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Lebensvolles Portrait eines lettisch-kanadischen Meisters

Ondine, ODE 1350-2; EAN: 0 761195 135020

Unter der Leitung von Guntis Kuzma und Andris Poga stellt das Lettische Nationale Symphonieorchester drei Orchesterwerke von Tālivaldis Ķeniņš vor und verdeutlicht dessen Begabung als Symphoniker wie als Komponist konzertanter Musik. Als Solisten sind zu hören: Agnese Egliņa (Klavier), Tommaso Pratola (Flöte), Mārtiņš Circenis (Klarinette) und Edgars Saksons (Schlagzeug)

Als der 1919 in Liepāja geborene Tālivaldis Ķeniņš 2008 in Toronto starb, wo er seit 1951 gelebt hatte, verlor das Musikleben Kanadas einen seiner namhaftesten Komponisten. Er hatte mehr als drei Jahrzehnte an der University of Toronto gelehrt, war als Preisrichter bei Wettbewerben gefragt; zahlreiche seiner Kompositionen entstanden als Auftragswerke und wurden an prominenter Stelle uraufgeführt; der Rundfunk sendete regelmäßig seine Musik und produzierte mehrere Portraits über ihn. Nicht zuletzt verdeutlicht die Tatsache, dass bereits zu seinen Lebzeiten in einem Vorort von Ottawa eine Straße nach ihm benannt wurde, welches Ansehen Tālivaldis Ķeniņš in Kanada genoss. Die geistige Verbindung zu seiner Heimat Lettland, die er 1944 vor dem Einmarsch der Roten Armee fluchtartig verlassen hatte und erst 1989 wiedersah, hielt er dabei über all die Jahre aufrecht. Zahlreiche Letten waren infolge des Zweiten Weltkriegs nach Nordamerika ausgewandert. Innerhalb des eigenständigen Kulturlebens, das sie sich dort aufbauten, nahm Ķeniņš einen herausragenden Platz ein, wie sich auch anhand der Uraufführungen der drei Werke zeigte, die auf der vorliegenden CD des Lettischen Nationalen Symphonieorchesters zu hören sind: Die Symphonie Nr. 1 erklang zum ersten Mal 1960 während des Indianapolis Latvian Song Festival; das Concerto da Camera Nr. 1 wurde 1981, das Konzert für Klavier, Streichorchester und Schlagzeug 1990 im Rahmen des Latvian Song Festival in Toronto aus der Taufe gehoben.

Ķeniņš war in erster Linie Instrumentalkomponist und hinterließ zahlreiche Orchester- und Kammermusikwerke, wobei es zu den charakteristischen Merkmalen seines Schaffens gehört, dass sich die beiden Werkgruppen zuweilen sehr stark einander annähern, und sich in manchen Fällen ein Stück nicht eindeutig einer von beiden zuordnen lässt. So gibt es von seiner Hand Kammermusik für große, gemischte Ensembles ebenso wie Kompositionen für Kammerorchester in unterschiedlichen Besetzungen. Angesichts des schier unerschöpflichen Ideenreichtums hinsichtlich der Gegenüberstellung unterschiedlicher Klangfarben, der dieses Schaffen prägt, verwundert es nicht, dass Ķeniņš seiner Ausbildung in Frankreich große Bedeutung beimaß. Die Einflüsse des Musiklebens von Paris, wo er nach Kriegsende bei Tony Aubin, Simone Plé-Caussade und Olivier Messiaen studiert hatte, schlagen sich allerdings auf sehr subtile Art in seinen Werken nieder und sind kaum offen zu hören. Ķeniņš selbst beschrieb diesen Umstand 1949 in einem Interview dergestalt, dass durch die Interaktion mit französischen Methoden das nationale Element in der Kunst ausländischer Komponisten auf neue Grundlagen gestellt, zu neuem Recht gelangen und eine neue Affirmation seiner Existenz gewinnen würde.

Auf französische Einflüsse lässt sich gewiss die knappe Form und wohlproportionierte Strukturierung seiner Werke zurückführen – alle drei hier eingespielten Stücke sind nur rund 20 Minuten lang. Im Gegensatz zu Meistern des raffinierten Mischklangs wie Messiaen bevorzugt Ķeniņš als Instrumentator jedoch reine Farben, was vor allem damit zusammenhängt, dass sein Denken wesentlich von Polyphonie und vom konzertanten Prinzip bestimmt ist. Die Instrumentation dient ihm zur Verdeutlichung des Zusammenwirkens seiner von vielfältigen modalen Wendungen geprägten Einzelstimmen, das regelmäßig zu herben Dissonanzen führt; Kontraste im Tonsatz hebt er gern hervor, indem er das Material auf gegeneinander abgesetzte, klanglich homogene Instrumentengruppen verteilt.

Das Concerto da Camera Nr. 1 verdeutlicht beispielhaft die Neigung des Komponisten, Orchester- und Kammermusik fließend ineinander übergehen zu lassen. Den Klangkörper unterteilt er in drei Sektionen: ein Klavier, zwei Holzbläser (Flöte und Klarinette) und ein Streichorchester (an dessen Statt auch ein solistisch besetztes Streichquintett verwendet werden darf). Diesem kleinen Ensemble gewinnt Ķeniņš mannigfaltige Kombinationsmöglichkeiten ab, wozu er gelegentlich auch solistische Streicher aus dem Orchester herauslöst. Schon zu Beginn des Werkes wird klar, dass sich die musikalische Handlung oft auf mehreren Ebenen gleichzeitig abspielen wird: Über einer Pizzicato-Basslinie der tiefen Streicher beginnen die beiden Holzbläser mit in sich kreisenden melodischen Figuren, die sich bald imitatorisch verdichten, während das Klavier aus der Tiefe aufsteigende Arpeggien spielt. Alle beteiligten Musiker müssen hier gut aufeinander hören können, immer bereit sein, die Führung zu übernehmen, wie auch begleitend in den Hintergrund zu treten oder zusammen mit anderen in gleicher Stärke zu musizieren. Diese Aufgaben werden von Tommaso Pratola an der Flöte und Mārtiņš Circenis an der Klarinette trefflich gelöst. Agnese Egliņa, die als Pianistin das am deutlichsten aus dem Gesamtklangbild hervorstechende Instrument spielt, gebührt besonderes Lob für die kontrollierte Gestaltung ihrer Partie; sie weiß genau, dass das Werk kein „Klavierkonzert“ ist. Im Konzert für Klavier, Streichorchester und Schlagzeug kann Agnese Egliņa dann wirklich Solistin sein. Ihr zur Seite steht Edgars Saksons, der virtuos eine große Anzahl an Schlaginstrumenten, von der Ratsche bis zur Glocke, zum Einsatz bringt, welche sich, nach den treffenden Worten der Kritikerin Tamara Bernstein, wie ein Schatten an die Spur des Klaviers heften und als dessen Alter Ego fungieren. Wie das Kammerkonzert, so ist auch dieses Werk dreisätzig, mit einem zwischen lebhaften und ruhigeren Abschnitten wechselnden Satz zu Beginn, einem langsamen Mittelsatz (im Concerto da camera ein Fugato, im Klavier-Schlagzeug-Konzert eine Passacaglia) und einem rabiaten, irrwitzig agilen Finale. Dirigent Guntis Kuzma behält in beiden Konzerten einen klaren Überblick über das abwechslungsreiche Geschehen und versteht es, sowohl die kontrapunktische Kunst des Komponisten erlebbar zu machen, als auch die Instrumente in ihren unterschiedlichen Funktionen ausgewogen aufeinander abzustimmen.

Zur der Aufnahme der Symphonie Nr. 1 (Ķeniņš schrieb insgesamt acht) tritt Andris Poga an die Spitze des Orchesters, das nun in größerer Besetzung spielt als im Falle der Konzerte. Während Ķeniņš in diesen Stücken vor allem mit kurzen Motiven arbeitet, die er kaleidoskopisch verändert, breiten sich in der Symphonie längere Melodien aus. Der Kopfsatz verläuft in mäßiger Bewegung als Sonaten- und Variationselemente verknüpfende, monothematische Bogenform; der langsame Satz wird ganz beherrscht von einer elegischen Melodie, die im Fagott anhebt und anschließend von verschiedenen anderen Instrumenten fortgesponnen wird. Im Finale kontrastieren ein robuster Haupt- und ein kantabler Nebengedanke scharf zueinander. Die Durchführung, die als Fuge gestaltet ist, zeigt einmal mehr die kontrapunktischen Fähigkeiten Ķeniņšs. Andris Poga ist dieser Musik ein fähiger Sachwalter. Sein Sinn für die Ausgestaltung melodischer Entwicklungen lässt ihn an jedem Punkt des Verlaufs die Orientierung behalten, sodass die Spannung auch über Tempowechsel hinweg ohne Einbußen erhalten bleibt. Die verschiedenen Orchestergruppen bringt er in ausgewogene Verhältnisse zueinander. Die Struktur des Tonsatzes und das Zusammenwirken der Instrumente lassen sich durchweg gut nachvollziehen.

Die Produktion wird abgerundet durch einen (nur auf Englisch abgedruckten) Einführungstext von Orests Silabriedis, der ein lebensvolles Portrait des Künstlers und Menschen Tālivaldis Ķeniņš zeichnet. Weitere Ķeniņš gewidmete CDs auf diesem Niveau sind durchaus erwünscht.

Norbert Florian Schuck [Dezember 2020]

Mystische Flächen, schillernde Wellen

Ondine, ODE 1344-2; EAN: 0 761195 134429

Das litauische Nationalsymphonieorchester spielt unter Modestas Pitrénas Musik von Mikalojus Konstantinas Čiurlionis ein. Auf dem Programm steht die Symphonische Ouvertüre Kęstutis, instrumentiert von Jurgis Juozapaitis, sowie die symphonischen Dichtungen „Im Walde“ und „Das Meer“.

Während Mikalojus Konstantinas Čiurlionis zu Lebzeiten kaum Aufmerksamkeit erhielt, avancierte er nach seinem frühen Tod zu einem der Nationalhelden Litauens. Sowohl seine Kompositionen als auch seine Gemälde gelten nun als nationales Kulturgut. Aufgrund seiner doppelten Leidenschaft als Maler wie als Tonsetzer blieben viele seiner Musikwerke lange unvollendet, seine Orchestrationen zogen sich teils über mehrere Monate hin. Zehn Orchesterwerke umfasst seine Werkliste, von dessen insgesamt 346 Eintragungen über zwei Drittel für das Klavier sind. Die drei wohl bedeutendsten Orchesterwerke wurden auf dieser CD geeint. Stilistisch zieht Čiurlionis seine Wurzeln aus der Spätromantik, wenngleich die reichen Harmonien und die flächig konzipierte Form mit ihrer schillernden Farbigkeit auch dem Impressionismus zugeordnet werden könnte. Die Formen seiner umfangreichen symphonischen Dichtungen sind wenig stringent oder gar geradlinig, vielmehr wellenförmig fließend – so entsteht ein tranceartiger Strudel, der den Hörer bannt und ein Entreißen schwer macht. Mancherorts schwächt der große Umfang die Aussagen etwas ab, die in den Klavierminiaturen beispielsweise pointierter erstrahlen und so mehr Wirkung entfalten. Bemerkenswert ist die üppige Orchestration mit einer dichten Textur der einzelnen Stimmen, die besonders in „Das Meer“ deutlich an die Technik von Strauss angelehnt ist (die Besetzung mit Orgel leitet sich unweigerlich von „Also Sprach Zarathustra“ ab).

Die Verbindung, die das litauische Nationalsymphonieorchester zu ihrem zu spät erkannten Nationalkomponisten entwickelt, schlägt sich auch in ihrer Darbietung nieder. Voluminös erstrahlen die Werke in ihrer vollen Vielstimmigkeit, wobei jede einzelne durchhörbar bleibt – was in „Das Meer“ den Hörer teils schon erdrückt. Besonders gelingen die luziden Passagen aus „Im Walde“ in schillernder, gar mystischer Flächigkeit. Die Ouvertüre ist das vergleichsweise traditionellste Werk, hier zeigt sich auch das formale Verständnis der Orchesters unter Stabführung Modestas Pitrénas‘, worüber man in den weitschweifenden Dichtungen nicht urteilen kann. Pitrénas besitzt ein Gespür für Kontraste und Kontrapunkt, hetzt die orchestralen Gewalten gegeneinander auf und leitet so zu kolossalen Höhepunkten, umgekehrt auch hinab in düstere Sphären mit zum Bersten geladener Spannung.

[Oliver Fraenzke, Juni 2020]

Eine Nacht in Estland

Ondine, ODE 1335-2; EAN: 0 761195 133521

Das Estnische Nationalsymphonieorchester unter Olari Elts spielt symphonische Dichtungen von Heino Eller. Auf dem Programm stehen Öö Hüüded (Nachtrufe), die symphonische Suite Valge Öö (Weiße Nacht) sowie Videvik (Dämmerung) und Koit (Morgendämmerung).

Heino Eller gehörte zu den Vätern estnischer Musik. Als junger Mann spielte er in Estlands erstem Symphonieorchester und dem ersten Streichquartett, später wirkte er als Pädagoge maßgeblich auf die jüngere Generation estnischer Komponisten ein, so auf Arvo Pärt, Eduard Tubin und Lepo Sumera. Guido Adler verlieh Eller bei einem Besuch aus Wien den Titel „Estnischer Sibelius“ und bescheinigte ihm, Griegs nordischen Stil erfolgreich weiterzuführen und ihn geschickt mit Elementen des Impressionismus und Expressionismus zu würzen. Wie auch Sibelius begann Eller als Violinist und ließ sich im namhaften Konservatorium von St. Petersburg ausbilden, wo er allerdings scheiterte, da er zu spät begann – durch zu intensives Üben verletzte er sich die Hand und musste seinen Traum aufgeben. Vier Jahre lang studierte er in Folge dessen Jura, bevor er sich erneut am Konservatorium einschrieb, diesmal für Komposition, worin er 1920 absolvierte.

Zu dieser Zeit hatte er seine beiden symphonischen Dichtungen Videvik, Dämmerung, (1917) und Koit, Morgendämmerung, (1918, orchestriert 1920) bereits abgeschlossen und begann mit der Arbeit an dem weitaus umfangreicheren Werk Öö Hüüded, Nachtrufe, (1920-21), alle auf dieser CD zu hören. Es offenbart sich ein tonal verwurzelter, farbenreicher und prägnanter Stil, der tatsächlich gewisse Parallelen zur Musik von Jean Sibelius aufweist, aber auch Hinweise auf die Beschäftigung mit den deutschen Komponisten gibt, namentlich Wagner und noch präsenter Strauss. Eller, der sich rein der Instrumentalmusik verschrieb (bemerkenswert besonders, da Estland für seine Vokalmusik bekannt ist), weist enorme Kenntnisse der Orchestration auf, die sich auf der Höhe kontinentaler Komponisten befindet. Weite Melodien prägen das Bild, versprühen eine nordische Melancholie und bittere Zärtlichkeit. Sanfte bis aufbrausende Wellen schäumen auf, geben magischen Glanz und impressionistischen Schleier. Der Stil spricht an, lockt, intensiv zu Hören und in der Musik zu entdecken, in ihr aufzugehen.

Gemeinsam mit dem Estnischen Nationalsymphonieorchester nahm Olari Elts bereits das Violinkonzert, die Zweite Symphonie, die Phantasie und eine Symphonische Legende von Eller auf, legt nun mit einer zweiten CD-Veröffentlichung nach. Dabei besticht das Feingefühl der Musiker, alle orchestrale Farben aufblühen zu lassen, ohne dass darunter die Transparenz des Stimmgeflechts leiden würde. Elts spornt die Musiker an, große Bögen zu ziehen und sanglich intensiv in den weiten Melodien aufzugehen. Frei von kontextlosem Effekt oder zurschaustellerischer Geste tauchen Orchester und Dirigent in diese Musik ein und präsentieren sie liebevoll dem Hörer wie eine Einladung, diese zu selten gespielten Werke mit ihnen zu teilen.

[Oliver Fraenzke, April 2020]

Ewige Weiten

Das Trio Palladio spielt Klaviertrios des lettischen Komponisten Pēteris Vasks: Lonely Angel in Form der zweiten Reinterpretation eines Streichquartettsatzes, Episodi e canto perpetuo und Plainscapes in einem eigenen Arrangement von 2011 stehen auf dem Programm.

Die ewige Weite, die Melancholie und ein übersinnliches Moment zeichnen die Musik von Pēteris Vasks aus. Die Handschrift seiner Musik appelliert unmittelbar an das Innerste des Hörers, die Klänge entzücken und bringen uns in tranceähnlich meditative Zustände. Wen könnte diese sinnlich übersinnliche Musik kalt lassen?

Die Meditation „Lonely Angel“ ging um die Welt und versinnbildlicht die tiefe Sehnsucht von Vasks‘ Musik. Ursprünglich handelte es sich um den fünften Satz des Vierten Streichquartetts, 2006 arbeitete der Komponist diesen dann für Violine und Streichorchester um, was von Gidon Kremer uraufgeführt wurde (zudem gibt es eine grandiose CD-Aufnahme mit Alina Pogostkina und Juha Kangas). Für die vorliegende Produktion arbeitete Vasks das Werk erneut um, nun für Klaviertrio: diese Version erklingt zwar auf der Platte, wurde allerdings bislang noch nicht im Konzert aus der Taufe gehoben. Aufbrausender präsentieren sich die Episodi e canto perpetuo, ein knapp halbstündiger Kampf zwischen Licht und Dunkelheit und zudem das einzig genuin für Klaviertrio konzipierte Werk dieser Aufnahme. Vasks wagt sich an modernistische Effekte und tösende Klangfluten, verliert aber dennoch nie die unverkünstelte Ästhetik und die pure Schönheit der Musik. Plainscapes schafft eine Hyperbildlichkeit, wie wir sie sonst nur von Debussy oder Ravel erwarten würden, deren Klangsprache Vasks allerdings nicht einmal tangiert. Ursprünglich besetzt für Chor mit Instrumenten, beschreibt Plainscapes die Landschaft von Semgallen. Die Musik beginnt erneut mit einem „ewigen Gesang“, schwerelos und absolut magisch, bevor auch hier die Dunkelheit eintritt. Rhythmisch vertrackte Passagen mit gleichförmiger Gegenüberstellung von unterschiedlichen triolischen und duolischen Notenwerten formt die Landschaft.

Die Musik von Pēteris Vasks spricht durch sich selbst; den Musikern wird vor allem ein feines Gehör und innere Ruhe abverlangt, dem Fluss zu folgen, ohne zu stocken. Das Trio Palladio schwebt geradezu durch Lonely Angel und Plainscapes: ohne Härte und Widerstand trifft es den Kern der Tongebung und eröffnet so für den Hörer die Unendlichkeit dieser Musik. Grandios gelingen die auftürmenden Passagen in Episodi e canto perpetuo, die äußerst schwierig in der Darstellung sind: schnell verleitet einen die Musik dazu, zu hämmern oder vertikale Wucht walten zu lassen. Doch die Musiker bewahren sich erfolgreich davor und schaffen auch hier eine voluminöse Nachgiebigkeit, die der Musik Samtheit bis in die wilden Momente verleiht.

[Oliver Fraenzke, März 2020]

Die Aufnahme-Maschine schlägt wieder zu

Ondine, ODE 1332-5; EAN: 0 761195 133255

Hannu Lintu dirigiert das Finnish Radio Symphony Orchestra mit den Symphonien Nr. 2 und 3 von Witold Lutosławski.

Witold Lutosławski zählt zu den prominentesten Komponisten der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts, nicht zuletzt aufgrund seiner Eigenständigkeit und Originalität, mit der er versuchte, alten Formen neuen Geist einzuhauchen. Im Vordergrund der Aufmerksamkeit um ihn stehen seine vier Symphonien, das Konzert für Orchester und Jeux vénitiens. Die erste Symphonie besitzt noch (ebenso wie das Konzert für Orchester) einen neoklassizistischen Flair, den er spätestens in Jeux vénitiens ablegte. Dort wandte er erstmals aleatorische Techniken an, wenngleich auf eigene Weise: Lutosławski notierte zwar die einzelnen Stimmen voll aus, überließ aber das Zusammenspiel dem Zufall, indem das Tempo für jeden frei steht und der Dirigent pausiert; dies bezeichnete er als aleatorischen Kontrapunkt. Die zweite Symphonie steht voll im Zeichen dessen. Lutosławski konzipierte sie zweisätzig: Der erste Satz, Hésitant, besteht aus sieben durch Refrains gegliederte Episoden in freiem und suchendem Gestus ohne wahren Zusammenhalt, während der zweite, Direct, stringenter auf einen Höhepunkt zusteuert, mehr auf die Streicher baut und geballtere Dimensionen annimmt. Während diese Form doch recht sperrig wirkt und den Hörer gerade formal streckenweise vor den Kopf stößt, gelingt Lutosławski in der Dritten Symphonie ein verständlicherer und mitvollziehbarerer Gattungsbeitrag. Die Symphonie besteht aus sieben, bis auf das Finale recht kurzen Sätzen, deren Episoden durch knappe und vor allem wiedererkennbare Motive zusammengehalten werden. Zu Beginn stehen vier rasche Tutti-Schläge auf E, die sich durch das gesamte Werk ziehen, gefolgt von einem wiederkehrenden Anklang an die Eröffnung von Beethovens Fünfter Symphonie. Allgemein nimmt Lutosławski die Passagen mit aleatorischem Kontrapunkt zurück und setzt auf luzidere Harmonien, konzentriert sich auf bessere Durchhörbarkeit des Geflechts.

Die Musik von Witold Lutosławski spricht für sich, man kann sie als ausführender Musiker nicht „verschandeln“ im dem Sinne, wie man Mozart, Beethoven, Schubert oder Bach für den Hörer ungenießbar machen kann. Dennoch zeigt gerade der Vergleich verschiedener Aufnahmen deutliche Unterschiede. Die Zweite Symphonie nahm Lutosławski selbst auf (er spielte auch die vollständige Uraufführung, nachdem er Boulez zum offiziellen Premierentermin nur den zweiten Satz fertig lieferte), erweist sich dabei als fähiger, im Detail präziser, aber nicht unbedingt großformatig denkender Dirigent (EMI Classics). Am meisten schätze ich die Aufnahmen von Edward Gardner mit dem BBC Symphony Orchestra (Chandos; CHSA 5223(5)), in der er nicht nur klangliches Feingefühl beweist, sondern wahrlich in die Musik hineinhört und alle Substanz aus ihr herausholt. Das Stimmgeflecht übermittelt er plastisch an den Hörer, meißelt die Kontraste ins besondere der Besetzung minutiös heraus und versteht die formale Konzeption der Werke. Auch in den geballten Klangmassen findet sich Gardner zurecht und bringt eine seidene Eleganz in die Musik hinein. Genau hier liegt der Unterschied zu der vorliegenden Aufnahme mit Hannu Lintu: Der finnische Dirigent achtet nicht auf die Ästhetik des Gesamtklangs, lässt es gerne donnern und krachen, scheint gerade in unkontrolliert polterndem Getöse voll aufzugehen. Lutosławski mit der Brechstange. Die sieben Sätze der Dritten Symphonie scheinen sich bei Lintu in die Länge zu ziehen und im Finale gar nicht enden zu wollen, während die knapp dreißig Minuten bei Gardner im Fluge verstreichen und noch Lust auf mehr machen. Dagegen überrasche Hésitant aus der Zweiten Symphonie, das Lintu im Gegensatz zum Rest erstaunlich feinfühlig dirigiert und weitschweifende Bögen formt – Direct hingegen fällt erneut zurück in den gewohnten Gestus.

Aktuell findet sich der Name Hannu Lintu vielfach in den Neuerscheinungen von Ondine, und dazu stets mit schwieriger Literatur, die genauen Feinschliff verlangt. Vielleicht sollte er sich einmal auf wenige Programme konzentrieren und diese dafür voll ausarbeiten, anstatt rasch einstudierte und nicht ausgearbeitete Aufnahmen auf den Markt zu bringen.

[Oliver Fraenzke, März 2020]

Der goldene Klang

Ondine, ODE 1340-2; EAN: 0 761195 134023

Clara Andrada widmet sich tonalen Flötenkonzerten des 20. Jahrhunderts. Gemeinsam mit der Frankfurt Radio Symphony unter Jaime Martín spielt sie für Ondine die Gattungsbeiträge von Carl Nielsen (1926), Jacques Ibert (1934) und Malcolm Arnold (1954) ein.

Der zarte, eloquente und unfassbar lyrische Ton, den die Flöte innehat, ist Fluch und Segen zugleich. Kein anderes Instrument kann derart überirdische Klänge erzeugen und ohne jede Härte den Hörer direkt ansprechen, bis in dessen Innerstes vordringen. Doch ebenso stören sich viele Komponisten eben am Mangel der Härte und der Unnachgiebigkeit, wie sie eine Geige charakterisiert. Spätestens die französischen Flötensoli um die Jahrhundertwende, namentlich Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune, festigten dieses Bild; und es fällt auf, dass es außerhalb Frankreichs erstaunlich wenige Flötenkonzerte gibt, besonders im direkten Vergleich zu den Violinkonzerten.

Dass dieses Bild der Flöte als Solist nicht der Wahrheit entspricht, beweist Clara Andrada auf ihrer neuesten CD mit Flötenkonzerten von Nielsen, Ibert und Arnold. Natürlich besticht die schwebende Zärtlichkeit der cantabile-Linien, doch ebenso kann Andrada ihr Spiel intensivieren und in rhythmisch aufstachelnden Passagen auch finsteren Tönen frönen. Hier erleben wir, wie dicht Flötenspiel doch sein kann, wenn sich die Flötistin eben nicht in den reinen Klang verliebt, sondern auch dessen Gegenstück erforscht. So gelingt Andrada ein kontrastreiches und beredtes Spiel, dass immer wieder durch schnelle Wechsel Aufsehen erregt. Gerade bei Nielsen kommen die dunklen Sphären gut zum Vorschein, sein Flötenkonzert nimmt vor allem im Kopfsatz symphonischen Charakter an und wallt die orchestralen Mächte gegen das Solistenpult auf. Ibert lässt zwar noch die Unbekümmertheit der französischen Schule zu, sucht aber ebenfalls bereits nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten und beruft sich auf das leidenschaftliche Spiel, das er in Italien kennenlernte. Der heute in erster Linie als Oskar-gekrönter Filmmusikkomponist bekannte Malcolm Arnold (der überdies übrigens neun beachtliche Symphonien, zwanzig Solokonzerte und Kammermusik verfasste) beruft sich auf die Tonalität, bringt innerhalb der gefestigten Bahnen durch ‚filmische‘ Dur-Moll-Wechsel und rhythmische Finesse Würze in seine Musik – im Ohr bleibt vor allem der Bolero-Rhythmus des Kopfsatzes und der Wirbelwind des Finals. Der Frankfurt Radio Symphony gelingt es, den schmalen Grad zu finden zwischen Zurückhaltung gegenüber der Solistin und Aufbegehren zugunsten symphonischer Wucht der Orchesterstimmen. Unter Jaime Martín branden die orchestralen Kräfte enorm auf und erreichen große Plastizität, ohne dabei die Flöte klanglich zu erdrücken. Das Konzert Arnolds leitet Andrada selbst und präzisiert den Rhythmus der Streicher, was lebendigen Witz und Charme evoziert.

[Oliver Fraenzke, Februar 2020]

Kullervo ohne Zauber

Ondine, ODE 1338-5; EAN: 0 761195 133859

Hannu Lintu dirigiert das Finnish Radio Symphony Orchestra, den Estonian National Male Choir und den Polytech Choir mit Kullervo op. 7 des finnischen Komponisten Jean Sibelius. Die Solisten sind Johanna Rusanen und Ville Rusanen.

Die gut 70-minütige Symphonie ‚Kullervo‘ mit Männerchor und zwei Solisten gehört zu den Meilensteinen der finnischen Musik. Zwar beruft sich der Komponist Jean Sibelius dabei auf Anton Bruckner, was die Themen nicht leugnen, doch greift er in noch größerem Maße zurück auf den Stil finnischer Runensänger, deren Metrik er aufgreift, und entnimmt sein Sujet dem Volksepos Kalevala: Kullervo ist die wohl tragischste Figur daraus.

Lange Zeit wurde geglaubt, Sibelius habe sein Werk trotz des überwältigenden Erfolgs der Premiere (faszinierend besonders, da diese fast ausschließlich von Laien dargeboten wurde) und der darauffolgenden Welle an Aufführungen zurückgezogen. Mittlerweile stellte sich allerdings heraus, dass das Aufführungsmaterial schlicht im Schrank des Dirigenten Robert Kajanus landete und dort vergessen wurde – Kullervo wurde erst nach dem Tod von Sibelius wiederentdeckt und erneut aufgeführt.

Das formale Konzept ist einmalig: auf zwei rein orchestrale Sätze (Introduktion und Kullervos Jugend) folgt ein beinahe opernhafter Satz, „Kullervo und seine Schwester“ mit Männerchor und zwei Solisten, welche die Titelpersonen darstellen. Hiernach ertönt ein weiterer rein orchestraler Satz, in dem der Kriegszug Kullervos gegen seine Verwandtschaft beschrieben wird, bevor Chor und Orchester ohne die Solisten den Suizid des Protagonisten schildern.

Die packende Wucht dieses jugendlichen, aber keineswegs überschwänglichen Werks überwältigt von den ersten Tönen an und hält den Hörer bis zum dramatischen Finale gefangen. Besonders interessant gestaltet sich die Metrik: oft herrschen ungerade Takte wie eine 5/4-Struktur vor. Und die farbenreiche Orchestrierung des (wohlgemerkt) Erstlingswerks von Sibelius auf dem symphonischen Gebiet besticht durch Ihre Vielseitigkeit. Wenn der Chor einsetzt, zieht es einem förmlich den Boden unter den Füßen weg, was das Orchester unterstreicht.

Von all dem hören wir bedauernswerterweise wenig in der Darbietung mit Hannu Lintu. Sein Dirigat gibt sich mechanisch präzise, ohne dabei auf den Ausdruck der Musik einzugehen. Er bändigt das Orchester derart stark, dass keine Luft bleibt, jegliche Art von Wirkung entfalten zu lassen. So wird die Musik oft zu materiell und real, all der Zauber der Subtilität, des Schwebenden und des Überirdischen kommt gar nicht erst auf. Formal fehlen die Bezüge, die das Werk zusammenhalten, die Musik zerfasert in einzelne Momente. Packende Wirkungen entfalten ausschließlich einige Einsätze des großen Männerchors, die eine kernige Substanz besitzen, jedoch schnell in Gleichförmigkeit verschwimmen.

[Oliver Fraenzke, November 2019]

Erstaunlicher Bernd Alois Zimmermann aus Helsinki

Ondine ODE 1325-2; EAN: 0 761195 132524

Hannu Lintu hat mit seinem Finnischen Radio-Symphonieorchester auf Ondine eine interessante CD mit drei Hauptwerken von Bernd Alois Zimmermann vorgelegt: das Violinkonzert (mit Leila Josefowicz), „Photoptosis“ und die aus einigen Szenen des ersten und zweiten Aktes zusammengestellte Vokal-Sinfonie zur Oper „Die Soldaten“.

Hannu Lintu hat gerade in der Gattung Violinkonzerte des 20. Jahrhunderts schon einige bemerkenswerte CD-Aufnahmen veröffentlicht (etwa mit Christian Tetzlaff); da war dann das Violinkonzert von Bernd Alois Zimmermann (1918-1970) vielleicht nur eine Frage der Zeit. Bei dem Stück handelt es sich um ein Schlüsselwerk des Komponisten, das 1950 entscheidende Wendungen in Zimmermanns Umgang mit der Zwölftontechnik mit sich brachte. Leila Josefowicz, bei derartigem Repertoire eigentlich immer überzeugend, legt erneut eine intensive, klanglich ausgeklügelte Interpretation hin. Im Vergleich zu Thomas Zehetmair, der in der ECM-Aufnahme von 2005 unter Heinz Holliger versucht, jedes noch so kleine Detail besonders „auszudeuten“, stellt die amerikanische Geigerin allerdings den mehr improvisatorischen Charakter einiger Passagen in den Vordergrund, ohne dabei jedoch emotional nachzulassen. Die Orchesterbegleitung von Lintus finnischem RSO ist dem des WDR hörbar überlegen, auch die durchsichtigere Aufnahmetechnik kitzelt hier mehr Details heraus. Der Spannungsbogen der Fantasia, des fantastischen Mittelsatzes, bleibt dank des etwas flüssigeren Tempos stets erhalten, das unterlegte Thema des Dies irae dadurch noch gut erkennbar; Josefowicz entdeckt an einer Stelle beinahe jiddische Melodiewendungen. Im finalen Rondo greifen Solistin wie Orchester beherzt zu, wenn auch hier gleich die erste Rumba-Passage – wie so oft – ein wenig zu steif und martialisch daherkommt, was Steigerungspotenzial verschenkt. Eine hochkarätige Darbietung dieses immer noch unterschätzten Violinkonzerts, die eine ausdrückliche Empfehlung verdient.

Bei Zimmermanns spätem Orchesterprélude Photoptosis hingegen mag kaum Spannung aufkommen. Insgesamt ist das Tempo eine Spur zu langsam. Die irisierenden Farbflächen in Holzbläsern und Harfe wirken nicht nur zu Anfang etwas fade; die große Steigerung nach den ganzen eingestreuten Zitaten wird nur laut, aber nicht wirklich bedrohlich – das haben andere Dirigenten wie Hans Zender, Michael Gielen oder Markus Stenz schon besser hingekriegt.

Ganz anders wieder die – live aufgenommene – Vokal-Sinfonie aus den Soldaten. Hier gefallen eigentlich alle, zumeist finnischen, Solisten mit empathischer Diktion, die dabei erstaunlich natürlich bleibt, verständlichem Deutsch und adäquater stimmlicher Präsenz. Besonders hervorzuheben ist der ausgezeichnete Wesener des wagner-erfahrenen Juha Uusitalo. Das Umschalten zwischen den Urgewalten des Preludio und Intermezzo zu quasi kammermusikalischer Begleitung – selbst dort ist das Orchester meist noch riesig – gelingt Lintu tadellos. Ein paar Tempi sind wieder etwas zäh, aber der klangliche Pluralismus Zimmermanns wird dadurch umso deutlicher. Ondine kann sich nun rühmen, die wohl einzig relevante Aufnahme dieses Stückes nach der sagenhaften WDR-Produktion von 1978 unter Hiroshi Wakasugi auf den Markt gebracht zu haben.

[Martin Blaumeiser, Juli 2019]

Rautavaara zum 90.

Ondine, ODE12362D

Anlässlich des 90. Geburtstags von Einojuhani Rautavaara gibt Ondine eine unschlagbar günstige Doppel-CD mit seiner Musik heraus: Auf der ersten finden wir das Harfenkonzert aus dem Jahr 2000 mit der Solistin Marielle Nordmann sowie die Achte Symphonie ‚The Journey‘ von 1999. Es spielt das Helsinki Philharmonic Orchestra unter Leif Segerstam. Die zweite CD gewährt uns Einblicke in die umfangreiche Aufnahmesammlung Ondines von Rautavaaras Musik: Zu hören sind einzelne Sätze aus verschiedenartigsten Werken des Komponisten, gespielt von namhaften und zu einem großen Teil exzellenten Musikern wie unter anderem Juha Kangas, Gunilla Süssmann, Pekka Kuusisto, Paavali Jumppanen und anderen.

Im Oktober diesen Jahres wäre Einojuhani Rautavaara 90 Jahre alt geworden. Er gilt als einer der beliebtesten und meistgespielten Komponisten der letzten Jahrzehnte, spätestens die Publikation seiner Siebten Symphonie bei Ondine verhalf seiner Musik international zu ungeahnter Anerkennung. Die Tonwelt Rautavaaras klingt stets originell, einzigartig und wird von unendlichem Forschergeist durchdrungen – er bemühte sich nicht, modern zu sein, sondern die Musik ist es von sich heraus. Als junger Komponist experimentierte er mit dem Serialismus und anderen neutönerischen Strömungen, wandte sich jedoch schon bald neuen Idiomen zu, welche die Gefühlwelt der Romantik in neuartige und ungewohnte Kleider hüllte – gerne ordnet man seinen Stil heute der sogenannten Postmoderne (ein unsinniges Wort, welches hoffentlich im Laufe der nächsten Jahrzehnte feiner ausdifferenziert wird!) zu, wobei das Erste Klavierkonzert (1969) als wegweisend für ganze Komponistengenerationen gilt.

Das finnische CD-Label Ondine bemühte sich früh, die Musik des Landsmannes zu verbreiten, was im Laufe der Zeit zu einem gewaltigen Aufnahmekatalog führte. Anlässlich des 90. Geburtstages gab das Label die Publikation mit der Achten Symphonie und dem Harfenkonzert erneut heraus und ergänzte sie um einen Sampler mit einigen der Highlights aus Rautavaaras Schaffen. Im aufwendig gestalteten Booklet findet sich neben zahlreichen Bildern des Komponisten der komplette Katalog mit Ondines Rautavaara-Einspielungen, zudem ein Geleitwort des Labels und Aussagen des Komponisten über die zu hörenden Werke.

Leif Segerstam ist die Klangwelt Rautavaaras wohl vertraut und er findet sich blendend zurecht in den eigenwilligen Formen des Landsmannes. Der große Aufbau im Kopfsatz des Symphonie nimmt er allmählich, aber dafür umso zwingender bis hin zum Höhepunkt. In manchen Passagen erscheint die Musik noch etwas zu materialistisch und nicht unwirklich genug, hier wäre ein gespenstischerer und schwebenderer Tonfall wünschenswert gewesen. Dennoch besticht Segerstam mit dem Philharmonischen Orchester Helsinki durch die innbrünstigen Gefühle zu dieser Musik und die nachvollziehbare Gestaltung. Noch mehr als die Symphonie kann das Harfenkonzert überzeugen, Marielle Nordmann bezaubert durch elegant-schlichtes Spiel und stimmt sich brillant auf das Orchester ein. Sie lässt die Emotionen nicht überschäumen, sondern hält sie stets in einem Grenzbereich, was unglaubliche Spannung erzeugt.

Die Aufnahmen des Samplers sind allesamt auf hohem Niveau, hervorzuheben seien in erster Linie die Titel mit dem phänomenalen Dirigenten Juha Kangas und seinem Ostrobothnian Chamber Orchestra sowie mit dem Duo Tetzlaff und Süssmann (Die Besprechung ihrer CD findet sich auf The New Listener).

[Oliver Fraenzke, November 2018]

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Im All

Ondine, ODE 1303-2; EAN: 0 761195 130322

 

Olari Elts dirigiert die Tapiola Sinfonietta in Werken des 1959 geborenen Esten Erkki-Sven Tüür. Solist in Illuminatio für Bratsche und Orchester von 2008 ist Lawrence Power, in Whistles and Whispers from Uluru für Blockflöten und Streichorchester von 2007 ist Genevieve Lacey zu hören. Als letztes spielt das Orchester noch Tüürs 2010 komponierte Achte Symphonie.

Erkki-Sven Tüür avancierte in den letzten Jahrzehnten zu einem der bedeutendsten Komponisten Estlands, steht mittlerweile neben Arvo Pärt als bekannteste Zeitgenosse des baltischen Staats da und genießt ähnliche Reputation wie die Järvi-Dynastie. Gründe für diese ansteigende Popularität gibt die Musik genug: Sie ist eigenwillig, unorthodox und wiedererkennbar, zugleich verständlich und auf eine bestimmte Weise eingängig. Innere Geschlossenheit und sinnfällige Form geben dem Hörer Halt, der Komponist bezeichnet seine Vorgehensweise in dieser Hinsicht als „vektorielles“ Komponieren. Klanglich darf es gerne auch etwas abgedreht, „spacig“, sein, ein Gefühl der Schwerelosigkeit stellt sich immer wieder ein. Tüürs Musik bewegt sich im All, hinreißende Klangbilder glühen auf und verglimmen auf der kontinuierlichen Reise durch farbenprächtige Musiklandschaften, der Hörer wird in eine fortwährende Faszination hineingezogen.

Illuminatio, „eine Pilgerreise hin zum ewigen Licht“, wie Tüür es bezeichnet, ist beispielhaft für angesprochene Merkmale dieser Musik, die omnipräsente Bratsche bewegt sich durch die galaktische Vielstimmigkeit hindurch und reflektiert das Erlebte, bis sie schließlich vom Orchester überrannt wird und nur noch in geisterhafter Ferne nachklingt. Whistles and Whispers from Uluru verlangt dem Blockflötisten alle nur erdenklichen Techniken ab, wodurch denn auch einmalige Effekte entstehen – bestechend ist vor allem der plötzliche Didgeridoo-Sound durch paralleles Spielen und Singen. Erweitert wird diese Klanglandschaft durch elektronische Einwürfe, die besonders mit Kopfhörern oder zu echtem Stereoklang fähigen Lautsprechern geradezu überirdisch erscheinen. Die Achte Symphonie wirkt beinahe kammermusikalisch und ist relativ klein besetzt, verdient aber durch Bedeutung und Gehalt ihren würdigen Platz inmitten der bislang neun gezählten Symphonien Tüürs.

Die Tapiola Sinfonietta unter Olari Elts bezaubert mit meditativer Ruhe und Empfänglichkeit für musikalische Phänomene. Die Musiker selbst sind ergriffen von der Musik, können allerdings abstrahieren, sich distanzieren und reflektieren, wodurch eben dieses Gefühl sich auch auf den Hörer überträgt. Unglaubliches leisten die beiden Solisten: Lawrence Power geht phänomenal auf das Orchester ein und reagiert augenblicklich auf dessen musikalische Impulse, bis es an ihm ist, die Führung zu übernehmen, von wo an ihm dann das Orchester folgt. Dies, was ein wahrhafter Solist können sollte, wird von Power eindrucksvoll demonstriert. Genevieve Lacey lässt nichts übrig vom Klischee der Schul-Blockflöte. In die höchsten Höhen schraubt sie sich auf den kleinsten Vertretern ihres Instruments, spielt zeitweise auch zwei Flöten zeitgleich, nichts ist ihr zu schwierig oder komplex. Dabei behält sie virtuose Leichtigkeit und inniges Gefühl, wandelt flexibel zwischen schlichtem Effekt und substanziellem Musizieren.

[Oliver Fraenzke, März 2018]

Farben und Düfte

Ondine, ODE 1304-2D; EAN: 0 761195 130421

Auf zwei CDs spielt Paavali Jumppanen alle 24 Préludes von Claude Debussy sowie den Zyklus ‚Children’s Corner’. Die Aufnahme erschien bei Ondine.

Die 24 Préludes von Claude Debussy gehören zu den absoluten Meisterwerken jener Stilepoche, die gegen den Willen ihrer Hauptdarsteller Debussy und Ravel als Impressionismus bezeichnet wird. Sie präsentieren den ausgereiften Personalstil des Franzosen in all seiner Perfektion, jeder Klang ist ausgewogen, jede Verzierung am rechten Ort. Zugleich bleibt Debussy Neuerer, überschreitet fortwährend Konventionen und widerspricht Hörerwartungen, ohne dies allerdings dem Hörer auf die Nase zu binden wie es die sogenannten Expressionisten beinahe zeitgleich taten. Er verlangt dem Pianisten in jedem seiner Stücke Neues ab, alles Gelernte muss neu überdacht und erweitert werden, das Altbekannte bleibt nur darum im Hinterkopf, um die Modernismen als solche zu verstehen und umzusetzen. Zur adäquaten Bewältigung all dessen braucht der Pianist einen höchst verfeinerten Anschlag mit einer zuvor nie dagewesenen Nuancierung des Piano- und Pianissimobereichs. Dann kann ein beinahe multimediales Gesamtkunstwerk aus imaginären Bildern, Farben und Düften, Poesie und Wortkunst, entstehen, wobei die Namen der Stücke ausdrücklich nicht als Programm, sondern als literarische Charakterisierung des jeweiligen Stücks im Nachhinein fungieren.

Children’s Corner entstand zwei Jahre vor den Préludes und ist der knapp dreijährigen Tochter Emma-Claude, Chouchou genannt, gewidmet. Die Stücke sind nicht für Kinderhände, sondern (wenngleich keineswegs nur!) für Kinderohren geschrieben, erwecken die Spielecke zum Leben und berühren auf schlichte und doch pianistisch anspruchsvolle Weise. Von rauschenden Inspirationen wie dem an Griegs Holberg-Suite erinnernden Doctor Gradus ad Parnassum und dem Tanzenden Schnee reichen die Miniaturen über sanfte Kinderlieder bis zu dem jazzig-swingenden Golliwogg’s Cake Walk (ein seinerzeit dem Ragtime angehöriger Tanz, der eben auch in den Préludes Anwendung fand). Eine zentrale Inspiration für Children’s Corner dürfte Mussorgskys Liederzyklus „Детская“, Kinderstube, gewesen sein, über den Debussy 1901 enthusiastische Lobeshymnen schrieb und dabei die Schlichtheit der Mittel und die verfeinerte Empfindung hervorhob.

Paavali Jumppanen, der sich durch seine Einspielungen vor allem von Beethoven und Boulez bereits als vielseitig befähigter Musiker erwies, tritt nun in die Welt Debussys ein. Sein Gespür für diese Musik ist hinreißend, jedem Prélude verleiht der Finne Individualität und Eigenständigkeit, vereint dabei die Pole von Bodenständigkeit und bodenlos-schwebendem Eindruck. Zart und einfühlsam gestaltet er jede dynamische Nuance und erteilt jeglicher Härte und Starrheit eine klare Absage. So lässt er wahrlich Farben und Düfte entstehen. Children’s Corner bleibt genauso schlicht wie farbenprächtig, so, wie Debussy das Werk auch konzipierte. Es handelt sich um eine rundherum gelungene Einspielung dieser gut einhundert Minuten Musik, wo weder etwas besonders hervorzuheben noch etwas zu tadeln wäre, da schlichtweg alles auf ein und dem selben hohen Niveau erklingt.

[Oliver Fraenzke, Februar 2018]

Vermächtnis

Ondine, ODE 1310-2; EAN: 0 761195 131022

Tanja Tetzlaff und Gunilla Süssmann spielen die Werke für Cello und Klavier des finnischen Komponisten Einojuhani Rautavaara, der dieses Jahr 90 Jahre alt geworden wäre. Neben den beiden Sonaten für Cello und Klavier und der Sonate für Cello Solo sind die Zwei Präludien und Fugen, das Lied ‚Meines Herzens’ und die Polska für zwei Celli (beide Cellopartien im Overdubverfahren von Tanja Tetzlaff eingespielt) und Klavier zu hören.

Wir erfreuen uns am künstlerischen Vermächtnis des 2016 verstorbenen Finnen Einojuhani Rautavaara für Violoncello und Klavier, und nehmen zugleich vielleicht – was nicht zu hoffen ist – auch hiermit Anteil am künstlerischen Vermächtnis von Gunilla Süssmann, die aufgrund einer fokalen Dystonie um die Beweglichkeit ihrer rechten Hand bangen muss.

Einojuhani Rautavaara fand in den 1960er Jahren zu eigener Sprache und damit verbunden zunehmender Popularität, als er mit der Avantgarde abschloss und Pionier einer neuen Bewegung wurde, die heute oft als Post-Moderne bezeichnet wird. Unter diesem kaum definier- oder abgrenzbaren Begriff versteht man meist eine Symbiose neuer und alter Stilmittel. Konkret in Rautavaaras Fall könnte man von einer Zusammensetzung sämtlicher „Neo“-Stile sprechen, die allesamt Anwendung finden und doch nie den eigentlichen Kern ausmachen, gepaart mit Effekten der Moderne und düster-finnischem Gestus. Rautavaara nutzte beispielsweise Cluster als melodische Elemente, bemerkenswert unter anderem im ersten Klavierkonzert (heute als Pionierwerk geltend) oder auch in der ersten Cellosonate. Er spricht in einem unverwechselbaren Tonfall, melancholisch, bedrückend, voll im Klang und mit gewissem Pathos. Die dadurch entstehende Stimmung ist die eines ständigen „De Profundis“. Direktheit und geradezu ‚Nacktheit’ kennzeichnen die Musik, die Spieler wie Hörer körperlich und geistig herausfordert.

Fest verbunden, ja verschmelzend wirken die beiden Musikerinnen zusammen, Atem wie Herzschlag genauestens aufeinander abgestimmt. Frontal gehen sie auf den Hörer zu und verbergen nichts von den beinahe barbarischen Zügen der ehrfurchtgebietenden Tonlandschaften. Die Ursprünglichkeit der Musik Rautavaaras kommt eindrucksvoll zum Ausdruck. Leidenschaft und Einfühlungsvermögen der beiden sind offenkundig und stellen die Musik unverfälscht dar, ohne sich durch die virtuosen Höchstleistungen nur eine Sekunde lang veräußerlichend aufzudrängen.

Sachlich informativ ist der Booklettext von Kimmo Korhonen und emotional berührend das Geleitwort der beiden Musikerinnen zu ihrem Zugang zu Rautavaaras Musik.

[Oliver Fraenzke, Februar 2018]

Herausragender Brahms

Label: Ondine; Vertrieb: Naxos; EAN: 07611951291128 / Art.-Nr.: ODE 1291-2

Dass es auch bei vermeintlich bekanntem Repertoire immer wieder Überraschungen geben kann, zeigt eine neue CD des finnischen Labels Ondine: Jaime Martín, einst Soloflötist der weltbekannten Academy of St Martin-in-the-Fields und als Solist mit Orchestern wie dem Royal Philharmonic, London Philharmonic oder Chamber Orchestra of Europe unterwegs, leitet hier als Chefdirigent das schwedische Gävle Symphony Orchestra in einer Neu-Einspielung von Brahms‘ populären Serenaden Opp. 11 und 16.

Der Spanier überzeugt dabei mit einer Frische und Musizierlust, dass es einen beim Hören förmlich vom Sessel reißt. Die wunderbar kantable Phrasierung und der schiere Mut dazu sowie die Lust daran, Brahms die Schwere zu nehmen und einfach leicht sein zu lassen, stellt diese Einspielung erstaunlich hoch über so ziemlich alles, was ich in diesem Repertoire bislang gehört habe.

Von seinem einstigen Chef Neville Marriner scheint Martín die federnde Leichtigkeit und Rhythmik sowie den Willen zu höchster Virtuosität bei der Orchesterperformance auf den Weg bekommen zu haben, während er selbst als Zutaten zu seiner Interpretation noch eine (manchmal vielleicht leicht übertriebene) Neugier auf dynamische Feindifferenzierung an den Tag legt und vor allem einen absolut mitreißenden „spanischen Schmiss“ in seine Brahms-Auslegung mit einbringt, der interessanterweise besonders gut funktioniert beim angeblich ja so „deutschen“ Brahms.

Brahms‘ Serenaden werden auf diese Weise zu klingenden Frühlingsboten, zu musikalischen Landschafts- und Seelengemälden, ihre berührende, aber nie kitschige Emotionalität offenbart sich in Martíns Vortrag mit dem Gävle Symphony Orchestra ganz unmittelbar, wie selbstverständlich und  im besten Beethoven’schen Sinne „von Herzen – möge es wieder – zu Herzen gehen“.

Für mich ist dieser Brahms viel überzeugender als der mit dickem Pinsel pastos aufgetragene Klang eines Brahms unter Thielemann oder der allzu nüchterne, seiner Herzlichkeit weitgehend beraubte Sound eines Hengelbrock’schen Brahms. Martín übertrifft selbst die gefeierten Interpretationen alter Recken wie etwa die des Concertgebouw Orkest unter Bernard Haitink, und für meine Begriffe ist diese Einspielung tatsächlich eine moderne Brahms-Referenz. In der Tat: Von solch einem Dirigenten mit einem solch vorzüglichen Orchester würde man gern auch noch einmal die Brahms-Sinfonien hören!

[Grete Catus, Juli 2017]

Herrlicher Krach bis zum Vulkanausbruch

Ondine, LC 3572; EAN: 0761195121023

Normalerweise mache ich ja bei Klassik-Samplern einen Bogen um eine Rezension. Aber die Wiederveröffentlichung der schon legendären „Earquake“-CD (1997) beim finnischen Label Ondine – Untertitel: The Loudest Classical Music of All Time – darf man schon mit einer Besprechung feiern…

Zunächst einmal: Diese inhaltlich gegenüber der Erstveröffentlichung unveränderte CD ist ein Gag; vielleicht ein brauchbarer Party-Rausschmeißer à la „The Glory??? of the Human Voice“ (Florence Foster Jenkins) – mehr nicht. Und leider fehlt jetzt das entscheidende Gimmick; im transparenten Tray lagen seinerzeit zwei gelbe Ohrstöpsel – wohlgemerkt: for your neighbor! Für diese Aufnahme durfte ein äußerst körperbetont, aber immer präzise agierender Dirigent mal so richtig „die Sau rauslassen“. Der Finne Leif Segerstam ist nicht nur ein weltweit tätiger Orchesterdompteur, sondern komponiert nebenbei auch noch ein wenig: Seine Werkliste umfasst mittlerweile z.B. 309 (!) Symphonien; er ist da wohl der absolute Rekordhalter. Der Legende nach hat das mit Anfang zwanzig noch spindeldürre Nordlicht seinerzeit mit voller Absicht innerhalb kürzester Zeit 30 kg draufgepackt – nur um so auszusehen wie der dirigierende Johannes Brahms auf den berühmten Bleistiftzeichnungen. Und wenn ich den etwas korpulenten, aber höchst agilen Herrn mal live erleben durfte (ob mit Frau ohne Schatten an der Zürcher Oper oder Turangalîla in der Kölner Philharmonie), war ich immer von seinen mitreißenden Darbietungen begeistert. Auch hier mit dem Helsinki Philharmonic Orchestra weiß Segerstam natürlich genau, wie er die hypertrophen Klangmassen selbst im allergrößten Krach zu bändigen hat, damit das Ganze noch irgendwie vernünftig ausbalanciert scheint.

Trotzdem: Was mich naturgemäß an diesem Sampler stört, ist nicht etwa die Vielzahl der Komponisten und Stile (alles 20. Jahrhundert), sondern dass hier nur Ausschnitte aus zum Teil deutlich umfangreicheren Werken zu Gehör gebracht werden; und in der Regel noch nicht einmal komplette Sätze, sondern tatsächlich nur eben die lauten Stellen – Häppchenkost nach Art von Klassik Radio. So wird dem Hörer die Sinnhaftigkeit solcher Passagen, also die Entwicklung, die überhaupt erst zu solch hemmungslosen Ausbrüchen führt, oft vorenthalten.

Das ist natürlich ein dann doch einseitiges Vergnügen. Neben den 13 echten „Krachern“ gibt es noch drei ruhige Stücke (Druckman, Segerstam und Rautavaara) als Kontrast. Gespielt wird zumeist auch rhythmisch sehr attraktive Musik, etwa der Lateinamerikaner Revueltas und Ginastera, dazu einiges aus Skandinavien (Rangström, Nielsen…), aber auch Lärm aus den USA oder Russland (Hanson, Bolcom, Prokofjew…). Als Höhepunkt am Schluss dann der vom Isländer Jón Leifs 1961 sensationell in Orchestersprache übersetzte große Vulkanausbruch der Hekla (1947/48) – dagegen war der Eyjafjallajökull 2010 nur ein Huster. Da wird innerhalb eines 140-Mann-Orchesters so fast alles aufgeboten, was das Schlagwerk zu bieten hat. Schlecht ist das magere Booklet, das selbst die Vornamen der Komponisten unterschlägt und auch sonst keinerlei Infos zu den Stücken – mit Ausnahme von Hekla – bereithält.

Der Anspruch, hier wirklich die lauteste klassische Musik aller Zeiten auf einer CD zu versammeln, wird allerdings verfehlt. Stücke wie Iannis Xenakis‘ Jonchaies, Leonardo Baladas Steel Symphony und einiges mehr, das bereits vor 1997 geschrieben war, sind lauter und aggressiver. Ganz zu schweigen von Dror Feiler – da halten sich einige Musiker des BR-Symphonieorchesters schon beim Erklingen nur des Namens die Ohren zu. Und warum hat man von Ginastera den Malambo aus Estancia ausgewählt, und nicht etwa die brachialen Stellen aus Popol Vuh? Sei’s drum – das hier eingespielte Repertoire reicht allemal, um gepflegt die Wände wackeln zu lassen und macht wirklich Spaß. Ein Paar Ohrstöpsel für die Nachbarn bereit zu halten, wäre dann aber gar keine so verkehrte Idee…

[Martin Blaumeiser, März 2017]