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Für Herz und Geist

Solo Musica, SM 362; EAN: 4 260123 643621

Ausgehend vom Concerto d-Moll BWV 1052 von Johann Sebastian Bach spannten der Cellist Julius Berger und die vielseitig aktiven Schlagwerkspieler Andrei Pushkarev und Pavel Beliaev ein Programm, das sich intuitiv dem menschlichen Herzschlag zwischen 60 und 90 Schlägen pro Minute annähert. Sie (re?)konstruierten eine verlorengegangene Urfassung von Bachs Concerto für ein Streichinstrument, hier das Violoncello piccolo, und führten auch Alessandro Marcellos d-Moll-Oboenkonzert, welches von Bach für Klavier solo umgearbeitet wurde, weiter in eine Fassung für Cello piccolo. Die Orchesterstimmen arbeiteten die Musiker um für Marimba und Vibraphon. Um diese Eckpfeiler herum hören wir Schostakowitschs Prelude C-Dur aus op. 87, Bachs Choräle Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ BWV 639, Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit BWV 106 und Jesus bleibet meine Freude BWV 147, die Aria BWV 590 und Piazzollas Umarbeitung von Bach-Goundos Ave Maria.

Was begann als zufällig gelesene Randinformation, mündete in einer zutiefst persönlichen Aufnahme, die als eine Art der Corona-Bewältigung angesehen werden darf. Der Cellist Julius Berger hörte, dass Bachs d-Moll-Konzert BWV 1052 wohl ursprünglich für ein Streichinstrument geschrieben sei, in dieser Version allerdings als verschollen gelte – einige Techniken, besonders die E-Barriolagen, sprächen dafür, dass es sich beim Soloinstrument um eine Violine handle, oder um ein Violoncello piccolo, welches Bach gerade in Kantaten gerne besetzte. Die Idee war geboren, diese verloren gegangene Fassung in der heutigen Zeit zu rekonstruieren, und zwar für das Violoncello piccolo. Doch da dieses heute kaum bis überhaupt nicht als Soloinstrument zu hören ist, stellten sich bereits instrumentale Schwierigkeiten: Denn wo erhält man eine E-Saite, die alle Anforderungen nicht nur für eine solistische Bachaufführung, sondern auch für Darbietungen neuerer Musik erfüllt? Berger ließ sie als Sonderanfertigung von Pirastro kreieren. Auch war angesichts des Lockdowns 2020 an eine Aufnahme mit Orchester nicht zu denken; so fragte Berger Andrei Pushkarev an, wie man denn die Orchesterstimmen sinnvoll kammermusikalisch umsetzen könnte. Hierfür involvierten sie Pavel Beliaev und transkribierten die Stimmen für Vibraphon und Marimba, konnten durch diese klangtechnisch weichen, dabei vielstimmig einsetzbaren Instrumente das gesamte Orchester abbilden und voluminös ausfüllen.

Um das Konzert entwickelte sich ein Programm aus verschiedenen Chorälen Bachs, hinzu kamen Werke anderer Komponisten, die eng mit der Leitfigur Bach in Verbindung stehen. Schostakowitsch bezog seine für Klavier geschriebenen Präludien und Fugen op. 87 ganz klar auf das Wohltemperierte Klavier und integrierte mehrfach deutliche Parallelen. Piazzolla griff das C-Dur-Präludium aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers auf, das bereits von Gounod mit der sich darüber erhebenden Melodielinie Ave Maria versehen wurde. Diese Melodie nahm Piazzolla als Grundlage, spann allerdings eine eigene Fantasie daraus, die meines Erachtens stimmiger auf die Vorlage passt als die von Gounod, und so zu einer besonderen Entdeckung avanciert. Einer weiteren mehrfachen Bearbeitung unterliegt das Marcello-Konzert, welches dieser für Oboe konzipierte, was Bach dann mit reicher und wohlüberlegter Ornamentik als Klavierstück umarbeitete: Nun von Berger und Pushkarev in die Klangwelt des Violoncello piccolo eingeführt, übernahmen sie die melodiösen Auszierungen Bachs, gingen in den Orchesterstimmen von Marcellos Original aus.

Der gemächliche Grundpuls von etwa 60-90 Schlägen die Minute rückte dabei rein zufällig ins Zentrum, wohl einer inneren Intuition entspringend, in all den Wirren der aktuellen Zeit zu sich selbst zurückzufinden. Das zur-Ruhe-Kommen, was wir mehr denn je nötig haben, wird so zu einem Kernelement der Aufnahme und überträgt sich auf den Hörer. Die Musiker suchten ihren Halt in der Musik selbst und in einer möglichst persönlichen, innigen, dabei nicht schwärmerisch-romantischen, sondern geistig durchdringenden, sprich menschlichen Darbietung. In der so entstehenden Echtheit berührt die Musik und legt sich so als wohltuender Balsam über uns. Aus der Wahl von Marimba und Vibraphon resultiert eine beinahe meditative Flächigkeit, die dennoch Konturen schafft und gerade die Steigerungen elastisch ausgestalten kann. Julius Berger wählt für die Aufnahme ein niederländisches Instrument von Jan Pieter Rombouts mit Darmsaiten, was den anderen, moderneren Instrumenten zwar scheinbar entgegensteht, sich aber eben durch diesen Kontrast auf eine ganz eigene Weise mischt und einen ganz persönlichen Klang aufkeimen lässt. Der Aufnahmeort in der Christkönigkirche Dillingen wirkt sich positiv auf die Abmischung der Instrumente aus und schafft sanften, nicht übermäßigen Hall: Es musste in der Nachbearbeitung nichts mehr am Klang geändert werden, es handelt sich tatsächlich um das, was mit dem englischen Terminus Natural Sound bezeichnet wird. Nennenswert ist noch, dass Julius Berger mit allen Beteiligten, Saitenhersteller, den Schwestern der Regens-Wagner-Einrichtung, zu welcher die Kirche gehört, den Aufnahmeleitern und den Mitmusikern in jahrelangem freundschaftlichem Kontakt steht, wie man dem Booklet entnehmen kann: Solch ein kollegiales Verhältnis zwischen allen Beteiligten bringt eine Harmonie hervor, die das Persönliche nur unterstreicht.

Im Begleittext bringt Julius Berger seinen Enthusiasmus zu diesem Projekt auf den Punkt: „Corona war plötzlich kein Schatten mehr über unseren künstlerischen Zielen, sogar im Gegenteil, endlich hatten wir Zeit für ein Projekt, das schon lange in mir schlummerte.“

[Oliver Fraenzke, November 2021]

Zum großen Ganzen zusammengefügt

Auch wenn wir auf die neue CD noch ein bisschen warten müssen, gab uns die junge italienische Meisterpianistin schon mal einen Vorgeschmack darauf. Der Publikumszuspruch war in Zahlen – wie bei kleineren Veranstaltern (zu welchen das Freie Musikzentrum gehört) im Überangebot der Starkulturstadt München ja leider üblich – sehr dürftig, aber die Zuhörer, die Maceratinis Kunst erlebten, können sagen: Wir waren dabei! Und welch ein Abend!

Zu Beginn das Adagio aus dem Oboen-Konzert in d-moll von Alessandro Marcello (1673-1747) in der Bearbeitung von Johann Sebastian Bach (BWV 974). (Wobei sich die Forschung bis heute nicht restlos einig ist, wer der eigentliche Verfasser war, Alessandro, der ältere, oder Benedetto, der jüngere der beiden Marcello-Brüder.)

Wie gesanglich die ursprüngliche Oboenstimme sich über der durchaus spannenden Begleitung erhob, sehr getragen und wie geschaffen als Einladung für ein sehr weit gespanntes Programm!

Denn schon als Nächstes folgte das gewichtigste Werk des Abends: Franz Schuberts Wanderer-Fantasie in C. Wie Ottavia Maria Maceratini abgesehen von der fulminanten technischen Meisterung dieses Mammutwerk sich entfalten ließ, die einzelnen, oft konträren Abschnitte zum einen großen Ganzen zusammenfügte, dabei jeder Nuance dieser Komposition Rechnung trug in Dynamik, Spannung, Melodik und Harmonik, ist rundweg höchst bewundernswert. Dabei strahlte sie eine überzeugende Ruhe aus, die dem sehr langen Atem dieses Stücks zu gute kam. Dass der Klang des Yamaha-Flügels auch bei den exponiertesten Stellen nie hart oder etwa metallisch dröhnend klang, war der noblen klanglichen Gestaltungskraft – und sicher auch dem jahrelangen Training in martial arts –zu verdanken. Jedenfalls wurde hörbar und zum großen Erlebnis, was der immer noch junge Schubert mit der Wanderer-Fantasie für eine ganz eigene Welt geschaffen hat.

Nach der Pause: Mozarts Rondo a-moll KV 511, eines der Klavierwerke, die in dieser für Mozart mit persönlichen Schicksalsschlägen verbundenen Tonart stehen. Und wirklich, von Beginn an lotete Maceratini diese Tiefen aus. Kein heiterer Mozart, wie so oft, heiter und unbeschwert, nein, dieser Komponist konnte mit seiner Musik weit in die Zukunft weisen, in die Bereiche der Romantik, in Gefühlstiefen, die man ihm oft vielleicht gar nicht so zutraut. Man denke nur an sein Lied „Die Engel Gottes weinen…“, das ebenso von Schubert sein könnte. In diese emotionale Tiefe nach dem Abschied eines seiner liebsten Freunde, des Grafen Hatzfeld, nahm uns die Pianistin mit all ihrer Kunst mit, die in Mozarts a-moll Tonart eben so oft zu spüren und zu vernehmen ist. (Die Sonate in a-moll KV 310 komponierte er unmittelbar nach dem Tod der Mutter 1778)

Nach Mozart folgte als Programm-Änderung Frederic Chopins Fantasie Impromptu op. 66.

Warum sie die beiden angekündigten Stücke des norwegischen Komponisten Harald Saeverud nicht spielte, sagte sie nicht, aber das Werk von Chopin ist bei Ottavia Maria Maceratini in besten Händen. Da jubelt die Melodie, da blühen die Chopin’schen Harmonien, das ist allerbeste Klavierkunst.

Der amerikanisch-französische Komponist Louis Moreau Gottschalk (1829-1869) gehört mit seinem Klavierwerk immer noch zu den Unbekannten – obwohl seine Musik zu ihrer Zeit ein absoluter Renner war, was wir gleich darauf überwältigend miterleben konnten. Sein Souvenir de Porto Rico op. 31 ist ein Reißer, den die Pianistin mit aller Unbekümmertheit und unter Einsatz ihres ganzen Körpers nicht nur spielte, sondern eigentlich tanz-spielte, was dieser Musik einen unerhörten Groove und Swing verleiht. Da ist die echte karibische Rhythmik und der ganze lebenslustige Spaß zu vernehmen, der auch heute noch diesem Stück eignet. Nicht nur solche Merkwürdigkeiten wie Kompositionen für 10 Flügel oder das Tristan-Vorspiel für 14 Klaviere, auch weitere Stücke wie „Le Banjo“ wären perfekte „Rausschmeißer“ für einen Abend wie diesen, der einen gehaltreichen Bogen spannte von Marcello bis Gottschalk, was die ganze Bandbreite der Kunst Ottavia Maria Maceratinis für die erlesene kleine Besucherschar zum großen Erlebnis werden ließ. Als Zugabe entließ sie uns mit dem zauberhaften Nocturne op. 9/ 2 von Chopin….

[Ulrich Hermann, Dezember 2017]