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Joachim Raffs „Samson“ in Bern – ein Interview mit Graziella Contratto und Philippe Bach

Stadttheater Bern

Am 8. September 2023 kam Joachim Raffs Oper Samson, die ein Jahr zuvor mit großer Verspätung im Deutschen Nationaltheater Weimar uraufgeführt worden war, zum ersten Mal in der Schweiz zur Aufführung. Das Werk erklang konzertant unter der Leitung von Philippe Bach im Stadttheater Bern, die Berner Symphoniker begleiteten ein hochkarätiges internationales Gesangsensemble (zur Besprechung siehe hier). Die Aufführung bildete den Endpunkt eines neuntägigen Aufnahmeprojekts für das Label Schweizer Fonogramm, produziert von Graziella Contratto. Im Anschluss an die Aufführung führte The New Listener mit Graziella Contratto und Philippe Bach das folgende Gespräch.

Wie sind Sie beide auf Joachim Raff gekommen?

Graziella Contratto: Ich stamme aus der gleichen Gegend wie Joachim Raff. Ich bin im Kanton Schwyz aufgewachsen und kenne den Ehrenpräsidenten der Joachim Gesellschaft, Res Marty, schon seit vielen Jahren. Meine erste Begegnung mit Raff hatte ich, als ich erfuhr, dass in Lachen in dem Haus, das heute am Ort seines Geburtshauses steht, ein Museum für ihn eingerichtet wurde. Ich habe später auch zwei, drei Werke von ihm dirigiert. Aber erst vor zwei oder drei Jahren ist mir zu Ohren gekommen, dass es die Oper Samson gibt – eine tragische Oper unter Raffs starkem Eindruck von Wagners Lohengrin und dessen Zürcher Schriften, die seit ihrer Entstehung über 170 Jahre in einer Schublade warten musste, bis sie letztes Jahr in Weimar in der Regie von Calixto Bieito uraufgeführt worden war. Und da dachte ich: Das müssen wir als Weltersteinspielung machen! 2017 hatte ich gemeinsam mit meinem Mann Frédéric Angleraux ein Label gegründet, Schweizer Fonogramm, das schon in den ersten Jahren vergessen gegangene Schweizer Kompositionen mit hochkarätigen Studioaufnahmen releasen durfte. Als unbekannte Schweizer romantische Oper war der Samson für uns daher ideal. Dazu brauchten wir natürlich auch ein Orchester, einen Chor, gute Solisten und Solistinnen, einen hervorragenden Kapellmeister und vor allem einen Ort, wo das Ganze als Schweizer Erstaufführung aufgeführt und als Studioproduktion aufgenommen werden konnte. Von den Finanzen spreche ich dann weiter unten….

Philippe Bach: Es ist eigentlich traurig, aber ich als Schweizer habe Raff erst in Thüringen kennengelernt, als GMD in Meiningen. In einem Gespräch mit Professor Wolfram Huschke von der Musikhochschule Weimar kamen wir darauf, dass man für Raff etwas machen müsste: Er sei doch Schweizer und wirkte in Thüringen. So habe ich ihn kennengelernt. Ja, es ist traurig, dass Raff bei uns so unbekannt ist, aber mit dem Jubiläumsjahr 2022 gab es für ihn zum Glück einen wichtigen „Push“, der ihn in der Schweiz auf die musikalische Landkarte gebracht hat.

Das heißt, die Schweizer wurden durch das Jubiläum erst richtig wachgerüttelt, was die Bedeutung von Raff betrifft?

Philippe Bach: Ein bisschen…

Graziella Contratto: …nicht genug! Wir haben in der Schweiz ein wenig das Problem mit dem eigenen musikalischen Kulturerbe, weil es eben nicht so wahnsinnig viel gibt vor dem 20. Jahrhundert. Man darf nicht vergessen, dass die Schweiz damals kulturell betrachtet eigentlich ein unterentwickeltes Land war, abgesehen von gewissen Industriezentren wie Zürich und Genf oder Basel. Die Schweizer galten während vielen Jahrhunderten als ein Bauernvolk, naturaffin, aber eben nicht als Ausgeburt der Raffinesse….. Viele ausländische Komponisten waren hier im Exil ( wie z. B. Richard Wagner), machten Bergtouren (wie Mendelssohn) oder befanden sich auf der Durchreise mit einem Besuch eines reichen Bekannten, und haben dann hier etwas komponiert, wie Brahms, der am Thunersee sein Doppelkonzert geschrieben hat. Wir hatten einfach weniger eigene Komponisten. In Genf, in der französischen Schweiz gab es schon einige, aber sie sind nicht sehr bekannt geworden, Josef Lauber etwa, geboren 1864. Er hat dasselbe Problem, obwohl er eine wichtige Persönlichkeit war, z. B. bei der Gründung des Schweizerischen Tonkünstler-Vereins. Ich glaube, deswegen sind die Schweizer nicht gewohnt, dass aus dem 19 Jahrhundert tatsächlich Trouvaillen da sind: Musik von Schweizern komponiert, zwei, drei Komponistinnen sind auch darunter.

Philippe Bach: Ich glaube, bei Raff kommt auch noch die Sache hinzu, dass er sehr jung ausgewandert ist: die ersten rund 20 Jahre in der Schweiz – danach in Deutschland. Er musste ja fast fliehen, hatte finanzielle Probleme. Und dann war er weg. Das ist vielleicht auch ein Grund, warum viele gar nicht wissen, dass Raff ein Schweizer Komponist ist.

Graziella Contratto: Dann war er ja auch Direktor des Frankfurter Hochschen Konservatoriums, seine Hauptwirkungsorte liegen in Deutschland.

Sie hatten schon das tragische Sujet erwähnt. Was, meinen Sie, gab für Raff den Ausschlag, sich für den Samson-Stoff zu entscheiden?

Graziella Contratto: Das habe ich mir auch überlegt. Er hat ja den Lohengrin als Assistent in Weimar bei der Uraufführung miterlebt, und ich habe ein bisschen den Eindruck – das ist natürlich eine küchenpsychologische Analyse –, Raff war auf der einen Seite fasziniert von Wagner, auf der anderen Seite wollte er sagen: „Ich kann das auch!“ Er hat gesehen, wie Wagner sich gerade jetzt auf diese mittelalterliche oder später deutsch-nordische Sagenwelt eingeschossen hat, und daher kann ich nachvollziehen, dass er – als Urschwyzer – auf einen alttestamentarischen Text zurückgriff. Er ist nicht nach Norden gegangen, sondern in die Vergangenheit zurück, ins alttestamentarische Kriegsgeschehen, mitten hinein in die Kämpfe zwischen Israeliten und Philistern. Er hat sich dieses Thema vorgenommen, hat sich in vielen Studien damit befasst, wollte darüber sogar doktorieren. Man sieht das auch in der Partitur: Die Regieanweisungen sind extrem detailliert. Auch der gesungene Text des von ihm selbst verfassten Librettos versucht, Biblisches mit Individuellem und Politischem zu vermengen, das ist alles sehr akribisch ausgearbeitet, z. B. in den Namenswörtern oder in den geographischen Angaben. Er hat viel recherchiert. Das war kein oberflächliches Zusammenbasteln. Es ist eine Mischung zwischen Drama, alttestamentarischen Sagen, Geschichte.

Philippe Bach: Ich glaube schon, dass das ein Glück für ihn war, dass er dabei sein konnte, als Liszt den Lohengrin uraufgeführt hat. Er hat Wagner nicht kopiert – dazu ist Raff in seiner Tonsprache zu eigen – aber er wurde ganz klar von Wagner inspiriert. Sehen Sie sich das Orchester an: Es hat genau die gleiche Größe wie beim Lohengrin, die Instrumente sind identisch. Was mir auch auffällt, ist der sehr solistische Einsatz der Blechbläser, gerade in der Begleitung von Rezitativen – Wagner war im Lohengrin der Erste, der das gemacht hat, das gab es vorher in der Opernliteratur kaum. Und das hat Raff beim Samson dann auch gemacht. Beethoven wurde auch inspiriert durch Mozart, Schubert durch Beethoven und so weiter. Junge Künstler suchen sich immer Vorbilder und wollen dem nachstreben. Raff hat das wirklich großartig gemacht, in seiner eigenen Sprache und seinen eigenen Ideen, aber er wurde zu dieser Oper ganz klar von Wagner inspiriert. Auch übernimmt er von Wagner die Motivtechnik…

Graziella Contratto: …wenn auch weniger konsequent.

Philippe Bach: Aber es leuchtet doch immer auf, etwa in dem Dialog zwischen Vater und Tochter. Da gibt es ein kurzes Motiv, nur einen Takt lang, aber es kommt immer wieder. Und dabei ändert sich so schnell die Farbe der Musik!

Bemerkenswert ist ja auch, wie Raff seine Szenen aufbaut, im ersten Akt etwa die Anrufungen der Göttin durch den Chor mit den sich steigernden Solo-Partien dazwischen, bis dann die Kriegsszenerie hereinbricht!

Graziella Contratto: Darin hat er sich von der Grand Opéra Meyerbeers anregen lassen. Diese Dramaturgie ist offenbar französisch inspiriert.

Philippe Bach: Ich glaube, das war wirklich eine goldene Zeit, als er in Weimar war! Er hat sehr viel miterlebt – Liszt war ja so offen – und es war sicher phänomenal für ihn, als junger Mensch dort zu sein.

Graziella Contratto: Aber es war schon hart, dass dann Samson et Dalila von Saint-Saëns ausgerechnet in Weimar zur Uraufführung kam, nachdem sein eigener Samson aufgrund von Theaterintrigen gegen Liszt, später wegen des überraschenden Todes des eigentlich von Samson begeisterten Ludwig Schnorr von Carolsfeld definitiv nicht zur Uraufführung kommen konnte.

In welchem Verhältnis sehen Sie die beiden Samson-Opern von Raff und Saint-Saëns?

Graziella Contratto: Saint-Saëns hat das Orientalische gekannt: Er war mit dem musikalischen Flair, dem Eros und dem damals florierenden Exotismus vertraut, konnte dies aus eigener Reiseerfahrung einbringen. Deswegen ist sein Werk insgesamt etwas parfümierter als bei Raff. Abgesehen von ein paar modalen Ansätzen ist Raffs Musik relativ europäisch. Bei Raff steht ein politisches, psychologisches Thema im Vordergrund, was sich auch in der Musik niederschlägt. In Samson et Dalila spürt man viel pariserisches Idiom, aber auch ein bisschen kulturellen Tourismus. Auch bei Saint-Saëns gibt es unglaublich tolle Musik, großartige Arien, aber diese Musik ist in einem anderen Fluss, bewegt sich in einem anderen kulturellen Setting.

Wie sehen sie den Samson im Gesamtkontext des Raffschen Schaffens?

Philippe Bach: Ich glaube, das ist ein unglaublich zentrales Werk. Wir wissen nicht – er hat ja nicht sehr viele Opern danach komponiert –, was passiert wäre, wäre die Uraufführung in Weimar damals zustande gekommen und ein riesiger Erfolg geworden, und er darauf vielleicht noch sehr viele Opernaufträge erhalten hätte… In der Karriere eines Musikers gibt es unglaublich viele Zufälle, und die entscheiden dann, ob es in diese Richtung oder in eine andere Richtung geht. Was wäre mit Wagner passiert, wenn nicht König Ludwig gewesen wäre? Das weiß man nicht. Vielleicht hätten wir keinen Ring! Und bei Raff ist es eigentlich eine Tragödie, dass diese Oper nicht viel früher schon gespielt wurde. Vielleicht hätte sie ihm viele Türen geöffnet. Es kam dann anders, und er hat dann später mehr im symphonischen Bereich gearbeitet. Ich muss sagen: Für mich war das Werk auch ein Türöffner, mich noch viel mehr mit ihm zu beschäftigen.

Könnten Sie sich vorstellen, ein weiteres Opernprojekt zu realisieren? Es ist ja noch genau eine Oper von Raff nicht aufgeführt: Die Parole. Wäre das eine Option für Sie, mit diesem Stück weiter zu machen, das offenbar einen ganz anderen Raff zeigen soll?

Graziella Contratto: Was man einfach wissen muss: Das ganze Samson-Projekt, also Aufnahme und Erstaufführung, steht am Ende eines zweijährigen Vorbereitungsprozesses. Es brauchte dazu sehr viel Ressourcen, Zeit und Geld. Es war nicht Teil eines normalen Saisonprogramms – dann wäre es viel einfacher gewesen. Weimar konnte letztes Jahr seine Aufführung als Eröffnungsprogramm der Saison ansetzen. Wir haben das hier außerhalb der Saison mit dem Berner Symphonieorchester zusammen gestemmt. So etwas ist sehr aufwendig, in jeder Hinsicht. Es musste eine Förderstruktur gefunden werden, die das Ganze finanziell unterstützt. Wir fanden zum Glück Unterstützung und Partnerschaften: von der Raff-Gesellschaft Lachen, von verschiedenen öffentlichen Instanzen, zum Beispiel dem Kanton Schwyz, der Herkunftsgegend. Hinzu kamen private Förderstiftungen, ein Crowdfunding und Mäzene und Mäzeninnen, die sich anstecken ließen vom Samson-Fieber. Uns ist aber auch aufgefallen, dass es in der Schweiz auf Bundesebene selber ein gewisses Umdenken braucht, um Tonträgeraufnahmen unter Studiobedingungen als eigene Kulturleistung anzuerkennen. Das ist nämlich noch nicht so sehr der Fall, mindestens nicht, was die historische Schweizer Musik betrifft. Die zeitgenössische Musik wird schon sehr unterstützt. Das ist auch richtig und wichtig! Aber die historische Musik, die eigentlich fast noch sensationeller ist, weil man sie noch gar nicht kennt und gar nicht weiß, was es alles gibt… Das steckt noch ein bisschen in den Kinderschuhen, glaube ich.

Philippe Bach: Man muss einfach auch sagen: Solche Studio-Aufnahmen von Opern gibt es eigentlich heute gar nicht mehr, das kann niemand mehr bezahlen. Aber das ist sehr schade, denn es sind doch wichtige Zeitdokumente, auf die man eben auch noch in 100 Jahren, so hoffe ich, zurückgreift. Es gibt doch Referenzaufnahmen, sagen wir: den Rosenkavalier unter Carlos Kleiber. Solche Sachen gibt es leider heute kaum mehr, da man heute immer Live-Mitschnitte auf CD oder DVD bringt. Aber ich finde es unglaublich wichtig für die Geschichte, dass man solche Studioaufnahmen mit der wirklich besten Qualität eben für die Ewigkeit aufnimmt. Aber wie Graziella gesagt hat: Es ist ein Kraftakt, so etwas zu stemmen! Wir hatten auch das Glück, dass uns das Stadttheater von Bühnen Bern neun Tage zur Verfügung stand. Welcher Opernintendant würde ein Opernhaus für neun Tage schließen! Sie konnten in der Zeit keine Aufführungen spielen. Dass wir an diesem Ort die Aufnahmen machen konnten, ist ein Glücksfall. Das muss man wirklich sagen!

Welche Möglichkeiten bietet ein solches Vorgehen verglichen mit einer szenischen Aufführung, die mitgeschnitten wird?

Philippe Bach: Man hat natürlich eine viel höhere musikalische Qualität. Jeder Musiker bringt Spitzenleistungen und gibt sein Bestes. Jeder weiss: Das ist für die Ewigkeit. Das Niveau ist unglaublich, das erreicht man selten, fast nie in einer Opernaufführung! Und eine konzertante Aufführung für mich etwas unglaublich Schönes. Alle konnten sich wirklich auf die Musik konzentrieren und hatten das Stück im Blut, da wir zehn Tage so intensiv gearbeitet haben. Das hat man selten. Natürlich gehört dieses Stück auf die Bühne, das ist klar: Es braucht Inszenierungen, verschiedene Inszenierungen! Ich glaube, das Stück lässt auch viel zu, man kann viel damit machen. Es wäre schön, wenn das Stück jetzt gespielt würde in verschiedenen Inszenierungen. Aber rein für die musikalische Qualität ist eine Unternehmung, wie wir sie hier durchführen konnten, etwas vom Besten was es gibt.

Das heißt, die Bühnen Bern haben durch die vorübergehende Schließung des Theaters einen ganz wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass man überhaupt diese Aufnahme ins Werk sitzen konnte?

Graziella Contratto: Natürlich! Und wir haben noch ein sogenanntes Konzertzimmer einbauen lassen. Sie haben diese Konzertmuschel auf der Bühne gesehen. Sie musste extra eingerichtet werden, was einen Tag lang gedauert hat. 20 Arbeiter sind mit drei Sattelschleppern hergekommen und haben sie aufgestellt: oben die Segel, auf der Seite Stellwände und so weiter. Es war ein unglaubliches Abenteuer, aber auch toll, denn jetzt haben wir wirklich etwas Wichtiges zusammen geleistet, damit Raff auch als Opernkomponist wahrgenommen werden kann, und zwar weltweit. Man sagt immer, Live-Aufnahmen haben einen „Spirit“ aus dem Moment, es ist so emotional. Aber Emotion bedeutet auch manchmal Ungenauigkeit, Spontaneität statt Reflexion. Es können natürlich auch ungewollt Dinge passieren. Mich persönlich ärgert es dann, wenn so etwas für immer und ewig einfach aufgenommen ist und dann immer wieder gehört werden kann, und jeder merkt: Da gab es ein Problem, dort eine Unschärfe, intonatorisch gibt es etwas zu bekritteln usw. Dann verzichte ich lieber auf den Live-Moment und setze lieber auf eine ausgeklügelte, gut geführte Studioaufnahme.

Ein Herr aus dem Publikum hat zu mir gestern den Satz gesagt, Raff sei eigentlich das bedeutendste „Missing-Link“ des 19. Jahrhunderts, weil er gewissermaßen wie in einem Kreis zwischen seinen ganzen berühmter gewordenen Kollegen steht und jedem von ihnen die Hand reicht. Sehen Sie das ähnlich?

Graziella Contratto: Das ist sehr schön gesagt!

Philippe Bach: Ja, Raff war gewissermaßen bei beiden, bei den Neudeutschen um Liszt wie bei der anderen Linie von Mendelssohn, und hat versucht, auf seine Weise zu verbinden. Er hat eben nicht gesagt: „Nur das ist gut, und das ist schlecht!“

Herzlichen Dank für dieses Gespräch!

[Das Interview führte Norbert Florian Schuck, 9. September 2023]

Zur weiteren Information:

Die Weltersteinspielung der Oper Samson von Joachim Raff erscheint voraussichtlich im kommenden Dezember als 3-CD-Box bei www.schweizerfonogramm.com

Philippe Bach leitet das Berner Symphonieorchester und den Chor der Bühnen Bern, als Solisten wirken mit:

SAMSON – Magnus Vigilius

DELILAH – Olena Tokar

ABIMELECH – Robin Adams

OBERPRIESTER – Christian Immler

MICHA – Michael Weinius

Die künstlerische Aufnahmeleitung wurde ebenso wie das Editing und das Mastering übernommen von Frédéric Angleraux, Studio www.adcsound.ch

Musik in Bern 1: Die schweizerische Erstaufführung von Joachim Raffs „Samson“

Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände zu Lebzeiten seines Autors nicht auf die Bühne gelangt, entpuppte sich Joachim Raffs Musikdrama Samson bei seiner Uraufführung, die mit 165 Jahren Verspätung im September 2022 im Deutschen Nationaltheater Weimar stattfand (wir berichteten), als ein Werk, das mit Fug und Recht eine der bedeutendsten Opernschöpfungen des mittleren 19. Jahrhunderts genannt werden kann. Ziemlich genau ein Jahr nach dieser Premiere kam es nun erstmals zu einer Aufführung in der Schweiz, dem „Mutterland“ des Komponisten. (Der 1822 in Lachen, Kanton Schwyz, als Sohn eines Württembergers und einer Schweizerin geborene und aufgewachsene Raff unterschied zwischen der Schweiz als seinem „Mutterland“ und Württemberg, dessen Staatsangehöriger er lebenslang blieb, als seinem „Vaterland“.) Zeitgleich zum Musikfestival Bern, aber nicht als Teil desselben, erklang der Samson konzertant als Extrakonzert der Bühnen Bern am 8. September 2023 im Berner Stadttheater. Das Berner Symphonieorchester und der Chor der Bühnen Bern (einstudiert von Zsolt Czetner) spielten und sangen unter dem Dirigat von Philippe Bach. In den einzelnen Rollen waren zu hören: Magnus Vigilius (Samson), Olena Tokar (Delilah), Christian Immler (Oberpriester), Michael Weinius (Micha), Robin Adams (Abimelech), Mirjam Fässler (Oberpriesterin), Christian Valle (Seran von Askalon), Bareon Hong (Gefängniswächter) und Katharina Willi (Frau aus dem Volke). Der Abend wurde von Res Marty, Ehrenpräsident der Joachim-Raff-Gesellschaft, und Severin Kolb, Leiter des Joachim-Raff-Archivs in Lachen, mit einer ausführlichen Konzerteinführung eingeleitet.

Bereits die Bezeichnung „Musikdrama“ verrät, dass der Komponist, der später vor allem als Symphoniker und Verfasser von Klavier- und Kammermusik berühmt wurde, in dieser, seiner zweiten Oper bewusst an die Errungenschaften Richard Wagners anknüpfte. Raff hatte als Assistent Franz Liszts in Weimar die von diesem geleitete Uraufführung des Lohengrin erlebt und unmittelbar unter jenem Eindruck mit der Arbeit am Samson begonnen, den er ganz in der Art Wagners auch selbst dichtete. Heraus kam ein Werk von echter dramatischer Kraft, dessen Szenen dichterisch wie musikalisch meisterlich aneinander gefügt sind und das mit seiner psychologisch vielschichtigen Charakterisierung der Hauptfiguren unmittelbar fesselt. Raff denkt offensichtlich nicht in Nummern, sondern in ganzen Akten, in welchen Arien, Ensembles, Chöre eine Funktion als Teile eines größeren Ganzen einnehmen, aber keine in sich geschlossenen Stücke mehr sind. Eine zusätzliche Verklammerung wird durch wiederkehrende Themen und Motive erreicht, die allerdings auf die einzelnen Akte beschränkt bleiben und noch keine eigentlichen Leitmotive im Sinne des späteren Wagner sind. Stilistisch lehnt sich das Werk, das einmal wieder von Raffs außerordentlicher Begabung als Instrumentationskünstler zeugt, durchaus nicht sklavisch an Wagner an. Bei aller Wertschätzung war Raff ein zu eigener Kopf, als dass er sich einem bestimmten Vorbild ganz verschrieben hätte. Bezeichnenderweise veröffentlichte er während der Arbeit am Samson ein Buch mit dem Titel Die Wagnerfrage, in welchem er sich an einer kritischen Sichtung des von Wagner Erstrebten und Erreichten versuchte.

Ließ sich von der Weimarer Aufführung bereits sagen, dass es sich um eine musikalisch hochwertige Darbietung handelte (die nur leider durch die unwürdige Inszenierung mit ihren vielen störenden Nebengeräuschen Schaden nahm), so bot sich in Bern ein noch deutlich erfreulicherer Eindruck, denn die Leistung der Weimarer wurde von den Bernern in jeder Hinsicht übertroffen. Es war, um es kurz vorweg zu nehmen, ein musikalischer Abend beinahe ohne alle Abstriche und Eintrübungen. Mit Philippe Bach war ein Dirigent für die Unternehmung gewonnen worden, der es versteht, Orchester wie Chor mit deutlicher, funktionaler Zeichengebung, mit wachem Sinn für die Entwicklung der Musik im Großen wie für die klanglichen Feinheiten der einzelnen Momente zu Höchstleistungen zu führen. Was das Gesangsensemble betrifft, so kann man nur konstatieren, dass bei der Besetzung eine glückliche Hand zu Werke ging: Nicht nur für die Hauptpersonen, sondern selbst für Nebenrollen, die nur in einem einzigen Akt kurze Auftritte haben, hat man kraftvolle, frische Stimmen gefunden, angesichts derer man sich schlichtweg über jeden neuen Auftritt einer Figur, jede neue Figurenkonstellation freut. Besonders loben muss man die Textverständlichkeit aller Sängerinnen und Sänger – dies umso mehr, da es sich um ein internationales Ensemble handelte, dessen Mitglieder mehrheitlich aus nicht-deutschsprachigen Ländern stammen. So konnte man sich nicht nur an der Schönheit der Stimmen erfreuen, sondern auch der Handlung folgen, ohne dass Hilfsmittel wie Textbuch oder Untertitel (was es beides nicht gab) nötig gewesen wären. Das Zusammenspiel der Hauptfiguren lebte von der begnadeten Charakterisierungskunst ihrer Darsteller. Magnus Vigilius, Olena Tokar und Robin Adams zeigten Samson, Delilah und den König Abimelech (der bei Raff Delilahs Vater ist) als runde Charaktere mit Stärken und Schwächen, die, hin- und hergerissen von den komplizierten Situationen, in die sie durch politische und persönliche Konstellationen hineingeraten sind – man beachte, dass die Beziehung zwischen Samson und Delilah in diesem Stück eine echte, von beiderseitiger Zuneigung getragene Liebe ist –, schwere Entscheidungen treffen müssen. Diesen Figuren, die eine Entwicklung durchmachen – Samson und Delilah gelingt die Selbstüberwindung, Abimelech scheitert an der Staatsräson –, stehen in Form des Kriegers Micha und des Oberpriesters die beharrlichen, unversöhnlichen Elemente gegenüber, die durch Michael Weinius und Christian Immler eine nicht minder treffliche Verkörperung erfuhren. Angesichts dieser Leistungen fiel gar nicht ins Gewicht, dass man auf das Bühnenspiel verzichten musste. Die handelnden Figuren standen dem Verfasser dieser Zeilen derartig prägnant vor dem inneren Auge, dass er nur wenig Phantasie brauchte, sich die Bühnenbilder, Kostüme und Aktionen hinzuzudenken. Außerdem ist es im Zweifelsfall besser, gar keine Inszenierung zu haben als wenn mit dem Stück solcher Unfug getrieben wird, wie bei der Weimarer Aufführung geschehen. Dennoch möchte ich an dieser Stelle andere Theater ausdrücklich dazu ermutigen, den Samson szenisch umzusetzten, aber bitte gut!

Man merkte den Ausführenden an, dass ihrem Auftritt neun Tage intensiver Arbeit vorangegangen waren: Die Premiere markierte den Abschluss eines von der Dirigentin Graziella Contratto initiierten Aufnahmeprojekts für die CD-Produktion Schweizer Fonogramm. Angesichts der Tatsache, dass die Einspielung den ganzen Samson umfassen wird, lässt sich auch der einzige Wermutstropfen verschmerzen, dass die Aufführung keine vollständige war: Aus gewerkschaftlichen Gründen, wie es hieß, war die Oper um etwa eine halbe Stunde auf eine Länge von drei Stunden (die Pause nicht eingerechnet) gekürzt worden. Dass das Berner Stadttheater das Opfer brachte, eigens wegen dieser Produktion seinen Betrieb für über eine Woche zu unterbrechen, verdient nichtsdestoweniger Anerkennung und Lob! Die Aufnahme wird, einer Mitteilung im Programmheft zufolge, als 3-CD-Packung um die Weihnachtszeit 2023 herauskommen.

[Norbert Florian Schuck, September 2023]