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Ein musikalischer Spaß

Matinée des Symphonieorchesters Wilde Gungl München

 Sonntag, 19. Mai 2019 um 11 Uhr im Prinzregententheater

„Merken Sie sich, wie wichtig eine gute Moderation für ein Konzert ist!“ – so unterstrich mein Lehrer Kurt Weinhöppel – der Leiter des Capella Monacensis – die Bedeutung dieser Tatsache.

So geschehen am vergangenen Sonntag im Münchner Prinzregententheater im Konzert des einst Richard Strauss eng verbundenen Traditionsorchesters ‚Wilde Gungl‘, einem Konzert, das mit Telemann begann und mit Prokofjew endete unter dem Motto „Ein musikalischer Spaß“. Im ersten Teil Stücke von Telemann, Mozart, Haydn und Beethoven. Und bei so vielen verschiedenen „Häppchen“ ist die verbindende Moderation besonders wichtig, sonst zerfällt das Programm vielleicht ohne inneren Zusammenhang. Und diesen stellten eben die unterhaltsamen, informativen und lockeren Ansagen des Konzertmeisters Arnim Rosenbach in seiner ganz eigenen Art und Weise her.

Mit vierfachem Horn begann das Orchester, für die damalige Zeit in einer Orchestersuite von Georg Philip Telemann (1681-1767) eine Seltenheit, die aber einen der Reize dieser barocken Musik ausmachte. Auch zwei Sätze aus der „Lodronischen Nachtmusik“ von Wolfgang Amadé Mozart /1756-1791) und das Andante aus der Symphonie mit dem Paukenschlag von Joseph Haydn (1732-1809) zeigten, dass das Orchester und sein Dirigent Michele Carulli sich bestens auf die „alte“ Musik verstehen. Besonders, als Arnim Rosenbach Maestro Carullis Lieblingskomponisten Ludwig van Beethoven ansagte, dessen Allegretto scherzando aus der 8. Symphonie den Höhepunkt des ersten Teiles bildete.

Nach der Pause dann die hinreißende Ouvertüre von Otto Nicolai (1810-49) aus seiner Oper „Die lustigen Weiber von Windsor“, die mit dem stark vergrößerten „Großen Orchester“ einschließlich gran cassa = grosse Trommel, Glockenspiel, Harfe und großer Bläserbesetzung zeigte, was unter der animierenden und begeisternden Leitung in diesem Orchester steckt. Es war ein Vergnügen, dieser schwungvollen und doch auch äußerst differenzierten Musik zu lauschen. Und mit diesem Schwung ging es natürlich weiter, denn die beiden Werke der Brüder Josef Strauß (1827-1870) „Mein Lebenslauf ist Lieb und Lust“ op. 263 und die von mir noch nie gehörte „Witzblitz“ Polka-schnell von Eduard Strauß (1835-1916), dem jüngsten der Strauß-Brüder versprühten ihren Charme, ihren Humor und ihre berührende Energie unter der nicht nur dirigierenden, sondern fast getanzten Leitung ihres Maestro Carulli.

Dann ein Sprung ins zwanzigste Jahrhundert nach Russland zu Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) und Sergej Prokofjew (1891-1953). Vom ersten gab es – dem Anlass entsprechend seinen „Scherzwalzer“ aus der Ballettsuite Nr. 1 zu hören, ein Stück angeführt von einer äußerst hohen Piccolo-Flöte, sehr ironisch mit einer kleinen versteckten „Ohrfeige“ mitten im Stück, so unterhaltend die ganz andere Seite dieses großen symphonischen Komponisten zeigend, und zum Abschluss  „Hochzeit und Troika“ aus der Suite aus Prokofieffs Filmmusik „Leutnant Kishe“. Ja, exzellente Filmmusik hat Prokofjew geschrieben, und das war damals ein echter Hit, was auch in diesem Konzert und mit diesem Orchester gelang.

Großer Beifall, alle solistisch tätigen Musikerinnen und Musiker bekamen ihren extra-verdienten Beifall, Maestro Carulli sowieso, Blumen und zwei Zugaben von Johann Strauß, eine Polka mit Publikums-Beteiligung und zum Schluss das berühmte „Perpetuum Mobile“, bei dem sich Michele Carulli langsam aus „seinem“ Orchester davonschlich…

Bei herrlichem Frühlingssonnenschein ein so schwungvolles und beschwingtes Konzert, dem ganzen Orchester gebührt ein Riesen-Blumenstrauß für derlei sonntäglichen Ohren-Schmaus!

[Ulrich Hermann, Mai 2019]

Fantasien

Georg Philipp Telemann: 12 Fantaisies pour la Basse de Violle
Welt-Ersteinspielung
Thomas Fritzsch, Viola da gamba
CD 84‘46 Min.,10/2015
©& Coviello Classics 2015, COV 91601
EAN  4  039956  916017

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Als sich 1993 die Nachricht verbreitete, dass nach nunmehr 350 Jahren endlich ein Beweis der Fermat’schen Vermutung gelungen sein sollte, da rieben sich selbst eingefleischte Mathematiker ungläubig die Augen. Ähnlich ging es mir vor kurzem mit der Nachricht, dass jetzt, nach 280 Jahren, ein Druck von Telemanns verloren geglaubten 12 Fantasien für Bassgambe aufgetaucht sei. Die Metapher vom verschollenen Bernstein-Zimmer der solistischen Gambenmusik (zu finden im Booklet zu vorliegender Einspielung) trifft die Situation vor Thomas Fritzschs Sensationsfund (und Ersteinspielung) sehr gut. Ich habe die CD als Rezensionsstück bekommen, aber um ehrlich zu sein: Ich als Telemann-Aficionado wäre bereit gewesen, jeden Preis dafür zu bezahlen, und auch dann, wenn es eine drittklassige Einspielung gewesen wäre, und nicht wie hier die wahrhaft erstklassige des Gamben-Experten Thomas Fritzsch.

Die bisher einzige verfügbare Telemann’sche Fantasie für Sologambe, die Fantasia à Viola di Gamba senza Cembalo aus seinem Getreuen Music-Meister hat also endlich ihre 12 Schwestern (im Märchen wären es 12 Brüder) wiedergefunden. Davor mussten wir uns mit Ersatz zufrieden geben: Wir haben von Telemann nämlich noch zwei Dutzend (klingt nach „Dutzendware“, ist es aber beileibe nicht) ähnliche Werke für ein Soloinstrument ohne Generalbass: Im Lauf der Zeit wurden die 12 Fantasien für Solo-Traversflöte (TWV 40:2-13) dann auch auf der Blockflöte, der Violine, der Oboe (es gibt sogar eine Übertragung für das Fagott) eingespielt, und von den 12 Fantasien für Solo-Violine (TWV 40:14-25) ist eine sehr überzeugende Interpretation für Viola (da braccio!) von Ori Kam und für Violoncello von Viviane Spanoghe erhältlich, ja, ich habe in meiner Sammlung sogar eine Bearbeitung für Gitarre (Carlo Marchione). Aber gerade beim Vergleich der 12 „Cello-Fantasien“ mit den hier endlich vorliegenden Fantasien für Bassgambe kann man auch gut sehen: So groß ist der stilistische Unterschied nicht. Hier wie dort finden wir ebenso viel „Corellisierendes“ wie „Vivaldisierendes“, dann aber auch hin und wieder eine Bourrée oder eine Gigue oder sonstiges Französisches, versteckt hinter durchweg italienischen Tempobezeichnungen. Ganz wie bei den anderen Fantasien heißt dann zum Beispiel ein Menuett hier einfach nur „Vivace“. Wieder finden wir eine (auch ähnliche) Siciliana, wieder steht ein Drittel der Fantasien in Moll-Tonarten. Und übereinstimmend mit den Violin-Fantasien, bei denen auf die ersten sechs eher kontrapunktisch gearbeiteten Stücke sechs „Galanterien“ folgen, so finden wir, vielleicht  wegen ihrer Veröffentlichung in Zweiergrüppchen, diesmal die „Dolces“ und „Scherzandos“ bei den geraden, die Sätze von imitatorischer Bauart meist bei den ungeraden Nummern. Wer sich von dieser Neuentdeckung aber Werke im altfranzösischen Gamben-Idiom der vorhergehenden Generation erwartet hat, z.B. à la Sainte Colombe (père oder fils) oder De Machy, der wird enttäuscht sein. Dass Telemann so etwas auch gekonnt hätte, ist nachzuhören beispielsweise in der Ouverture für Gambe, Streicher und Generalbass (TWV 55:D6), wenn beim Double der Sarabande auf einmal die Sologambe einen wunderbar nostalgischen Kontrast setzt im reinsten „Marin-Marais-Stil“. Auch ein „Stylus phantasticus“ im Sinne Athanasius Kirchers oder Johann Matthesons ist hier nicht zu finden. Telemanns Fantasien erinnern nur noch dem Wortstamm des Titels nach daran, sind aber im Übrigen im Stil völlig à la mode: Anno 1735, zeitlich genau zwischen dem Druck der Musique de Table und der Nouveaux Quatuors galten als typisch französisch ein gewisser Charme und Esprit der rhythmischen und melodischen Einfälle als solcher, auch wenn sie mitunter „im welschen Rock“ daherkamen. Ausschlaggebend war dabei der gute Geschmack, und die Sinne der Musiker ebenso wie die der Zuhörer dafür zu kalibrieren war keiner besser im Stande als Telemann, nicht zu Unrecht der beliebteste und erfolgreichste Komponist seiner Zeit. Diese 12 Fantasien warten also nicht mit großen Überraschungen auf, sondern sind eben aus demselben Holz geschnitzt wie ihre 24 Geschwister TWV 40:2-25, und „altfranzösisch“ ist dabei eigentlich nichts außer der Wahl des Instruments, was sich Telemann dank seiner Popularität durchaus leisten konnte. Also haben wir jetzt einfach ein weiteres Dutzend nach gleichem Strickmuster? Ja, so gesehen schon, doch ist diese Musik einfach von solch inspiriert makelloser Qualität, dass man eben nicht genug davon bekommen kann.

Und welch ein Glück, dass gerade Thomas Fritzsch sie entdeckt und dann auch gleich eingespielt hat. Kein anderer wäre besser dafür geeignet gewesen. Er präsentiert diese Kleinodien mit exzellentem stilistischen Geschmack, Hingabe, Wärme und Spielwitz. Auch die „Fugen“, die es ja „einstimmig“ eigentlich gar nicht geben dürfte (ähnlich wie bei Bach funktionieren solche Gebilde über weite Strecken durch Intervallsprünge nach einer Art „Reißverschluss-Prinzip“), klingen bei Fritzschs Telemann angenehm unkompliziert, ganz im Sinne von Matthesons Vollkommenem Capellmeister: “Man gibt dem Frantzösischen Geschmack im Punct der Leichtigkeit darum den Vorzug, daß er einen aufgeräumten lebhafften Geist erfordert, der ein Freund des wolanständigen Schertzes, und der Feind alles dessen ist, was nach Mühe und Arbeit riechet.“

Besonderes Lob verdient auch das schöne Booklet: Da finden wir solch herrlich irrelevante wie unterhaltsame Informationen über die (in ihrer Akustik übrigens vorzügliche) Klosterkirche Zscheiplitz hinsichtlich Geologie (Formung der Landschaft durch die letzte Eiszeit), Historie (Gründung als Sühneleistung für einen Mord) und Kunst (romanischer Keller, gotisches Portal, usw.), aber auch einen sehr schönen und ausführlichen Beitrag von Thomas Fritzsch zur dargebotenen Musik – lediglich getoppt vom Autor selbst durch das Geschenk, das er uns im Beiheft seiner Weltersteinspielung (beim gleichen Label) der 2nd Pembroke Collection von Carl Friedrich Abel gemacht hat, wo er uns mit unübertroffenem Sachverstand und größter Ausführlichkeit (40 Fußnoten!) über den Komponisten und Menschen Abel erzählt. Dort erfahren wir auch mehr über die beiden phantastischen Instrumente aus dem 18. Jahrhundert, die in der vorliegenden Einspielung auch wieder verwendet wurden. Gern hätte ich auch noch erfahren (vielleicht mittels weniger kleiner Sternchen), bei welchen Stücken die Lady Amber, und wann das Instrument von Johann Casper Göbler zu Wort gekommen ist. Aber dieses kleine Manko tut der Qualität dieser exquisiten Produktion keinen Abbruch.

[Hans von Koch, Mai 2016]

„Ein Kosmos feinsinniger Musik“

Georg Philipp Telemann: The Grand Concertos for mixed instruments Vol. 3
La Stagione Frankfurt, Conductor: Michael Schneider
CD 63‘09 Min., 5/2013 und 1/2014
©& cpo 2016, cpo 777 891-2
EAN  7  61203  78912  2

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Mag das (allerdings missverstandene) Diktum Strawinskys über das eine Konzert Vivaldis, das er sechshundertmal geschrieben haben soll, reichlich arrogant wirken (ich denke, es gibt sicher eine Anzahl doch im höheren zweistelligen Bereich von untereinander verschiedenen Repräsentanten Vivaldis etwa 500 erhaltener Konzerte), so kennen wir von Telemann, dessen Gesamtproduktion diejenige Bachs und Händels zusammen genommen noch übertrifft, über 100 Konzerte (leider nur ein Bruchteil dessen, was einmal existierte), und davon gleicht nun wirklich keines dem anderen.

Und so war es für mich ein Freudentag, endlich das Volume 3 der Sammlung The Grand Concertos for mixed instruments, die Michael Schneider mit seinem Orchester La Stagione Frankfurt, einem handverlesenen Ensemble von Experten für Alte Musik, in Händen zu halten. Vom gleichen Team gibt es bei cpo bereits Telemanns sämtliche verfügbaren Bläserkonzerte auf 8 Silberscheiben. Bei den 5 Konzerten der vorliegenden CD ist zwar diesmal keine Ersteinspielung dabei, aber das schmälert den Repertoirewert des Gesamtprojekts – abgesehen von der schwer zu toppenden Qualität –  keineswegs. So kenne ich zum Beispiel keine vergleichbar gute Einspielung des wunderbaren Quadrupel-Konzerts TWV 54:D1 für zwei Traversflöten, Solo-Violine und Solo-Violoncello. Das Gleiche gilt für das Tripelkonzert TWV 53:e2 für 2 Oboen und Solo-Violine. Michael Schneider, einer der ganz großen Experten für Alte Musik, sowohl in Forschung als auch in Lehre, und auch als Ausführender – 2000 hat ihm die Stadt Magdeburg den renommierten Telemann-Preis verliehen – präsentiert uns hier, wie schon bei seinen vorangehenden Produktionen, wieder „Telemann vom Feinsten“, wobei er bei einem Konzert auch selbst die Traversflöte spielt. Und er konnte für diese Produktion wieder die besten Solisten auf ihrem Gebiet verpflichten. Ich nenne dazu als Beispiel den Oboisten Hans-Peter Westermann (ebenso hätte ich den Oboisten Martin Stadler, den Traversflötisten Karl Kaiser, die Violinistin Ingeborg Scheerer und viele andere auswählen können): Man kennt Westermann schon vom Concentus Musicus, der Neuen Düsseldorfer Hofmusik, der Musica Antiqua Köln, dem Ensemble Anima Eterna oder den Sonatori della Gioiose Marca, und er ist darüber hinaus auch noch Inhaber einer Manufaktur für historische Oboen. Dass eine mit so viel Prominenz besetzte Produktion auch gelingt, ist durchaus nicht selbstverständlich (wofür es auch prominente Beispiele gibt), ist hier jedoch absolut der Fall. Nirgends habe ich Telemann schöner, „richtiger“ und kurzweiliger musiziert gehört.

Ein extra Lob gebührt an dieser Stelle dem Booklet-Text: Wie schon für die Reihe mit Telemanns Bläserkonzerten, so ist auch für die (auf 4 CDs konzipierte) Serie von Telemanns Gruppenkonzerten cpo der Coup gelungen, dafür als Autor Wolfgang Hirschmann zu gewinnen. Er ist Professor für Historische Musikwissenschaft an der Uni Halle-Wittenberg und Editionsleiter der Telemann-Ausgabe im Bärenreiter Verlag. Ich habe selten einen differenzierteren und informativeren CD-Begleittext gelesen. Nimmt man die Heftchen dieser 11 CDs (die zwölfte kommt hoffentlich auch mit einem Text Hirschmanns) zusammen, so hat man ein Büchlein über Telemanns Instrumentalmusik, zu dem in der heute am Markt verfügbaren Literatur schwerlich Alternativen zu finden sind.

Ein Lob auch für die editorische Glanzleistung des Labels cpo in Sachen Telemann: Mit der in Aussicht gestellten vierten CD dieser Reihe (ca. 20 Konzerte), den 8 CDs mit den Bläserkonzerten (46 Stück), den 5 CDs von Elizabeth Wallfisch mit 22 Violinkonzerten (zuzüglich 5 Konzert-Ouvertüren mit Solo-Violine) ist man auf einem guten Weg zu einer Gesamtedition der Konzerte Telemanns. Und sie verdienen es alle, eingespielt  zu werden, ist es doch kein Zufall, dass Telemann der beliebteste und erfolgreichste Komponist seiner Zeit war, und nebenbei gesagt kann es das damalige Publikum an musikalischer Bildung und an gutem Geschmack durchaus aufnehmen mit unserem heutigen. An dieser Stelle kommt nun mein ganz großer Wunsch: Erhalten (wiederum nur ein Bruchteil des ursprünglichen Œuvres) sind auch noch 126 Orchestersuiten Telemanns. Ich kenne davon ungefähr die Hälfte und kann jetzt schon sagen: Auf diesem Gebiet gibt es – mehr noch als bei den Konzerten -, was musikalische Qualität, Abwechslungsreichtum, Geschmack und Esprit anbelangt, nichts Vergleichbares aus der Feder anderer Komponisten. Die 30-40 CDs, die man für eine Gesamteinspielung etwa brauchen würde, würden mich kaum langweilen, vorausgesetzt, die Produktion ist in den richtigen Händen. Und momentan traue ich solch ein Projekt am ehesten Micheal Schneider zu. Ähnlich wie Christopher Hogwood mit seinen Haydn-Symphonien sind bisher auch die Versuche einer Gesamt-Edition der Ouvertüren Telemanns gescheitert: Beim Collegium Instrumentale Brugense war nach 8 CDs (33 Suiten) vorläufig Schluss, bei Pratum Integrum nach 7 CDs (23 Suiten). Letzteres ist besonders bitter, weil diese 7 CDs mit das Beste sind, was an Telemann’scher Orchestermusik momentan zur Verfügung steht. Einzig  Micheal Schneider, mit Wolfgang Hirschmann als Booklet-Autor, könnten mich über diese Enttäuschung  hinwegtrösten! So kann ich nur bekräftigen, was Letztgenannter (als er sich bei der achten Folge der Bläserkonzerte eine Fortsetzung mit gemischten Solobesetzungen wünschte) geschrieben hat: „(…) entfalten Telemanns Konzerte einen Kosmos feinsinnigster Musik, in den einzutauchen auch heutige Hörer auf das Reichste beschenkt und zugleich erfahrbar macht, warum Telemann seinen Zeitgenossen schlicht als (…) überragende Musikerpersönlichkeit galt.“

[Hans von Koch, April 2016]

Zu den Wurzeln

Martin Fröst
Roots
The Royal Stockholm Philharmonic Orchestra

Verschiedenste Stücke verschiedenster Couleur

Sony Classical 88875065292

8 88750 65292 8

Ulrich0018

Voilà! La Musique!  Vom ersten Ton auf dieser CD mit dem schwedischen Klarinettisten – und Ausnahme-Musiker – Martin Fröst bis zum letzten: einfach nur Musik! Aber was für eine! Von alten Griechen – Seikilos-Epitaph – über Georg Philipp Telemann (1681-1767), über schwedische Folklore, jiddische Klezmer-Musik, Bernhard Crusell (1775-1838), einem der Ahnväter der schwedisch-finnischen  Musik, Johannes Brahms (1833-1897), Robert Schumann (1810-1856), Béla Bartók (1881-1945), Manuel de Falla (1876-1946), Astor Piazzolla (1921-1992) bis hin zu zeitgenössischen schwedischen Komponisten wie Göran Fröst (geb. 1974), Anders Hillborg (geb. 1954) und dem Letten Georgs Pelècis (geb. 1947) brennt dieser „Klarinetten-Spieler“ ein musikalisches Feuerwerk vom Hinreißendsten ab, aufgenommen  in hervorragender Klangqualität, was einem immer wieder staunende Bewunderung „abnötigt“. Er selbst beschreibt seine „roots“, also die Wurzeln seines Musizierens als riesigen Bogen von ersten Tönen bei den alten Griechen bis zu rein Improvisatorischem. Diese Wurzeln öffnen für Martin Fröst eben auch dadurch die Türen für eine Musik der Zukunft, wie sie sein großer Landsmann, der schwedische Komponist Anders Eliasson (1947-2013), in seinen Kompositionen schon aufgestoßen hat. Vielleicht hören wir demnächst auf einer neuen CD diesen wunderbaren Musiker einmal mit den grandiosen Klarinettenwerken von Eliasson, und dürfen Zeugen sein, wie beide durch dieses Tor durchgehen und uns einen musikalischen Ausblick in eine noch unerschlossene Zukunft der Menschheit ermöglichen.
Ob mit einer der ältesten überlieferten Melodien, dem griechischen Seikilos-Lied, dem sich  ein Stück von Hildegard von Bingen nahtlos anschließt, ob Stücke aus der schwedischen Folkore oder Klassisches vom finnisch-schwedischen Komponisten Bernhard Crusell zusammen mit dem Royael Stockholm Philharmonic Orchstra, die 5 Stücke im Volkston von Robert Schumann oder Rumänische Tänze von Béla Bartók oder aber Stücke im Blues-Charakter oder tangoähnliche von Astor Piazzolla oder Georgs Pelécics, immer überzeugt die überwältigende Spielfreude und musikalische Präsenz des Martin Fröst, man kann sich beim Hören nicht enthalten, selber ins Tanzen zu kommen, wie es dem Klarinettisten ja auch beim Spielen auf dem blauen Coverbild zu überkommen scheint. Musica vincit omnia – wie der alte Lateiner sagt.
Natürlich könnte ich über jedes dieser Musikstücke auf der CD seitenlang schwärmen, aber am besten ist es, diese CD sofort selber anzuhören, sie ist es im allerhöchsten Maße wert und zeigt die immerwährende Kraft wahrer Musik als einer diese Welt wenigstens eine Zeit lang transformierende musische Möglichkeit. Die Hoffnung stirbt – glücklicherweise – immer noch zu allerletzt.

[Ulrich Hermann, Februar 2016]