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Die Musica viva feiert Wolfgang Rihms 70. Geburtstag

Am Freitag, 11. 3. 2022, spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Musica-viva-Konzert unter Ingo Metzmacher ein der Musik Wolfgang Rihms gewidmetes Programm: Erster Doppelgesang, Wölfli-Lieder, Die Stücke des Sängers und IN-SCHRIFT. Die Solisten waren Lawrence Power (Viola), Nicolas Altstaedt (Violoncello), Georg Nigl (Bassbariton) und Magdalena Hoffmann (Harfe).

Magdalena Hoffmann und Ingo Metzmacher – © Astrid Ackermann für musica viva/BR

Zwei Tage vor dem siebzigsten Geburtstag Wolfgang Rihms endete die dem wohl produktivsten lebenden deutschen Komponisten gewidmete Woche mit insgesamt vier Veranstaltungen in München mit einem Konzert des BR-Symphonieorchesters. Der schon länger mit einer schweren Erkrankung kämpfende Jubilar war unter den Zuschauern und durfte einen Abend mit wirklich exzellenten Darbietungen miterleben. Angesichts der unfassbaren Kriegsereignisse in der Ukraine bat der künstlerische Leiter der musica viva, Winrich Hopp zunächst um eine Schweigeminute – Totenstille im endlich wieder gut gefüllten Herkulessaal. Die erlaubten 75%-Auslastung wurden augenscheinlich erreicht – sicherlich dem Bekanntheitsgrad Rihms geschuldet; und auch, weil dieser Abend nach langer Zwangspause wieder über die Abos lief. Dass das schon lange so geplante Programm mit überwiegend älteren Werken des Komponisten perfekt zum schockierenden Weltgeschehen passte, sollte sich schnell zeigen.

Wolfgang Rihms Schaffen hat mittlerweile einen so unglaublichen Umfang erreicht, dass kaum eine Handvoll Spezialisten da noch durchblicken kann. Rihm, der sehr früh zu komponieren begann, konnte bereits Ende der 1970er seinen Ausdruckswillen in allen Musikgattungen perfekt umsetzen. Ihn – wie häufig sehr polemisch geschehen – als typischen Vertreter einer Postmoderne oder gar unpolitisch zu verorten, war schon damals reichlich kurz gegriffen bzw. schlicht falsch. Sein Erster Doppelgesang, ein Doppelkonzert für Bratsche und Violoncello, gibt den beiden Solisten – Lawrence Power und Nicolas Altstaedt meistern ihre höchst virtuosen Parts atemberaubend – reichlich Gelegenheit zum Duettieren. Allerdings bedient dieses Stück nicht das traditionelle Narrativ: Individuen kontra Kollektiv. Vielmehr provozieren bereits die Soloinstrumente – Rihm hat auf die Gewalttätigkeit des Paares Rimbaud–Verlaine hingewiesen – zunehmend perkussive Ausbrüche im Orchester; am Schluss zerschlagen Maschinengewehrsalven der kleinen Trommel – 1980 bahnte sich der Erste Golfkrieg an – jeglichen „Gesang“.

Ingo Metzmacher ist mit breitestem Repertoire und jahrzehntelangem Einsatz für moderne Musik genau der richtige Dirigent für Rihms Verknüpfung von Intellektualität und subjektivem Ausdruck. Rhythmisch immer körperlich mitgehend, dabei gleichzeitig gespannt wie elastisch, verfügt er über eine völlig unmissverständliche Schlagtechnik und kann musikalische Entwicklungen minutiös und planvoll gestalten, ohne Solisten in ihrer Freiheit einzuengen. Gerade in der folgenden Orchesterfassung der Wölfli-Lieder (1981) erzielt er Klangwirkungen, denen man sich kaum entziehen kann. Der schizophrene schweizerische Künstler Adolf Wölfli (1864–1930) erweckte ab den 1970ern erneut das Interesse der Kulturszene. Rihms Liederzyklus knüpft oberflächlich scheinbar an das romantische Kunstlied an – quasi schubertsche Gefäße, gefüllt mit Blut und Wahnsinn. Georg Nigl gelingt mit Riesenstimme, klarster Artikulation und dämonischer Unwägbarkeit der Emotionen ein eindringliches Porträt aus der Nervenheilanstalt. Das Orchester enthält sich hier einer Wertung, überhöht dafür die Brüche, überlässt das Publikum einem Wechselbad zwischen Schauder und Empathie – großartig!

Der Titel Die Stücke des Sängers meint nicht etwa Musikstücke, sondern die Überreste des von den Mänaden zerrissenen Sängers Orpheus. Das Harfenkonzert von 2001, das Wolfgang Rihm 2008 etwas erweitert hat, ist gleichzeitig ein vierteiliges Epitaph für den Dichter Heiner Müller. Im eher kleinen, dunkel timbrierten Orchester (Bläser!), das womöglich den Styx repräsentiert, konzertiert die Harfe meist ergänzt durch Klavier – leider stellenweise etwas zu laut – und Schlagzeug; eine von Rihm mehrfach erprobte Kombination. Wie im vorigen Stück grollt gegen Schluss tiefes Schlagwerk. Magdalena Hoffmann, die phänomenale Solo-Harfenistin des BRSO,begeistert mit oft sehr robusten, geradezu plastischen Klängen, ungemein engagiert und dabei meilenweit entfernt von üblichen Topoi des Instruments; dafür gibt es tosenden Beifall.

Und auch im letzten, umfangreichsten Werk des Abends, IN-SCHRIFT (1995), zu dessen Beginn Röhrenglocken auf den Uraufführungsort – San Marco in Venedig – verweisen, dominieren die dunklen Farben: Es gibt keine hohen Streicher, dafür 4 Hörner, 6 Posaunen plus Kontrabasstuba, die sich bei ihrem Eintritt zunächst unisono wie ein potenziert bedrohlicher Fafner winden, um schließlich hochenergetische Chorallinien herauszubrüllen. Ein herrlicher Moment der je 7-geteilten Celli und Bässe evoziert Erinnerungen an Renaissance-Polyphonie, und erneut scheint eine reine Schlagzeug-Stelle – die wohl für das Einmeißeln von Schrift steht – das Ganze zum Kippen zu bringen. Flöten und vor allem die Harfe, die IN-SCHRIFT beendet, verkörpern hingegen anscheinend das Diesseitige, Lebendige; es ist immer wieder erstaunlich, wie klar sich Rihms Klänge vom Zuhörer emotional fassen lassen. Metzmacher und das Orchester realisieren diese im Detail kompliziert changierende Musik mit ungemeiner Präzision und total kontrollierter dynamischer Abstufung: musica viva in Bestform. Der Schlussapplaus gilt dann natürlich trotzdem vorrangig dem doch etwas gerührten Komponisten, dem man nur weiter solch überbordende Schaffenskraft wünschen möchte.

[Martin Blaumeiser, 13. März 2022]

Im All

Ondine, ODE 1303-2; EAN: 0 761195 130322

 

Olari Elts dirigiert die Tapiola Sinfonietta in Werken des 1959 geborenen Esten Erkki-Sven Tüür. Solist in Illuminatio für Bratsche und Orchester von 2008 ist Lawrence Power, in Whistles and Whispers from Uluru für Blockflöten und Streichorchester von 2007 ist Genevieve Lacey zu hören. Als letztes spielt das Orchester noch Tüürs 2010 komponierte Achte Symphonie.

Erkki-Sven Tüür avancierte in den letzten Jahrzehnten zu einem der bedeutendsten Komponisten Estlands, steht mittlerweile neben Arvo Pärt als bekannteste Zeitgenosse des baltischen Staats da und genießt ähnliche Reputation wie die Järvi-Dynastie. Gründe für diese ansteigende Popularität gibt die Musik genug: Sie ist eigenwillig, unorthodox und wiedererkennbar, zugleich verständlich und auf eine bestimmte Weise eingängig. Innere Geschlossenheit und sinnfällige Form geben dem Hörer Halt, der Komponist bezeichnet seine Vorgehensweise in dieser Hinsicht als „vektorielles“ Komponieren. Klanglich darf es gerne auch etwas abgedreht, „spacig“, sein, ein Gefühl der Schwerelosigkeit stellt sich immer wieder ein. Tüürs Musik bewegt sich im All, hinreißende Klangbilder glühen auf und verglimmen auf der kontinuierlichen Reise durch farbenprächtige Musiklandschaften, der Hörer wird in eine fortwährende Faszination hineingezogen.

Illuminatio, „eine Pilgerreise hin zum ewigen Licht“, wie Tüür es bezeichnet, ist beispielhaft für angesprochene Merkmale dieser Musik, die omnipräsente Bratsche bewegt sich durch die galaktische Vielstimmigkeit hindurch und reflektiert das Erlebte, bis sie schließlich vom Orchester überrannt wird und nur noch in geisterhafter Ferne nachklingt. Whistles and Whispers from Uluru verlangt dem Blockflötisten alle nur erdenklichen Techniken ab, wodurch denn auch einmalige Effekte entstehen – bestechend ist vor allem der plötzliche Didgeridoo-Sound durch paralleles Spielen und Singen. Erweitert wird diese Klanglandschaft durch elektronische Einwürfe, die besonders mit Kopfhörern oder zu echtem Stereoklang fähigen Lautsprechern geradezu überirdisch erscheinen. Die Achte Symphonie wirkt beinahe kammermusikalisch und ist relativ klein besetzt, verdient aber durch Bedeutung und Gehalt ihren würdigen Platz inmitten der bislang neun gezählten Symphonien Tüürs.

Die Tapiola Sinfonietta unter Olari Elts bezaubert mit meditativer Ruhe und Empfänglichkeit für musikalische Phänomene. Die Musiker selbst sind ergriffen von der Musik, können allerdings abstrahieren, sich distanzieren und reflektieren, wodurch eben dieses Gefühl sich auch auf den Hörer überträgt. Unglaubliches leisten die beiden Solisten: Lawrence Power geht phänomenal auf das Orchester ein und reagiert augenblicklich auf dessen musikalische Impulse, bis es an ihm ist, die Führung zu übernehmen, von wo an ihm dann das Orchester folgt. Dies, was ein wahrhafter Solist können sollte, wird von Power eindrucksvoll demonstriert. Genevieve Lacey lässt nichts übrig vom Klischee der Schul-Blockflöte. In die höchsten Höhen schraubt sie sich auf den kleinsten Vertretern ihres Instruments, spielt zeitweise auch zwei Flöten zeitgleich, nichts ist ihr zu schwierig oder komplex. Dabei behält sie virtuose Leichtigkeit und inniges Gefühl, wandelt flexibel zwischen schlichtem Effekt und substanziellem Musizieren.

[Oliver Fraenzke, März 2018]