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Rückblicke

Solo Musica, SM 325; EAN: 4 260123 643256

Drei unterschiedliche Werke mit der Gemeinsamkeit der Retrospektive bilden das Programm dieser CD-Aufnahme des Giraud Ensemble Chamber Orchestras unter Sergey Simakov. Zu Beginn steht das groß angelegte Concerto for Myself des Pianisten und Komponisten Friedrich Gulda (Mischa Cheung, Klavier; Janic Sarott, Schlagzeug; Stanislaw Sandronov, E-Bass), es folgt die Erste Symphonie, Classique, von Prokofieff und das Konzert für zwei Klaviere und Orchester von Poulenc (Yulia Miloslavskays & Mischa Cheung, Klaviere).

Die Verehrung der Meister aus der Epoche der sogenannten Wiener Klassik inspiriert bis heute ungebrochen Künstler aller Sparten. Die Ausgewogenheit und Ausgeglichenheit, die Leichtigkeit und Unbeschwertheit, aber auch das Feingefühl für Timing, Kontrast und vollendete Form stehen als erstrebenswertes Idol dar.  Auf der vorliegenden CD hören wir drei Werke, die sich je auf ihre Weise diesem Vorbild stellen.

Frei nach dem Titel des ersten Satzes, der als Motto für das gesamte Werk gelten könnte, konzipiert Friedrich Gulda sein Concerto For Myself: The new in view (,then old is new). Die Basis für Guldas Inspiration bildet das klassische Klavierkonzert, in das immer mehr Einflüsse und direkte wie auch indirekte Zitate aller erdenklichen Musikstile einfließen. Dabei entsteht allerdings kein bloßes Potpourri aus bekannten Melodien, sondern Gulda bündelt die Stile und bringt sie elegant in eine funktionierende Großform, spinnt die wichtigsten Melodien weiter zu wiederkehrenden Themen und lässt andere als simple Figuration vorübergehen. Spannende Kontraste schafft er durch das Wechselspiel aus ‚alt‘ und ‚neu‘, nicht zuletzt ‚klassisch‘ und ‚jazzig‘. Mischa Cheung erweist sich als gewandt in beiden Stilwelten und changiert geschickt zwischen barockem, klassischem, romantischem und jazzigem Anschlag, nimmt sogar einiges der Kantigkeit von Guldas eigener Darbietung weg zugunsten größerer Leichtigkeit. Leider höre ich den E-Bass nicht heraus aus dem Orchester, diese Stimme scheint im Mastering untergegangen zu sein.

Zwischen Hommage und Persiflage bewegt sich die Symphony Classique aus der Feder Prokofieffs. Haydn steht hier als deutliches Vorbild voran, dessen Stilwelt der Russe aufgreift, aber immer wieder durch sanfte Reibungen und scheinbar unpassende Abweichungen würzt. Später erscheinen auch gewisse Anklänge an den frühen Tschaikowski. Simakov greift vor allem die scherzhafte Vitalität dieser Symphonie auf und überzeugt durch sein Gespür für Mehrstimmigkeit. Insgesamt könnte die Musik etwas ruhiger und somit auch entspannter geschehen.

Als Hommage an Mozart bezeichnete Poulenc den Mittelsatz seines Doppelkonzerts für zwei Klaviere, das zu seinen bekanntesten Werken zählt, und ließ sich spürbar von dessen Klavierkonzert Nr. 20 zu einem Thema hinreißen, geht aber in der Wirkung mehr auf Ravels Klavierkonzert in G zurück, dessen Uraufführung Poulenc beiwohnte. Zwar war Poulenc kein tadelloser Pianist und ließ zahllose technische Pannen zu, dennoch halte ich seine eigene Aufnahme gemeinsam mit Jacques Février für unübertroffen in Unbekümmertheit und Feinheit. Yulia Miloslavskaya und Mischa Cheung gehen in wohltuender Distanz an das Konzert heran, behalten eine durchgehende Spielfreude und Feingliedrigkeit, klassischen Feinsinn. Faszinierend sind die perfekt synchron abgestimmten Läufe und die Abgestimmtheit ihres Spiels, so dass kaum zu sagen ist, wer gerade spielt und wer welche Rolle übernimmt.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2019]

Auf das Leben!

Solo Musica SM 235; EAN: 4 260123 642358

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Ein vielgespieltes Programm lässt die Violinistin Liv Migdal auf ihrer nunmehr dritten CD-Aufnahme mit frischer Lebendigkeit erstehen: Die vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi (Le Quattro Stagioni Op. 8 No. 1-4) und die Einrichtung derjenigen von Astor Piazzolla (Las Cuatro Estaciones Porteñas). Nach zwei Duettaufnahmen mit ihrem Vater Marian Migdal ist es ihr CD-Debüt als Solistin mit Orchester, es spielt das Deutsche Kammerorchester Berlin.

Die Kraft dieser jungen talentierten Künstlerin ist beeindruckend! Die Stärke zu besitzen, so kurze Zeit nach dem Tod ihres Vaters eine CD mit lebensbejahender, freudiger und funkelnder Musik aufzunehmen, sollte allen Mut machen, welche so eine schwierige Situation am eigenen Leib verspürten oder noch verspüren. Marian Migdal war nicht nur ihr Vater, er war auch ihr langjähriger Kammermusikpartner und Hauptquelle für ihre musikalische Entfaltung – seine Aufnahmen von bekannter wie von unbekannter Musik dienen bis heute als unbestechliche Referenz, seine Natürlichkeit, sein langer Atem in der Phrasierung und sein Gespür für das richtige Maß bezaubern über seinen Tod hinweg. Und die Musik ist es, die immer über Leben und Tod zu erzählen vermag, wie Liv Migdal in ihrem Booklettext schrieb, und so übertitelte sie denn auch trefflich mit „Auf das Leben!“

Le quattre stagioni des Italieners Antonio Vivaldi und das Tango-Gegenstück Las Cuatro Estaciones Porteñas des Argentiniers Astor Piazzolla wählte sie für dieses Album mit dem Deutschen Kammerorchester Berlin; zwei Werke, die so stark verbunden sind in ihrem außermusikalischen Bezug und dabei so grundverschieden in Stil, Instrumentenbehandlung, Aufbau und Charakter. In beiden Werken zentral ist das ständige Mit- und Gegeneinander, Annäherung und Distanzierung der beiden elementaren Kräfte, des Solisten und des Ensembles. Eben dies bildet auch den Kern der Darbietung von Liv Migdal und des Kammerorchesters Berlin, was sich alleine schon an der Abmischung zeigt, die die Sologeige nicht ungebührlich in den Vordergrund stellt, sondern im Einklang mit den Ensemblemusikern agieren lässt.

Wie bereits in ihren vorherigen Alben besticht Liv Migdal durch reinen, sanften und absolut „gehörten“ Ton, der sich neben makelloser technischer Perfektion auch durch musikalisch-inhaltliche Abgestimmtheit auszeichnet. Migdals Horizont reicht vom zart empfundenen Pianissimo bis zur aufbrausenden Expressivität, die jedoch niemals ihre Fülle und Klangschönheit einbüßt. Sie beweist eine enorme Wandelfähigkeit je nach den Forderungen der Musik, eine chamäleonhafte Flexibilität, und kann sich auf jede neue Situation nahtlos einstellen. Wie schon ihr Vater hat sie eine wohltuende Natürlichkeit sowie eine unprätentiöse musikalische Auffassungsgabe und versteht es, lange und intensive Bögen von fein abgestimmter Phrasierung zu gestalten. Besonders bemerkenswert ist Migdals Vibrato, welches von erlesen weiter Ausdrucksvielfalt geprägt ist: Ihr gelingt es, dieses Mittel spontan und entsprechend der musikalischen Sinnhaftigkeit einzubringen, oft über große Strecken überhaupt nicht, dann wieder ganz spärlich, auf ausdrucksvollen Tönen stärker, manchmal auf einen Ton erst anschwellend oder gegen Ende verklingend, immer den Gegebenheiten entsprechend.

Auch als musikalische Leiterin des Deutschen Kammerorchesters Berlin versteht es Liv Migdal – neben der überzeugenden solistischen Darbietung -, die Musiker zu einer ausgewogenen Linienführung anzuregen und dynamische Feinheiten zu erreichen. Lediglich in den Passagen, wo Migdal solistische Höhenflüge hat und das Orchester auf sich allein gestellt ist, gerät die Begleitung tendenziell etwas fahl, vor allem in den langsamen Sätzen von Vivaldi. Doch kaum ist Liv Migdal wieder im Tutti dabei, wird die Gestaltung schon wieder lebendiger, der Klang fokussierter. Das Wechselspiel zwischen Solistin und Ensemble ist genauestens aufeinander abgehört und lässt sie auf ganz natürliche Weise aus dem Tuttiklang hervortreten und wieder in diesen zurückkehren.

Piazzolla gerät schwungvoll und mit großem Elan, auch mit einer stimmigen Prise Melancholie und Verträumtheit. Natürlich hat das hier nicht den ausgelassenen Schwung und die vehemente rhythmische Prägnanz, welche lateinamerikanische Künstler dem Werk angedeihen lassen können, aber dies ist auch nicht zu fordern. Beachtlich ist, wie deutlich die Bezüge und Anspielungen auf Vivaldis Werk hervortreten, von denen die meisten in zahlreichen Einspielungen im Verborgenen bleiben.

Ein gutes, nicht zu üppiges Maß an historisierend barocker Spielweise wird Le Quattro Stagioni von Antonio Vivaldi zuteil. Es wird mit durchaus markantem Ton genommen, doch gleichermaßen lyrisch, ohne dass es je zu trocken steril oder zu romantisch verträumt wäre. Die in der Partitur vermerkten Programmhinweise werden ohne Überakzentuierung befolgt und zum Ausdruck gebracht.

Der musikalische Stern ihres Vaters ist viel zu schnell hinter dem Horizont entschwunden, doch steigt derjenige von Liv Migdal immer weiter empor und lässt sie zweifelsohne als eine würdige Nachfolgerin dieses großartigen Musikers, dessen Verlust zugleich ein unersetzlicher Verlust für die Musikwelt ist, erscheinen. Schließen wir uns ihrem Motto an und rufen: Auf das Leben!

[Oliver Fraenzke, April 2016]