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Ravel ohne Pianissimo

Coviello classics, COV 91910; EAN: 4 039956 919100

Alfonso Gómez spielt das gesamte Klavierwerk von Ravel für Coviello Classics ein. Er beginnt mit Jeux d’eau und der Pavane pour une infante défunte und arbeitet sich über die drei Großformate Miroirs, Gaspard de la nuit und La Valse hin zu den eher kleineren Stücken, Sonatine, Prélude und dem Menuet; es folgt La tombeau de Couperin und À la manière de …, dann kommen Menuet antique und Menuet, bevor die Doppel-CD mit den Valses nobles et sentimentales schließt. Es fehlen lediglich kleinere Stücke wie die Sérénade grotesque und La parade sowie die Klavierbearbeitungen aus Daphnis et Chloé.

Die Musik Ravels fordert den Pianisten nicht bloß auf mechanischer Ebene, wo sie maßgebliche Neuerungen schuf und vorhandene Grenzen spielerisch sprengte, sie wirkt vor allem auf musikalischer Ebene, transzendiert Fingerfertigkeit durch nuancierten Anschlag zur Technik und Rhythmus zum Groove. Neben Schubert und Debussys gehört Ravel zu denjenigen Komponisten, die vor allem im Pianissimo ihre größte Kraft offenbaren. Und genau hier liegt bereits die Schwäche der vorliegenden Aufnahme begraben: Alfonso Gómez bekommt kein wahres Pianissimo hin, er unterschreitet nie den Bereich, den ich als Piano einordnen würde. Dies unterminiert, um nur einige Beispiele zu nennen, den Beginn von La valse, der als tiefes und konturloses Brodeln, als eine Art „Urlaut“ wahrgenommen werden sollte, und nicht wie in dieser Aufnahme deutlich konturiert hervorhallend. Dies macht auch die Ondine teils recht behäbig und „zu wirklich“ für ihre mystische Gestalt; und die Noctuelles wirken mehr wie ausgewachsene Vögel, jedenfalls nicht wie Nachtfalter.

Dem setzt Gómez jedoch akkurat-präzises Spiel auf der Rhythmusebene entgegen, was gerade den Walzerstudien über weite Strecken sehr zugute kommt, die immer in der Schwebe zwischen spürbarem Walzertakt und diametral entgegengesetzter Rhythmik verharren. Gelungen erscheint auch das spanische Element, das in erster Linie Alborada del gracioso befeuert, diesem Stück aus Miroirs einen wahnwitzigen Trieb verleiht, der in teuflischen Repetitionsnoten kulminiert. Mitreißende Spielfreude hören wir in Jeux d’eau, einer regelrecht naturalistischen Darstellung eines Wasserspiels (dieser Naturalismus, vor allem typisch für Debussy [z.B. Préludes Livre 1 und La Mer], setzt sich später in den Miroirs fort, kommt aber auch in Gaspard de la nuit zum Tragen). Gómez bleibt locker und schafft eine feine Abstimmung zwischen Melodie und Umspielung.

Bei jeder Ravel-Aufnahme lege ich besonderen Wert auf die orchestral gesetzte Pavane pour une infante défunte. Mechanisch leicht zu bewältigen offenbart gerade das Thema in seinen drei unterschiedlichen Erscheinungen die Qualitäten eines Pianisten. Der schlichten Melodie in der Oberstimme ist ein Pizzicato-Bass im Viertelmaß und eine ebenfalls Pizzicato zu spielende Füllfigur zunächst im Achtel- und später im Sechzehntelmaß beigegeben. Die dynamische Hierarchie ist klar: am deutlichsten die Melodie, dann der sonore Bass und kaum wahrnehmbar die nur harmonisch wichtige Füllung, die ungünstigerweise mit den starken Fingern der rechten Hand zu spielen ist; interessanter allerdings die Frage nach dem Pedal: streng genommen kann man die ersten beiden Darbietungen des Themas nicht oder nur minimal mit Pedal versehen, um das „Streicher“-Pizzicato nicht zu verwässern, doch das wiederum verlangt dichtes Fingerpedal (enormes Legato mit leichtem Liegenblieben) in der Melodie. All dies klanglich abzustimmen und in orchestralen Farben zu realisieren, grenzt an Unmöglichkeit – Juan José Chuquiseno gelang dies unvergleichlich; andere ebenso stimmige Darbietungen hörte ich von Richter und von Austbø. Gómez bemüht sich wenig, die Stimmen überhaupt abzuwägen und die Melodie zu „singen“, dafür hallt die Mittelstimme – gut mit Pedal getränkt – viel zu sehr über die wichtigeren Randstimmen.

Wenngleich die Aufnahme mit Alfonso Gómez technisch-mechanisch auf höchstem Niveau ist und der Pianist sich bei vielem durchaus um Präzision und Feinheit bemüht hat, enttäuscht die Aufnahme gerade im Vergleich zu der erst im Januar erschienenen Gesamtaufnahme mit Håkon Austbø durch ihren Mangel an Pianissimo und die teils zu oberflächlich gedachten Passagen.

[Oliver Fraenzke, Juni 2019]

Abgründig, tiefgründig

Coviello Classics, COV 91701; EAN: 4 039956 917014

Eine im Jahr 2000 gemachte Liveaufnahme von Lavard Skou Larsen und den Salzburg Chamber Soloists ist nun bei Coviello Classics wiederveröffentlicht worden: Darauf sind Schuberts vierzehntes Streichquartett D810 in d-Moll mit dem Beinamen „Der Tod und das Mädche“ in einem Arrangement für Streichorchester des Orchesterleiters und Schostakowitschs Kammersymphonie op. 110a, die Bearbeitung des 8. Quartetts durch Rudolf Barschai, zu hören.

Zwei abgrundtief schürfende Streichquartette begeistern in der neuesten Wiederveröffentlichung der Salzburg Chamber Soloists unter Lavard Skou Larsen, sie beide behandeln den Tod auf ihre ganz eigene Weise. Schuberts berühmtes Quartett trägt seinen Beinamen aufgrund von Zitaten aus seinem gleichnamigen Lied im zweiten Satz, dem knapp fünfzehnminütigen Herzstück des groß angelegten Quartetts. Schostakowitsch bezog sich auf einen Film über das zerstörte Dresden 1945, worauf er in nur drei Tagen eine Trauermusik in Quartettform komponierte, welcher er seine Initialen D-Es-C-H zugrunde legte. Das Quartett besteht aus fünf Sätzen, ist jedoch eigentlich ein einziges zusammengehöriges Gebilde. Ungeachtet aller stilistischen Unterschiede verbindet die Quartette ihr feines Gespür für harmonische Finessen, eine tiefgründige Komplexität und nachtschwarze Todesnähe.

Erst vor wenigen Tagen hörte ich das Orchester in Kempten mit Schostakowitschs Kammersymphonie, siebzehn Jahre nach vorliegender Aufnahme. In dieser Zeit hat sich der Zugang stark gewandelt, andere Aspekte rückten ans Licht und andere Schwerpunkte wurden gesetzt. Dies soll nicht bedeuten, dass die damalige Aufführung schlechter oder unvollständiger wäre als die heutige – es zeigt sich lediglich, dass sich Lavard Skou Larsen selbst nach einer wahrhaft gelungenen Aufnahme nicht zurückgelehnt hat, sondern ständig weiter an seinem Repertoire forscht und immer Neues hervorholt. Die Musik ist nie starres Endprodukt, sondern flexibel sich ständig aktualisierendes Eigenleben. Die Salzburg Chamber Soloists bestechen mit voluminösem Sound in technischer Vollendung und klanglich feinster Nuancierung. Nie driftet der sich ständig metamorphosierende Fluss ins Verträumte ab, nie wird haltlos nach vorne gestürmt, alles hat einen unentrinnbaren Sog, der den Hörer erbarmungslos durch die fünf bezwingend zusammengeschweißten Sätze schleift.

Eine der schwierigsten Aufgaben hinsichtlich zusammenhängender musikalische Gestaltung ist seit jeher die Musik Schuberts, dessen harmonisch bis ins letzte Details ausgearbeitete Sätze eine subtile und nur den wenigsten Musikern sich wahrhaft eröffnende Komplexität entfalten, über deren Abgründe und Feinheiten fast immer viel zu belanglos hinweggespielt wird – und damit am Kern der Musik vorbei. Dass Schubert adäquat dargeboten stets aufs Neue unwiderstehlich verblüfft, war mir durchaus bewusst, aber dass seine Musik eine solch elementare Wucht und unmittelbare Durchschlagskraft aufweist wie in dieser Aufnahme, hat mich nun doch zutiefst erstaunt. Die großformatigen Sätze sind aus einem Guss ohne jegliches energetische Einknicken erfasst, dabei werden auch versteckteste Nuancen blendend herausgefeilt und mit entfesselter Liebe in das Gesamtbild integriert. Gerade im zweiten Satz, in den meisten Aufführungen langatmiger Melancholie erliegend, entstehen magisch transzendente Augenblicke, die allerdings nicht isoliert, sondern in alles umfassendem Zusammenhang erstrahlen.

Zwei tragische Komponistenfiguren sind hier in selten bis nie dagewesener Qualität zu hören. Musikalisch so fein erarbeitete Werke sind eine absolute Rarität, und das mit solch einem sensiblen Gespür für den alles durchdringenden Strom der Töne – eine Pflichtlektüre für jeden Menschen, der die Subtilität seiner Wahrnehmung erweitern möchte.

[Oliver Fraenzke, März 2017]

 

Fantasien

Georg Philipp Telemann: 12 Fantaisies pour la Basse de Violle
Welt-Ersteinspielung
Thomas Fritzsch, Viola da gamba
CD 84‘46 Min.,10/2015
©& Coviello Classics 2015, COV 91601
EAN  4  039956  916017

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Als sich 1993 die Nachricht verbreitete, dass nach nunmehr 350 Jahren endlich ein Beweis der Fermat’schen Vermutung gelungen sein sollte, da rieben sich selbst eingefleischte Mathematiker ungläubig die Augen. Ähnlich ging es mir vor kurzem mit der Nachricht, dass jetzt, nach 280 Jahren, ein Druck von Telemanns verloren geglaubten 12 Fantasien für Bassgambe aufgetaucht sei. Die Metapher vom verschollenen Bernstein-Zimmer der solistischen Gambenmusik (zu finden im Booklet zu vorliegender Einspielung) trifft die Situation vor Thomas Fritzschs Sensationsfund (und Ersteinspielung) sehr gut. Ich habe die CD als Rezensionsstück bekommen, aber um ehrlich zu sein: Ich als Telemann-Aficionado wäre bereit gewesen, jeden Preis dafür zu bezahlen, und auch dann, wenn es eine drittklassige Einspielung gewesen wäre, und nicht wie hier die wahrhaft erstklassige des Gamben-Experten Thomas Fritzsch.

Die bisher einzige verfügbare Telemann’sche Fantasie für Sologambe, die Fantasia à Viola di Gamba senza Cembalo aus seinem Getreuen Music-Meister hat also endlich ihre 12 Schwestern (im Märchen wären es 12 Brüder) wiedergefunden. Davor mussten wir uns mit Ersatz zufrieden geben: Wir haben von Telemann nämlich noch zwei Dutzend (klingt nach „Dutzendware“, ist es aber beileibe nicht) ähnliche Werke für ein Soloinstrument ohne Generalbass: Im Lauf der Zeit wurden die 12 Fantasien für Solo-Traversflöte (TWV 40:2-13) dann auch auf der Blockflöte, der Violine, der Oboe (es gibt sogar eine Übertragung für das Fagott) eingespielt, und von den 12 Fantasien für Solo-Violine (TWV 40:14-25) ist eine sehr überzeugende Interpretation für Viola (da braccio!) von Ori Kam und für Violoncello von Viviane Spanoghe erhältlich, ja, ich habe in meiner Sammlung sogar eine Bearbeitung für Gitarre (Carlo Marchione). Aber gerade beim Vergleich der 12 „Cello-Fantasien“ mit den hier endlich vorliegenden Fantasien für Bassgambe kann man auch gut sehen: So groß ist der stilistische Unterschied nicht. Hier wie dort finden wir ebenso viel „Corellisierendes“ wie „Vivaldisierendes“, dann aber auch hin und wieder eine Bourrée oder eine Gigue oder sonstiges Französisches, versteckt hinter durchweg italienischen Tempobezeichnungen. Ganz wie bei den anderen Fantasien heißt dann zum Beispiel ein Menuett hier einfach nur „Vivace“. Wieder finden wir eine (auch ähnliche) Siciliana, wieder steht ein Drittel der Fantasien in Moll-Tonarten. Und übereinstimmend mit den Violin-Fantasien, bei denen auf die ersten sechs eher kontrapunktisch gearbeiteten Stücke sechs „Galanterien“ folgen, so finden wir, vielleicht  wegen ihrer Veröffentlichung in Zweiergrüppchen, diesmal die „Dolces“ und „Scherzandos“ bei den geraden, die Sätze von imitatorischer Bauart meist bei den ungeraden Nummern. Wer sich von dieser Neuentdeckung aber Werke im altfranzösischen Gamben-Idiom der vorhergehenden Generation erwartet hat, z.B. à la Sainte Colombe (père oder fils) oder De Machy, der wird enttäuscht sein. Dass Telemann so etwas auch gekonnt hätte, ist nachzuhören beispielsweise in der Ouverture für Gambe, Streicher und Generalbass (TWV 55:D6), wenn beim Double der Sarabande auf einmal die Sologambe einen wunderbar nostalgischen Kontrast setzt im reinsten „Marin-Marais-Stil“. Auch ein „Stylus phantasticus“ im Sinne Athanasius Kirchers oder Johann Matthesons ist hier nicht zu finden. Telemanns Fantasien erinnern nur noch dem Wortstamm des Titels nach daran, sind aber im Übrigen im Stil völlig à la mode: Anno 1735, zeitlich genau zwischen dem Druck der Musique de Table und der Nouveaux Quatuors galten als typisch französisch ein gewisser Charme und Esprit der rhythmischen und melodischen Einfälle als solcher, auch wenn sie mitunter „im welschen Rock“ daherkamen. Ausschlaggebend war dabei der gute Geschmack, und die Sinne der Musiker ebenso wie die der Zuhörer dafür zu kalibrieren war keiner besser im Stande als Telemann, nicht zu Unrecht der beliebteste und erfolgreichste Komponist seiner Zeit. Diese 12 Fantasien warten also nicht mit großen Überraschungen auf, sondern sind eben aus demselben Holz geschnitzt wie ihre 24 Geschwister TWV 40:2-25, und „altfranzösisch“ ist dabei eigentlich nichts außer der Wahl des Instruments, was sich Telemann dank seiner Popularität durchaus leisten konnte. Also haben wir jetzt einfach ein weiteres Dutzend nach gleichem Strickmuster? Ja, so gesehen schon, doch ist diese Musik einfach von solch inspiriert makelloser Qualität, dass man eben nicht genug davon bekommen kann.

Und welch ein Glück, dass gerade Thomas Fritzsch sie entdeckt und dann auch gleich eingespielt hat. Kein anderer wäre besser dafür geeignet gewesen. Er präsentiert diese Kleinodien mit exzellentem stilistischen Geschmack, Hingabe, Wärme und Spielwitz. Auch die „Fugen“, die es ja „einstimmig“ eigentlich gar nicht geben dürfte (ähnlich wie bei Bach funktionieren solche Gebilde über weite Strecken durch Intervallsprünge nach einer Art „Reißverschluss-Prinzip“), klingen bei Fritzschs Telemann angenehm unkompliziert, ganz im Sinne von Matthesons Vollkommenem Capellmeister: “Man gibt dem Frantzösischen Geschmack im Punct der Leichtigkeit darum den Vorzug, daß er einen aufgeräumten lebhafften Geist erfordert, der ein Freund des wolanständigen Schertzes, und der Feind alles dessen ist, was nach Mühe und Arbeit riechet.“

Besonderes Lob verdient auch das schöne Booklet: Da finden wir solch herrlich irrelevante wie unterhaltsame Informationen über die (in ihrer Akustik übrigens vorzügliche) Klosterkirche Zscheiplitz hinsichtlich Geologie (Formung der Landschaft durch die letzte Eiszeit), Historie (Gründung als Sühneleistung für einen Mord) und Kunst (romanischer Keller, gotisches Portal, usw.), aber auch einen sehr schönen und ausführlichen Beitrag von Thomas Fritzsch zur dargebotenen Musik – lediglich getoppt vom Autor selbst durch das Geschenk, das er uns im Beiheft seiner Weltersteinspielung (beim gleichen Label) der 2nd Pembroke Collection von Carl Friedrich Abel gemacht hat, wo er uns mit unübertroffenem Sachverstand und größter Ausführlichkeit (40 Fußnoten!) über den Komponisten und Menschen Abel erzählt. Dort erfahren wir auch mehr über die beiden phantastischen Instrumente aus dem 18. Jahrhundert, die in der vorliegenden Einspielung auch wieder verwendet wurden. Gern hätte ich auch noch erfahren (vielleicht mittels weniger kleiner Sternchen), bei welchen Stücken die Lady Amber, und wann das Instrument von Johann Casper Göbler zu Wort gekommen ist. Aber dieses kleine Manko tut der Qualität dieser exquisiten Produktion keinen Abbruch.

[Hans von Koch, Mai 2016]

Doppelte Jahreszeiten, neu erlebt

Coviello Classics COV 91514; EAN: 4 039956 915140

0025

Die Salzburg Chamber Soloists sind zusammen mit ihrem Gründer, Leiter und Violinsolisten Lavard Skou Larsen auf ihrer bei Coviello Classics soeben wiederveröffentlichten CD „8 Seasons“ mit Le Quattro Stagioni von Antonio Vivaldi und dem argentinischen Pendant von Astor Piazzolla, Las Cuatro Estaciones Porteñas, zu hören.

Mit Begriffen wie „hervorragend“, „ausgezeichnet“ oder „perfekt“ sollte man heute mehr denn je sparsam umgehen, denn fast keine noch so gute Einspielung hat einen dieser Begriffe wirklich verdient. Wenn jedoch einmal eine CD dieser Adjektive würdig ist, dann zweifelsohne vorliegende Einspielung der vier Jahreszeiten Antonio Vivaldis und Astor Piazzollas.

Wohl kaum ein Violinkonzert ist so häufig gespielt und aufgenommen wie die ersten vier der insgesamt acht Solokonzerte Op. 8 von Antonio Vivaldi, die zusammen die Tetralogie „Le Quattro Stagioni“ bilden. Gerade in Zeiten der so genannten historisch informierten Aufführungspraxis erlebt man bei diesen Werken immer wieder nicht sonderlich viel Neues, die üblichen Darbietungen sind weich gezeichnet ohne Sinn für Kontraste, die malerischen Effekte verschwinden unter einer alles verdeckenden Solostimme, und das Ganze ist auf rein äußerliche Schönheit (statt musikalischem Gehalt) in routiniertem Schema gespielt. „8 Seasons“ mit Lavard Skou Larsen und den Salzburg Chamber Soloists kommt in dieser ins Stocken geratenen Tradition einer Renaissance gleich, oder einer Revolution, und parallel dazu einer kompletten Neuschöpfung. Bereits die ersten Takte öffnen das Tor in eine andere Welt, wie ich sie bisher so nicht zu hören bekam. Von Anfang an erlebt der Hörer eine immens fein ausgestaltete Dynamik mit brillanter Artikulation und einem tiefen Bewusstsein für jedes noch so kleine musikalische Phänomen darin. Die Phrasen werden leicht und vornehm ohne künstliche Betonungen abgerundet und von einem spielerisch diskreten statt wie so oft aufdringlichen Cembalo gestützt. Der Einsatz des Solisten Lavard Skou Larsen wirkt ebenso unmittelbar: Wie irritiert torkelnd erscheint die technisch lupenreine und klangvolle Geigenstimme, als sie plötzlich in dieses Geschehen hineingeworfen wird. Der auf diese Art wohl bis heute einmalige Soloeinsatz, der statt solistischem Aufglänzen zu Beginn eine klar intendierte Verwirrung darstellt, ist für mich erstmalig auch genau als diese erkennbar. Die vier Jahreszeiten, wie so oft bei Vivaldi in formaler Hinsicht keine Höchstleistung, zeichnen sich vor allem durch interessante und noch heute noch neuartig wirkende Klangeffekte aus, besonders auffallend in den Mittelsätzen von Primavera und Estate. Während Skou Larsen mit feinfühlig ausgestalteten Melodien und virtuosen Läufen brilliert, lassen sich die Salzburg Chamber Soloists nicht von dem Schönklang anstecken, sondern kontrastieren gar mit teils krassen Geräuscheffekten und lassen eine leuchtend ausgekleidete Landschaft um das solistische Individuum entstehen. Alle Musiker sind bereit, auch einmal herbe Töne anzustoßen, und so können sie ungeahnt machtvoll erscheinen auch in der Kammerbesetzung. Durchgehend achten die Künstler auf Kontraste und feinste Nuancen in der Musik, die die Klangfinessen eines großen Symphonieorchesters in kleiner Aufstellung heraufbeschwören können, beispielsweise wird im dritten Satz des Frühling ein Dudelsack mit charakteristischem Orgelpunkt täuschend genau nachgeahmt. Hier werden die Noten nicht stur heruntergespielt, sondern sie sind minutiös erarbeitet, jede noch so kleine Feinheit ist abgewogen, gefühlt und bewusst, und es kommt dem Hörer vor, als würde hier dieses bekannte Werk zum ersten Mal überhaupt erklingen, so spontan, unbelastet und frei erscheint es, stets mit innigstem Gefühl und vollster Spielfreude.

Noch weiter kann die Reise kaum gehen, als zum zweiten Werk dieser Einspielung, wiewohl gewisse Parallelen bestehen: Von Europa nach Lateinamerika, vom Barock ins 20. Jahrhundert. Las Cuatro Estaciones Porteñas von Astor Piazolla wurden vom Cellisten José Bragato aus dem Ensemble Piazzollas instrumentiert, da dieser selbst ein weniger beschlagener Instrumentator gewesen sein muss, wie der Autor des informativen und eingängig zu lesenden Booklettextes, Gottfried F. Kasparek, erklärt. Sofort verschlagen die vier Stücke des Zyklus den Hörer in ein unverwechselbar argentinisches Milieu, wo einen herbe Klänge und kratzige Geräuscheffekte sowie auftreibende Rhythmen erwarten. In gleicher Besetzung wie bei Vivaldi (mit der Ausnahme, dass Elena Braslavsky nun am Klavier statt am Cembalo sitzt) entführen die Musiker nun in gänzlich neue Sphären. Der gebürtige Brasilianer Lavard Skou Larsen hat zwar einen gewissen Heimvorteil mit der Musik aus seinem Nachbarland, doch dass auch sein gesamtes Ensemble, die Salzburg Chamber Soloists, einen so natürlich lateinamerikanischen Klang vermitteln können, dass kein Zweifel zu bestehen schiene, dass alle Musiker aus diesen Landen kommen, ist erstaunlich. Die Rhythmik ist derart prägnant und griffig, der Klang wie ausgetauscht in unbändige Wildheit mit einem bewussten Hang zur Geräuschhaftigkeit, und die gesamte Atmosphäre unmittelbar glaubwürdig. Es steckt eine gewaltige Kraft und Energie in all diesen Stücken, stets gepaart mit einer äquivalenten Portion Spiel- und Lebensfreude, und dennoch werden auch die sanften Passagen intensiv durchlebt. So ungebändigt es vielleicht auf den ersten Eindruck wirken mag, ist hier doch alles minutiös ausgearbeitet und ausgestaltet, so dass die detailliert abgestimmte Synchronizität zwischen musikalisch lange einstudierter Finesse und spontaner Wirkung einfach zündet. Hier kommen alle Musiker voll zum Zuge, auch die bei Vivaldi vor allem im Hintergrund agierende Pianistin kann hier ihren gleichmäßig abgestimmten, warmen und perligen Anschlag, dem in gleichen Maßen Lyrik und Energie innewohnt, mit großem Gewinn einbringen. Angenehm ist, dass sie keinerzeit Staccati zu kurz nimmt und sich so in den Streicherkörper ideal integriert, dessen Klang sie wunderbar aufgreift und als gleichwertige Partnerin in ihr Spiel integriert.

Wenn man sich nicht gerade in München oder Köln befindet, so hat ein Jahr bekanntlich vier Jahreszeiten, und zwei solcher Jahreszyklen wurden hier für Coviello Classics in Live-Aufnahmen eingefangen. Und beide so extrem unterschiedlichen Zyklen sind in solch einer bestechenden Qualität von technischer und künstlerischer Perfektion eigentlich sonst nie zu hören. Für mich zwei absolute Referenzaufnahmen, die alle Vorgänger turmhoch überragen.

[Oliver Fraenzke, Januar 2016]