie es in der historischen Aufführungspraxis meist der Fall ist, oder als Einheit, wie Sie es laut Ihrer Aussage tun?

Wir sprechen nun über historische Aufführungspraxis, besser gesagt über ihre Wirkung und die Erkenntnisse ihrer Wirkung zu verschiedenen Zeiten. Sie erwähnen zurecht, dass Bearbeitungen und deren Vortrag zu bestimmten Zeiten ein Unding waren. Die historische Aufführungspraxis hat uns auf viele richtige Wege geführt, aber ebenso auf manche falsche. Solche Aufnahmen wie die meinige mit eigenen Bearbeitungen, das wäre in der aus öffentlicher Sicht Blütezeit des Historizismus noch vor etwa 20 oder 30 Jahren vollständig durchgefallen. Heute hat sich das Bild wieder etwas gewandelt. Durch diese extreme Sichtweise, die Propheten des historisierenden Spiels verbreitet haben, galt es, Bach nurmehr mit Barockbogen und Darmsaiten zu spielen. Ich bin begeistert, wenn Musiker das machen; aber Musik nur noch auf diese Weise spielen? Dann müsste man ja Musiker wie Glenn Gould vollständig ablehnen! Dabei vermitteln gerade solche Musiker unglaubliche Sichtweisen auf Bach und auf diese Zeit, auf die vielleicht sonst niemand gestoßen wäre. Dann dürften wir auch Bachs Musik nicht auf andere Instrumente übertragen (also eine Praxis, woraus ich übrigens im Rahmen unserer Bach-Frequencies-Aufnahmen sehr viel gelernt habe). Aus meiner Sicht war Harnoncourt ein sehr weitsichtiger Mensch, der einen großartigen Umgang mit der historischen Aufführungspraxis gepflegt hat, der im Übrigen durchaus Orchester mit modernem Instrumentarium dirigiert hat und nicht einen einseitigen Blick auf beispielsweise Instrumentarium geworfen hat. Seine Aufführungen haben auch das, was in einer späteren Generation des musikalischen Historizismus oftmals keine Rolle gespielt hat: nämlich Schönheit. Ich bin zwar im Grunde genommen der Meinung Schönbergs, es gehe nicht um Schönheit, sondern um Wahrheit – doch ungeachtet dessen gehören die beiden oftmals zusammen. So halte ich es für falsch, den Wohlklang normativ abzulehnen und nur einen möglichst ruppigen, gewalttätigen Klang zu kultivieren, um das Gegenstück auszublenden.

Zurück auf das Instrumentarium nenne ich Ihnen ein Beispiel neuerer Zeit, das mir Rostropowitsch einst anvertraute, der ja die beiden Cellokonzerte Schostakowitschs uraufführte. Einer der Mittelsätze beginnt mit diesem herrlichen Horn-Solo, das später vom Solisten aufgegriffen wird. Und in Russland gab es zu der Zeit nur wirklich schlechte Hörner, dementsprechend klang es. Als er dann einige Zeit später nach Boston kam, hatte das Orchester dort glänzendes modernes Blech mit hinreißendem Klang, das dem Stück ganz neue Facetten offenbarte. So sagte er mir: „Und wenn Sie in 100 Jahren eine historische Aufführung von diesem Cellokonzert Schostakowitschs produzieren wollen, so werden Sie natürlich das schlechte Horn nehmen.“
Ich will damit nur sagen: Man muss das alles evaluieren. Ich bin ein Verfechter der Aufführungspraxis, ein Verfechter der Erkenntnisse, aber bitte nicht einseitig! Wir brauchen eine übergeordnete Sicht auf die Dinge.

Bei Bach stellt sich die Frage ja besonders, gerade da er in einer Zeit des Umbruchs im Instrumentenbau lebte. Dies betrifft in erster Linie die Tasteninstrumente: Er besaß nachweisbar eine ganze Reihe an Hammerklavieren. Und wenn ich mir beispielsweise das Wohltemperierte Clavier so besehe, so kann ich mir nicht vorstellen, dass es auf einem einzigen Instrument adäquat umgesetzt werden kann: Manche der Stücke schreien nach einem Clavicembalo, andere können meines Erachtens nur auf einem Hammerklavier umgesetzt werden, wieder andere verlangen ihrer Substanz nach eine Orgel.

Genau, Bach hat weitgehend unabhängig vom Instrumentarium gedacht und gearbeitet. Das ist reine Musik. Man muss nicht zwingend die Kunst der Fuge anführen, in der es keine Zuordnung von Instrumenten gab. Es geht um eine andere Frage, nämlich um die Realisierung der Magie, die hier in Noten gesetzt ist. Und wenn es ein Steinway Flügel ist und wir erleben es auf eine Art und Weise, dass wir sagen, einem Wunder begegnet zu sein, dann ist das eben so! Auf einem gut hergerichteten Cembalo kann natürlich das Selbe geschehen. Man sollte nie normativ ohne Kenntnis des Inhalts die Sicht auf einen Weg verengen.

Es gibt Musik, die ist einem gewissen Instrument idiomatisch zugedacht, sie kann entsprechend schnell verunstaltet werden durch Übertragungen – Schubert beispielsweise ganz extrem. Doch Bach ist meines Erachtens das Gegenteil, seine Musik lässt sich problemlos von jedem beliebigen Instrument darstellen, ohne dadurch an Wert zu verlieren.

Dem würde ich zustimmen. Das würde ich sogar zurückführen auf Bach selber. Was seine Transkriptionen anderer Solokonzerte betrifft, so mag das Klavier nicht idiomatisch erscheinen für diese Musik – man würde bei den Originalen nicht an eine Umsetzung für ein Harmonieinstrument denken. Und trotzdem hat er es gemacht.

Die von Ihnen für die Aufnahme verwendete Bearbeitung des Marcello-Konzerts entstammt einer Sammlung von sechzehn Konzerten, die Bach für ein Tasteninstrument ohne Begleitung transkribierte. Wie haben Sie nun das Orchester wieder hineingebracht in Ihrer Weiter-Bearbeitung?

Ich habe das Orchester von Marcello genommen und die Ausarbeitung von Bach, inklusive aller Ornamente. Besonders aus dem mittleren Satz, der im Original fast etwas einfach klingt, macht Bach durch kleinste Variationen ein absolutes Wunderwerk. Ohne harmonisch etwas zu verändern, nur durch Umspielungen und melodiöse Feinheiten hebt er ein schönes Stück italienischer Barockmusik auf eine ganz neue Ebene. Hier sehen wir auch, was die Rolle des Interpreten zu dieser Zeit war. Sie mussten kreativ mit dem Text umgehen und ihn nicht einfach wörtlich herunterspielen – Bach hat ein Musterbeispiel vorgelegt. Ich habe allerdings das, was Bach geschrieben hat, nicht weiterverarbeitet, sondern habe das übernommen, was er vorgeschlagen hat.

Und aus welchem Grund?

Ganz einfach. Man kann – oder zumindest ich könnte – es nicht besser, als es Bach gemacht hat. So gilt es als Gebot der Bescheidenheit. Es ist ein traumhaftes Resultat, das Bach vorgelegt hat, und ich verneige mich davor.

Und würden Sie eine originale Marcello-Partitur ohne eine Bearbeitung wie die durch Bach auch wörtlich spielen; oder wie würden Sie hier vorgehen?

Hier würde ich schon ornamentieren. Aber mein Lehrmeister für diesen Prozess bliebe Bach. Ich würde mir ansehen, was er mit vergleichbarer Musik gemacht hat und welche Arten der Verzierung er wo verwendet; damit gälte es zu versuchen, es auf ein anderes Stück zu übertragen.

Und Bach bleibt der beste Lehrmeister, auf den sich nahezu alle späteren Komponisten zurückbesonnen haben, von Mozart über Mendelssohn bis hin zu zeitgenössischen Tonsetzern – auch aus anderen Bereichen wie dem Jazz oder kubanischer Musik.

Ich hatte tatsächlich bereits Kontakte aufgenommen nach Warschau, wo es eine Jazz-Professur gibt, und somit überlegt, das Konzert im Jazzbereich anzusiedeln. Später kam ich aus verschiedenen Gründen wieder davon ab. Aber möglich wäre es, warum nicht?

Auf Ihrer CD gibt es zwei Stücke späterer Komponisten, die sich auf Bach bezogen haben: Piazzolla und Schostakowitsch.

Piazzolla schrieb sein Stück in Kenntnis des Gounod’schen Aufgriffs von Bachs C-Dur-Präludium aus dem Wohltemperierten Clavier I mit der berührenden Melodiestimme Ave Maria. Und ich war hingerissen davon, dass Piazzolla sich nicht nur an solch ein bekanntes und millionenfach gespieltes Stück wagte, sondern dann noch eine ganz eigene Auffassung davon zu Papier brachte. Die Begleitung übernahm er nicht wörtlich von Bach, lehnte sich eher daran an. Er hebt die Musik auf eine ganz eigene Ebene, was mich sehr bewegte.

Schostakowitsch schrieb in Anlehnung an das Wohltemperierte Clavier ebenfalls Präludien und Fugen; bei ihm spürt man allgemein eine Nähe – vor allem eine geistige Nähe – zu Bach, die er in seiner ureigenen Sprache artikulierte. Für uns rundete die Aufnahme von Schostakowitsch die Einspielung gewissermaßen ab.

Und Sie haben zu ihm auch eine zumindest indirekte persönliche Verbindung, einmal durch den Unterricht bei Rostropowitsch, andererseits zu Gubaidulina.

Sie wissen ja, dass Gubaidulina nicht immer die Bestnoten in Komposition hatte, dass ihre Weise des Musikmachens als Irrweg angesehen wurde. Nur Schostakowitsch hielt an ihr fest und gab ihr einen Rat, dem auch ich für mein Leben weiterspüren möchte, der übrigens ebenso viele aus meinem Umkreis wie vor allem Gidon Kremer und Luigi Nono maßgeblich beeinflusst hat. Dieser Rat deckt sich inhaltlich mit einer alten Gedichtzeile von Antonio Machado, der für uns eine Art Motto bedeutete, übertragen bedeutet sie: „Wanderer, es gibt keinen Weg. DU musst gehen.“

[Interview geführt von Oliver Fraenzke am 18. Juni 2021]