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Die Aufnahme-Maschine schlägt wieder zu

Ondine, ODE 1332-5; EAN: 0 761195 133255

Hannu Lintu dirigiert das Finnish Radio Symphony Orchestra mit den Symphonien Nr. 2 und 3 von Witold Lutosławski.

Witold Lutosławski zählt zu den prominentesten Komponisten der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts, nicht zuletzt aufgrund seiner Eigenständigkeit und Originalität, mit der er versuchte, alten Formen neuen Geist einzuhauchen. Im Vordergrund der Aufmerksamkeit um ihn stehen seine vier Symphonien, das Konzert für Orchester und Jeux vénitiens. Die erste Symphonie besitzt noch (ebenso wie das Konzert für Orchester) einen neoklassizistischen Flair, den er spätestens in Jeux vénitiens ablegte. Dort wandte er erstmals aleatorische Techniken an, wenngleich auf eigene Weise: Lutosławski notierte zwar die einzelnen Stimmen voll aus, überließ aber das Zusammenspiel dem Zufall, indem das Tempo für jeden frei steht und der Dirigent pausiert; dies bezeichnete er als aleatorischen Kontrapunkt. Die zweite Symphonie steht voll im Zeichen dessen. Lutosławski konzipierte sie zweisätzig: Der erste Satz, Hésitant, besteht aus sieben durch Refrains gegliederte Episoden in freiem und suchendem Gestus ohne wahren Zusammenhalt, während der zweite, Direct, stringenter auf einen Höhepunkt zusteuert, mehr auf die Streicher baut und geballtere Dimensionen annimmt. Während diese Form doch recht sperrig wirkt und den Hörer gerade formal streckenweise vor den Kopf stößt, gelingt Lutosławski in der Dritten Symphonie ein verständlicherer und mitvollziehbarerer Gattungsbeitrag. Die Symphonie besteht aus sieben, bis auf das Finale recht kurzen Sätzen, deren Episoden durch knappe und vor allem wiedererkennbare Motive zusammengehalten werden. Zu Beginn stehen vier rasche Tutti-Schläge auf E, die sich durch das gesamte Werk ziehen, gefolgt von einem wiederkehrenden Anklang an die Eröffnung von Beethovens Fünfter Symphonie. Allgemein nimmt Lutosławski die Passagen mit aleatorischem Kontrapunkt zurück und setzt auf luzidere Harmonien, konzentriert sich auf bessere Durchhörbarkeit des Geflechts.

Die Musik von Witold Lutosławski spricht für sich, man kann sie als ausführender Musiker nicht „verschandeln“ im dem Sinne, wie man Mozart, Beethoven, Schubert oder Bach für den Hörer ungenießbar machen kann. Dennoch zeigt gerade der Vergleich verschiedener Aufnahmen deutliche Unterschiede. Die Zweite Symphonie nahm Lutosławski selbst auf (er spielte auch die vollständige Uraufführung, nachdem er Boulez zum offiziellen Premierentermin nur den zweiten Satz fertig lieferte), erweist sich dabei als fähiger, im Detail präziser, aber nicht unbedingt großformatig denkender Dirigent (EMI Classics). Am meisten schätze ich die Aufnahmen von Edward Gardner mit dem BBC Symphony Orchestra (Chandos; CHSA 5223(5)), in der er nicht nur klangliches Feingefühl beweist, sondern wahrlich in die Musik hineinhört und alle Substanz aus ihr herausholt. Das Stimmgeflecht übermittelt er plastisch an den Hörer, meißelt die Kontraste ins besondere der Besetzung minutiös heraus und versteht die formale Konzeption der Werke. Auch in den geballten Klangmassen findet sich Gardner zurecht und bringt eine seidene Eleganz in die Musik hinein. Genau hier liegt der Unterschied zu der vorliegenden Aufnahme mit Hannu Lintu: Der finnische Dirigent achtet nicht auf die Ästhetik des Gesamtklangs, lässt es gerne donnern und krachen, scheint gerade in unkontrolliert polterndem Getöse voll aufzugehen. Lutosławski mit der Brechstange. Die sieben Sätze der Dritten Symphonie scheinen sich bei Lintu in die Länge zu ziehen und im Finale gar nicht enden zu wollen, während die knapp dreißig Minuten bei Gardner im Fluge verstreichen und noch Lust auf mehr machen. Dagegen überrasche Hésitant aus der Zweiten Symphonie, das Lintu im Gegensatz zum Rest erstaunlich feinfühlig dirigiert und weitschweifende Bögen formt – Direct hingegen fällt erneut zurück in den gewohnten Gestus.

Aktuell findet sich der Name Hannu Lintu vielfach in den Neuerscheinungen von Ondine, und dazu stets mit schwieriger Literatur, die genauen Feinschliff verlangt. Vielleicht sollte er sich einmal auf wenige Programme konzentrieren und diese dafür voll ausarbeiten, anstatt rasch einstudierte und nicht ausgearbeitete Aufnahmen auf den Markt zu bringen.

[Oliver Fraenzke, März 2020]

Kullervo ohne Zauber

Ondine, ODE 1338-5; EAN: 0 761195 133859

Hannu Lintu dirigiert das Finnish Radio Symphony Orchestra, den Estonian National Male Choir und den Polytech Choir mit Kullervo op. 7 des finnischen Komponisten Jean Sibelius. Die Solisten sind Johanna Rusanen und Ville Rusanen.

Die gut 70-minütige Symphonie ‚Kullervo‘ mit Männerchor und zwei Solisten gehört zu den Meilensteinen der finnischen Musik. Zwar beruft sich der Komponist Jean Sibelius dabei auf Anton Bruckner, was die Themen nicht leugnen, doch greift er in noch größerem Maße zurück auf den Stil finnischer Runensänger, deren Metrik er aufgreift, und entnimmt sein Sujet dem Volksepos Kalevala: Kullervo ist die wohl tragischste Figur daraus.

Lange Zeit wurde geglaubt, Sibelius habe sein Werk trotz des überwältigenden Erfolgs der Premiere (faszinierend besonders, da diese fast ausschließlich von Laien dargeboten wurde) und der darauffolgenden Welle an Aufführungen zurückgezogen. Mittlerweile stellte sich allerdings heraus, dass das Aufführungsmaterial schlicht im Schrank des Dirigenten Robert Kajanus landete und dort vergessen wurde – Kullervo wurde erst nach dem Tod von Sibelius wiederentdeckt und erneut aufgeführt.

Das formale Konzept ist einmalig: auf zwei rein orchestrale Sätze (Introduktion und Kullervos Jugend) folgt ein beinahe opernhafter Satz, „Kullervo und seine Schwester“ mit Männerchor und zwei Solisten, welche die Titelpersonen darstellen. Hiernach ertönt ein weiterer rein orchestraler Satz, in dem der Kriegszug Kullervos gegen seine Verwandtschaft beschrieben wird, bevor Chor und Orchester ohne die Solisten den Suizid des Protagonisten schildern.

Die packende Wucht dieses jugendlichen, aber keineswegs überschwänglichen Werks überwältigt von den ersten Tönen an und hält den Hörer bis zum dramatischen Finale gefangen. Besonders interessant gestaltet sich die Metrik: oft herrschen ungerade Takte wie eine 5/4-Struktur vor. Und die farbenreiche Orchestrierung des (wohlgemerkt) Erstlingswerks von Sibelius auf dem symphonischen Gebiet besticht durch Ihre Vielseitigkeit. Wenn der Chor einsetzt, zieht es einem förmlich den Boden unter den Füßen weg, was das Orchester unterstreicht.

Von all dem hören wir bedauernswerterweise wenig in der Darbietung mit Hannu Lintu. Sein Dirigat gibt sich mechanisch präzise, ohne dabei auf den Ausdruck der Musik einzugehen. Er bändigt das Orchester derart stark, dass keine Luft bleibt, jegliche Art von Wirkung entfalten zu lassen. So wird die Musik oft zu materiell und real, all der Zauber der Subtilität, des Schwebenden und des Überirdischen kommt gar nicht erst auf. Formal fehlen die Bezüge, die das Werk zusammenhalten, die Musik zerfasert in einzelne Momente. Packende Wirkungen entfalten ausschließlich einige Einsätze des großen Männerchors, die eine kernige Substanz besitzen, jedoch schnell in Gleichförmigkeit verschwimmen.

[Oliver Fraenzke, November 2019]

Erstaunlicher Bernd Alois Zimmermann aus Helsinki

Ondine ODE 1325-2; EAN: 0 761195 132524

Hannu Lintu hat mit seinem Finnischen Radio-Symphonieorchester auf Ondine eine interessante CD mit drei Hauptwerken von Bernd Alois Zimmermann vorgelegt: das Violinkonzert (mit Leila Josefowicz), „Photoptosis“ und die aus einigen Szenen des ersten und zweiten Aktes zusammengestellte Vokal-Sinfonie zur Oper „Die Soldaten“.

Hannu Lintu hat gerade in der Gattung Violinkonzerte des 20. Jahrhunderts schon einige bemerkenswerte CD-Aufnahmen veröffentlicht (etwa mit Christian Tetzlaff); da war dann das Violinkonzert von Bernd Alois Zimmermann (1918-1970) vielleicht nur eine Frage der Zeit. Bei dem Stück handelt es sich um ein Schlüsselwerk des Komponisten, das 1950 entscheidende Wendungen in Zimmermanns Umgang mit der Zwölftontechnik mit sich brachte. Leila Josefowicz, bei derartigem Repertoire eigentlich immer überzeugend, legt erneut eine intensive, klanglich ausgeklügelte Interpretation hin. Im Vergleich zu Thomas Zehetmair, der in der ECM-Aufnahme von 2005 unter Heinz Holliger versucht, jedes noch so kleine Detail besonders „auszudeuten“, stellt die amerikanische Geigerin allerdings den mehr improvisatorischen Charakter einiger Passagen in den Vordergrund, ohne dabei jedoch emotional nachzulassen. Die Orchesterbegleitung von Lintus finnischem RSO ist dem des WDR hörbar überlegen, auch die durchsichtigere Aufnahmetechnik kitzelt hier mehr Details heraus. Der Spannungsbogen der Fantasia, des fantastischen Mittelsatzes, bleibt dank des etwas flüssigeren Tempos stets erhalten, das unterlegte Thema des Dies irae dadurch noch gut erkennbar; Josefowicz entdeckt an einer Stelle beinahe jiddische Melodiewendungen. Im finalen Rondo greifen Solistin wie Orchester beherzt zu, wenn auch hier gleich die erste Rumba-Passage – wie so oft – ein wenig zu steif und martialisch daherkommt, was Steigerungspotenzial verschenkt. Eine hochkarätige Darbietung dieses immer noch unterschätzten Violinkonzerts, die eine ausdrückliche Empfehlung verdient.

Bei Zimmermanns spätem Orchesterprélude Photoptosis hingegen mag kaum Spannung aufkommen. Insgesamt ist das Tempo eine Spur zu langsam. Die irisierenden Farbflächen in Holzbläsern und Harfe wirken nicht nur zu Anfang etwas fade; die große Steigerung nach den ganzen eingestreuten Zitaten wird nur laut, aber nicht wirklich bedrohlich – das haben andere Dirigenten wie Hans Zender, Michael Gielen oder Markus Stenz schon besser hingekriegt.

Ganz anders wieder die – live aufgenommene – Vokal-Sinfonie aus den Soldaten. Hier gefallen eigentlich alle, zumeist finnischen, Solisten mit empathischer Diktion, die dabei erstaunlich natürlich bleibt, verständlichem Deutsch und adäquater stimmlicher Präsenz. Besonders hervorzuheben ist der ausgezeichnete Wesener des wagner-erfahrenen Juha Uusitalo. Das Umschalten zwischen den Urgewalten des Preludio und Intermezzo zu quasi kammermusikalischer Begleitung – selbst dort ist das Orchester meist noch riesig – gelingt Lintu tadellos. Ein paar Tempi sind wieder etwas zäh, aber der klangliche Pluralismus Zimmermanns wird dadurch umso deutlicher. Ondine kann sich nun rühmen, die wohl einzig relevante Aufnahme dieses Stückes nach der sagenhaften WDR-Produktion von 1978 unter Hiroshi Wakasugi auf den Markt gebracht zu haben.

[Martin Blaumeiser, Juli 2019]