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Fantasien

Georg Philipp Telemann: 12 Fantaisies pour la Basse de Violle
Welt-Ersteinspielung
Thomas Fritzsch, Viola da gamba
CD 84‘46 Min.,10/2015
©& Coviello Classics 2015, COV 91601
EAN  4  039956  916017

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Als sich 1993 die Nachricht verbreitete, dass nach nunmehr 350 Jahren endlich ein Beweis der Fermat’schen Vermutung gelungen sein sollte, da rieben sich selbst eingefleischte Mathematiker ungläubig die Augen. Ähnlich ging es mir vor kurzem mit der Nachricht, dass jetzt, nach 280 Jahren, ein Druck von Telemanns verloren geglaubten 12 Fantasien für Bassgambe aufgetaucht sei. Die Metapher vom verschollenen Bernstein-Zimmer der solistischen Gambenmusik (zu finden im Booklet zu vorliegender Einspielung) trifft die Situation vor Thomas Fritzschs Sensationsfund (und Ersteinspielung) sehr gut. Ich habe die CD als Rezensionsstück bekommen, aber um ehrlich zu sein: Ich als Telemann-Aficionado wäre bereit gewesen, jeden Preis dafür zu bezahlen, und auch dann, wenn es eine drittklassige Einspielung gewesen wäre, und nicht wie hier die wahrhaft erstklassige des Gamben-Experten Thomas Fritzsch.

Die bisher einzige verfügbare Telemann’sche Fantasie für Sologambe, die Fantasia à Viola di Gamba senza Cembalo aus seinem Getreuen Music-Meister hat also endlich ihre 12 Schwestern (im Märchen wären es 12 Brüder) wiedergefunden. Davor mussten wir uns mit Ersatz zufrieden geben: Wir haben von Telemann nämlich noch zwei Dutzend (klingt nach „Dutzendware“, ist es aber beileibe nicht) ähnliche Werke für ein Soloinstrument ohne Generalbass: Im Lauf der Zeit wurden die 12 Fantasien für Solo-Traversflöte (TWV 40:2-13) dann auch auf der Blockflöte, der Violine, der Oboe (es gibt sogar eine Übertragung für das Fagott) eingespielt, und von den 12 Fantasien für Solo-Violine (TWV 40:14-25) ist eine sehr überzeugende Interpretation für Viola (da braccio!) von Ori Kam und für Violoncello von Viviane Spanoghe erhältlich, ja, ich habe in meiner Sammlung sogar eine Bearbeitung für Gitarre (Carlo Marchione). Aber gerade beim Vergleich der 12 „Cello-Fantasien“ mit den hier endlich vorliegenden Fantasien für Bassgambe kann man auch gut sehen: So groß ist der stilistische Unterschied nicht. Hier wie dort finden wir ebenso viel „Corellisierendes“ wie „Vivaldisierendes“, dann aber auch hin und wieder eine Bourrée oder eine Gigue oder sonstiges Französisches, versteckt hinter durchweg italienischen Tempobezeichnungen. Ganz wie bei den anderen Fantasien heißt dann zum Beispiel ein Menuett hier einfach nur „Vivace“. Wieder finden wir eine (auch ähnliche) Siciliana, wieder steht ein Drittel der Fantasien in Moll-Tonarten. Und übereinstimmend mit den Violin-Fantasien, bei denen auf die ersten sechs eher kontrapunktisch gearbeiteten Stücke sechs „Galanterien“ folgen, so finden wir, vielleicht  wegen ihrer Veröffentlichung in Zweiergrüppchen, diesmal die „Dolces“ und „Scherzandos“ bei den geraden, die Sätze von imitatorischer Bauart meist bei den ungeraden Nummern. Wer sich von dieser Neuentdeckung aber Werke im altfranzösischen Gamben-Idiom der vorhergehenden Generation erwartet hat, z.B. à la Sainte Colombe (père oder fils) oder De Machy, der wird enttäuscht sein. Dass Telemann so etwas auch gekonnt hätte, ist nachzuhören beispielsweise in der Ouverture für Gambe, Streicher und Generalbass (TWV 55:D6), wenn beim Double der Sarabande auf einmal die Sologambe einen wunderbar nostalgischen Kontrast setzt im reinsten „Marin-Marais-Stil“. Auch ein „Stylus phantasticus“ im Sinne Athanasius Kirchers oder Johann Matthesons ist hier nicht zu finden. Telemanns Fantasien erinnern nur noch dem Wortstamm des Titels nach daran, sind aber im Übrigen im Stil völlig à la mode: Anno 1735, zeitlich genau zwischen dem Druck der Musique de Table und der Nouveaux Quatuors galten als typisch französisch ein gewisser Charme und Esprit der rhythmischen und melodischen Einfälle als solcher, auch wenn sie mitunter „im welschen Rock“ daherkamen. Ausschlaggebend war dabei der gute Geschmack, und die Sinne der Musiker ebenso wie die der Zuhörer dafür zu kalibrieren war keiner besser im Stande als Telemann, nicht zu Unrecht der beliebteste und erfolgreichste Komponist seiner Zeit. Diese 12 Fantasien warten also nicht mit großen Überraschungen auf, sondern sind eben aus demselben Holz geschnitzt wie ihre 24 Geschwister TWV 40:2-25, und „altfranzösisch“ ist dabei eigentlich nichts außer der Wahl des Instruments, was sich Telemann dank seiner Popularität durchaus leisten konnte. Also haben wir jetzt einfach ein weiteres Dutzend nach gleichem Strickmuster? Ja, so gesehen schon, doch ist diese Musik einfach von solch inspiriert makelloser Qualität, dass man eben nicht genug davon bekommen kann.

Und welch ein Glück, dass gerade Thomas Fritzsch sie entdeckt und dann auch gleich eingespielt hat. Kein anderer wäre besser dafür geeignet gewesen. Er präsentiert diese Kleinodien mit exzellentem stilistischen Geschmack, Hingabe, Wärme und Spielwitz. Auch die „Fugen“, die es ja „einstimmig“ eigentlich gar nicht geben dürfte (ähnlich wie bei Bach funktionieren solche Gebilde über weite Strecken durch Intervallsprünge nach einer Art „Reißverschluss-Prinzip“), klingen bei Fritzschs Telemann angenehm unkompliziert, ganz im Sinne von Matthesons Vollkommenem Capellmeister: “Man gibt dem Frantzösischen Geschmack im Punct der Leichtigkeit darum den Vorzug, daß er einen aufgeräumten lebhafften Geist erfordert, der ein Freund des wolanständigen Schertzes, und der Feind alles dessen ist, was nach Mühe und Arbeit riechet.“

Besonderes Lob verdient auch das schöne Booklet: Da finden wir solch herrlich irrelevante wie unterhaltsame Informationen über die (in ihrer Akustik übrigens vorzügliche) Klosterkirche Zscheiplitz hinsichtlich Geologie (Formung der Landschaft durch die letzte Eiszeit), Historie (Gründung als Sühneleistung für einen Mord) und Kunst (romanischer Keller, gotisches Portal, usw.), aber auch einen sehr schönen und ausführlichen Beitrag von Thomas Fritzsch zur dargebotenen Musik – lediglich getoppt vom Autor selbst durch das Geschenk, das er uns im Beiheft seiner Weltersteinspielung (beim gleichen Label) der 2nd Pembroke Collection von Carl Friedrich Abel gemacht hat, wo er uns mit unübertroffenem Sachverstand und größter Ausführlichkeit (40 Fußnoten!) über den Komponisten und Menschen Abel erzählt. Dort erfahren wir auch mehr über die beiden phantastischen Instrumente aus dem 18. Jahrhundert, die in der vorliegenden Einspielung auch wieder verwendet wurden. Gern hätte ich auch noch erfahren (vielleicht mittels weniger kleiner Sternchen), bei welchen Stücken die Lady Amber, und wann das Instrument von Johann Casper Göbler zu Wort gekommen ist. Aber dieses kleine Manko tut der Qualität dieser exquisiten Produktion keinen Abbruch.

[Hans von Koch, Mai 2016]